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German Pages 432 [433] Year 2021
Annemarie Tröger Kampf um feministische Geschichten
Annemarie Tröger Kampf um feministische Geschichten Texte und Kontexte 1970-1990 Herausgegeben von Regine Othmer, Dagmar Reese und Carola Sachse
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Akademikerinnenbundes
und der Deutschen Stiftung Frauen- und Geschlechterforschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2021 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf Umschlagbild Vorderseite: Collage aus dem Plakat der Sommeruniversität 1976 und einem Foto Annemarie Trögers aus dem Privatnachlass Umschlagbild Rückseite: Batya Weinbaum: Gründungskongress Coalition of Labor Union Women (CLUW ), Chicago 1974 Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-3788-6 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4535-5
Inhalt
R egi n e O t h m er/Dagm a r R e e se/C a rol a Sach se
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Revolutionäre Zeiten A N N E M A R I E T RÖ G E R
Tugurios: Über Slums in Lateinamerika (1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar: KLAUS MESCHKAT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung und Erläuterungen: TILLA SIEGEL . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A N N E M A R I E T RÖ G E R
The New Reich. Einige Schlussfolgerungen (1971 /72) . . . . . . . . . . . . . . .
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A N N E M A R I E T RÖ G E R
Coalition of Labor Union Women: Strategic Hope, Tactical Despair (1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar: INGRID KURZ-SCHERF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A N N E M A R I E T RÖ G E R
Alexandra Kollontai: Zwischen Feminismus und Sozialismus (1975) . . . . 100 Commentary: RENATE BRIDENTHAL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Feministische Wissenschaft: Primat der Praxis und methodische Ansätze einer Geschichte von unten A N N E M A R I E T RÖ G E R
Summer Universities for Women: The Beginning of Women’s Studies in Germany? (1978) . . . . . . . . . . . . . 125 Kommentar: JOHANNA KOOTZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 A N N E M A R I E T RÖ G E R
»Ich komme da mit den feministischen Gedanken nicht mit …« Ein Versuch, Forschung feministisch zu betreiben (1981) . . . . . . . . . . . . . 137 Kommentar: DAGMAR REESE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
inh a lt A N N E M A R I E T RÖ G E R
Zwischen Kunst und Zeitungsmarkt. Ein Ausschnitt aus dem Leben der Fotografin Ilse Bing (1983) . . . . . . . . . 163 Commentary: ELIZABETH HARVEY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 A N N E M A R I E T RÖ G E R /L OR E K L E I BE R /I N G R I D W I T T M A N N
Mündliche Geschichte. Ein Charlottenburger Kiez in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus (1982) . . . . . . . . . 177 Kommentar: DAGMAR REESE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Vorgeschichte der neuen Frauenbewegung: Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus A N N E M A R I E T RÖ G E R
Die Dolchstoßlegende der Linken: »Frauen haben Hitler an die Macht gebracht«.Thesen zur Geschichte der Frauen am Vorabend des Dritten Reichs (1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Kommentar: CAROLA SACHSE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 A N N E M A R I E T RÖ G E R
Die Frau im wesensgemäßen Einsatz (1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Commentary: MARY NOLAN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 A N N E M A R I E T RÖ G E R
Between Rape and Prostitution. Survival Strategies and Chances of Emancipation for Berlin Women After World War II (1986) . . . . . . . 280 Commentary: ATINA GROSSMANN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 A N N E M A R I E T RÖ G E R
German Women’s Memories of World War II (1987) . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Kommentar: DOROTHEE WIERLING . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Rückblicke, Ausblicke A N N E M A R I E T RÖ G E R
Die Avantgarde der Angestelltenklasse: Die Studentenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1969 (1988) . . . . . 331 Commentary: LUISA PASSERINI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
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Brief an eine französische Freundin. Die Intelligenz in der Wende – Gedanken zu den Veränderungen in der DDR (1990) . . . . . . . . . . . . . . . 361 Kommentar: REGINE OTHMER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 R EGI N E O T H M E R
Annemarie Tröger. Skizze einer Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Schriftenverzeichnis Annemarie Tröger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Autor / inn / en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
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Regine Othmer / Dagmar Reese / Carola Sachse
Einleitung Annemarie Tröger, 1939 geboren, gehörte in den 1970er Jahren zu den Begründerinnen der Frauenforschung im deutschsprachigen Raum. Ihre Seminare, Vorträge, Publikationen waren für viele ihrer Kolleginnen und Studentinnen wegweisend. Ihr Denken, die Wahl ihrer Sujets, die Forschungsmethoden, die sie aufgriff und vorantrieb, die internationalen wissenschaftlichen und politischen Netzwerke, die sie mitaufbaute und in denen sie agierte, waren von der eigenen historischen Erfahrung und zugleich von ihren politischen Zielen geprägt. Annemarie Tröger hatte Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg als Kind in Thüringen erlebt; als Schülerin und Jugendliche wechselte sie, solange dies noch möglich war, zwischen den neugegründeten Haushalten von Mutter, Tanten, Großmüttern auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze hin und her. Ab 1960 stand sie als westdeutsche Studentin mitten in den geistigen und kulturellen Umbrüchen der Zeit. Während ihres Studiums an der Freien Universität Berlin (FU ) engagierte sie sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), während der Jahre in den USA beim amerikanischen Pendant, den Students for a Democratic Society, später setzte sie sich auf beiden Seiten des Atlantiks in der neuen Frauenbewegung ein. Sie gehörte zu jenen kritischen linken Intellektuellen, die die Wissenschaft stets mit Blick auf ihren politischen und sozialen Nutzen prüfen. Mit den in diesem Buch versammelten Texten wollen wir nicht nur an die engagierte linke und feministische Intellektuelle Annemarie Tröger erinnern. Wir wollen anhand der ausgewählten und hier teils erstmals, teils wieder publizierten Texte einer der frühen Protagonistinnen nachvollziehbar machen, wie Frauenforschung, lange bevor von Geschlechterforschung oder gender studies die Rede war, aus den politischen Kämpfen und transnationalen Diskussionen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre hervorgegangen ist. Wir verstehen diese Schriften nicht als Basistexte oder frühe Meilensteine einer neuen Wissenschaftsdisziplin, sondern als historische Dokumente eines Forschungsanliegens oder auch einer Denkweise, die sich als politisch und wissenschaftlich umstürzend, also revolutionär verstand und disziplinäre Grenzen in den Wissenschaften selbstbewusst ignorierte. Genauso hat sich Tröger in ihrer akademischen Biographie zwischen Psychologie, Soziologie, politischer Ökonomie, Zeitgeschichte und Entwicklungspolitik jeder disziplinären Zuordnung und den damit verbundenen Zugangs-, Anerkennungs- und Karriereregeln verweigert. Sie verachtete die etablierten professionellen Maßstäbe der akademischen Meritokratie und scheiterte – anders als manche ihrer in späteren Jahren doch wieder anpassungswilligeren Mitstreiterinnen – nicht zuletzt an der seit den 1980er Jahren 9
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samen disziplinären Ausdifferenzierung und universitären Institutionalisierung dessen, was in den Jahren zuvor als nicht-disziplinäre und anti-institutionelle Frauenforschung, also als ein verbaliter utopisches Projekt ohne Ort im Wissenschaftssystem gestartet war.1 Annemarie Tröger hat kein »Werk« hinterlassen. Vielmehr hat sie in den verschiedenen, teils aufeinanderfolgenden, teils sich überlagernden Etappen ihres politischen Engagements zahlreiche, nach Form und Inhalt heterogene Texte publiziert oder, treffender gesagt, in den Ring geworfen. Deren disparate Erscheinungsorte – etablierte ebenso wie neugegründete linke und feministische Verlage und Zeitschriften – verweisen auf die verschiedenen Diskussionszusammenhänge, in die sie sich als Autorin einbrachte. Variierende, oft hybride Textgenres – nicht nur wissenschaftliche, mehr oder eher minder formal gehaltene Aufsätze, sondern auch Interviews, pädagogische Handreichungen, Rundfunkskripte, politische Essays, Manifeste, Reden – zeugen von den unterschiedlichen Bühnen der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung, auf denen sie sich als Aktivistin und Forscherin bewegte. Die Sprachen der Erstveröffentlichungen – Englisch, Deutsch, Französisch – und der späteren Übersetzungen zeugen von der Selbstverständlichkeit, mit der sich Tröger vor allem zwischen Europa und den Amerikas, aber auch auf anderen Kontinenten bewegte. Auch um dies spürbar werden zu lassen (und nicht nur aus pragmatischen Gründen), haben wir uns entschieden, Trögers englische Originalpublikationen sowie die auf Englisch verfassten Kommentare aus den USA , Großbritannien und Italien nicht zu übersetzen.2 In diesem Band haben wir eine Auswahl von Texten zusammengestellt, die, wie wir meinen, die verschiedenen Phasen und Schwerpunkte des stets miteinander verquickten politischen Engagements und wissenschaftlichen Denkens von Annemarie Tröger repräsentieren können. Wir haben sie in vier thematische Blöcke gruppiert, denen eine gewisse Kontinuität der Denkbewegungen Trögers zugrunde liegt, die sich freilich in den Übergangsphasen zeitlich und inhaltlich überlappen und sich einer strikt chronologischen Reihung der Texte widersetzen. 1 Das FFBIZ – Das Feministische Archiv e. V. (ehemals Frauenforschungs-, -bildungsund -informationszentrum) in Berlin war ursprünglich als ein solch anderer, heterotopischer Ort konzipiert. Vgl. dazu den Nachruf auf seine langjährige Leiterin und Archivarin, die kürzlich verstorbene Historikerin Ursula Nienhaus, von Karin Hausen: Ursula Nienhaus: Erinnern und Erinnerungen 2020. Von den insgesamt 64 sogenannten Gender-Professuren, die zwischen 1983 und 2005 an (west-)deutschen, österreichischen und schweizerischen Universitäten eingerichtet wurden und deren Stelleninhaberinnen bis Ende 2014 pensioniert wurden, war nur eine nicht in den etablierten Disziplinen, zwei Drittel hingegen in nur drei Fächern – Soziologie (19), Erziehungs- und Literaturwissenschaften (je 10) – angesiedelt; von den verbleibenden 63 waren nur 18 voll der Frauen- und Geschlechterforschung im jeweiligen Fach gewidmet, die anderen waren entsprechend teildenominiert und insofern noch deutlicher im Fach verankert. Vgl. Ulla Bock: Pionierarbeit 2015, S. 28, 293-298. 2 Vgl. Trögers Schriftenverzeichnis in diesem Band.
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In ihren Schriften aus den frühen 1970er Jahren, die wir als Texte aus revolutionären Zeiten in einem ersten Block zusammengestellt haben, verarbeitete Tröger Beobachtungen und Studienergebnisse, die sie während ihrer langen Reisen und Aufenthalte in mehreren westafrikanischen Ländern, den USA und Lateinamerika zusammengetragen hatte. Sie verdichtete sie einerseits in einem Rundfunkskript über lateinamerikanische Slums, das vor allem auf Interviews beruhte, die sie mit Bewohnerinnen und Bewohnern der Tugurios von Medellín in Kolumbien geführt hatte.3 Andererseits ordnete sie ihre Beobachtungen in der »armen Welt«, wie sie sie nannte, in das im marxistischen Diskurs der späten 1960er und frühen 1970er Jahre gängige Konzept des Neo-Imperialismus ein.4 Hier verortete sie auch – und zwar sowohl historisch als auch politökonomisch argumentierend – die Bundesrepublik mit ihren multinational agierenden Unternehmen, die sie sarkastisch als »The New Reich« betitelte. Das umfängliche Manuskript mit diesem Titel verschwand unvollendet und womöglich undiskutiert in einem Schreibtischfach; wir drucken hier erstmals ihre »Schlussfolgerungen« ab.5 Es war und blieb die weite heterogene »arme Welt«, auf welchem Kontinent und in welchen sozialen Konstellationen auch immer sie sie aufspürte, nicht die durchstrukturierte reiche Welt der Konzerne, auf die Tröger fortan – ob als Aktivistin oder kommentierende Intellektuelle – ihre analytische Aufmerksamkeit und zugleich ihre politische Hoffnung auf eine gründliche Umwälzung der stets neue Armut produzierenden kapitalistischen Verhältnisse richtete. Diese Armut verstand sie als mitnichten global homogen, sondern als regional, sozial, ethnisch-kulturell und vor allem geschlechtsspezifisch stratifiziert; die stets neuen Formen, in denen sie in Erscheinung tritt, machen es den Armen schwer, sich gemeinsam zu befreien, und lassen sie bei dem Versuch, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, immer wieder scheitern. Annemarie Tröger war in den USA , als dort die bis dahin studentisch und akademisch geprägte neue Frauenbewegung von gewerkschaftlich organisierten Frauen der working class eingeholt und von women of color mit ihrer whiteness konfrontiert wurde. Intersektionalität war ihr also nichts Neues, als diese in den 1990er Jahren zum Schlüsselbegriff der Geschlechterforschung avancierte.6 In der 1974 gegründeten Coalition of Labor Union Women (CLUW ) fand Tröger ihre Hoffnungsträger: Frauen, die ihren sozialen Stratifizierungen bewusst entgegenarbeiteten, die mit und in den Gewerkschaften, aber zugleich gegen deren androzentrische und misogyne Strukturen für die Angleichung der Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern und ihre Verbesserung in den Betrieben und zu Hause – in marxistischer Diktion: in Produktion und Reproduktion – kämpfen wollten. Es sollte so etwas wie Trögers Lebensthema werden, das in ihren wenig später einsetzenden historischen Schriften zur Situation von Frauen 3 4 5 6
Tröger: Tugurios 1970, in diesem Band. Vgl. ebd., S. 25. Tröger: The New Reich 1972, in diesem Band. Küppers: Intersektionalität 2014 und Ingrid Kurz-Scherf in diesem Band.
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in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus ebenso aufscheint wie in ihrer Analyse der untergehenden DDR . Dass ihr gewagte nationale und epochale intellektuelle Transfers so selbstverständlich von der Hand gingen, mochte sich ihrem – schon Mitte der 1970er Jahre nur noch romantisch anmutenden – Selbstverständnis als reisende »Berufsrevolutionärin« verdanken,7 das sie dann auch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem großen historischen role model Alexandra Kollontai und deren Umgang mit den antifeministischen und misogynen Politiken der sowjetischen KP auf den Prüfstand stellte.8 Als Annemarie Tröger 1975 aus den USA nach Westberlin und aus der aktivistischen Arbeit mit Vietnamveteranen und amerikanischen Gewerkschaftsfrauen an die Universität zurückkehrte, hatte sie einiges im Gepäck, dessen Tauglichkeit sich auf dem für sie neuen Feld der »Vergleichenden Faschismusforschung«, dem so definierten, aber noch aufzubauenden Arbeitsbereich des Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ZI6) an der FU, erst erweisen musste: So, wie sie die Aktivitäten der CLUW in den USA optimistisch verstanden hatte, sollten auch hier Theorie und Praxis, Universität und Arbeitswelt, Studentinnen, Dozentinnen, Arbeiterinnen und Angestellte zusammenkommen in einer Frauenforschung, die sie als wissenschaftliche Assistentin an der FU jetzt vorantreiben wollte. Ihre Suche nach neuen Orten, Methoden und Quellen der feministischen Wissenschaft lässt sich in den Texten, die wir in einem zweiten Block zusammengestellt haben, nachvollziehen. Ein solcher neu geschaffener Ort waren die 1976 startenden Berliner Sommeruniversitäten für Frauen, die sie mitorganisierte und deren Anerkennung als Bildungsurlaub für teilnehmende Arbeitnehmerinnen nach den entsprechenden Gesetzen der Bundesländer ihr besonders wichtig war.9 Als Beginn der Women’s Studies in Deutschland verglich sie die Sommeruniversitäten mit dem amerikanischen Vorbild und stellte sie der anglophonen Leserschaft von New German Critique vor.10 Wenn sie selbst fortan zeithistorisch forschen sollte, dann musste es eine Geschichte von unten werden – für und mit den Frauen, die den Nationalsozialismus erlebt, ihn mitgetragen, sich mit ihm arrangiert oder auch widersetzt hatten, vor allem aber auch für und mit den Frauen der nachfolgenden Generation, die daraus für ihre gegenwärtigen Kämpfe um Gleichheit lernen sollten. In der bis dahin vor allem in den USA und Großbritannien praktizierten Oral History sah sie für sich die Methode der Wahl, die sie sich gemeinsam mit ihren zumeist aus den Sozialwissenschaften kommenden Studentinnen erst noch erarbeiten musste, auch wenn sie an ihre Erfahrungen als Mitarbeiterin und Interviewerin in mehreren psychologischen, soziologischen und entwicklungspolitischen Projekten 7 Vgl. die Skizze einer Biographie von Regine Othmer in diesem Band sowie die Äußerungen Trögers, die hier als Anna Pam figuriert, in: Fraser et al.: 1968 A Student Generation 1988, S. 266 f. 8 Tröger: Kollontai 1975, in diesem Band. 9 Tröger: Weiterbildung 1977, vgl. die Kommentare von Ingrid Kurz-Scherf und Johanna Kootz in diesem Band. 10 Tröger: Summer Universities 1978, in diesem Band.
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anknüpfen konnte. Erstaunlicherweise sind gerade aus der in der Bundesrepublik heftig und unter vehementer Beteiligung von Annemarie Tröger in vielen Foren geführten Debatte um diesen in der etablierten Geschichtsforschung bis heute umstrittenen methodischen Ansatz nur vier ihrer Publikationen hervorgegangen.11 Zwei davon haben wir in diesen zweiten Block aufgenommen. Beide, der publizierte Abschlussbericht des von Annemarie Tröger geleiteten Forschungsprojektes über einen Berlin-Charlottenburger Arbeiterkiez in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus sowie ihr Interview mit Hilde Radusch, einer schon seit den 1920er Jahren offen lesbisch lebenden Berlinerin, zeugen von den Schwierigkeiten im Umgang mit dieser Methode. Sie verweisen aber auch auf Probleme in der als nicht-hierarchisch intendierten Projektzusammenarbeit und dokumentieren letztlich das Scheitern dieses von Tröger über viele Jahre engagiert betriebenen, jedoch von Anfang an unterfinanzierten »Kiezprojekts« zur mündlichen Geschichte.12 Aber Tröger hielt auch Ausschau nach neuen Quellen, mit denen sich der vergangene Alltag, seine zeitgenössische Wahrnehmung und Repräsentation erschließen lassen könnten. Lange vor dem in den 1990er Jahren propagierten Pictoral, Iconic oder Visual Turn beschäftigte sie sich mit Fotografien, deren Interpretation sie in origineller Weise mit Interviews verknüpfte, sei es, wie im Fall von Hilde Radusch, mit der portraitierten Person, sei es mit dem Fotografen oder der Fotografin selbst.13 In dem hier nachgedruckten Text kombinierte sie beides, das Interview mit der nach Paris und New York emigrierten Fotografin Ilse Bing über ihre Arbeit mit dem berühmt gewordenen Selbstportrait mit Leica von 1931.14 In einem dritten Block haben wir vier Aufsätze von Annemarie Tröger zur Frauengeschichte in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus zusammengestellt, die bis heute in der historischen Frauen- und Geschlechterforschung zu dieser Epoche nachhallen und – teils im englischsprachigen Original, teils in überarbeiteten Versionen und Übersetzungen ins Englische und Französische – außerhalb des deutschen Sprachraum rezipiert und diskutiert wurden, während die bundesdeutsche Mainstream-Geschichtswissenschaft nicht nur Trögers Texte, sondern die entstehende historische Frauenforschung überhaupt ignorierte und, als das nicht mehr möglich war, noch lange durch konsequentes Beschweigen marginalisierte.15 Mit dem frühesten dieser Texte von 11 In die Historiographie der Oral History in Deutschland sind sie freilich nicht eingegangen, vgl. Oral History in der deutschen Zeitgeschichte 2017, S. 110-145. 12 Tröger: »Ich komme da …« 1981 und Kleiber/Tröger/Wittmann: Mündliche Geschichte 1982, beide in diesem Band. 13 Tröger: Lebensgeschichte und Fotografie 1982; dies.: Das Ende der Dephot 1983. 14 Tröger: Zwischen Kunst und Zeitungsmarkt 1983, in diesem Band. 15 So beschreibt es unter Berufung auf Karin Hausen und Heide Wunder die Fachkollegin Adelheid von Saldern: »Schwere Geburten« 2005, S. 19 f. Vgl. Hausen, in: Ulla Bock: Pionierarbeit 2015, S. 143 f. Diese Marginalisierung ist zwar in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft besonders ausgeprägt, aber auch in anderen Fächern zu beobachten, vgl. die entsprechenden Kapitel ebd., S. 140-145, 193-198.
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1976 /77 eröffnete sie das Forschungsfeld »Frauen und Nationalsozialismus«, das in der historischen Frauenforschung über viele Jahre prominent bleiben sollte.16 Darin nahm sie die »Dolchstoßlegende der Linken: Frauen haben Hitler an die Macht gebracht« aufs Korn und rechnete sowohl mit den sexistischen Politiken und Diffamierungen seitens der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik ab als auch mit denen der neuen linken Gruppierungen, die das Erbe des 1970 aufgelösten SDS antraten.17 In dieser doppelten Zielrichtung schwangen ihr politisches Engagement in den USA und vor allem ihre hoffnungsvolle Sicht auf die CLUW-Aktionen noch immer mit, an die sie zeitgleich auch politisch mit der »Initiativgruppe gegen Frauenerwerbslosigkeit« und einer Kampagne für die »Hälfte aller qualifizierten Arbeitsplätze« für Frauen anknüpfen wollte.18 Dahinter stand unausgesprochen das marxistische Credo vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt: Nur die egalitäre qualifizierte Einbeziehung von Frauen in die Erwerbsarbeit und den Arbeitsmarkt würde politische Katastrophen, wie das Hineinschliddern in den Faschismus, und die widerstandslose, schlecht oder nicht bezahlte Indienstnahme der weiblichen Arbeitskräfte für herrschaftliche Zwecke verhindern – sei es »im wesensgemäßen Einsatz«, als den ihn das NS Regime bezeichnet hatte, sei es in der fortgesetzten Verwendung als »Rationalisierungsproletariat«, wie Tröger sie im modernisierten, neo-imperialistischen Kapitalismus decouvrierte. Die Rolle, die das NS -Regime bei der sexistischen Rationalisierung des kapitalistischen Arbeitsmarkts spielte, versuchte sie in mehreren Aufsätzen einzukreisen, von denen wir hier die ursprüngliche Version nachdrucken.19 In diesen Aufsätzen stützte sie sich vor allem auf die seit Mitte der 1970er Jahre rasch anwachsende, insbesondere auch angloamerikanische Forschungsliteratur zur Frauenerwerbsarbeit im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie auf zeitgenössische Studien etwa des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront (DAF ). 16 So Gisela Bock in einem Interview, das Cillie Rentmeister mit ihr am 12. August 2016 zur Erinnerung an die 40 Jahre zurückliegende erste Berliner Sommeruniversität 6.-10. Juli 1976 führte. 17 Tröger: Dolchstoßlegende 1977, in diesem Band. Zu den Vorläufern der Neuen Linken vgl. Frey: Vor Achtundsechzig 2020. 18 Die Gruppe gründete sich zunächst unter dem Namen »Initiativgruppe gegen Frauenarbeitslosigkeit« 1976 in Berlin (West) und warb im Winter 1976 /1977 mit einer Artikelserie in der Berliner Frauenzeitung Courage um Mitstreiterinnen: »Berliner Senat spart an Frauenstellen«, »Rationalisierung im Büro«, »Frauen: Zuletzt geheuert – zuerst gefeuert«, in: Courage 1 (1976) 4, S. 25-31; »Geld vom Arbeitsamt«, »Putzen kannst du auch zuhause«, in: ebd. 2 (1977) 1, S. 38-42; »Jeder zweite Arbeitsplatz«, in: ebd. 2 (1977), 1, S. 28 f.); Tröger: Beitrag zur Podiumsdiskussion 1978. Die Gruppe positionierte sich gegen das Establishment des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), vor allem seines Berliner Landesverbands, aber auch gegen die zeitgleiche feministische Kampagne »Lohn für Hausarbeit«. Vgl. auch die Kommentare von Ingrid Kurz-Scherf und Dorothee Wierling in diesem Band. 19 Tröger: Die Frau im wesensgemäßen Einsatz 1981, in diesem Band. Zu den späteren Versionen in Englisch und Französisch vgl. Trögers Schriftenverzeichnis in diesem Band.
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In den beiden späteren hier nachgedruckten Aufsätzen unternahm sie wiederum einzelbiographische Analysen von Ego-Dokumenten. Dies waren zum einen das anonym veröffentlichte Tagebuch einer »Frau in Berlin« über das Kriegsende und ihren Umgang mit den Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten, das seit seinem ersten Erscheinen 1954 bis heute in regelmäßigen Abständen skandalisiert, mittlerweile aber auch wissenschaftlich aufgearbeitet wird, sowie die einer Radiosendung von 1981 über drei Frauen entnommene Geschichte von B., einer jungen Frau, die durch Prostitution ihr Überleben sicherte.20 Tröger deutete die hier beschriebenen Abwehrreaktionen Berliner Frauen auf die massive Erfahrung sexueller Gewalt durch den Rückgriff auf Prostitution als Überlebensstrategie; sie unterstrich nicht den – unleugbaren – Opferstatus, sondern die Handlungsfähigkeit dieser Frauen, die von (ihren) deutschen Männern keinen Schutz mehr erwarteten, sich vielmehr untereinander stützten und herkömmliche Vorstellungen von Liebe und Ehe hinter sich ließen – eine provozierende, aber bis heute wenig rezipierte und diskutierte Interpretation.21 Zum anderen ist es ein von ihr geführtes Interview mit einer damals jungen Berliner Fließbandarbeiterin, bei der die Erinnerungen an das letzte Kriegsjahr im Zentrum standen. Diese Erzählungen von Bombardierungen und Hunger, den Arbeitsbedingungen und der Zwangsarbeit bei Siemens durchzog hingegen die Vorstellung, als Frau ohne Mann per se Opfer zu sein. Obgleich diese Arbeiterin mehr praktische Hilfe von Frauen erfuhr, setzte sie in dramatischen Situationen dennoch auf Männer, die die Rettung bringen sollten. In dieser kontrafaktischen Erwartung wirkte, so interpretierte es Tröger, der nationalsozialistische Männlichkeitswahn noch immer nach.22 Die letzten beiden von Annemarie Tröger Ende der 1980er Jahre verfassten und publizierten Texte haben wir in einen vierten Block gruppiert. Sie reflektieren aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven zwei Phasen ihres eigenen politischen Denkens und Engagements. Der in der Zeitschrift Le Mouvement Social erschienene Aufsatz entstand im Zusammenhang eines großen transnational angelegten Oral History Projekts über die Motive, Antriebskräfte, sozialen Bedingungen und zeitgenössischen Selbstverortungen der Protagonistinnen und Protagonisten der 68er-Bewegungen in den USA und mehreren westeuropäischen Ländern. In diesem Projekt hatten sich neun prominente ehemalige Mitglieder der Bewegungen in diesen Ländern – anders als Tröger zumeist inzwischen etablierte Akademikerinnen und Akademiker – zu einer Art kollektiver Autobiographie ihrer eigenen Generation zusammengefunden.23 Womöglich war der Zeitabstand zum 20 Tröger: Rape and Prostitution 1986, in diesem Band; von Saal: Anonyma: »Eine Frau in Berlin« 2019. 21 Vgl. den Kommentar von Atina Grossmann in diesem Band. 22 Vgl. Tröger: Memories 1987 und den Kommentar von Dorothee Wierling in diesem Band. 23 So der Titel der Publikation eines anderen Mitglieds des Forschungsteams, das auch den Kommentar in diesem Band übernommen hat: Luisa Passerini, Autoritratto di gruppo 1988; dies., Autobiography of a Generation 1996.
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Untersuchungszeitraum zu kurz, das Projekt startete schon 1982. Vielleicht verstellte die Nähe der Interviewer/innen zu den von ihnen Interviewten, die Identität der Forschenden mit ihrem Forschungsgegenstand den Blick auf die historischen Kontexte der eigenen Vergangenheit. Die Mitglieder der Projektgruppe kamen jedenfalls über länder- und themenspezifische Einzelbeiträge nicht hinaus, die dann von dem britischen Kollegen collagiert wurden.24 Wir drucken hier einen auf Deutsch verfassten Text von Annemarie Tröger ab, der bisher nur in der französischen Übersetzung erschien.25 Darin setzte sie sich mit der Geschichte des SDS und einigen ehemaligen Genossen auseinander, mit denen sie seit 1984 zahlreiche Interviews geführt hatte. Sie verstrickte sich in alte Debatten um die Klassenfrage, die Avantgarde und das Verhältnis zu den militanten Kämpfen in der »Dritten Welt«. Die Geschlechterfrage, die in ihren früheren Abrechnungen mit der Neuen Linken so zentral war, mag während der Interviews zur Sprache gekommen sein, in ihrem 1988 publizierten Text erwähnte sie sie nicht. Gleichwohl war diese Frage für sie keineswegs erledigt. In ihrem letzten Text, den wir hier abdrucken, nahm Annemarie Tröger diese Frage noch einmal auf.26 In dem fingierten, mitten im Umbruch von 1989 /90 geschriebenen »Brief an eine französische Freundin« reflektierte sie die prekären Zukunftsaussichten erwerbstätiger Frauen in einer sich ökonomisch liberalisierenden DDR vor dem absurd anmutenden Hintergrund von tatsächlich geführten Gesprächen mit ostdeutschen Ingenieuren in einer Wartehalle des Pekinger Flughafens. Wir haben einstige Mitstreiterinnen – Freundinnen, Kolleginnen, Studentinnen – und einen langjährigen Weggefährten gebeten, sich jeweils einem dieser Texte noch einmal zuzuwenden, seinen Entstehungszusammenhang zu skizzieren, seine Bedeutung in den damaligen Diskussionen zu reflektieren und ihn aus heutiger Perspektive zu kommentieren. Die meisten, die wir wegen ihrer fachlichen oder professionellen Nähe zum jeweiligen Sujet bzw. ihrer damaligen Zusammenarbeit mit der Autorin gefragt hatten, sind unserer Einladung gern gefolgt; ihnen allen danken wir sehr. Aber Annemarie Tröger war eine streitbare Person, was fast alle, die mit ihr gemeinsam unterwegs waren, irgendwann einmal zu spüren bekamen. Einige Wunschkommentatorinnen haben uns daher abgesagt. Lore Kleiber, in den 1980er Jahren Mitarbeiterin im »Kiezprojekt«, hatte uns hingegen schon zugesagt, als sie schwer erkrankte und 2019 starb, bevor sie ihre Überlegungen verschriftlichen konnte. Bedauerlicherweise ist es uns nicht gelungen, für Trögers letzten Text eine Person zu gewinnen, die ihn vor dem Hintergrund einer eigenen DDR-Biographie kommentiert hätte; die Absagen mögen künftigen wissenschaftshistorischen Studien als Quellen dienen. 24 Fraser: 1968 A Student Generation 1988. Weitere Einzelbeiträge von Projektmitgliedern (Luisa Passerini; Daniel Bertaux, Danièle Linhart und Beatrix le Wita) erschienen im selben Heft von Le Mouvement Social 143 (Apr.-Jun. 1988), das Luisa Passerini herausgegeben hat. 25 Tröger: Avantgarde 1988, in diesem Band. 26 Tröger: Brief 1990, in diesem Band.
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Schon jetzt gilt dies auch für die hier tatsächlich versammelten Kommentare. Sie unterscheiden sich nicht nur nach persönlicher Nähe und Distanz zwischen Autorin und Kommentator/in, sondern auch nach der fachlichen Perspektive auf den jeweiligen Text. Trögers Nicht-Disziplinarität kann heutzutage nur mehr mit einer Vielzahl disziplinärer Ansätze, hier sind es soziologische, politologische und geschichtswissenschaftliche, begegnet werden. Einige Kommentatorinnen haben darüber hinaus in ihrer Re-Lektüre eines Textes der Weggefährtin, Kollegin oder Dozentin die Chance genutzt, den eigenen beruflichen, intellektuellen und wissenschaftlichen Entwicklungen nachzuspüren und auf diese Weise zugleich Ego-Dokumente erzeugt, die zukünftiger historischer Analyse harren. Fast alle Kommentare thematisieren in der einen oder anderen Weise die unauflösliche Verbindung von politischem Aktivismus und wissenschaftlicher Analyse, die Trögers Texte kennzeichnet und sie mal zu einem intellektuellen Essay, mal zu einem feministisch-strategischen Manifest, selten aber zu einem soziologischen oder zeithistorischen Aufsatz comme il faut geraten ließ. Ihre Texte waren avantgardistisch, indem sie Politik und Wissenschaften samt den dazugehörigen Disziplinen durcheinanderwirbelten, und konservativ zugleich, indem sie, wenn auch zunehmend verzagt, die feministische Aufbruchstimmung der 1970er Jahre in eine Zeit weiterzutragen versuchten, in der sich die inzwischen so genannte Frauen- und Geschlechterforschung im disziplinär-etablierten Wissenschaftsbetrieb einzurichten begann. Genau dieser Aufbruchsstimmung, die von der Frauenbewegung mit ihren vielfältigen Gruppen und Projekten, vor allem aber ihren Kämpfen um egalitäre Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen von Bildung, Macht, Geld und Raum in die Universitäten hineingetragen wurden, verdankte sich die spätere akademische Institutionalisierung von Frauen- und Geschlechterforschung.27 Diese von der erwartungsvollen Suche nach neuem, unterdrücktem und verschüttetem, der eigenen Befreiung dienendem Wissen getragene Stimmung bleibt freilich auf der Strecke, wenn die Geschichte der Frauen- und Geschlechterforschung in Kompendien gepackt wird, die das in über vier Jahrzehnten akkumulierte Wissen in Handbuchartikeln portionieren. Mit ihrem kiloschweren Gewicht sollen diese Bände vor allem die Gewichtigkeit eines Forschungsfeldes unterstreichen, das seit einiger Zeit – unter dem euphemistischen Motto: »Gender machen wir doch alle« – vom institutionellen Rückschnitt und vor allem von der Umwidmung bzw. Einsparung der mühsam erkämpften geschlechterwissenschaftlich (teil-)denominierten Professuren bedroht ist.28 Auch wissenschaftssoziologische und -historische oder kollektivbiographische Studien zur Entstehung der Frauen- und Geschlechterforschung, die gern von 27 Vgl. aus der umfangreichen Literatur zuletzt Metz-Göckel: Frauenhochschulbewegung 2019, S. 1033-1042; Frevert: Bewegung und Disziplin 1988, S. 240-262. 28 Handbücher: Kortendiek u. a. (Hrsg.): Interdisziplinäre Geschlechterforschung 2019; von Braun / Stephan (Hrsg.): Gender@Wissen 2005. – Zur gegenwärtigen Gefährdung der Frauen- und Geschlechterforschung an den Hochschulen vgl. Ulla Bock: Pionierarbeit 2015, S. 198-220.
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den »Pionierinnen« oder der »ersten Generation« von Wissenschaftlerinnen auf diesem Feld sprechen, produzieren unversehens blinde Flecken, wenn sie ihre Untersuchungssamples auf diejenigen reduzieren, die irgendwann auf eine Professur berufen wurden.29 Auf diese wenigen glücklichen Gewinnerinnen wartete zwar noch immer reichlich frauen(wissenschafts)politische Kärrnerarbeit in den universitären Gremien und Institutionen. Zu den Pionierinnen der Frauenforschung zählten aber sehr viel mehr Frauen, die, wenn sie als Graduierte, Promovierte oder auch Habilitierte die Universität verlassen hatten, nie wieder dort Fuß fassen konnten. Allenfalls schlugen sie sich mit prekären Jobs, zeitlich befristeten Projekten und schlecht bezahlten Lehraufträgen durch. So beobachtete es Irene Stoehr bereits 1983 anlässlich des vierten jener 1978 in Berlin gestarteten Historikerinnentreffen, zu denen sich historisch forschende Frauen verschiedenster Fachrichtungen in Jahresabständen zusammenfanden, um ihre Ergebnisse zu präsentieren: Mit der Uni jedenfalls konnten sich im Auditorium wohl kaum viele Frauen identifizieren, selbst wenn sie es gewollt hätten. Denn die, die historische Frauenforschung in den letzten Jahren auf den heutigen Stand gebracht haben, sind zum großen Teil erwerbslos oder leben von Doktorandenstipendien oder haben allenfalls untergeordnete, zeitlich begrenzte Stellen an Universitäten ohne Aussicht auf eine Absicherung auf Lebenszeit.30 Nach dem Auslaufen ihrer Mitarbeiterinnenstelle an der FU gehörte zu diesem Zeitpunkt auch Annemarie Tröger wieder zu dieser größeren Gruppe von Pionierinnen, deren Spuren in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte der in den 1970ern entstehenden Frauen- und Geschlechterforschung im Allgemeinen und der historischen Frauen- und Geschlechterforschung im Besonderen meist übersehen werden.31 29 So u. a. Ulla Bock: Pionierarbeit 2015; Vogel (Hrsg.): Wege in die Soziologie 2006; Schaser / Schnicke: Der lange Marsch 2015, S. 79-110. 30 Stoehr: 4. Historikerinnen-Treffen 1983, S. 38 f. Das erste bundesweite HistorikerinnenTreffen wurde von den Soziologinnen Gerlind Lachenicht und Gudrun Schwarz, der Politologin Gabriele Czarnowski sowie den Historikerinnen Gisela Bock, Atina Grossmann und Carola Sachse vorbereitet und fand 1978 in Berlin statt; nachfolgende Treffen mit mehreren Dutzend Referentinnen und bis zu 600 Teilnehmerinnen waren in Bremen (1980), Bielefeld (1981), Berlin (1983), Wien (1984), Bonn (1985) und Amsterdam (1986). Vgl. zu diesen Treffen ausführlicher Schaser: Der Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung 2015, S. 11-18; dort werden auch die Dokumentationen nachgewiesen. Der multidisziplinäre und zunehmend multinationale Charakter der Treffen lässt sich exemplarisch anhand des Autorinnenverzeichnisses und des umfänglichen Programms des Wiener Treffens rekonstruieren: Wiener Historikerinnen (Hrsg.): Die ungeschriebene Geschichte 1985, S. 413-425. 31 Vgl. Gisela Bock: Geschlechtergeschichte auf alten und neuen Wegen 2006, S. 45-66; Bock konzentriert sich hier auf die neueren Entwicklungen seit Mitte der 1980er Jahren, als die historische Frauenforschung zunehmend mehr von fachwissenschaftlich ausgebildeten Historikerinnen ausgeübt wurde, die freilich noch immer um die
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Zu vollends grotesken Ergebnissen führt das Pionier-Paradigma, wenn man sich daranmacht, die Entstehung der historischen Frauen- und Geschlechterforschung aus der Geschichte jener lange ignorant schweigenden Disziplin zu rekonstruieren, der sie heute als Teil- oder Bindestrich-Disziplin (Frauen- und Geschlechtergeschichte, FGG) zugerechnet wird. Angelika Schaser und Falko Schnicke haben dies zwischen 2011 und 2013 versucht, indem sie die kommentierten Vorlesungsverzeichnisse der Historischen Institute, Fachbereiche oder Seminare von fünf westdeutschen Universitäten im Zeitraum von 1971 bis 1990 nach möglichen FGG -relevanten Lehrveranstaltungen durchsuchten und ihre Funde in drei Kategorien gruppierten, nämlich in solche, die sich explizit der FGG widmeten (1), solche, in denen neben anderen Aspekten auch die FGG erwähnt wurde (2), und solche, die sich mit dem grundsätzlich FGG -affinen Bereich der Familien- und Sexualitätsgeschichte beschäftigten, ohne jedoch frauen- und geschlechterhistorische Aspekte zu benennen (3).32 Erstaunt erfährt die Zeitzeugin dann, dass »besonders zu Beginn […] Männer die frauen- und geschlechtergeschichtliche Lehre« dominiert und etwa an der FU Berlin als einem der Zentren der FGG Ernst Nolte und Wolfgang Wippermann Seminare der Kategorie zwei, Letzterer in den 1980er Jahren sogar solche der Kategorie 1 angeboten hätten.33 Nolte kann sich posthum gegen diese Einordnung seiner Lehrveranstaltungen nicht mehr wehren. Er hätte sie gewiss als böswillige Unterstellung gewertet, war er es doch, der als Fachbereichsratsvorsitzender Ende der 1970er Jahre der nicht historisch examinierten Annemarie Tröger, der zwar so examinierten, aber noch nicht promovierten Carola Sachse, aber auch der längst promovierten Historikerin Gisela Bock untersagte, am Friedrich-MeineckeInstitut (FMI ) der FU zu lehren, und sie ans politikwissenschaftliche OttoSuhr-Institut (OSI ) verwies, wo sie ihm politisch passender beheimatet schienen.34 Wippermann reagierte 2015, von seiner Kollegin Gisela Bock zu diesen verblüffenden wissenschaftshistorischen Befunden befragt, »ironisch«, er habe bis dahin »von dieser seiner Bedeutung noch nichts gewusst«, halte gleichwohl »die Zuschreibung für ›Unsinn‹«.35 In einer scharfen Replik auf Schaser und
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erkennung ihrer Forschungsrichtung im Fach und in den fachwissenschaftlichen Institutionen rangen. Schaser / Schnicke: Der lange Marsch, S. 95. Ebd., S. 96. Gisela Bock: »Ende der Vernunft«? 2016, S. 265. Carola Sachse war bei dem von Bock angedeuteten Gespräch mit Nolte zugegen, bis er sie als Nichtpromovierte des Raumes verwies mit dem Hinweis, ihre Anwesenheit sei als studentisches Go-in nicht zu dulden. Noltes Ablehnung mochte primär aus seinen Vorbehalten gegenüber dem Arbeitsbereich Vergleichende Faschismusforschung am ZI 6 der FU resultieren, den er nicht ganz zu Unrecht als Gegenprogramm zu seiner eigenen Faschismusforschung wahrnahm: Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv (FU -Archiv), ZI 6: Nolte an Tröger 12. 1. 1976; Nolte an Siegel 17. 2. 1976; Siegel an Nolte 4. 3. 1976. Im Ergebnis blieb es sich gleich: Frauen- und geschlechterhistorische Lehre wurde aus dem FMI an das OSI und das Historische Institut der TU Berlin verbannt. Gisela Bock: »Ende der Vernunft«? 2016, S. 270.
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Schnicke hat Gisela Bock nicht nur die Rolle dieser und anderer ungewollt und unverdient zu frauenhistorischen Ehren gelangten männlichen Kollegen zurechtgerückt.36 Sie hat auch die untaugliche Kategorienbildung zurückgewiesen und darüber hinaus das gesamte Untersuchungsdesign, das die Anfänge der historischen Frauen- und Geschlechterforschung dort sucht, wo sie am wenigsten stattfand, nämlich in den historischen Seminaren und Fachbereichen der Universitäten, ad absurdum geführt. Tatsächlich begann die Frauenforschung in den verschiedensten Foren innerhalb und außerhalb der Universitäten oft mit historischen Fragestellungen. Die Filmemacherin Helke Sander, eine der Gründerinnen des Aktionsrates zur Befreiung der Frau von 1968, hob dies 1991 in ihrer Ansprache zur Bestattung von Ingrid Schmidt-Harzbach, ebenfalls einer Protagonistin der ersten Stunde, in deren Frauenseminare am OSI Hunderte von Frauen geströmt waren, hervor: Wir alle waren damals getrennt von der politischen Geschichte unseres Geschlechts, ja, ahnungslos, daß es so eine Geschichte überhaupt gegeben hatte. Ingrid schuf die ersten Verknüpfungen, indem sie Lilly Braun für uns entdeckte, eine der ersten von den Sozialisten abweichenden Feministinnen, an die die Erinnerung gründlich ausgelöscht worden war.37 Geschichte wurde gewissermaßen zur Leitdisziplin der frühen Frauen- und Geschlechterforschung, wie es die Historikerin Gabriella Hauch nicht nur bezogen auf die Entwicklung in Österreich beschrieb: Geschichte erlebte entsprechend dem Motto »Zukunft heißt erinnern« […] eine Hochkonjunktur. Nicht nur ausgebildete Historikerinnen arbeiten im historischen Feld, sondern ebenso Soziologinnen, Politologinnen, Pädagoginnen, Literaturwissenschaftlerinnen, Philosophinnen etc. Angesichts der radikalen Analyse der Diskriminierungserfahrungen diente das ›Sichtbarmachen‹ von Frauenleben in der Vergangenheit als Medium der Selbstbewusstwerdung. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stand die Analyse der Gewordenheit von Geschlechtscharakteren und ihrer historischen Wandlungsprozesse.38 Dementsprechend fanden frauen- und geschlechterhistorische Veranstaltungen nicht nur in der »Academia« statt, sondern auch in Volkshochschulen, Geschichts36 Schaser / Schnicke: Der lange Marsch 2015, S. 84, 96 f. erwecken hingegen geradezu den Eindruck einer FGG -Männerbewegung: Sie nennen namentlich ungefähr 50 Kollegen verschiedener Statusgruppen, die im Untersuchungszeitraum FGG in mindestens einer ihrer drei Kategorien unterrichtet haben sollen. Von ihren Kolleginnen in der Lehre werden nur jene zehn namentlich erwähnt, die sie als die die FGG »maßgeblich« prägenden Protagonistinnen ausgewählt und für den ersten Teil ihrer Studie interviewt hatten. 37 Sander: Sie war eine leidenschaftliche Zeitgenossin 1991. 38 Hauch: »Wir, die viele Geschichten haben …« 2003, S. 26.
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werkstätten, regionalen Frauengeschichtsgruppen, auf Frauenstadtrundgängen und in Frauenarchiven.39 Bis in die frühen 1980er Jahre hinein sahen sich feministische Historikerinnen aller Fachrichtungen und Länder, wie es Joan Scott später auf den Punkt brachte, als »the knowledge-producing arm of a broad-based feminist movement devoted to radical social change«.40 Annemarie Tröger hätte es nicht treffender formulieren können. In einer so verstandenen Frauengeschichte – einem »grand teleogical narrative of emancipation« – fanden ihre Beiträge ihren Ort. In dem Maße, wie sich die »eigentlichen« Historikerinnen ab Mitte der 1980er Jahre immer mehr auf ihr Fach samt seinen wissenschaftlichen und methodischen Ansprüchen, ihre nationalen und internationalen Fachgesellschaften und deren akademisch-meritokratische Anerkennungsregeln besannen, sich von »insurgents« zu »disciplinarians« verwandelten, sich etwa 1990 in Deutschland im Arbeitskreis Historische Frauenforschung innerhalb der International Federation für Research in Women’s History separat organisierten, wurde der intellektuelle Raum für die anderen enger, schwand die wissenschaftliche Legitimität feministisch motivierter Forschungsvorhaben dahin und wog der Generalverdacht wissenschaftlich illegitimer frauenpolitischer Identitätsstiftung umso schwerer.41 Jene, die in den fachwissenschaftlichen Institutionen schließlich Fuß gefasst hatten, warnte Joan Scott 2004 vor allzu großer Selbstgewissheit: »… once viewed as trangressors, we are now in possession of legitimate title. But ownership for those who began as revolutionaries, is always an ambiguous accomplishment.«42 Für jene, die dort nicht zugelassen waren, weil sie die formalen Zugangskriterien nicht erfüllten, aber auch für jene, die sich wie Annemarie Tröger um nichts auf der Welt um solche regulierte Zugehörigkeit bemüht hätten, war die Zeit der fröhlich-feministischen Wissenschaft vorbei.
39 Hauch: Geschichtswissenschaften 2019, S. 525. Ein weiterer Beleg ist auch die Zusammenstellung von Lehrveranstaltungen der Frauenforschung von Hanna Beate SchöppSchilling, in die selbstverständlich auch Lehrveranstaltungen an Volkshochschulen einbezogen wurden. Schöpp-Schilling: Frauenspezifische Lehrveranstaltungen 1972-1977, S. 402-408. 40 Scott: Feminism’s History 2004, S. 13. Vgl. auch Gisela Bock: Geschlechtergeschichte, S. 45 f. 41 Alle Zitate: Scott: Feminism’s History 2004, S. 12 f. Schaser: Arbeitskreis 2015, S. 18-20, 26-30, 32, 39, 42 f., 104 f. deutet dieses Spannungsverhältnis mehrfach an und beschreibt die akademischen Selektionskriterien der professoralen Gründerinnen, anfangs vor allem Gisela Bock und Karin Hausen, als gate keepers, die den Zugang von Frauen- und Geschlechterhistorikerinnen zu den Institutionen des Fachs regulierten. 42 Scott: Feminism’s History 2004, S. 11.
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Editorische Notiz In das Schriftenverzeichnis Annemarie Trögers am Ende dieses Bandes wurden alle uns bekannten veröffentlichten Schriften aufgenommen sowie die unveröffentlichten Manuskripte, die wir hier erstmals publizieren. Das Verzeichnis dient auch dem Nachweis der Erstveröffentlichung der hier nachgedruckten Texte. Die entsprechenden Literaturangaben sind typographisch hervorgehoben. Die hier abgedruckten Texte Annemarie Trögers aus den 1970er, 1980er und 1990er Jahren wurden an die reformierte deutsche Rechtschreibung von 2006 angepasst, allfällige Rechtschreib- und Grammatikfehler stillschweigend korrigiert. Der Anmerkungsapparat wurde überarbeitet: Fehlende Daten in den Fußnoten sind ergänzt und Irrtümer – soweit erkennbar – korrigiert worden. In seltenen Fällen haben wir Literaturangaben ergänzt und entsprechend markiert. Um den Fußnotenapparat zu entlasten, haben wir für alle im Buch enthaltenen Texte ein gemeinsames Literaturverzeichnis erstellt und die Literaturverweise in den Fußnoten durch Kurztitel ausgewiesen.
Danksagung An erster Stelle bedanken wir uns bei Renate Bridenthal, Atina Grossmann, Elizabeth Harvey, Johanna Kootz, Ingrid Kurz-Scherf, Klaus Meschkat, Mary Nolan, Luisa Passerini, Tilla Siegel und Dorothee Wierling, ohne deren Arbeit unser Vorhaben, ein Buch mit kommentierten Texten von Annemarie Tröger herauszugeben, nicht realisierbar gewesen wäre. Roman Klarfeld und Dagmar Nöldge vom FFBIZ -Archiv sowie Birgit Rehse, Irene Jentsch und Josefa Schwärmer vom Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin danken wir, dass sie uns auch unter den eingeschränkten Arbeitsbedingungen und Öffnungszeiten während der Corona-Pandemie mit Rat und Tat bei der Recherche unterstützt haben. Wir danken Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker als freundlichen und hilfreichen Auskunftsgebern bei vielerlei Nachfragen. Für Druckkostenzuschüsse danken wir dem Deutschen Akademikerinnenbund e. V. und der Deutschen Stiftung Frauen- und Geschlechterforschung. Unser besonderer Dank gilt Burghard Claus für seine großzügige finanzielle Unterstützung, ohne die das Buch nicht zustandegekommen wäre.
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Tugurios: Über Slums in Lateinamerika (1970) 1 Sprecherin: Eindrücke und Bewertungen sowie Interviewfragen Sprecher: stärker die Fakten, Statistiken usw. Zitatsprecher Übersetzungssprecherin: Ifigenia Übersetzungssprecher: Jose, Vicente Sprecher: Sie werden »villas de miseria«, »callampas«, »favelas«, »rancherios«, »tugurios«, genannt und haben noch viele andere Namen. Sie sind die Slums der armen Welt. Es gibt keine genauen Statistiken über ihr Ausmaß, man kann es nur abschätzen an den offiziellen Zahlen zum Wohnungsdefizit. In Lateinamerika fehlten 1967 22 Millionen Wohnungen, heute sind es mehr, in dreißig Jahren werden es hundert Millionen sein. Nehmen wir eine durchschnittliche Familiengröße von nur sechs Personen an, dann leben 132 Millionen in unzureichenden und zum größten Teil in nicht menschenwürdigen Behausungen. Das heißt bei der Gesamtbevölkerung von 280 Millionen, dass ungefähr die Hälfte in unzumutbaren Behausungen, das heißt in Slums lebt oder überhaupt keine Wohnung hat. Sprecherin: Slums bestehen aus selbstgebauten Hütten, notdürftig zusammengeschlagen aus Pappe, Wellblech, Latten, breitgestampften Blechbüchsen, Papier, Lehm. Sie sind in keine Stadtplanung einbezogen. Sie haben kein fließendes Wasser, Frauen und Kinder müssen es oft von weither holen. Manchmal wird Wasser in Tonnen herbeigeschafft und zu teuren Preisen verkauft. Elektrizität ist entweder nicht zu haben oder wird heimlich von nahen Drähten abgezapft. Tod durch elektrischen Schlag ist häufig. Abwassersysteme und oft sogar Sickergruben sind unbekannt, Müllabfuhr gibt es nicht, oft sind die Siedlungen selbst auf Müllgruben errichtet oder auf unwegsames Land gebaut, an steilen Hängen und in Flussbetten. Überschwemmungen und Erdrutsche sind üblich. Schulen und Krankenhäuser sind weit entfernt, überfüllt oder aus materiellen Gründen einfach unerreichbar. Sprecher: Und diese Slums vermehren sich von Tag zu Tag. Wachsen die Städte Lateinamerikas jährlich um 5 bis 7 Prozent, so wachsen die Elendsviertel 1 Anm. d. Hrsg.: Das Feature wurde im Dritten Programm des Westdeutschen Rundfunks in der Reihe »Kulturelles Wort« am Dienstag, 30. Juni 1970, gesendet. Das Manuskript wurde von den Herausgeberinnen an einigen Stellen gekürzt, die durch Auslassungszeichen […] gekennzeichnet sind. Anders markierte Auslassungen und Ergänzungen stammen von der Autorin.
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doppelt so schnell, 12 bis 14 Prozent. Man hat errechnet, dass zum Beispiel die peruanische Hauptstadt Lima in 15 Jahren zu 80 Prozent aus solchen Ansiedlungen bestehen wird. In Lateinamerika könnten 153 Millionen Menschen arbeiten, sie sind die sogenannte aktive Bevölkerung. 18 Millionen von ihnen sind arbeitslos und 75 Millionen sind unterbeschäftigt. Das heißt: Mehr als 60 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung hat nicht die Möglichkeit, ihre Arbeitskraft auszunutzen.2 Diese 60 Prozent der Bevölkerung sind nach unserer Definition die ›marginale Masse‹, sie sind ausgeschlossen vom eigentlichen Produktionsprozess, und was ihnen vom gesellschaftlichen Reichtum zufällt, reicht kaum, um das nackte Leben zu erhalten; sie sind marginal, das heißt, sie sind bedeutungslos für die Wirtschaft. Sprecherin: Die Elendsviertel in den Städten sind nur der sichtbare Ausdruck der Marginalität. Sie erregen die Neugier der Sozialwissenschaftler und die Besorgnis der Herrschenden. Die Millionen, die auf dem Lande unter noch schlimmeren Bedingungen leben müssen, die Unzähligen, die noch nicht einmal eine erbärmliche Hütte besitzen, die sogenannten Straßenschläfer, und die Menschen, die zu 40, 50, 60 in einem Haus leben, das für eine Familie gedacht ist, sie alle gehören zu der marginalen Masse. Ifigenia Valesquez Quintero, die jetzt ihr Leben erzählen wird, gibt ein deutlicheres Bild vom Leben im Elendsviertel, als alle Analysen und Statistiken es tun könnten. Sie lebt in Medellín, einer der drei großen Städte Kolumbiens, ist alleinstehend und hat zwei Kinder. Interview: Ifigenia Velasquez Quintero, O-Ton: Ifigenia: Ich heiße Maria Ifigenia Valesquez Quintero, Alter 38 Jahre. Ich komme aus den Dörfern des Ostens. Ich konnte zu Hause nicht arbeiten, da wir keine Arbeitsgeräte hatten, wie eine Hacke, ein Beil, ein großes Messer. Deswegen ging ich also zusammen mit meinem Vater zur Arbeit, um ihm zur Hand zu gehen. Wir schnitten zum Beispiel Zuckerrohr, schälten es und trugen es fort. Ich ging Hanf holen und bündelte ihn. Dann haben wir einen ganzen Tag Heu gewendet auf einer Weide. Da wir keine anderen Möglichkeiten hatten, als auf den Bauernhöfen zu arbeiten, gaben sie uns einen Peso und eine Mahlzeit am Tage. Sprecherin: 1 Peso = 20 bis 25 Pfennig. Ifigenia: Mein Vater erlitt einen Schwächeanfall, und der Arzt sagte ihm: »Es ist Unterernährung«, ein anderes Mal: »Es ist Schwäche«, und dann: »Es ist Anämie«. Er musste sich ins Bett legen. Ich erinnere mich, wie sie ihn auf einer Krankenbahre heruntertrugen, weil er schon wie tot war. Da gingen wir alle, die Kinder meines Vaters, in die nächsten Dörfer, um zu sehen, ob sie uns bessere Arbeit geben könnten oder ob sie uns besser bezahlten. Die Lage in den Dörfern war schrecklich, fürchterlich, wir mussten viel hungern. Also wanderten wir von 2 United Nations CEPAL , o. T., in: Primera Plana 29. 4. 1969, S. 94.
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einem Dorf ins andere, um zu sehen, ob sie uns irgendwo besser bezahlten. Wir haben viel gelitten. Weil Vater und Mutter nicht das Nötigste zum Leben verdienen konnten, ernährten wir uns von Brei aus Pomeranzen, von Rüben, gekochten Erbsen und von Platanos.3 Aber richtige Nahrungsmittel … nichts. Es gibt weder Fleisch, noch Eier, noch Milch, was doch die beste Nahrung für alle Unterernährten ist. Deshalb also kamen wir, einer meiner Brüder und ich, nach Medellín. Und weil wir beide unverheiratet sind, gab es für uns keine Möglichkeit, die Arbeit zu bekommen, die wir gerne haben wollten, nämlich einen Arbeitsplatz in einer Fabrik. Das also ist meine Lage, deshalb lebe ich in einer Hütte im Tugurio »Puente del Mico«, wo sie uns ständig drohen, heute oder morgen die Hütte abzureißen. Wir haben nur eine einzige Stütze, den Pater Vicente Mejia, der uns einigt und organisiert, und deswegen haben sie ihn ins Gefängnis gesperrt, geschlagen und verletzt. Und ihm helfen wohlgesonnene Leute, damit sie uns nicht die Hütte abreißen. Was, so frage ich Sie, können wir in diesem Fall machen, wenn uns alle Welt erniedrigt, und wenn die, die Land besitzen, es lieber als Weide behalten oder Gestrüpp darauf wachsen lassen, anstatt es uns Armen zu geben? Mir erscheint es grausam, dass sie mehr Mitgefühl für Tiere als für uns Christen haben. Für uns ist es eine schreckliche Lage, immer denken zu müssen, dass sie uns heute oder morgen auf die Straße setzen können. Wie sollen wir überhaupt leben, wenn wir keine Arbeit finden, um ein Haus oder ein Zimmer und schließlich die Ausbildung für die Kinder und das Essen für uns zu bezahlen? Aber wenn ich Arbeit suche, sagen sie mir, ich bin zu nichts nutze, weil ich in einem Tugurio wohne, dass wir sehr liederlich und schmutzig und verdächtig sind. Señorita, ich will sehr gern arbeiten. Aber (als Dienstmädchen) bieten sie mir eine Bezahlung von 2 Pesos. Und wie soll ich für 2 Pesos arbeiten, wenn meine Kinder von 2 Pesos am Tage nicht leben können? Ich würde also arbeiten gehen, verdiente vielleicht für mich irgendetwas zu essen. Aber meine Kinder, was essen die? Das ist völlig unmöglich. Einen Peso kostet schon die Fahrt zum Stadtzentrum und zurück, also bleibt mir nur ein Peso, um uns davon zu ernähren. Das ist unmöglich. Ich will nicht arbeiten, wenn sie mir nicht einen Lohn, na, sagen wir von 10 Pesos zahlen. Was ich möchte, ist: ordentliche Nahrung für meine Kinder, eine bessere Behausung und Möglichkeiten, sie etwas lernen zu lassen. Ich war ein halbes Jahr in der Schule, aber nur halbtags. Und dann musste ich arbeiten. Papa war sehr krank und Mama auch, und so musste ich alle meine Geschwister ernähren. Ich arbeitete für einen Peso und eine Mahlzeit am Tag. Sie sehen ja, wie unterernährt ich bin. Sprecherin: Wie haben Sie Ihre Hütte gebaut? 3
Anm. der Hrsg.: Platanos sind Kochbananen.
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Ifigenia: Damals, als ich ankam, bin ich durch alle Tugurios gegangen, um Unterkunft zu suchen. Ich hatte Rheumatismus und war teilweise gelähmt und musste mich deshalb an Wänden und Gesträuch festhalten, um überhaupt gehen zu können. Im Walde habe ich einen Mann getroffen und ich fragte ihn: »Señor, würden Sie so liebenswürdig sein und mir einen kleinen Pfahl schenken, um meine Hütte zu bauen?« – Warten wir ab, ob er mir ein paar überlässt – und er sagt: »Ja, Señora, und wie wollen Sie die fortschaffen? Haben Sie jemanden, der sie wegbringen kann?« Also sagte ich zu ihm: »Ja, Señor, ich habe einen Sohn, der mir helfen kann zu tragen, wenn sie nicht zu schwer sind.« Und so schenkte er mir einige Latten und ein paar kurze Pfähle. Ich ging also zurück, rief meinen Sohn und ein paar Compañeros aus dem Tugurio, die sahen, wie ich litt. Und sie gingen mit, um mir zu helfen, die kleinen Pfähle zu holen. Ich habe mit dem Kleinen dann Löcher geschaufelt. Wir konnten die Hütte nur sehr klein bauen, ein Bett hat darin Platz und eine Wiege. Nun, wir haben uns darin eingerichtet. Die Herren aus dem Viertel waren sehr freundlich, sie schenkten mir eine zerrissene Matratze, sie gaben mir ein Bettgestell, Bretter wurden mit Stricken zusammengebunden für das Kinderbett … alles sehr billig. Wir ordnen alles und legen uns schlafen … klar, es steht … sehr gut. Meine Hütte ist sehr schief, ich habe alle Ritzen mit Lehm verschmiert, aber es ist sehr schlecht, das Dach ist voller Löcher, alles ist kaputt, nun ja, wir haben sehr gefroren. Wir haben keine Decken. Die Kleider, die ich da habe, sind mir von guten Menschen geschenkt worden. Und ich habe mich halten können mit dem bisschen Essen, das mir alle Leute im Tugurio geben. Denn ich habe keine Möglichkeit, eine bezahlte Arbeit zu finden, um Essen für uns, für die Kinder zu kaufen und die Schule für Alberto, der jetzt in einem Jahr ist, das sie das dritte nennen. Also richte ich mich ein mit dem bisschen Arbeit, die ich da habe, die mir alle acht Tage 4 Pesos bringt. Aber das muss ich für das Nötigste aufheben, ich kann ihm kein Schulheft geben, keinen Katechismus, keines von diesen … Wörterbüchern, denn ich habe nichts, womit ich es bezahlen könnte. Wir leiden viel, Señorita. Ich möchte gern Leute kennenlernen, die uns helfen, damit wir genau wissen: Niemand vertreibt uns aus diesem Tugurio. Damit sie uns auf diesem Plätzchen lassen. Das wäre eine großartige Sache für uns. Wir sagen nicht, dass wir sehr glücklich sind in einem Tugurio, wo wir so viel leiden. Aber sicher, es ist besser, sie lassen uns hier und machen es nicht wie mit den Leuten aus »Villa Socorro«. Sprecherin: Ein mit staatlichen Mitteln erbautes Unterklassenviertel. Ifigenia: Die haben sie ausgetrieben, weil sie nicht wussten, womit sie zahlen sollten, und die noch mal anfangen mussten, weiter außerhalb neue Hütten zu bauen. Also das »Instituto Credito Territorial« hat Ausweisungsbefehle an alle Leute vom Viertel »Alfonso Lopez« geschickt, um sie zu vertreiben. Wir gingen alle hin, selbst wenn sie uns töten würden, denn was können wir schon für die Compañeros tun, als sie zu verteidigen? Sprecherin: Wie arbeiten die Polizei und die Sicherheitspolizei in den Tugurios? 28
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Ifigenia: Das ist sehr schlimm. Stellen Sie sich vor, Señorita, sie wollten mich aus meiner Hütte rausschmeißen, die, wie ich gesagt habe, sehr klein ist. Es kamen acht. Sie sagten uns, wir sollten uns fortscheren, wir sollten dahin gehen, wo wir hergekommen sind, und dass sie uns 20 Pesos geben würden. Also, Señorita, wie sollen wir das machen? Denn ich komme von weit her, 5 / Meilen Fußweg von Rio Negro bis zum Dorf. Wie soll ich denn von hier bis nach Rio Negro und von Rio Negro nach Cocornâ, das mein Heimatort ist, kommen? Das wäre für mich sehr schwierig. Und ich sagte zu dem Herrn: »Hören Sie mal, Señor, mit 20 Pesos kann ich noch nicht mal die Fahrt nach Rio Negro bezahlen! Und was essen wir auf dem Weg?« Was soll aber einer machen, wenn die Polizisten ihn ständig misshandeln und schlagen? Und wenn einer eine etwas größere Hütte hat, auch ein Elendsquartier, dann sagen sie: »Was, der verbreitert sich hier, lasst uns den mal ins Gefängnis sperren.« Und sie bringen ihn zur »Permanencia del Norte«. Sprecherin: Das ist ein Gefängnis in Medellín. Ifigenia: Diese schrecklichen Ausweisungsbefehle! Sie haben drei davon geschickt, aber sie haben uns nicht dazu bringen können, zu gehen, sie haben uns nicht wie Kehricht auf die Straße werfen können. Früher einmal haben sie uns aus dem Viertel »Estacion de Villa« hinausgeworfen. Sie haben uns auf eine Weide gesperrt, in die pralle Sonne und in den Wind, ohne einen Schutz, wir hungerten und froren. Ich sah, wie die Kinder abmagerten, ein Haufen Kinder von zehn, elf Familien. Das war der Grund, warum sie auf den Pater Bolivio losgegangen sind, ihn geschlagen haben und die Soutane zerrissen, was auf mich einen schrecklichen Eindruck gemacht hat. Sie steckten ihn ins Gefängnis und dort misshandelten sie ihn, schmissen ihn gegen einen Zementblock … Was können wir gegen die Polizei machen, die uns unterdrückt, gegen die Großgrundbesitzer … gegen die Oligarchen da, was können wir schon gegen sie tun … wir können nichts machen. Wir, so sagen sie, sind Elende, aber wir sind nicht elend. Wir sind dazu verdammt, ständig in Ketten zu leben. Aber warum sind wir arm? Nicht weil wir Elende sind. Wir haben ein gutes Herz. Sprecher: In den Köpfen von Verwaltungsbeamten und Angehörigen der Bourgeoisie stellt sich das Problem der Landflucht so dar: Nach Jahrhunderten eines friedlichen und genügsamen Landlebens stellten sich diese Bauern, durch die Propaganda von Massenmedien und unverantwortlichen Politikern verführt, das Leben in der Stadt bequem und luxuriös vor; sie gaukelten sich vor, in der Stadt seien sie bald Besitzer von Fernsehapparat, Eisschrank und Auto. In der entsprechenden Richtung der bürgerlichen Soziologie heißt das »Explosion der Erwartungen«. Diese Landbevölkerung verlässt diesem Denken zufolge verantwortungslos und mit übertriebenen Vorstellungen von einem leichten Leben ihren Grund und Boden. Sie ist natürlich völlig unvorbereitet auf ein zivilisiertes Leben und auf geregelte Arbeit in der Stadt. Außer dass sie nicht lesen und schreiben kann, fehlen ihr der Zeitbegriff und die Motivation für ein 29
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geregeltes Erwerbsleben. Und sie fristet natürlich dann – und viele setzen hinzu: gerechterweise – in den riesigen Elendsvierteln der Städte ein trauriges und hoffnungsloses Dasein. Sprecherin: Angesichts solcher Erklärungsversuche drängt sich die Frage auf, warum sich das Elend in den Städten noch nicht unter der Landbevölkerung herumgesprochen hat. Warum hält trotzdem der Strom der Zuwanderer an und vergrößert täglich die Elendsviertel der Städte? Der Grund für die seit 20 Jahren massenhafte Wanderung ist nicht in psychologischen Faktoren wie »gesteigerte Erwartung« oder »Attraktivität des Stadtlebens« zu suchen, sondern in der objektiven Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage der Landbevölkerung. – Ein Experte der Vereinten Nationen erklärt es so: Zitatsprecher: Das vielleicht hervorstechendste Merkmal der ländlichen Gebiete Lateinamerikas ist ihre tatsächliche und progressive Stagnation, die sich in vielen Formen ausdrückt. An erster Stelle kann man die Produktionsbedingungen nennen, die es der bäuerlichen Bevölkerung nicht erlauben, den notwendigen Grad der Beschäftigung und einen Minimallohn zu erreichen. In den beiden letzten Jahrzehnten ist diese Situation immer kritischer geworden. Die politische Stabilität und ökonomische Entwicklung der Landbevölkerung kann nicht garantiert werden.4 Sprecherin: Warum hat sich die Lage der Bauern und Landarbeiter in den letzten Jahrzehnten verschlechtert? Allgemein wird der Bevölkerungszuwachs als Grund genannt. Aber das ist nur ein relativer Faktor. Im Grunde sind alle lateinamerikanischen Länder unterbevölkert, wenn man sie mit europäischen Agrarländern wie Dänemark und Holland vergleicht. Die eigentliche Ursache ist in der Herrschafts- und Besitzstruktur zu suchen. Sprecher: Grundlegend ist der Gegensatz zwischen der Konzentration großer Besitztümer in wenigen Händen auf der einen Seite und dem Kleinstbesitz, dem Minifundium5 auf der anderen Seite. 1963 waren von den 32 Millionen, die die aktive Landbevölkerung Lateinamerikas darstellen, knapp 2 Millionen landwirtschaftliche Unternehmer, d. h. Großgrundbesitzer und Mittelbauern und 30 Millionen Kleinstbauern und Arbeiter ohne Land. Es gibt ungefähr 7,5 Millionen landwirtschaftliche Betriebe. 100.000, d. h. 1,5 Prozent davon umfassen 65 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Im Gegensatz dazu müssen sich 5 / Millionen Kleinbauern mit weniger als 4 Prozent des Bodens zufriedengeben. Sprecherin: Dabei muss man wissen, dass diese Kleinbauern meist auf das schwer zugängliche und schwierig zu bearbeitende Land minderer Bodenqualität verdrängt worden sind.6
4 United Nations CEPAL 1970, S. 8. 5 Anm. der Hrsg: Kleinstbesitz, der nur Subsistenzwirtschaft erlaubt. 6 United Nations CEPAL und FAO 1963.
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Betrachten wir nun die durch die Besitzverteilung bedingte Beschäftigungsstruktur am Beispiel Kolumbiens: Sprecher: »47 Prozent der Bevölkerung lebt auf dem Lande, das sind rund 9 Millionen Menschen. Von ihnen waren nach der Altersstruktur 4 bis 4 / Millionen arbeitsfähig. Aber nur 2 / Millionen werden als beschäftigt angegeben. Von diesen 2 / Millionen hat ein Viertel so wenig Land, dass es nur knapp für den eigenen Lebensunterhalt produzieren kann, wenige sind Mittelbauern, und nur ein Sechstel findet auf dem Großgrundbesitz Mittelbauern, und nur ein Sechstel findet auf dem Großgrundbesitz Arbeit, der 53 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Kolumbiens besetzt hält.«7 Sprecherin: In den letzten Jahrzehnten hat sich der Großgrundbesitz teilweise mechanisiert und an kapitalistischen Gewinnprinzipien orientiert, ohne jedoch die alten Arbeitsbeziehungen zu den abhängigen Landarbeitern aufzulösen. Noch immer ist zum Beispiel ein großer Teil der Landbevölkerung verpflichtet, gegen die Überlassung eines kleinen Stückchens Boden mit der ganzen Familie auf dem Latifundium zu arbeiten. […] Im Los des Landarbeiters vereinen sich die schlimmsten Seiten des feudalen und des kapitalistischen Arbeitsverhältnisses: Totale Abhängigkeit und soziale Unsicherheit. Sprecher: Wenn bei einer Befragung in den Tugurios von Bogota in Kolumbien die erbärmlichen Lebensumstände in den Elendsvierteln von 87 Prozent der Zuwanderer als besser und nur von 2,6 Prozent als schlechter als auf dem Lande bezeichnet werden, dann wirft das ein Licht auf das Los der ländlichen Bevölkerung. Sprecherin: Die Flucht der hungernden, unterernährten, hoffnungslosen Bauernmassen in die Städte als eine »Explosion gesteigerter Erwartungen« zu bezeichnen – dieses makabre Kunststück einer zutiefst apologetischen Interpretation der Realität ist leider bezeichnend für die Funktion der bürgerlichen Sozialwissenschaft in der unterentwickelt gehaltenen »armen« Welt. Sprecher: Die bisherige Darstellung der Verhältnisse auf dem Lande in Lateinamerika scheint darauf hinauszulaufen, dass das Problem der ländlichen und städtischen marginalen Massen durch eine Landreform gelöst werden könne. Sprecherin: In den meisten Ländern Südamerikas ist die ökonomische und politische Stellung der Großgrundbesitzer und verbündeter Teile der Bourgeoisie jedoch so stark, dass alle Ansätze einer »friedlichen« Landreform verhindert oder zur Farce degradiert werden. Der übermächtige Einfluss der Oligarchien ist auf die Struktur der vom amerikanischen und europäischen Imperialismus abhängigen Ökonomien selbst zurückzuführen. Die geschilderten Verhältnisse in der Landwirtschaft können deshalb nicht als vorübergehendes Phänomen betrachtet werden, das von einer sogenannten Modernisierung gelegentlich eliminiert werden wird. […] 7 Zschock: El empleo en Colombia 1969.
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Sprecher: Wenn wir uns im Folgenden mit den marginalen Massen in den städtischen Zentren befassen, dann sollten wir im Gedächtnis behalten, dass wir uns nur mit ihrem sichtbaren und kleineren Teil beschäftigen. Der größere Teil der Arbeitslosen, Unterbeschäftigten, jeder Teilnahme am sozialen Leben beraubten, sozial schutzlosen, rechtlich unterprivilegierten Masse lebt auf dem Lande. Sprecherin: Für die herrschenden Klassen Lateinamerikas ist das Problem der riesigen Slums Ausdruck einer individuellen Unfähigkeit der Slumbewohner, sich dem Stadtleben und dem modernen Arbeitsprozess anzupassen. Außerdem befürchten sie, dass bei anhaltender Wanderungsbewegung bald Arbeitskräfte für die Landwirtschaft fehlen. Diese herrschenden Klassen wissen sehr genau, dass die Zusammenballung von Elend und Unzufriedenheit eine explosive und für ihr System gefährliche Lage schafft. Die Lösungsversuche ihrer Organe und Institutionen zielen daher auf eine Abschaffung dieser Elendsviertel ab. Ein Teil der Bewohner soll in der bestehenden Ordnung »akkulturiert« werden. Da aber die Mittel für eine solche domestizierende Integration nicht ausreichen, beschreitet man den Weg der »Eindämmung« durch die staatlichen Ordnungsgewalten. Sprecher: Im Allgemeinen sind solche Säuberungsaktionen ein brutales Eingreifen von Polizei und Heer, das darin besteht, die Hütten ganzer Viertel abzureißen, niederzubrennen, die Bewohner aufs Land zurückzutreiben und eventuell resistente Elemente ohne auch nur die Andeutung eines gerichtlichen Verfahrens für Jahre im Gefängnis verschwinden zu lassen. Wir wollen im Folgenden den Plan des Generals Alvaro Valencia Tovar, des führenden Ideologen des kolumbianischen Heeres, in seinen eigenen Worten darstellen.8 Sprecherin: Dieser Plan lässt deutlicher als andere, vergleichbare Vorhaben eine besondere Strategie erkennen: die Kombination von bewaffneter Repression, sozialwissenschaftlicher Planung, pseudohumanitären Aktionen und psychologischer Kriegsführung, die ungefähr dem nahekommt, was man unter »social counterinsurgency«, sozialer Aufstandsbekämpfung, versteht. General Valencia Tovar sagt von den Elendsvierteln der kolumbianischen Stadt Bucaramanga: Zitatsprecher: Diese Ansiedlungen oder schwarzen Zonen beherbergen eine unstabile Promiskuität von Wesen, die prädisponiert sind, die Reihen der Verbrecher oder die Strömungen sozialer Unruhen zu vergrößern. … (Diese Elendsviertel sind) eine Art urbaner Krebs, der nicht nur den Stadtkern wie ein elender Gürtel umgibt und dessen Wachstum behindert, sondern in ein Gebiet eindrang, das für eine der Hauptverkehrsadern vorgesehen war und schließlich ins Herzstück eines der besten Wohnviertel eindrang. … Das menschliche Panorama der in den Elendsvierteln zusammengepferchten Leute war das einer quasi-totalen Negativität, von Unsicherheit, Misstrauen und 8 Tovar: Estructura y filosofia 1969.
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Unzugänglichkeit gegenüber jedem konstruktiven Ansinnen und das einer demagogischen, rebellischen und ressentimentgeladenen Führerschaft. … Das Wichtigste war zunächst, durch eine groß angelegte Aktion die soziale Ordnung und Moral wiederherzustellen. Das heißt genaugenommen: eine neue Mentalität in den marginalen Leuten zu schaffen, eine neue Lebenshaltung, die das Dunkel des geistigen Elends überwindet, das viel schlimmer ist als das des physischen Elends. Die ersten Etappen des Projektes waren also Aktionen, die darauf abzielten, die sozialen Gruppierungen umzustrukturieren, sie mit einem dynamischen Sinn zu erfüllen, sie solidarisch zu organisieren, ihre Würde zu heben und sie von ihrer schöpferischen Fähigkeit zu überzeugen. … Es wurden Zonenkomitees gebildet, die, präsidiert von einem Offizier des Heeres, Studentinnen der Sozialhilfeabteilung der Universität, einen Arzt, einen Priester und spezialisierte Mitglieder des »Peace Corps« umfassten. … Die Aktivitäten dieser Seite des Planes waren vielseitig: Bildung von Sportmannschaften, von Jugendgruppen und von kommunalen Kommissionen, die gemeinnützige Arbeiten in den Armenvierteln verrichten sollten. … Die Heereseinheit verfügte über eine Spezialgruppe für soziologische Operationen, die mit Filmvorführgeräten, Lautsprechern, einer mobilen Bibliothek, einem transportablen Kinderspielplatz, vom hiesigen »Rotary Club« gestiftet, ausgerüstet war. Und ihr waren Experten für Kinder- und Erwachsenenspiele angegliedert. … Das Programm »Weihnachten im Elendsviertel« wurde wenige Monate nach Beginn der Kampagne angesetzt, sozusagen als Thermometer, um den bisher erreichten sozialen Fortschritt abzulesen. Jede Zone hatte einen Festtag zu gestalten, für den Preise je nach Verdienst der Darbietungen ausgesetzt waren. Nach und nach wurde der Schnaps weggelassen, der für die ersten Festtage charakteristisch war und eine Massenteilnahme sicherte. … Die Stadt wurde davon überzeugt, dass es gut sei, an dem weihnachtlichen Programm teilzunehmen; für den Festzug war vorgesehen, dass eine große Anzahl von Kindern wohlhabender Familien Geschenke an jedes einzelne der armen Kinder austeilten, die vorher nach Alter und Geschlecht klassifiziert worden waren. Damit konnten die Daten der vorhergegangenen soziologischen Untersuchung aufs genaueste überprüft werden. … Sprecherin: Das Ziel der Heeresoperation war natürlich nicht, die Bewohner von Elendsvierteln zu erheitern, sondern: Zitatsprecher: … die Elendshütten in jenen schwarzen Zonen total zu beseitigen, ihren Bewohnern in einem bestimmten Gebiet Wohnungen zuzuteilen und Vorkehrungen zu treffen, damit eine Wiederholung solcher Zustände verhindert wird. Sprecherin: Wie in jedem ordentlichen Militärplan geht das Ganze in Etappen vor sich. Zitatsprecher: Das Ziel der ersten Etappe war, das Problem in seinem exakten Ausmaß kennenzulernen und es sofort einer strikten Kontrolle zu unterwerfen, um sein Wachsen zu verhindern und um zu vermeiden, dass der Plan selbst, 33
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nämlich Wohnung für die Ansässigen zu schaffen, neue Wanderungen hervorriefe. In dieser Untersuchungs- und Kontrolletappe leisteten die Studentinnen der Universität eine glänzende Arbeit, indem sie Pläne anfertigten und mit genauen Daten über die Slumbewohner ausfüllten. Die Hütten wurden nummeriert … Den Bewohnern wurden Residenzausweise ausgehändigt, die Nomenklatur der Zonen wurde in Zonenplänen genau beschrieben; dadurch wurde es möglich, ein Weiterwuchern der Elendsviertel endgültig zu verhindern. … Die sichtbarsten Ergebnisse dieser Etappe waren: Alle Bewohner wurden aus ihrer Anonymität herausgeholt, dadurch wurde in ihnen der Begriff der Mitverantwortung und das Gefühl entwickelt, zu einem Gesellschaftskörper zu gehören. … (Außerdem wurde) die Ausweitung des Problems eingedämmt: Jede neue Hütte wurde ohne Rücksicht zerstört und ihre Bewohner dahin zurückgeschickt, wo sie herkamen und wo sie wenigstens ihr Gewerbe kannten. Gleichzeitig wurden die ersten Grade der soziologischen und sozialen Ordnung erreicht. … Anfängliche Widerstände innerhalb der schwarzen Zonen wurden beseitigt. Demagogische Führer mit einer negativen, aggressiven oder verächtlichen Haltung mussten sich entweder unterwerfen und kollaborieren oder sie wurden durch die starke, dynamische, schöpferische Aktion beseitigt, die in die Elendsviertel eindrang, um einen bis dahin unbekannten Hoffnungsstrahl zu entzünden. Sprecherin: Die eigentliche Umsiedlung bestand dann darin, dass die Menschen aus den Elendsvierteln, in Arbeitskollektive gegliedert, ihre neuen Heime auf dem ihnen zugewiesenen, weiter vom Zentrum entfernten Felde aufbauten. Diese Etappe wurde geleitet und organisiert durch das sogenannte Komitee der gemeinsamen Aktion und Arbeit, präsidiert vom Bataillonskommandanten, unter Mitarbeit eines städtischen Beamten und der Universitätsabteilung für Sozialarbeit sowie dem »Peace Corps«. Zitatsprecher: (Bei der Umsiedlung) erwies es sich als unumgänglich, eine energische Disziplin einzuführen, die aber in soziologischen Triebfedern und aufmunternden Motivationen verankert worden war. Die widerspenstige und feindselige Mentalität wurde zu einer rezeptiven, enthusiastischen und schwärmerischen im Geiste der Zusammenarbeit verändert. Der Widerstand gegen ein Verlassen der alten Behausungen wurde ersetzt geradezu von einer Gier, zuerst an die Reihe zu kommen … Die Familien in den Umzugszonen erhielten spezielle Instruktionen zur sozialen Ordnung und über das Leben in der Gemeinschaft. Sprecherin: General Valencia Tovar schließt seinen Bericht mit der Empfehlung: Zitatsprecher: Die in Bucaramanga gesammelten Erfahrungen lassen sich in allen Städten Kolumbiens verwerten, die von der Wucherung der Elendsviertel befallen sind. Sprecherin: Das Zurücktreiben der Slumbewohner aufs Land ist nicht der letzte Schluss – wenn auch das letzte Mittel – paternalistischer Weisheit zur Bekämpfung von unkontrollierten Siedlungen. Denn Entwicklungsplaner und 34
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moderne Bürokraten begrüßen zumindest grundsätzlich den Wanderungsprozess vom Lande in die Stadt. Sprecher: Zwar ist man sich über den Kausalzusammenhang nicht ganz im Klaren: Zieht die Industrialisierung Verstädterung nach sich, wie man es aus der europäischen Geschichte kennt? Oder soll man unter dem Eindruck der geringen Industrialisierung eher den Markttheoretikern folgen und hoffen, die Urbanisierung werde, da sie den Markt potenziell erweitert, der Industrialisierung den entscheidenden Impuls geben? Sprecherin: Wir wollen hier kurz die wesentlichen Theorieansätze, die zur Erklärung der riesigen Elendsviertel gegeben werden, schildern und die daraus entwickelten sozialen Lösungsversuche darstellen. Sprecher: Welche sozialwissenschaftliche Theorie wir auch betrachten, ein Konzept begegnet uns ständig: das der Überbevölkerung oder der zu hohen Geburts- und zu geringen Sterberate. Es fehlt nicht an Demographen, Soziologen und besonders Ökonomen, die das Problem der Elendsviertel völlig auf das Bevölkerungswachstum zurückführen. Daraus leiten sie dann folgerichtig ab: Das wesentliche Mittel zur Hebung des Lebensstandards, zur Entwicklung, zur Modernisierung ist die Geburtenkontrolle und Familienplanung. Sprecherin: Besonders in der Ära Nixon hat die antinatalistische Politik innerhalb der Vereinigten Staaten und in den abhängigen Gebieten wie Lateinamerika eine neue Blüte erlebt. Bezeichnend für ihre Kampagnen ist der gezielte Einsatz in den unteren Klassen und nicht etwa in Mittel- und Oberschicht. Bisher ist diese Politik ein voller Misserfolg. Die Technokraten mögen ihn auf Dummheit, Unwissenheit und Inkonsequenz der unteren Bevölkerungsschichten zurückführen. Die höheren Kader der Sozialplaner (z. B. die Forscher des Instituts für Geburtenkontrolle der Universität Berkeley) wissen dagegen, dass Geburtenkontrolle nicht ein einfaches technisches Problem der Pillenverteilung ist, sondern eines des genannten Gesellschaftssystems. Nach ihrer Meinung müssen folgende Faktoren erfüllt sein, ehe man eine Familienplanung erfolgreich durchführen könne: Sprecher: Legalisierung der Abtreibung: Väter müssen für den Unterhalt und die Ausbildung der Kinder verantwortlich sein; Arbeitsmöglichkeiten für alle Frauen; gleiche Möglichkeiten auch der Erziehung für Frauen; Frauen müssen andere als rein häusliche Interessen entwickeln; sie brauchen den Status der Gleichheit, anstatt die Rolle des zu beschützenden, inferioren Wesens zu spielen. Sprecherin: Diese Forderungen sind in den meisten europäischen Ländern nicht erfüllt. In Lateinamerika verhindert die konservative Macht von Kirche und Oligarchie jede liberale Gesetzgebung. Und die steigende Arbeitslosenquote macht die Forderung nach Arbeitsplätzen und Lohngleichheit für Frauen illusorisch. Unter den gegenwärtigen ökonomischen und sozialen Verhältnissen ist es deshalb völlig gerechtfertigt, wenn die unteren Volksschichten alle auf, oder besser gegen sie gerichteten antinatalistischen Kampagnen als Ausrottungsversuche ablehnen und bekämpfen, zumal eben die Länder Lateinamerikas, gemessen an Europa, ausgesprochen unterbevölkert sind. 35
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Sprecher: Ein weiteres analytisches Konzept ist das der zu schnellen oder überstürzten Urbanisierung. In dieser nur vom Phänomen ausgehenden Betrachtungsweise reduziert sich das Problem auf Wohnungsbau und Stadtplanung. Spätestens bei der Finanzierungsfrage stoßen die Experten, die für das Wohnen der marginalen Massen zuständig sind, an die Grenzen ihres Kompetenzbereiches. […] Sprecherin: Im Wesentlichen sind es also zwei Faktoren, Grundpfeiler des kapitalistischen Systems, die eine effektive und systematische Lösung des Slumproblems verhindern und gleichzeitig zu einer wachsenden Konzentration aller Güter und Dienstleistungen auf den kleinen Sektor der Privilegierten führen: das Prinzip des freien, sich selbst regulierenden Marktes, das die Baupreise in für die Majorität unerreichbare Höhe treibt; und das Prinzip des mit Profit arbeitenden Unternehmens, das jede Hilfsorganisation, will sie sich nicht durch Bankrott selbst auflösen, dazu zwingt, für die Klassen zu arbeiten, die keiner Hilfe bedürfen. Sprecher: Inzwischen wird die Lage in den Städten immer verzweifelter, die Elendsviertel wachsen täglich, immer neue Grundstücke werden illegal in Besitz genommen, bis 1975, so lauten die Schätzungen, werden in Lateinamerika 25 Millionen Wohneinheiten zusätzlich benötigt. Mittel sind nicht vorhanden. Der Druck auf das politische, wirtschaftliche, legale System wird immer stärker. Ein kolumbianischer Soziologe stellt dazu fest: Zitatsprecher: … eine der wichtigsten Konsequenzen ist die Institutionalisierung der Illegalität, Produkt der Unvereinbarkeit des herrschenden Normensystems mit der unrechtmäßigen Inbesitznahme von Boden und Wohnungen als einziger Alternative für diese Invasoren. Die Illegalität als eine Form des städtischen Lebens. Ein Beweis dafür ist, dass der Großteil der Invasionen sich konsolidieren und stillschweigend von den Autoritäten als nicht mehr illegal akzeptiert werden.9 Sprecherin: Als sich zeigte, dass brutale Austreibung und Zerstörung von Hütten keinen dauernden Erfolg hatten, sondern im Gegenteil zu einer recht wirksamen Selbstverteidigungsorganisation der Zuwanderer führte, musste schließlich ein kleiner Teil des Eigentumsprinzips preisgegeben werden, um das Gesamtsystem zu retten. […] Sprecher: Aus Anlass des »Zweiten Weltkongresses zur Verbesserung von Slums und unkontrollierten Siedlungen«, der 1970 von den Vereinten Nationen in Medellín, Kolumbien, abgehalten wurde, gaben Bewohner der Elendsviertel ein sogenanntes subversives Pamphlet heraus. Darin wird festgestellt: Zitatsprecher: Hilfsprogramme jeder Art, hauptsächlich aber Wohnungsprogramme, lösen (unser) Problem nicht. Sie haben nur den einen Zweck, … die Herrschaft und Kontrolle einer Minderheit aufrechtzuerhalten und zu konservieren. Jedes Hilfsprogramm ist diskriminierend, weil es minderwertig ist, 9 Asociación Colombiana de Facultades de Medicina: Seminario nacional 1969, S. 82.
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verglichen mit den Lebensbedingungen der herrschenden Klasse. Jedes Hilfsprogramm ist gegen den Menschen selbst gerichtet, weil es darauf abzielt, die niedrigen und unmenschlichen Bedingungen der beherrschten Klasse zu verewigen. Sprecherin: In Mode ist gegenwärtig die sehr beliebte Theorie der Marginalität. Sprecher: Marginalität wird definiert als Funktion des Grades der NichtIntegration oder Nicht-Assimilation an das städtische Milieu. Der vom Lande in die Stadt Abgewanderte, Träger eines Komplexes von Normen und Werten der sogenannten traditionellen Gesellschaft, kommt bei seinem Kontakt mit dem differierenden städtischen oder modernen Normensystem in einen für ihn schwer lösbaren Konflikt und fällt in ein Stadium der Anomie. Zitatsprecher: Der marginale Mensch erscheint, wenn zwei verschiedene Kulturen in Kontakt kommen; je nach den Umständen entstehen Perioden der Assimilation oder Regression, in denen sich pathologische Phänomene, Schwierigkeiten der Persönlichkeitsanpassung und Spannungen entwickeln.10 Sprecherin: Die ökonomische Unterdrückung der Slumbevölkerung wird interpretiert als psychologischer Prozess der Akkulturation. In dieser Theorie erhalten dann die in sich abgeschlossenen Elendsviertel, »Randkerne« werden sie in der einschlägigen Literatur genannt, eine positive Funktion für das System: Zitatsprecher: Es scheint, dass diese Schaffung von echten Subkulturen in außergewöhnlichen Dimensionen … den Neueinwanderern die Möglichkeit gibt, sich in der Metropole einzugewöhnen, ohne einen schmerzhaften »Kulturschock« zu erleiden, denn in diesen Ansiedlungen dominieren in einem beträchtlichen Ausmaß ländliche Verhaltensmuster. Wir können also hier von einer Ruralisierung der Stadt sprechen.11 Sprecherin: Aber die marginalen Kerne sind keineswegs, wie es die funktionale Theorie vorsieht: Zitatsprecher: … oberflächliche und zeitbedingte Gebilde, die sich sehr bald in erneuten Konflikten und Spannungen auflösen werden:12 Sprecherin: … sondern es sind stabile ökologische Gebilde, oder, um in der Sprache dieser Soziologen zu reden, »dysfunktionale Kerne in der Übergangsgesellschaft«. Immerhin kommen heute schon 30 bis 40 Prozent der SlumBewohner nicht vom Lande, sondern aus anderen Städten, oder sie sind in der Stadt selbst aufgewachsen. Da grundlegende ökonomische und politische Faktoren diese Art sozialer Theorien wenig tangieren, müssen sie den Grund für die Beständigkeit der Tugurios natürlich in den Elendskernen selbst suchen. Wir zitieren im Folgenden aus einer Studie der Vereinten Nationen:
10 Ebd., S. 68. 11 Ebd., S. 70. 12 Boskoff: Social Indecisions 1959, S. 4.
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Zitatsprecher: Solche kulturellen Gebilde ermöglichen es, dass ein beträchtlicher Bevölkerungssektor einerseits die verschiedenen Instrumente und Dienste der Stadt in Anspruch nimmt, andererseits einen hohen Grad von Verpflichtung und Loyalität gegenüber den primären und elementaren Normen, Werten und Institutionen beibehält. … Ohne Zweifel scheint das Auftauchen dieser abgesonderten städtischen Kerne in Beziehung zu stehen zum Erscheinen eines sozialen Bewusstseins, dass diese Bevölkerungsschichten gegen die Verinnerlichung der herrschenden Ideologie immun macht. … Die Existenz dieses sonderbaren Bewusstseins oder diese Haltung gegenüber den herrschenden Werten erklärt scheinbar fremdartige Phänomene im politischen Sozialisierungsprozess dieser Bevölkerung. Und außerdem gibt sie eine bündige Erklärung für die Serie von illegalen Handlungen, die von ihren Tätern als etwas völlig Normales angesehen werden. … Aber gleichzeitig kann niemand leugnen, dass (diese neuen Bevölkerungen) tatsächlich oder potentiell einen beträchtlichen Teil der städtischen Wählerschaft darstellen. … In vielen Ländern wird es zu einer Tatsache, dass innerhalb der Unterschichten die Figur des »poblador« – einer Mischung aus ländlichem Tagelöhner und Arbeiter –, eine unbestreitbar wichtige Stellung einnehmen wird neben der Minorität der organisierten Industriearbeiter.13 Sprecher: Diese formalisierte Fachsprache ist nicht ganz so realitätsfern, wie es scheint: Aus solchen sozialanthropologischen und sozialpsychologischen Interpretationen leiten sich konkrete Sozialtechniken ab. Man hat erkannt, dass man es mit einer durchaus dynamischen, in sich integrierten, politisch potenziell aktionsfähigen und damit gefährlichen Gruppe zu tun hat. Und man ist sich darüber im Klaren, dass diese Masse kontrolliert werden muss. Sprecherin: Politisch gehören die Vertreter der verfeinerten, indirekten Kontrolle zu den Christdemokraten lateinamerikanischer Prägung, zum fortschrittlichen Teil der Bourgeoisie und zum liberalen Flügel des CIA . Sie wollen die Elendskerne in die politische Gesamtstruktur eingliedern. Ihre Strategie, bisher in Chile erfolgreich erprobt, besteht einmal darin, existierende informelle Gruppen zu infiltrieren und umzufunktionalisieren. Hauptsächlich aber werden neue Organisationen geschaffen: Nachbarschaftsorganisationen, Hilfsorganisationen, Wählergruppen und so weiter. Man gibt ihnen Vertretungen in lokalen Gremien und will sie damit auf unterer Ebene im Fingierspiel repräsentativer Demokratie neutralisieren. Gleichseitig überwacht man damit die nicht in das Netz der Organisationen Integrierten, unerwünschte politische Gruppen werden im Keime erstickt. Sprecher: Die Parole heißt: Organisation durch Organisationen unterbinden. Diese politischen Kontrolltechniken mögen zwar für eine gewisse Zeit die manifeste Unzufriedenheit der Massen eindämmen und in politisch unschädliche Bahnen lenken. Aber den Grund der Unzufriedenheit, die wirtschaftliche Misere, können sie nicht beseitigen. 13 Secretaria de la CEPAL : El desarrollo social 1966, S. 69 ff.
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Von internationalen Gremien, besonders von einigen Kommissionen der Vereinten Nationen und von höheren Kadern der technischen Intelligenz, kommt ein Vorschlag, der zumindest wirtschaftliche Gesichtspunkte einbezieht. Sprecherin: Einstmals hatten sie gehofft, dass im Zuge der Industrialisierung alle sozialen Schichten nach und nach von der Modernisierung erfasst und in eine kapitalistische Industriegesellschaft eingegliedert würden. Heute, nach mehr als 20 Jahren gezielter Entwicklungshilfe und Industrialisierung, sehen sie sich der Tatsache gegenüber, dass ein ständig wachsender Bevölkerungsteil nicht nur ökonomisch stagniert, sondern sich immer weiter rückentwickelt. Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet modernisierungs- und integrationsfreudige Entwicklungspolitiker zu folgenden Lösungsvorschlägen kommen: Sprecher: Es gibt, so lautet die Formel, einen ziemlich großen Fundus an handwerklichen Fähigkeiten in solchen Elendsvierteln und außerdem den Ansatz eines inneren Marktes. Warum soll man diese beiden Faktoren nicht ausnutzen und autarke Viertel kleiner, unabhängiger Handwerker schaffen? Diese Wirtschaftseinheiten sollen nur insoweit von der Umwelt, d. h. der regionalen oder nationalen Ökonomie abhängig sein, wie sie nicht ihre eigenen Subsistenzmittel produzieren können. Seit einiger Zeit haben die UNO und die Weltarbeitsorganisation ihr Hauptaugenmerk auf diesen Kleinproduzenten gerichtet. Seine Überlebenschance besteht gerade darin, dass er dem kapitalistischen Markt nur in sehr begrenztem Maße verbunden ist. Experimentelle Mustersiedlungen dieser Art sehen einen relativ großen Garten vor und ein Haus, das genügend Raum bietet, eine Kleinsthandwerkstätte zu beherbergen. Die Bewohner dieser Siedlungen sollen unter sich Handel treiben und mit dem größeren Markt kaum in Berührung kommen. Sprecherin: Es ist eine Ironie der Geschichte, dass genau die Produktions- und Marktformen, die die Entwicklung des Kapitalismus in Europa schon in seiner frühen Phase zerstört hat, nun in Ländern, in die die höchste Form des Kapitalismus, der Monopolkapitalismus, eingedrungen ist, künstlich wieder ins Leben gerufen werden sollen. Diese antiquierten sozioökonomischen Verhältnisse müssen für einen großen Teil der Bevölkerung wieder eingeführt werden, um die vom internationalen Monopolkapitalismus geschaffenen Widersprüche abzudecken und das System als Ganzes einigermaßen zusammenzuhalten. Sprecher: Wir haben bisher das Phänomen der wachsenden Elendsviertel geschildert, die Gründe der Abwanderung vom Lande dargestellt, die Erklärungsschemen der bürgerlichen Sozialwissenschaften und die daraus abgeleitete Gesellschaftspolitik aufgewiesen. Um das Problem in seiner Tragweite zu erfassen, müssen nun die realen wirtschaftlichen Zusammenhänge entwickelt werden. Sprecherin: Urbanisierung und Industrialisierung sind keine neuen Phänomene für Lateinamerika. Bereits im 18. und 19. Jahrhundert gab es Städte, die es mit den damaligen Zentren Europas, London, Paris, Berlin, Lissabon, an Größe und Bedeutung aufnehmen konnten. Im späten 19. Jahrhundert bildeten sich Zentren der Schwerindustrie und der weiterverarbeitenden Industrie, die 39
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aber durch die Ausdehnung vor allem des britischen Handels verkümmerten. Lateinamerika, wie viele andere Teile der abhängigen Welt, fiel in die Rolle des Rohstofflieferanten und des Konsumenten von aus Europa importierten Gütern zurück. Während der Weltwirtschaftskrise und von da an bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, zu der Zeit also, in der die imperialen Mächte mit sich selbst zu tun hatten, blühte die einheimische Industrie erneut auf. Teilweise gelang es, eine Konsumgüterindustrie in kurzer Zeit aus eigener Kraft aufzubauen. Sprecher: Nach dem Zweiten Weltkrieg dehnte sich das nordamerikanische Imperium über ganz Lateinamerika aus. Die Rohstoffquellen wurden intensiver ausgebeutet, US -Güter beherrschten die südamerikanischen Märkte, und schließlich drang immer mehr privates ausländisches Kapital in diese Länder ein. Die Tochterfirmen US -amerikanischer und europäischer Weltkonzerne versetzten den einheimischen Industrien einen erneuten und dieses Mal tödlichen Stoß. – Belief sich 1928 der Anteil Lateinamerikas am Welthandel auf 9,1 Prozent, so war er 1960 auf kaum 6,9 Prozent zusammengeschrumpft. Sprecherin: Die Geschichte der lateinamerikanischen Industrie zeigt, dass die Ansätze zu einer normalen, integrierten kapitalistischen Entwicklung immer wieder durch das Eindringen der imperialen Mächte zerstört wurden. In diesem Lichte müssen wir auch das Problem der marginalen Massen sehen. Sie sind Produkt einer disharmonischen, mehrfach abgebrochenen Entwicklung der Industrialisierung und einer verzerrten sozioökonomischen Struktur, die ihrerseits Frucht der imperialistischen Wirtschaftspolitik der Großmächte ist. Sprecher: Im klassischen europäischen Kapitalismus verlief der Prozess der Industrialisierung mehr oder weniger synchron: Die erste industrielle Produktion vollzog sich auf einer niedrigen Stufe der Technik, in der viele Arbeitskräfte gebraucht wurden. Die Masse der Landflüchtigen konnte zum größten Teil vom Produktionsprozess absorbiert werden. Der arbeitslose Rest, von Marx als »industrielle Reservearmee« bezeichnet, konnte zumindest in Zeiten der Hochkonjunktur Arbeit finden und wurde bei Krisen wieder in die Arbeitslosigkeit zurückgestoßen. Außerdem gab es den nicht zu integrierenden, asozialen Rest, das »Lumpenproletariat«. Die Entwicklung der Technik, die laufende Verbesserung der Produktionsmittel und deren industrielle Herstellung liefen mehr oder weniger im Gleichschritt mit der Erweiterung des inneren und äußeren Marktes. Das wachsende Heer der Arbeitskräfte konnte deshalb weitgehend nach und nach in den Produktionsprozess integriert werden. Zitatsprecher: Die Erfahrung der unterentwickelten Länder konfrontiert uns mit völlig anderen Tatbeständen. Ihre wirtschaftliche Entwicklung ist durch eine, zum Teil wachsende, Asymmetrie gekennzeichnet. Die durch die Krise und den rapiden Niedergang der traditionellen Sektoren freigesetzte Bevölkerung wird nur zu einem ganz geringen Teil von der modernen Industrie aufgesogen. Das ist nicht notwendigerweise die Folge einer relativ langsamen Industrialisierung. … Ebenso wenig kann man behaupten, dass diese Überschussbevölkerung als »industrielle Reservearmee« im klassischen Sinne funktioniert. … Ein großer 40
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Teil dieser überflüssigen Arbeitskraft ist für die Ökonomie irrelevant, sie ist marginal.14 Sprecher: Die Technologie des 20. Jahrhunderts hat gerade die Art von Arbeit, an die sich Männer und Frauen vom Lande am schnellsten anpassen konnten, durch Maschinen ersetzt. Noch wichtiger in diesem »Wettbewerb« zwischen Mensch und Maschine ist der Vorsprung der modernen Technologie, der nicht einfach durch eine Masse billiger Arbeitskräfte eingeholt werden kann. Zitatsprecher: Immer wenn ein zurückgebliebenes Land Industrien entwickelt, die ausländischer Konkurrenz unterworfen sind oder Tochterfirmen aus entwickelten Ländern aufnimmt, ist dieses Land verpflichtet, diese Technologie zu übernehmen, ob es sozial wünschenswert ist oder nicht. Deshalb ist es unsinnig zu hoffen, dass ein beschleunigter Industrialisierungsprozess die soziale Marginalität aufheben wird.15 Sprecher: In einer Studie über die industrielle Entwicklung Lateinamerikas stellen die Vereinten Nationen fest: Zitatsprecher: Für Gesamt-Lateinamerika wuchs der Anteil der Fabrikarbeiter … rapide zwischen 1925 und 1945, aber in der Nachkriegszeit stagnierte dieser Anteil und verringerte sich sogar teilweise.16 Sprecher: Für 1960 registrierte dieselbe Quelle, dass nur 7 Prozent der aktiven oder 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung in der Industrie beschäftigt sind. In der Zeit zwischen 1943 und 1950 stiegen die Direktinvestitionen der Vereinigten Staaten in den Konsumgüterindustrien Lateinamerikas um 100 Prozent, von 1950 bis 1963 um 260 Prozent.17 In der gleichen Zeit stieg die Arbeitslosenzahl. Nach Angaben der Weltarbeitsorganisation waren 1950 5,6 Prozent der aktiven Bevölkerung arbeitslos und zwischen 20 und 30 Prozent unterbeschäftigt.18 1968 ist die Arbeitslosenzahl auf ungefähr 12 Prozent und die der Unterbeschäftigten auf 49 Prozent angewachsen.19 Sprecherin: Diese Zahlen demonstrieren, dass das, was das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit »private Entwicklungshilfe« nennt, in eine immer größere soziale Unterentwicklung führt. Der Import der Produktionsmittel und -methoden, die Zahlungen für Patente und Lizenzen, die Zinsen und Rückzahlungen für Entwicklungshilfegelder und nicht zuletzt die Ausfuhr von Profiten durch die internationalen Großfirmen stellen einen ständigen Abfluss von Kapital dar. Es ist inzwischen eine allgemein bekannte Tatsache, dass private Investitionen durch ausländische Firmen für Lateinamerika wie für die übrigen Teile der abhängigen Welt bedeuten, dass die Summen, die aus diesen Ländern herausgezogen werden, wesentlich höher sind als die Investitionen. 14 15 16 17 18 19
Hobsbawm: La marginalidad social 1969, S. 238. Ebda., S. 242. United Nations CEPAL : El Proceso 1965. Dorfmann: La industrialización en America Latina 1967. Organización Internacional del Trabajo (OIT ): El plan de Ottawa 1968, S. 14-16. United Nations CEPAL : o. T., in: Primera Plana 29. 4. 1969.
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Sprecher: Gleichzeitig verstärkt sich der Devisenbedarf. Die neuen Industrien, besonders die Töchter internationaler Konzerne, produzieren fast ausschließlich für den inneren Markt, meist genau so viel, um den Inlandsmarkt als Monopol in der Hand zu behalten. Die notwendigen Devisen müssen, wie schon zur Kolonialzeit, durch unterbezahlte Agrarprodukte und durch Ausbeutung der Bodenschätze beschafft werden. Das wiederum hat Konsequenzen für die sozioökonomische Struktur: Der Großgrundbesitzer, fast alleiniger Produzent von Exportgütern, wird nicht angetastet, um den Devisenmarkt nicht zu gefährden. Die Klasse der Latifundisten bewahrt ihren übermächtigen Einfluss in der nationalen Politik und kann erfolgreich jede Art von Sozial- und Landreform verhindern. Die Front der Großgrundbesitzer wird verstärkt durch den Teil der industriellen Bourgeoisie, der aus Unfähigkeit, mit der ausländischen Industrie zu konkurrieren, sein Kapital in Bodenspekulationen und im Ankauf von Grundbesitz anlegt. Wie schon angedeutet, hat das in zweifacher Hinsicht negative Folgen für die soziale Lage der Bauern. Diese neue Großgrundbesitzerschicht betrachtet erstens das erworbene Land nur als Kapitalanlage und beschränkt sich auf extensive Bewirtschaftung; dadurch werden viele Bauern und Landarbeiter arbeitslos. Und zweitens wird die konservative politische Macht der Großgrundbesitzer verstärkt, jede Art von Sozialgesetzgebung wird verhindert, die alten, quasifeudalen Ausbeutungsverhältnisse können aufrechterhalten werden. Die Landbevölkerung wird deshalb in den Markt für industrielle Konsumgüter nicht einbezogen, der Markt stagniert und damit die Ausweitung der Produktion. Für die Arbeitslosen in der Stadt können keine Arbeitsplätze geschaffen werden. Sprecherin: Hier zeigt sich, dass das Eindringen des Monopolkapitals und seiner hochentwickelten Technologie nicht nur die Eingliederung der städtischen Arbeitslosen in den Produktionsprozess unmöglich macht. Es schafft auch soziale Verhältnisse, die ihrerseits die Arbeitslosigkeit und die unmenschlichen Lebensumstände auf dem Lande hervorbringen. Indirekt ist es also verantwortlich für das Entstehen der ländlichen arbeitslosen Massen. Sprecher: Die Industrialisierung selbst führt nicht etwa zu einer Einkommensstreuung. In Gegenteil: Die importierte Technologie mit ihrer relativ hohen Produktivität bezieht nur wenige Menschen in den Produktionsprozess ein. Das durch die Industrie geschaffene Einkommen konzentriert sich auf eine kleine Gruppe der sogenannten Mittelklasse. Das hat wiederum direkte Bedeutung für die Lage und die Zukunft der marginalen Massen. Da das Einkommen nicht breit genug gestreut wird, da nicht größere Teile der Bevölkerung in den Konsumptionsprozess einbezogen werden, stagniert der Absatz, die Produktion kann nicht erweitert werden, also gibt es keine neuen Arbeitsplätze. Für die Arbeitslosen in den Städten wird die Zukunft aussehen wie die Gegenwart, wahrscheinlich schlimmer: Ein ständiger Strom von Arbeitsuchenden fließt in die Städte, und die Einkommenskonzentration verstärkt sich. Zum Beispiel fiel in Mexiko zwischen 1950 und 1963 der Anteil des ärmsten Fünftels der Bevölkerung am Volkseinkommen um ungefähr die Hälfte, von 6 Prozent auf 3 Prozent. 42
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Das reichste Fünftel der Bevölkerung musste dagegen nur etwa 1 Prozent seines Anteils einbüßen.20 Die Folge ist: Zitatsprecher: Eines der generellen Charakteristika, die aus dem gegenwärtigen Panorama der lateinamerikanischen Industrie herausragen, ist der beträchtliche Grad an Unterausnutzung der bestehenden produktiven Kapazitäten.21 Sprecher: Die Kapazitäten der Großindustrie werden etwa zur Hälfte, die der mittleren Industrie nur zu einem Drittel ausgenutzt. Deshalb flüchtet das Kapital: das der einheimischen Bourgeoisien auf Schweizer Banken, in Bodenspekulationen und Landkauf; die internationalen Monopole exportieren ihre Profite und dehnen damit ihr Weltreich aus. Sprecherin: Unsere kurze Darstellung weist auf die Widersprüche im abhängigen Kapitalismus hin, wie er sich unter der Hegemonie des internationalen Monopolkapitals entwickelt: Eine riesige marginale Masse, 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung, wartet darauf, in den Produktions- und Konsumptionsprozess aufgenommen zu werden. Ihr gegenüber stehen ungenutzte Fabrikanlagen. Diese marginale Masse hat Hunger und will das Land bebauen. Unter ihren Augen vollzieht sich eine wachsende Unterbenutzung des Bodens. Um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, müsste der produktive Sektor ausgedehnt werden. Es wächst aber der unproduktive, tertiäre Sektor. Sie sucht Arbeit, es arbeiten aber Maschinen, und zwar nicht für sie. Sie will die Reichtümer des Landes ausnutzen, aber das einheimische Kapital fließt aus dem Lande. Es wird fremdes Kapital hereingeschleust. Es beutet die Reichtümer aus – aber nicht für sie, die marginale Masse. Und es gibt keinen Ausweg aus dem Dilemma, alle scheinbaren Lösungen führen eine immer größere Masse immer tiefer in die Armut. Sprecher: Das riesige Ausmaß der Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung ist – wie wir gesehen haben – nicht nur die vorübergehende Anpassungsphase eines retardierten Kapitalismus, sondern in Gegenteil ein Charakteristikum des abhängigen Kapitalismus. In groben Zügen dargestellt, verläuft der Arbeitskräftefluss in den Ökonomien der Dritten Welt so: Der Primärsektor, also Landwirtschaft und Bergbau, stößt Arbeitskräfte aus, der stagnierende sekundäre Sektor, d. h. der industrielle, kann nur zu einem immer geringeren Bruchteil die freigewordenen Arbeitskräfte absorbieren, der größte Teil wird in den tertiären, den Dienstleistungssektor gezwungen – natürlich nicht in die Angestellten- und Beamtenberufe im europäischen Sinne, sondern sie werden kleine selbstständige Gewerbetreibende, wie Hausierer, Losverkäufer, Prostituierte, Straßenhändler, oder sie verdingen sich als Dienstboten. Sprecherin: Alle diese Berufe sind durch Instabilität und soziale Unsicherheit gekennzeichnet. Die meisten Leute wechseln häufig zwischen unregelmäßigen, 20 Frank: The Underdevelopment Policy 1969, S. 5. 21 United Nations CEPAL : El Proceso de Industrialización 1965, S. 82 f.
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ungelernten Arbeiten, und oft bringt ihnen ihre sogenannte selbstständige Tätigkeit tagelang keinerlei Einkommen. Hören wir dazu einen Mann aus einem Elendsviertel Kolumbiens; er ist 38 Jahre alt und hat fünf Kinder. (Zuvor noch einmal: 4 Pesos entsprechen etwa einer Mark): Interview Jose Recuerdo Apata, O-Ton Jose: Mein Leben auf dem Lande war so: Durch Yuka- und Platanopflanzen verdiente ich 4 1 /2 Pesos und die Unterkunft. Mit 4 1 /2 Pesos konnte ich meine fünf Kinder nicht ernähren. Ich sah, wie schlecht die Sache aussah, und ging deswegen nach Medellín. Acht Jahre ist das her, und hier in Medellín geht es mir genauso schlecht. Meine erste Arbeit war, dass ich Alteisen sammeln musste, um es auf einen Haufen zu werfen, dann musste ich es mit einem Messer säubern. Und dann, als sie mich gut genug kannten, sagten sie mir, dass ich doch mehr machen könnte, ob ich nicht lesen und schreiben könnte. Sagte ich: »Nein, ich kann nicht lesen und schreiben, ich kann nur meine Unterschrift und mehr nicht.« Da sagten sie mir: »Es tut uns sehr leid, aber du nützt uns nichts mehr, Mann. Wir brauchen einen Boten, der die Papiere durchsieht und so.« Sie entließen mich. Zweite Arbeit: Es dauerte 15 Tage, ehe ich eine neue Arbeit fand. Meine Kinder litten. Schließlich stellten sie mich in einer Kieswäscherei ein. Ein Tag brachte mir 14 Pesos 50, manchmal 17 Pesos, um die Fahrt zu bezahlen, für’s Essen und um’s für die Kinder nach Hause zu bringen. Ich litt viel, schließlich konnte ich nicht mehr, meine Hände waren aufgerissen und voller Blutblasen. Drittens: Ich heuerte in einer Tankstelle an. In der Tankstelle zahlten sie 3 Pesos für jede Autowäsche. An manchen Tagen verdiente ich 9 Pesos, manchmal 6 Pesos oder so. Ich sah, dass es nutzlos war, und dass ich freiwillig kündigen musste. So arbeite ich also jetzt als Straßenverkäufer. Ich verdiene so 10 Pesos bis 17 Pesos, wenn uns die Polizei die Ware nicht wegnimmt. Sie behandeln uns wie Diebe und Verbrecher. Sie nehmen uns die Ware weg und geben sie uns nicht wieder, und wir müssen hungern. Zurzeit mache ich nichts, weil sie uns nicht arbeiten lassen. Sprecherin: Wie ist nun diese Arbeit als Straßenhändler? Jose: Die Arbeit als Straßenhändler ist so: Sie kaufen einen viertel Zentner Yuka, der 30 Pesos kostet. Wenn Sie alles verkaufen, verdienen Sie 10 bis 16 Pesos, wenn nicht, nur 6 Pesos oder so. Wenn uns die Polizei die Ware nicht wegnimmt, kann man alles verkaufen, nun gut. Da haben sie den Marktplatz geschlossen, wo wir mit mehr Ruhe arbeiten konnten. Und jetzt stehen wir an der Straßenecke. Sie wollen keinen Kehricht auf der Straße sehen, sagen sie. Aber sie geben uns keine festen Plätze. Um nicht Hungers zu sterben, sehen wir keinen anderen Ausweg, als heimlich zu verkaufen, sodass sie uns nicht sehen. Denn was sie wollen, ist, dass man keinen Abfall auf der Straße sieht, aber uns, uns behandeln sie wie Abfall. Sie dürfen uns nicht an einer Straßenecke sehen, 44
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sonst schmeißen sie unsere Ware auf die Straße oder nehmen sie uns weg. Wir müssen viel erdulden. Der Verkauf geht sehr schlecht. Wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen. Wir tun, was wir können, um eine bessere Arbeit zu finden, um das Leben der Kinder zu erhalten, die zu Hause leiden. Als Familienvater fordere ich das: eine Hilfe und eine Zukunft, damit die Kinder nicht mehr leiden. Sprecherin: Wir sehen, dass ein Arbeitsplatz in einer Fabrik völlig außer Reichweite für diesen Zuwanderer ist. Wenn er Glück hat, erhält er Arbeit in einer der kleinen einheimischen Firmen. Häufig ist es für ihn unmöglich, weiterzuarbeiten, weil die Arbeit ihn physisch zugrunde richtet oder der Lohn unter dem Existenzminimum liegt. Sprecher: Der Sektor der kleinen, zum Teil handwerklichen Manufakturen führt ein vom monopolkapitalistischen Sektor unangetastetes Leben. Gerade weil er auf einem sehr niedrigen Produktivitätsniveau arbeitet und wegen des riesigen unausgeschöpften Arbeitskräftereservoirs, kann er neben den monopolistischen Firmen existieren. Immerhin beschäftigt dieser Sektor 60 bis 70 Prozent der industriellen Arbeitskräfte.22 Die Arbeiter dieses Sektors verdienen ein Drittel bis die Hälfte des Lohnes von Arbeitern in den großen Fabriken. Ein kolumbianischer Ökonom schreibt: Zitatsprecher: Wenn es keine Gewerkschaften gibt und wenn der Staat keinen direkten Arbeitsschutz gewährt, kann der kleine Unternehmer die Arbeitslöhne nach dem Spiel von Angebot und Nachfrage festsetzen. Die Existenz einer großen Masse von Arbeitslosen und die totale Elastizität des Angebots von Arbeitskraft bestimmt, dass der kleine Unternehmer die Bildung von Gewerkschaften in seinem Betrieb vermeiden kann.23 Sprecherin: Es existieren in diesen Ländern praktisch zwei Arbeitsmärkte. Erstens: die große Industrie. Sprecher: Das relativ hohe Lohnniveau und ein gewisser Arbeitsschutz ist von den Arbeitern der großen Betriebe durch die Bildung von Gewerkschaften erkämpft worden. Der Druck der arbeitslosen Massen kann sich nur indirekt auf diesen Sektor auswirken. In sie müsste erst eine Ausbildung investiert werden, ehe sie in den technifizierten Arbeitsprozess eingegliedert werden könnten. Die marginale Masse funktioniert auf diesem Arbeitsmarkt eher als eine »angedrohte Reservearmee«. Sprecherin: Zweitens: die kleine und mittlere Industrie sowie andere Sektoren: Sprecher: Für den Sektor der Klein- und Mittelunternehmen sind die arbeitslosen Massen eine Reservearmee im klassischen Sinne. Und der Staat schützt seine Kleinunternehmer, indem er jeden gesetzlichen Arbeitsschutz unterbindet und der ungezügelten Ausbeutung freien Lauf lässt. Sprecherin: Der Propagandaapparat und die Sozialpolitik sind auf eine Trennung zwischen den marginalen Massen und den Industriearbeitern gerichtet. 22 Zschock: El empleo en Colombia 1969. 23 Miquel Urrutia Montoya nach Buenaventura: Clase obrera y »Marginados« 1968.
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Die eigentliche Linie zwischen Herrschenden und Beherrschten wird verwischt durch eine Trennung zwischen Integrierten und Nicht-Integrierten. Sprecher: Die Formen der Eingliederung der marginalen Massen in das kapitalistische System und damit die Formen der Ausbeutung sind vielfältig. Zunächst gibt es den »freien Arbeiter«, dem es aber nicht gelungen ist, eine dauerhafte Beschäftigung zu finden. Ein großer Teil war bereits in ein festes Arbeitsverhältnis eingegliedert, wurde aber in Krisenzeiten entlassen. Außerdem haben sich viele Formen halb-serviler Arbeitsverhältnisse erhalten. Zum Beispiel ist es sehr gebräuchlich, Arbeiter als Saisonarbeiter zu engagieren. In ihrer arbeitslosen Zeit sind diese z. B. gezwungen, um nicht zu verhungern, in der »tienda«, d. h. im Lebensmittelladen ihres Arbeitsherrn zu kaufen, der ihnen als Einziger Kredit gewährt. Ihre Schulden werden in der Saison vom Arbeitslohn abgezogen. Man kann sich vorstellen, dass hier die Preise beträchtlich höher sind. In dieser totalen Abhängigkeit vom Brotherren, wird der Mensch als Arbeiter und als Konsument direkt vom Arbeitgeber ausgebeutet. Solche Menschen haben häufig nur einen Ausweg: als Straßenhändler und Hausierer ihr kümmerliches Brot zu verdienen. Diese sogenannten Pfennigkapitalisten sind schwer in die üblichen Begriffe der Ausbeutung zu fassen. Es sind »Kapitalisten« ohne Kapital, ohne Sicherheit, sie beuten nur ihre eigene Arbeitskraft aus, und ihr Verdienst liegt weit unter dem eines Industriearbeiters. Nicht zu vergessen sind die unzähligen Dienstboten, die meist nur das Essen für ihre Arbeit erhalten. […] Sprecher: Zusammenfassend kann man sagen, dass der marginale Sektor, der – wie wir nie vergessen dürfen – eigentlich die Majorität der Bevölkerung ist, nicht in den Produktionszyklus eingegliedert, aber dennoch Teil des gesamten Ausbeutungssystems ist. Sprecherin: Aus allen Überlegungen folgt: Innerhalb der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme Lateinamerikas ist eine auch nur graduelle Verbesserung des Schicksals der marginalen Massen in den Städten und auf dem Lande ausgeschlossen. Im Gegenteil, diese marginalen Massen werden durch den Mechanismus des abhängigen Kapitalismus selbst produziert. Alle sogenannten Hilfeaktionen führen zu nichts. Mögen sie auch das individuelle Los einiger zeitweise erleichtern, so lassen sie doch die Ursachen der wachsenden Verelendung unberührt. Fast alle diese Hilfeprogramme haben eine politische Kontroll- und Beruhigungsfunktion und sollen den Status quo aufrechterhalten. Es gibt nur einen Ausweg: Die marginalen Massen müssen sich selbst organisieren, um das System radikal zu ändern. Sprecher: In der klassischen marxistischen Literatur werden die Arbeitslosen in ihrem Verhältnis zum Ausbeutungsprozess des Proletariats definiert, das heißt als industrielle Reservearmee. Der unintegrierbare Rest, das »Lumpenproletariat«, ist dieser Theorie zufolge eigentlich auch für die Revolution unbrauchbar, man muss sich vor ihm hüten, da es leicht eine schwankende und verräterische Rolle spielen kann. 46
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Sprecherin: Die traditionellen linken Parteien und die linken Gewerkschaften Lateinamerikas haben die marxistische Theorie nicht weiterentwickelt, obwohl sowohl Trotzki als auch Mao Tse-Tung begonnen haben, die unterschiedliche Zusammensetzung der Klasse der Ausgebeuteten zu analysieren, wie sie durch das Eindringen des imperialistischen Kapitals entsteht. Selten sind Versuche von Parteien und Gewerkschaften gemacht worden, eigenständige Organisationen in den Elendsvierteln aufzubauen. Meist waren und sind die Politisierungs- und Organisationsversuche der traditionellen Linken von den Nebengedanken geprägt: Wenn das Proletariat den Klassenkampf macht und schließlich die Revolution, dann sollen die uns wenigstens nicht in den Rücken fallen. Und immer blieb das Misstrauen gegenüber dem »Lumpenproletariat«, das käuflich sei und im entscheidenden Moment unzuverlässig. Den sogenannten marginalen Massen wurde nie eine eigenständige Rolle im revolutionären Prozess zugestanden, sie blieb marginal, selbst für Sozialisten. Ein Beispiel für deren Versagen gegenüber den Elendsmassen in den Städten ist die starke Linke in Chile. Die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und die linken Gewerkschaften haben das Feld der Elendsviertel den Christdemokraten überlassen. Sprecher: Mit Frantz Fanon und seinem bedeutenden Einfluss auf die Neue Linke wurden die Elendsheere, die arbeitslosen Massen als die eigentlichen und einzigen Ausgebeuteten der neokolonialen Länder, als das »Proletariat des Imperialismus« angesehen und wegen ihrer objektiv miserablen, aber »unabhängigen« Lage zur Vorhut der Revolution erhoben. Die kleine Schicht der integrierten und spezialisierten Arbeiter wurde als privilegiert und zum Teil als neue Kleinbourgeoisie deklariert und für die Revolution dieser Länder als unbrauchbar abgelehnt. Die Neue Linke wies auf die vielen integrierten Gewerkschaften hin, die nach amerikanischem Muster zu »Sozialpartnern« degeneriert seien. Sie übernahm damit aber auch, wenn auch gewiss nicht bewusst, die Propaganda der herrschenden Klassen, die auf eine Spaltung der Ausgebeuteten und Unterdrückten abzielt. Sprecherin: Dennoch sind es neue revolutionäre Gruppen, die als einzige eine eigenständige und kontinuierliche politische Arbeit mit den marginalen Massen aufgenommen und für diese besondere Organisationen ins Leben gerufen haben. Eine der stärksten revolutionären Bewegungen in den Elendsvierteln ist durch revolutionäre Priester begründet worden. Besonders erfolgreich sind sie in Brasilien und Kolumbien. Einer ihrer Führer in Kolumbien, Vicente Mejia, gibt in einem Interview Einblick in die Arbeit seiner Organisation und in die Schwierigkeiten der politischen Arbeit. Interview Vicente, Teil I, O-Ton Sprecherin: Padre Vicente, alle Leute in den Tugurios, mit denen ich gesprochen habe, erwähnen immer wieder Ihren Namen. Wie erklären Sie sich das? Vicente: Ich gehöre einer Gruppe von Priestern und Laien an, die »Golconda« genannt wird und die sich verpflichtet hat, dem Volk bis zur letzten Konsequenz 47
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zu dienen. … In unserem Manifest stellen wir uns gegen die gegenwärtige Struktur und fordern einen Wechsel des Systems, des Systems des abhängigen Kapitalismus, eines Kapitalismus, der ausbeuterischer ist als jeder andere Kapitalismus. Und wir versuchen eine Methodologie zu entwickeln, damit das kolumbianische Volk seine eigene Revolution macht. Aus diesen Gründen haben wir einen Zugang zu den Leuten. In Moment arbeiten wir daran, das Volk zu politisieren, damit das Volk sich einigt und organisiert und schließlich die Macht übernimmt. Wir haben viele Probleme, nicht nur vonseiten der herrschenden Klasse, sondern auch mit unserer Kirchenhierarchie, die uns von unseren Gemeinden entfernt hat. Denn diese Hierarchie ist dazu gezwungen, ein repressives und ausbeuterisches System aufrechtzuerhalten. Interview Vincente Teil III , O-Ton Sprecherin: Der Bürgermeister von Medellín hat mir gesagt, dass alle linken Gruppen völlig frei arbeiten können. Stimmt das? Vincente: Ich kenne viele Gruppen sehr gut, die für eine Änderung des Systems eintreten, und die in solchen Vierteln arbeiten. Ich will hier konkret von der Bewegung der Priester und Laien von »Golconda« reden. Wir sind in einer drastischen Art und Weise unterdrückt worden. Es ist genau ein Jahr her, dass wir eingesperrt wurden, weil wir gegen das Niederreißen eines Elendsviertels protestierten, wir, das heißt: einige Priester, einige Mitarbeiter und viele Menschen aus dem Elendsviertel. Wann immer wir in eines dieser Viertel gehen, werden wir überwacht, und wenn wir eine Versammlung machen, drohen sie uns und versuchen uns aus dem Viertel zu vertreiben. Das zielt darauf ab, unseren Kontakt zu diesen marginalen Vierteln zu verhindern. Alle Selbstorganisation des Volkes und besonders dieser Unterprivilegierten wird ständig unterdrückt, ihre Führer festgenommen und langen Verhören unterworfen. Wenn diese Organisationen Flugblätter verteilen, werden sehr häufig Leute verhaftet, die ein solches Flugblatt an sich nehmen. Sprecher: Was tun diese Gruppen, die mitten in den Elendsvierteln entstanden sind? An welchen Problemen wird politische Aufklärungsarbeit betrieben? Aus der objektiven ökonomischen Lage ergeben sich gewisse Prioritäten: Es wird im Elendsviertel und nicht am eventuellen Arbeitsplatz organisiert. Man schafft Widerstandsgruppen gegen die Vertreibung vom gemeinsam besetzten Boden. Eigene Hilfsorganisationen werden gegründet. Durch diese Art politischer Arbeit wird die bereits vorhandene »primäre« Solidarität verstärkt, auf andere Viertel ausgedehnt und politisch begründet. Die Gruppensolidarität soll zur Klassensolidarität werden. Sprecherin: Diese Formen der Organisation sind wichtig, damit die Unterdrückten einsehen: Nur wenn wir selbst tätig werden, ändert sich etwas. Wir sind fähig, selbst etwas zu tun, wir sind nicht nur Objekte dominierender Mächte, sondern wir sind eine Macht, wenn wir vereint handeln. Es geht also darum, dass diese Menschen ein Selbstbewusstsein entwickeln, das Arbeiter durch ihre Stellung im Produktionsprozess leichter erlangen können. 48
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Sprecher: Aber Organisationen, die bei der Besserung der Lebensverhältnisse ansetzen, können leicht vom System kooptiert werden. Es kann die illegale Besitznahme von Boden legalisieren, woran inzwischen ernsthaft gedacht wird. Hilfeorganisationen kann die herrschende Klasse viel effektiver bereitstellen als die chronisch mittellosen linken Gruppen. Sprecherin: Das wichtigste bleibt also die politische Aufklärungsarbeit. Der Almosencharakter der Hilfeleistungen vonseiten offizieller Stellen und Organisationen muss aufgewiesen werden. Es kann und soll nicht verlangt worden, dass die Menschen in ihrer verzweifelten und elenden Lage auf diese Almosen verzichten, aber die mit ihnen beabsichtigte Kontrolle und die Versuche der Integration müssen deutlich und damit wirkungslos gemacht werden. […] Interview Vicente, Teil II , O-Ton Sprecherin: Welche Rolle spielt das Heer in den Elendsvierteln? Vicente: Die Armee will alle unkontrollierten Ansiedlungen genau kennenlernen, besonders aber die Elendsviertel. Sie macht das durch die »acciòn civico militar«, indem sie in die Viertel eindringt und versucht, eine Hilfskampagne zu starten und dann durch dieses Hilfsprogramm die Führer und Organisationen im Viertel kennenzulernen. Die Armee versucht in diesen Organisationen die verdächtigsten Personen zu identifizieren, um sie dann später festzunehmen und in vielen Fällen, um sie dann zu eliminieren. Mit einem Wort: Alle sogenannten Hilfsprogramme sind dazu angetan, das Volk zu betrügen und zu täuschen. Es ist allgemein bekannt, dass hier in Kolumbien in allen Wohnvierteln die sogenannte Zivilverteidigung existiert, die nach dem Muster der spanischen Falange organisiert ist. Einige Bürger sind damit beauftragt, alle verdächtigen Elemente zu entdecken. Wir haben Gesetze aus dem vorigen Jahr und von vor zwei Jahren, verabschiedet unter dem Präsidenten Carlos Lleras, die diesen Elementen der Zivilverteidigung erlauben, willkürlich alle Personen festzunehmen, die ihnen verdächtig erscheinen. Diese »defensa civile« existiert in allen Vierteln, aber in den Elendsvierteln ist die Kontrolle dichter, denn dort ist die Lage am explosivsten. Ich weiß, dass es in allen Barrios ein Auto gibt, das ständig verdächtige Personen verfolgt, die für die Stabilität der Regierung eine Gefahr sein könnten. Es existieren noch verstecktere, indirekte Methoden, um das Volk zu überwachen. Wie zum Beispiel die »Juntas de Accion Comunal« (Komitees für Gemeindeaktionen) und die »Centros Civicos« (Zivile Zentren). Jeder weiß, dass die Regierung diese »Selbstverwaltungsgremien« kontrolliert und lenkt. Sie dringen in die Viertel auf dem Wege der »sozialen Hilfe« und durch »Kampagnen für die Verbesserung der Elendsviertel« ein. Und durch diese Gemeindeaktionen versucht die Regierung, alle jene Individuen zu kontrollieren, die nicht mit den genannten Komitees kollaborieren. Das ist eine andere Form, die Entwicklung in diesen Elendsvierteln zu neutralisieren, damit sich dort das Volk nicht selbst organisieren kann. 49
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Sprecherin: Die Schwierigkeit für die politische Aufklärungsarbeit in den Elendsvierteln besteht darin, dass es für die meisten keine sichtbaren Ausbeuter gibt; das ganze System funktioniert als Unterdrücker. Die praktisch-politische Organisation kann nicht innerhalb eines produktiven Systems Druck auf die Herrschenden ausüben. Diese sozioökonomische und sozialpsychologische Situation hat Auswirkungen auf die politische Arbeit: Es ist relativ leicht, die marginalen Massen zu mobilisieren, aber schwierig, sie zu organisieren. Interview Vicente, Teil IV , O-Ton Sprecherin: Padre Vicente, wie ist es mit der Politisierungsarbeit bei den Leuten in den Elendsvierteln? Vicente: Wie ich schon sagte, existieren diese von der Regierung kontrollierten Komitees, sie haben karitativen Charakter, deshalb war anfangs die politische Arbeit schwierig. (Den Menschen war eine passive, entgegennehmende Haltung angewöhnt worden.) Aber wir sind schon in einer neuen Phase, in der in jeder Zone und in jedem Viertel Medellíns Komitees und Organisationen bestehen, die ausschließlich aus dem Volke hervorgegangen sind. Das Volk erwartet jetzt keine Teillösungen mehr und keine karitativen Hilfsprogramme, sondern es will teilnehmen und sich selbst bestimmen. Es will jetzt politische Entscheidungen selbst treffen, um Herr über sein Schicksal zu sein. Natürlich ist die Hauptschwierigkeit die schon erwähnte Repression, durch die die herrschende Klasse verhindern will, dass das Volk seine eigenen Organisationen hat und dass es seine eigenen Wege findet, sich zu befreien. Die Organisationen und Sektoren der Elendsviertel bilden im Augenblick die Masse derer, die am stärksten an politischen Bewegungen interessiert ist, die am meisten bei rein politischen Kundgebungen gegen die Regierung teilnehmen, mehr als Arbeiter oder Studenten. Das heißt, es gibt ein Bewusstsein in allen Städten Kolumbiens, besonders in Medellín, und die Öffentlichkeit weiß, dass überwiegend Leute aus den Elendsvierteln an solchen Organisationen und Bewegungen teilnehmen, die für die Übernahme der Macht durch das Volk eintreten. Ein anderes sehr interessantes Anzeichen für den Grad des politischen Bewusstseins ist: Die offiziellen oder sogenannten führenden Politiker haben mit Versprechungen und vor allem mit Almosen versucht, hier Stimmen zu fangen. Aber diese Leute glauben schon nicht mehr an jene politischen Führer. Inerview Vicente, Teil V , O-Ton Sprecherin: Gibt es bei dieser politischen Arbeit eine Verbindung zum Kampf der Arbeiter und zum Kampf der Bauern? Vicente: Im Augenblick bestehen starke Bindungen zur Arbeiterbewegung, besonders zu den revolutionären Gewerkschaften, mit denen man schon gemeinsame Aktionen durchgeführt hat. Zur Bewegung der Bauern: Die Tendenz ist da, gute Verbindungen herzustellen und gemeinsame Aktionen zu machen. 50
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Sprecher: Wenn es bisher noch keine Aufstände, Rebellionen und Revolutionen großen Ausmaßes in den Slums Lateinamerikas gegeben hat, so deshalb, weil der Großteil ihrer Bewohner direkt vom Lande kommt. Sie fühlen sich noch immer unsicher im städtischen Milieu, und sie akzeptieren weitgehend die offizielle Lüge, dass sie deshalb keine Arbeit fänden, weil sie Analphabeten seien. Alle ihre Hoffnungen und Erwartungen haben sie auf ihre Kinder gesetzt: »Wenn die Kinder nur eine ordentliche Ausbildung haben, werden sie das erreichen, was wir für uns erhofft haben: einen Arbeitsplatz und ein menschenwürdiges Leben.« Sie sparen sich deshalb die Ausbildung für ihre Kinder buchstäblich vom Munde ab. Sprecherin: Aber es gibt keine Hoffnung für die junge Generation. Sie wird mit maximal sechs Jahren Schulausbildung zu demselben Los verurteilt sein wie ihre Eltern: Arbeitslos oder bestenfalls als Straßenhändler, Losverkäufer und Bettler »beschäftigt«, werden auch die Kinder später in Elendsvierteln hausen, in favelas, rancherios, villas de miseria, in tugurios. Es ist allerdings kaum zu erwarten, dass diese jungen Lateinamerikaner so viel Geduld gegenüber dem System aufbringen wie ihre Eltern.
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Klaus Meschkat
Kommentar zu »Über Slums in Lateinamerika« Annemarie in Medellín
Annemarie war im Jahre 1970 nur einige Wochen in Medellín zu Besuch – und doch hat sie danach eine Rundfunksendung verfasst, die langjährige Lateinamerika-Experten nicht besser hätten schreiben können. Ihre Interviews erwecken ein unmittelbares Verständnis für eine entfernte soziale Realität, zugleich aber werden die Ursachen zentraler Konflikte in der kolumbianischen Gesellschaft so klar dargelegt, dass etwa die Folgen des Ausbleibens einer Agrarreform bis in die Gegenwart sichtbar werden. Medellín war 1970 noch nicht die Hauptstadt eines weltweit operierenden Drogenkartells – wohl aber gibt es Gründe dafür, weshalb gerade in dieser für ihren Unternehmergeist bekannten Provinz ein besonders profitversprechender Teil globalisierter Ökonomie gedeihen konnte, mit dem weltweit berüchtigten Pablo Escobar an der Spitze. Zur Vorgeschichte gehört das Anwachsen städtischer Elendsviertel (Tugurios), deren vom Lande vertriebene Bewohner keine Arbeit in einer niedergehenden Industrie finden konnten. Deren Lebenssituation zeigt der Rundfunkbeitrag sehr anschaulich. In Medellín entstanden damals mehrere neue Viertel dieser Art vor allem durch Besetzung hoch gelegener und schwer zugänglicher Berghänge, aber auch in anderen gefährlichen Zonen, wie ganz dicht an einer Eisenbahnlinie, deren Funkenflug regelmäßig die schnell errichteten Holzhütten niederbrannte. Auf der Suche nach einer Einkommensquelle gingen viele Bewohner aus unterschiedlichen Elendsvierteln auf die große Müllhalde auf einem zentral gelegenen Hügel, um nach irgendetwas Verwertbarem oder Essbarem zu suchen. Dies war also ein Ort, wo man Menschen aus entfernten Elendsvierteln erreichen und eventuell auch zu gemeinsamen Aktionen zusammenführen konnte. Dies erkannte auch der Priester Vicente Mejía, den Annemarie ausführlich interviewt hat. Er ging regelmäßig auf den Müllberg und nahm Teil an der schmutzigen Arbeit, bis ihn schwere Hautschäden an den Händen zu stark behinderten. Dadurch erwarb er sich ein hohes Prestige in allen »tugurios«, an ihn knüpften sich hohe Erwartungen. Wann immer er in Medellín eine Reise antrat, kamen viele »tugurianos« zum Flughafen, um den verehrten Führer zu verabschieden. Vicente Mejía war Mitglied eines Zusammenschlusses linksgerichter Priester, die unter dem Namen »Golconda« in mehreren Städten Kolumbiens tätig waren. Sie orientierten sich an der Theologie der Befreiung und am Vorbild von Camilo Torres, eines Priesters und Soziologieprofessors, der sich 1966 der castristischen 52
kommenta r
Guerilla ELN angeschlossen hatte und schon bei seinem ersten Gefecht gefallen war. Den Golconda-Priestern ging es aber meist nicht um eine unmittelbare Teilnahme am bewaffneten Kampf, sondern um eine Unterstützung der autonomen Organisation vor allem der Elendsviertelbewohner. Durch gemeinsame Freunde konnte Annemarie während ihres MedellínAufenthalts Vicente Mejia persönlich kennenlernen. Er wurde in den Vierteln der Armen wie ein Heilsbringer verehrt, auch und vor allem von älteren Frauen, die sich für sein Vorbild und seine Lehren besonders empfänglich zeigten. Da wurde das Auftauchen einer attraktiven Studentin aus dem Ausland erst einmal als Gefahr wahrgenommen: Könnte der junge Priester eventuell einer so naheliegenden Versuchung nicht widerstehen, unverhofft entweiht werden und damit seiner Gemeinde verloren gehen? Annemarie gelang es aber, ihre üblichen spontanen Umgangsformen etwas zu modifizieren, um derartigen Missverständnissen keinen weiteren Vorschub zu leisten. Sie konnte glaubhaft machen, dass sie die Nähe von Vicente nur suchte, um seine Botschaft in Interviews festzuhalten. Der Rundfunkbeitrag von Annemarie hat ein doppeltes Interesse: Er bietet einerseits eine heute noch gültige Darstellung der Gründe und Auswirkungen des Anwachsens der Elendsviertel in einem Land der Dritten Welt, als notwendiges und bleibendes Ergebnis des »abhängigen Kapitalismus«. Andererseits ist er aber auch ein Zeitzeugnis für die Hoffnungen und Erwartungen, die wir vor 50 Jahren mit unseren Freunden in Lateinamerika und den USA teilten. In Kolumbien schien sich damals zu zeigen, wie ArbeiterInnenstreiks und unabhängige Bauernbewegung mit den Mobilisierungen in den Elendsvierteln zusammengehen und sich gegenseitig verstärken können. Gerade, weil Annemarie mit ihren Interviews die verzweifelte und ausweglos erscheinende Lage der Menschen aus den Elendsvierteln klarmacht, möchte sie zugleich Ansätze für widerständiges Handeln in der damaligen Konjunktur herausarbeiten. Aber sie zeigt auch, dass die Herrschenden dieses Widerstandspotenzial durchaus fürchten und ihm vorbeugend entgegenwirken wollen. Dabei bedienen sie sich einer solchen Zwecken angepassten Sozialwissenschaft, die Annemarie mit erkennbarem Abscheu charakterisiert: »Die Flucht der hungernden, unterernährten, hoffnungslosen Bauernmassen in die Städte als eine ›Explosion gesteigerter Erwartungen‹ zu bezeichnen – dieses makabre Kunststück einer zutiefst apologetischen Interpretation der Realität ist leider bezeichnend für die Funktion der bürgerlichen Sozialwissenschaft in der unterentwickelt gehaltenen ›armen‹ Welt.«1 Annemarie Tröger zeigt mit ihrem Rundfunkbeitrag, dass Genauigkeit bei der Erklärung ökonomischer und sozialer Zusammenhänge durchaus mit moralischer Empörung über den dominierenden Wissenschaftsbetrieb einhergehen kann. In dieser Grundhaltung ist sie sicherlich durch ihren Studienaufenthalt in den USA noch bestärkt worden: Sie hat vor ihrer Reise nach Südamerika eine 1
Vgl. S. 29 in diesem Band.
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k l aus meschk at
Zeit lang in Los Angeles gelebt und studiert und ist dort, aber auch in Berkeley, New York und Chicago mit linken politischen Gruppen intensiv in Berührung gekommen. Deren radikale Opposition gegen die imperialistische Politik des eigenen Landes hatte stets eine stark moralische Komponente – keineswegs im Widerspruch zu einer gründlichen Erforschung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika, wie sie seit 1967 vor allem durch das Forschungs- und Publikationszentrum NACLA (North American Congress on Latin America) abseits des akademischen Betriebs geleistet wurde. Damit fand der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg und die Unterstützung der »Black Panthers« in ihrem Kampf gegen die Diskriminierung der Schwarzen eine notwendige Ergänzung, die von Hoffnungen auf revolutionäre Mobilisierung in Süd- und Mittelamerika getragen wurde. Annemarie hat sich 1970 mit dieser Art von Internationalismus stark identifiziert. Dies entsprach auch ihrem Engagement für die US -amerikanischen GI s, die sich dem bevorstehenden Wehrdienst in Vietnam entziehen wollten und für die sie sich zuvor in Westberlin eingesetzt hatte. Nach ihrem Kolumbien-Aufenthalt hat sie auch den Südteil des Subkontinents bereist: In Chile und Uruguay halfen ihr alte Freunde aus dem Westberliner SDS , die Umbruchsituation dieser Länder besser zu verstehen. Ihr Rundfunkbeitrag zu den Elendsvierteln in Kolumbien ist in diesem Zusammenhang entstanden.
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Tilla Siegel
Einführung und Erläuterungen
»The New Reich« ist der auf Englisch verfasste Entwurf eines Beitrags für die marxistisch orientierte Zeitschrift Monthly Review in den USA . Die Quellenhinweise lassen darauf schließen, dass Annemarie ihn Anfang der 1970er Jahre verfasst hat. Im Kern geht es um das Einklinken bundesrepublikanischer Konzerne in den Neo-Imperialimus. Dass ich von dem Entwurf erst erfuhr, als ihn mir die Herausgeberinnen dieses Buches vorlegten, scheint seltsam zu sein. Denn damals befasste ich mich wie Annemarie mit dieser Thematik. Aber da war ich in Heidelberg und Annemarie in Berlin beziehungsweise in den USA . Erst später, ab etwa 1975, lernten wir uns kennen, wurden Kolleginnen und alsbald Freundinnen. Und da war Annemarie bereits auf neuen gesellschaftskritischen Wegen. Doch zunächst zu den ersten Jahren, in denen Annemarie und ich Kolleginnen und Freundinnen wurden. Um 1975 traten wir als Assistentinnen am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung (ZI6) an der Freien Universität Berlin (FU ) an. Aufgrund des damaligen »Berufsverbotes« mussten alle, die im öffentlichen Dienst eingestellt wurden, auf ihre Verfassungstreue, beziehungsweise Verfassungsuntreue überprüft werden. Später entnahm ich meiner Personalakte, dass ich nicht ganz unverdächtig war, es aber, weil es sich nur um eine zeitlich befristete Stelle (fünf Jahre) handelte, noch mal so ging. Ich vermute, dass für Annemarie dasselbe galt. Im ZI6 war unser Auftrag, den Schwerpunkt »Vergleichende Faschismusforschung« aufzubauen. (Etwas später kamen Carola Sachse, Gisela Bock und Wolfgang Heidel dazu.) Bereits an dieser Stelle ist eine Erläuterung angesagt: Vorher und nachher, als der Titel »Assistent« in »wissenschaftlicher Mitarbeiter« umbenannt wurde, waren / sind Menschen, die sich auf Promotionskurs befanden / befinden, einem professoralen Doktorvater (in wenigen Fällen auch einer Doktormutter) zugeordnet, sollten / sollen gleichsam als Wasserträger in deren Themenbereich dienen. (Zugegebenermaßen ließen / lassen sich nicht alle ProfessorInnen in dieser Weise bedienen. Aber so ist die akademische Konvention.) Damals waren die alten universitären Hierarchien erschüttert und neue Strukturen noch nicht ganz etabliert. Folglich waren unsere Doktorväter oder Doktormütter, weil nicht Mitglieder des ZI6, in weiter Ferne und wir von den professoralen Mitgliedern des ZI6 unabhängig. Zu dieser besonderen historischen Situation gehörte auch, dass bereits vorher Mitglieder des Mittelbaus im ZI6 entscheidend dazu beigetragen haben, dass »Vergleichende Faschismusforschung« als neuer
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punkt eingerichtet wurde – und sie haben uns auch bei der Neuorientierung des Schwerpunkts unterstützt. Annemarie wurde, so glaube ich, als Soziologin / Psychologin eingestellt, ich als Ökonomin. Von Anfang an scherten wir uns wenig um fachliche Abgrenzungen. Auch scherten wir uns nicht um die Erwartung, Faschismen in verschiedenen Ländern, deren Ursprünge und Wirkungen dort, zu vergleichen. Wir wollten den historischen Wurzeln der bundesrepublikanischen Gesellschaft nachspüren – in unserem Fall für die Zeit des nationalsozialistischen Regimes. »Vergleichend« hieß für uns, die Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands aus unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektive zu rekonstruieren. Wir organisierten recht bald eine große Vortragsreihe mit renommierten Nationalsozialismus- / Kapitalismusforschern. Groß, weil die Vorträge in einem großen Hörsaal stattfanden, vor immer zahlreichem Publikum. Parallel dazu organisierten wir ein Kolloquium, in dem Studierende mit den eingeladenen Rednern diskutierten. Die Idee für die Vortragsreihe plus Kolloquium kam wahrscheinlich von Annemarie. Woher das Geld kam für die Reisen der Vortragenden, ob sie überhaupt dafür bezahlt wurden, ist mir heute unklar. Irgendwie hat es geklappt. Annemarie und ich wechselten uns ab mit einer kurzen Rede zur Vorstellung der Vortragenden. (Meiner Erinnerung nach handelte es sich ganz zeitgemäß ausschließlich um Männer.) Nicht immer lief alles glatt. Einmal kam Annemarie zu spät, weil sie mit der Vorbereitung ihrer Rede noch nicht fertig war. Das war ziemlich peinlich. Aber das kann schon mal passieren. Ein andermal musste ich eingreifen und einem Redner dazu verhelfen, seinen Vortrag abzubrechen. Er hatte starke Migräne, konnte kaum noch reden. Einige Zuhörer waren empört, weil die Veranstaltung abgebrochen wurde. Annemarie und ich waren empört, dass sie empört waren. In der Summe aber war unsere Veranstaltung erfolgreich, wurde doch (unter anderem) damit die Thematik des Schwerpunkts »Vergleichende Faschismusforschung« gefestigt. Und erst jetzt, im Zusammenhang mit der Entstehung dieses Buches, erfahre ich, dass die Vorträge und das Kolloquium bei den damals Studierenden einen prägenden Eindruck hinterlassen haben. In der Folgezeit boten Annemarie und ich – teils zusammen, teils getrennt – auf eigene Kappe weitere Lehrveranstaltungen an. Das war möglich, weil die universitären Hierarchien erschüttert waren. Wir taten es nicht aus Gründen des persönlichen Renommees, und wenn doch, so erst in zweiter oder dritter Linie. Wir taten es primär aus Überzeugung. Für Annemarie gilt das allemal. Sie dachte groß – was ihre Überzeugungen und ihre Interessen betrifft. Sie war stark darin, ihre Ideen / Überzeugungen durchzusetzen.
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Zwei Arten Fazit zu meinen Erinnerungen an Annemarie damals Fazit 1: In der Nachschau scheint es mir wie ein Wunder, dass der Aufbau des Schwerpunktes »Vergleichende Faschismusforschung« letztlich erfolgreich war. Wir sind gleichsam wie Engel, nun ja, ziemlich aufmüpfige Engel, durch ein Minenfeld gelaufen. Die begünstigenden, historisch besonderen Umstände sind weiter oben erwähnt. Dabei waren wir nicht allein. Unsere Kolleginnen im Schwerpunkt sowie andere Mitglieder des Mittelbaus im ZI6, weitere FreundInnen, KollegInnen, KampfgenossInnen haben wesentlich dazu beigetragen – mit eigener Arbeit, Anregungen, Diskussionen, moralischer Unterstützung. Mit den Professoren sind wir ziemlich ruppig umgegangen. Aus Prinzip. Aber auch in deren Gruppe gab es signifikante Unterschiede. Es gab Professoren, die mit allen Mitteln versuchten, uns Steine in den Weg zu werfen, indem sie uns beispielsweise beim Verfassungsschutz anschwärzten oder auch versuchten, unsere Promotion zu verhindern. Dann gab es eine Menge Professoren, die es vorzogen, nicht zu agieren – vielleicht aus Angst, vielleicht auch nur (wie ich vermute), weil es ihnen egal war. Und es gab Professoren und die eine oder andere der raren Professorinnen, die mit uns gleichsam auf Augenhöhe fochten. Auch mit ihnen sind wir nicht immer freundlich umgegangen. Aber sie haben es ausgehalten. Und wir haben aus der Auseinandersetzung mit ihnen gelernt. Fazit 2: Annemarie, 1939 geboren, war einige Jahre älter als ich. Als Kind hatte sie kriegs- und nachkriegsbedingte Verluste erlebt – Verlust des Vaters, der Heimat, des sozialen Status, Flucht und nachfolgende Zeiten der Armut, und mal da, mal dort untergebracht zu sein. Mir, erst 1944 geboren, wurde zwar von Verlusten erzählt, aber es waren nicht meine eigenen Erinnerungen. Auch wuchs ich unter recht ähnlichen Bedingungen wie den oben geschilderten auf. Aber für mich war dies Normalität, weil ich es nicht anders kannte. Ging es doch allen in meinem Umkreis ebenso. Warum erzähle ich das? Nun ja, unterschiedliche biographische Erfahrungen erklären zumindest teilweise auch unterschiedliche Verhaltensweisen, mit denen wir (wie viele andere) in den Kampf um eine bessere Wissenschaft / bessere Gesellschaft zogen. Annemarie kämpfte gleichsam mit geschlossenen Zähnen. Hingegen textete ich sie mit meinen Problemen / Schwächen zu. Die ihren nahm ich zwar wahr. Dass sie ihre Probleme kaum ansprach, empfand ich als Stärke. Schade, dass ich sie nur selten danach fragte. Mit der Erörterung auch biographisch bedingter Verhaltensweisen sei thematisiert, dass heutige widerständige Generationen nicht nur unter neuen Bedingungen agieren, sondern auch mit ganz anderen biographischen Erfahrungen in den Kampf für eine bessere Gesellschaft, beziehungsweise gegen schlimme Entwicklungen wie die Klimakatastrophe, ziehen.
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Erläuterungen und Kommentar zu »The New Reich« Als Annemarie den Entwurf schrieb (Anfang der 1970er Jahre), galten im akademischen und publizistischen Bereich Begriffe wie Kapitalismus und Imperialismus als ideologische Unworte – insbesondere, wenn sie sich auf die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland (im folgenden BRD oder Westdeutschland) bezogen. Entsprechende Analysen waren im wissenschaftlichen Betrieb tabu. Folglich musste Annemarie die Belege dafür gleichsam zusammenkratzen, dass und wie die BRD durchaus auf dem Weg war, sich als global player im Imperialismus zu etablieren. (Man verzeihe mir, dass ich hier heutige und damalige Begriffe miteinander vermische. Letztlich geht es um Gleiches.) In ihrem Entwurf griff Annemarie auf einige wenige Publikationenen aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR ) zurück. Doch das reichte ihr nicht. In der westlichen Welt, insbesondere in der BRD und den USA , galten Informationen aus dem Ostblock als verdächtig, weil kommunistisch. Nicht dass Annemarie sich diesem Diktum einfach so unterworfen hätte. Aber sie wollte ja im Westen überzeugen. So nahm sie die Informationen aus dem Osten als Inspiration, im Westblock als seriös geltende Quellen aufzutun und gegen den Strich zu bürsten. Es ist beeindruckend, wie viel Material sie aus im Westen unverdächtigen Quellen für ihr Thema gefunden und genutzt hat. Einige davon seien hier genannt: Berichte der Kreditanstalt für Wiederaufbau, das Statistische Jahrbuch, OECD -Berichte, Statistische Beihefte zu Jahresberichten der Deutschen Bundesbank, Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Statements des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (befasst mit der sogenannten Entwicklungshilfe), Geschäftsbericht der Deutschen Entwicklungsgesellschaft (DEG), Tätigkeitsbericht des Deutschen Industrie- und Handelstags sowie Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften wie FAZ , Die Wirtschaftswoche, Der Spiegel, Der Volkswirt et cetera. Annemaries Entwurf zeigt, wie wichtig es ist, sich nicht nur auf einigermaßen sympathische / sympathisierende Quellen zu berufen. Zu Recht nutzte sie Informationen aus wirtschaftsfreundlichen, wenn man so will: kapitalismusfreundlichen Publikationen. Denn diese sollen ihren Leser / inne / n ja – auch – sagen, worum es geht: Wo und wie besser und wo besser nicht mit Gewinn agiert und investiert werden könnte. Ich wünschte, »The New Reich« hätte hier vollständig als Faksimilé abgedruckt werden können, was aus Platzgründen nicht möglich ist. So bleibt mir nur, heutigen akademisch und publizistisch tätigen Generationen zu empfehlen, sich eine Kopie des Manuskripts zu besorgen. Zum einen, das mag banal scheinen, macht der Entwurf deutlich, wie viel Mühe im Verfassen eines Artikels steckt – insbesondere, wenn er gegen den Strom des Establishments anschwimmt. Wenn ein Entwurf bis zur Publikationsreife »bereinigt« ist, werden diese Mühen weitgehend unsichtbar. Das kann viele andere über Gebühr frustrieren, wenn sie nämlich meinen, dass nur sie sich mit diesen Mühen herumschlagen müssen, eventuell daran scheitern. Zum anderen mögen die Begriffe, die Annemarie 58
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wendete, heute befremdlich erscheinen. Doch der Entwurf zu »The New Reich« liefert reichlich Information zu historischen Wurzeln der Globalisierung. Annemaries Manuskript umfasst insgesamt (einschließlich der Anmerkungen) 63 Seiten. Eine Readers-Digest-Version davon vermag ich hier nicht zu liefern. Und die Herausgeberinnen dieses Buches haben es auch nicht von mir verlangt. Wir haben uns darauf geeinigt, den Vorspann zu Annemaries Artikel sowie ihre »Schlussfolgerungen« in Übersetzung hier wiederzugeben. Zudem gehe ich auf drei Aspekte im Hauptteil ihres Artikels ein, die so nur wenig zur Sprache kommen. Zunächst zum Vorspann, den ich recht locker übersetzt und in den ich in Klammern zum besseren Verständnis heute einige Begriffe eingefügt habe. Vorab eine Erläuterung: Annemarie benutzt in ihrem Artikel kurz und knapp die Begriffe »Imperialismus« und »imperialistisch« – so beispielsweise, wenn sie darauf hinweist, dass sie, wenn sie von Deutschland redet, das imperialistische Deutschland meint. Hingegen benutze ich in meinen Erläuterungen den Begriff »Neo-Imperialismus«, um die Entwicklung nach Ende des Zweiten Weltkrieges deutlicher zu markieren. Kolonien, Merkmale des alten Imperialismus, wurden damals in die Selbstständigkeit entlassen, besser: erkämpften sich die Selbstständigkeit. Militärische Absicherung von Einflussgebieten war nicht mehr ganz so selbstverständlich, wenngleich sie bis heute nicht selten ist. Im Neo-Imperialismus kommen die Eroberungen von Einflusssphären, von Märkten, der Zugriff auf Rohstoffe sowie günstige Investitonsbedingungen und billigere Arbeitskräfte scheinbar auf sanfteren Pfoten – bis hin zur Globalisierung heute. Im Vorspann schreibt Annemarie: ‒ Deutschlands imperialistische Positionierung nach dem Zweiten Weltkrieg könnte man in drei Phasen darstellen: ‒ Die Phase des Wiederaufbaus: 1948-1954 /55. ‒ Deutschland ist Empfänger US -amerikanischen Kapitals, das eine entscheidende Rolle in der Restrukturierung des Kapitalismus spielt, Kapitalbildung, Überentwicklung der Investitionsgüterindustrie, die »take-off« Phase von Exporten. ‒ Die Phase des erneuten Einklinkens in die imperialistische Welt: 19541967 /68. ‒ Ausländisches, insbesondere US -amerikanisches Kapital fließt in die deutsche Industrie, staatliche Kapitalexporte (»Entwicklungshilfe«), Monopole (Großkonzerne) gründen Tochtergesellschaften (im Ausland), die Stoßrichtung ist die Sicherung von Exportmärkten. ‒ Die Phase kapitalistischer Expansion: seit 1967. ‒ Im Inland wird die Erzielung von Profiten schwieriger, rapides Ansteigen der Privatinvestionen im Ausland, Aufwertung der D-Mark. Dieser Artikel widmet sich vor allem der wirtschaftlichen Expansion Deutschlands, wobei nur wenig auf die Regierungspolitik und die militärische Rolle eingegangen wird.1 1 The New Reich, unveröffentlichtes Manuskript, S. 1. FFBIZ B Rep 500 Acc. 800-227.
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So weit der Vorspann, in dem Annemarie deutlich macht, worum es ihr im Wesentlichen geht. Ebenso betont sie in den weiter unten wiedergegebenen »Schlussfolgerungen« zu ihrer Recherche die Rolle, die die BRD bereits damals im Neo-Imperialismus spielte. Aber im Kern ihres Artikels geht sie weit über diese Thematik hinaus. Da widmete sie sich ausführlich Aspekten, die mich besonders beeindruckt haben und von denen ich im Folgenden drei behandele. In der Darstellung der ersten Phase (1948-1954 /55) weist sie ausführlich darauf hin, dass die Verbindungen deutscher Großkonzerne mit ausländischem (US amerikanischem) Kapital in der Zeit des nationalsozialistischen Deutschlands keineswegs abgebrochen waren. Abgesehen von den geopolitischen Interessen der USA mögen diese Verbindungen auch das Interesse der USA am wirtschaftlichen Wiederaufbau der Bundesrepublik erklären, beispielsweise mit Mitteln des Marshall-Plans. Annemarie zitiert aus dem Ersten Bericht der Kreditanstalt für Wiederaufbau 1949: Die Grundidee des Marshall-Plans ist jedoch, dass der Wiederaufbau im Rahmen eines Europas stattfindet, das wirtschaftlich vereinigt werden soll. Die Produktion in den einzelnen Ländern soll so harmonisiert werden, dass möglichst enge Verbindungen zwischen Europas Produktion mit anderen Regionen ermöglicht werden, um so zu einem wirtschaftlichen Gleichgewicht in der Welt beizutragen. Alte Handelsbeschränkungen wie bilaterale Zwangsjacken sollen abgeschüttelt werden und der Handel des Kontinents soll frei wachsen. Im Zusammenhang mit diesem Zitat hebt Annemarie hervor, dass mittels des Marshall-Plans auch in den USA der Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft erleichtert werden sollte, und zwar nicht nur hinsichtlich der Sicherung von Exportmärkten, sondern auch hinsichtlich der Öffnung Europas für US -amerikanische Investitionen. Noch auf weitere Aspekte der ersten Phase der Entstehung der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg weist Annemarie hin. Beispielsweise erwähnt sie, dass Mittel aus dem Marshall Plan recht bald in die deutsche Entwicklungshilfe umgeleitet wurden und so deutsche Exporte beförderten. Und sie geht darauf ein, wie die Währungsreform vor allem kleine und mittlere Einkommen und Anleger betraf. Der Staat und Großunternehmen wurden ihrer Kriegsschulden entledigt. Eine Entwertung von Kapital- und Firmenanlagen fand nicht statt. Die Währungsreform, so folgert sie, sei ein Mittel für Kapitalakkumulation und -konzentration gewesen.2 Hinzugefügt sei, dass ein, wenngleich makabrer, Aspekt in Annemaries Text unerwähnt bleibt – jedoch nicht vergessen werden sollte: Der Koreakrieg (1950-53) bescherte der deutschen Industrie reichlich Exportchancen, trug mithin nicht unbeträchtlich zum beginnenden »Wirtschaftswunder« bei. Wie bereits im ersten Teil ihres Artikels hat Annemarie durchgängig auf den Zusammenhang binnen- und außenwirtschaftlicher Entwicklungen hingewiesen. 2 Ebd., S. 5.
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War in der ersten Phase auch aufgrund der vielen Flüchtlinge das Potenzial an qualifizierten Arbeitskräften sehr groß, so führte im Verlauf des »Wirtschaftswunders« der Mangel an heimischen Arbeitskräften dazu, dass diese (aus der Sicht der Unternehmen) zu teuer wurden. Auch darauf, dass heimische weibliche Arbeitskräfte chronisch unterbezahlt waren, geht Annemarie immer wieder ein.3 Worum es ihr aber im entsprechenden Teil ihres Artikels ging, war, dass ausländische männliche wie weibliche billigere Arbeitskräfte als »Gastarbeiter« importiert wurden, um Lohnsteigerungen im Inland zu konterkarieren.4 Damals wurden sie vorwiegend in der Industrie und im Bergbau, alsbald auch in anderen Bereichen, beispielsweise als Krankenschwestern, eingesetzt. Auch heute ist uns dieses Phänomen bekannt: in der Pflege, in der Landwirtschaft, in den Schlachthöfen etc. Natürlich wollte Annemarie diese Menschen nicht als Lohnkonkurrenz diffamieren. Vielmehr ging es ihr (wie mir heute) um die Darstellung von Mechanismen im Imperialismus (in der damaligen Diktion) beziehungsweise der Globalisierung (in der heutigen Diktion). Nicht nur werden Arbeitskräfte importiert, um die heimischen Lohnkosten niedrig zu halten. Vielmehr werden auch Teile der Produktion in Länder verlagert, in denen Arbeitskräfte besser (aus-)genutzt werden können. Oft wurde sogar die gesamte Herstellung der Endprodukte in diese Länder verlagert, um zudem einen besseren Zugang zu Märkten in der betreffenden Region zu haben. Ein Beispiel ist die Endfertigung von V W-Käfern in Mexiko. Diese wie auch weitere Entwicklungen der Rolle, die die bundesrepublikanische Politik und Großkonzerne im Neo-Imperialismus spielten, behandelt Annemarie im zweiten und dritten Teil ihres Artikels und auch in ihren hier weiter unten wiedergegebenen »Schlussfolgerungen«. Im Wesentlichen bringt sie drei Aspekte miteinander in Verbindung: die Internationalisierung der Produktion, den Zusammenhang deutscher Entwicklungshilfe mit der Positionierung deutscher Konzerne in Ländern der Dritten Welt sowie den Kampf um den Zugriff auf Rohstoffreserven. Aspekt 1: Annemarie geht ausführlich darauf ein, wie deutsche multinationale Konzerne über Holdings scheinbar selbstständige Tochterfirmen in Ländern etabliert haben, in denen die Arbeitskosten niedriger waren.5 Doch weist sie – z. B. in Punkt 8 ihrer »Schlussfolgerungen« – auf andere, weitreichende Folgen hin. Es geht um ein Phänomen, das die einigermaßen kryptische Passage am Ende von Punkt 11 erklärbar macht. Die Tochterfirmen wurden nämlich nicht nur durch Investitionen und Kredite der Mutterkonzerne finanziert – und an letztere gebührend zurückgezahlt. Vielmehr bedienten sie sich auch der jeweils einheimischen Finanzmärkte – mit Erfolg. Als Konsequenz wurden diese gleichsam leergefegt, es blieb kaum etwas übrig für einheimische (Klein)Unternehmen. 3 So auch in Teil 12 ihrer »Schlussfolgerungen«. Ebd., S. 57 f. 4 Ebd., S. 6 ff. 5 Damit sind nicht nur Löhne gemeint, sondern auch Kosten für Gesundheitsschutz etc.
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Mit ihrem Argument, der dürftige Rest afrikanischen Kapitals werde aufgesogen, um das eigene Kleinbürgertum vor Verstaatlichung zu schützen, wollte Annemarie möglicherweise auf den politischen Aspekt dieser Situation hinweisen. Wenn nämlich in einer kapitalistisch organisierten Welt die Entwicklung einer jeweils einheimischen Bourgeoisie (groß oder klein) durch Finanzmangel ausgebremst wird, dann ist gerade die gesellschaftliche / wirtschaftliche Schicht zu schwach, die eine Politik der Eigenentwicklung ihres Landes hätte tragen können. Die Aspekte 2 und 3 sind eng miteinander verbunden. Annemarie verwendet dafür den Begriff »Schlüsselprojekte«.6 Am Beispiel des Cabora-Bassa-Staudamms in Mosambik seien sie hier in Kürze zusammengefasst.7 Dieses Projekt war um 1970 heftig umstritten. Nicht nur war Mosambik damals noch portugiesische Kolonie. Vielmehr sollte auch ein Großteil des durch den Staudamm produzierten Stroms nach Südafrika gehen. Aufgrund der fragwürdigen politischen Konstellation und aus unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen verabschiedeten sich Länder wie Schweden und Italien aus der Beteiligung an diesem Projekt. Neben den USA (u. a.) beteiligte sich die Bundesrepublik weiterhin daran. Die bundesdeutsche Entwicklungshilfe trug zur Finanzierung des Projekts bei. Bundesdeutsche Firmen wie Siemens, AEG , Voith, BBC und Hochtief verdienten daran – als Mitglieder des Konsortiums, das den Bau durchführte. Mit anderen Worten: Ein Großteil der deutschen Entwicklungshilfe floss über Geschäfte deutscher Konzerne in Mosambik wieder nach Deutschland zurück. Der Cabora-Bassa-Staudamm ist jedoch nicht nur ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen Entwicklungshilfe und der Etablierung deutscher Konzerne auf dem Markt für Großbauprojekte in der Dritten Welt. Vielmehr ging es auch um den Zugriff auf wichtige Rohstoffvorkommen. Hinsichtlich der Ölressourcen waren vor allem die USA dominierend. Aber es wurden auch andere Rohstoffe relevant, beispielsweise Uran – wichtig für Atomkraftwerke – und viele andere mehr: Der elektrische Strom [durch den Cabora-Bassa-Staudamm, TS] ist wesentlich für die Gewinnung dort reichlich vorhandener seltener Metalle wie Berylium, Cordium, Magnetit etc., sowie der großen Vorkommen an Kohle, Eisenerz, Mangan und Fluorit. […] Ein deutsch-portugiesisches Venture wird konzentriertes Uran produzieren und so Deutschland unabhängiger von US -amerikanischer Kontrolle machen.«8 Annemarie mag in ihren Zukunftsprognosen nicht immer ganz richtig gelegen haben – so unter Punkt 12 ihrer »Schlussfolgerungen«. Doch auch da bleibt ihr Hinweis relevant, dass nämlich die Verstrickungen deutscher Politik und deut6 The New Reich, S. 44 ff. 7 Ebd., S. 47 f. 8 Ebd.
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scher Konzerne im Neo-Imperialismus keineswegs ohne Auswirkung auf binnenwirtschaftliche und binnensoziale Verhältnisse in Deutschland bleiben werden. Zudem liefert Annemarie mit ihrem Artikel auf vielfältige Weise den historischen Hintergrund für das, was heute unter dem Titel »Globalisierung« geschieht. Dazu abschließend nur ein Beispiel: Damals trugen die »Tochterfirmen« zumeist noch den Namen des »Mutterkonzerns« in ihrem Titel. Im Rahmen der Globalisierung wird dieser Zusammenhang unsichtbar. Heute vergeben (u. a. deutsche) Großkonzerne die Herstellung ihrer Markenprodukte an andere, ebenfalls große, aber weitgehend unbekannte Firmen, die weltweit fast wie Heuschrecken danach suchen, wo am billigsten produziert werden kann. Artikel wie Smart Phones, Laptops, TV-Equipment, Pharmazeutika etc. werden dann wieder unter renommierten Markennamen an uns verkauft.9
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Vgl. dazu Sproll: Globale Arbeit und Produktion 2016, S. 249-260.
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Annemarie Tröger
The New Reich: Einige Schlussfolgerungen (1971 /72)1 1. Die Hauptkonkurrenz zwischen imperialistischen Ländern in der unterentwickelten Welt – eine Konkurrenz mit bestimmten nationalistischen Zügen – betrifft die Rohstoffgewinnung und das, was wir als »Schlüsselprojekte« bezeichnet haben.2 In den meisten ausbeutbaren Gebieten dieser Welt trifft Deutschland auf Konkurrenten, die bereits alle Rohstoffvorräte für sich beanspruchen. Nur in Afrika sind noch größere Bodenschätze erhalten. Schlüsselprojekte stehen am Anfang der Entwicklung ganzer Industriezweige und der Ausbeutung ganzer Regionen, manchmal mit der Möglichkeit der Rohstoffgewinnung. Wer sich hier zu Beginn eines Projektes eine einflussreiche Position verschafft, hat einen Vorteil in dem nun folgenden Wettkampf um Entwicklungsmöglichkeiten, und dies bedeutet, dass sich ganze technologische Systeme verkaufen lassen – nicht nur ein paar Maschinen –, was den Markt für bestimmte Investitionsgüter über einen langen Zeitraum absichern kann. Der bisweilen ganz offene nationalistische Beigeschmack erklärt sich damit, dass staatliche Subventionen benötigt werden, um ein Schlüsselprojekt auch für private Profitinteressen zum Erfolg zu machen, aber auch, weil die meisten technologischen Systeme auch heute noch national eingebunden sind, bis hin zur Beschaffung von Ersatzteilen. 2. Deutsche Kapitalisten – mit Ausnahme der etwa ein Dutzend tatsächlich multinationalen Konzerne – sind in ihrer überwiegenden Mehrheit darauf beschränkt, sogenannt sekundäre Investitionen in die Herstellung zu tätigen. Sie haben sich mit dem zu begnügen, was ihnen die etablieren Mächte / Imperien an Schlupflöchern übrig lassen.3 Manche Autoren gehen davon aus, dass deutsche Investitionen in Zulieferung, Reparaturbedarf, auch Verarbeitung und ähnliche Produktionszweige, die um große amerikanische Projekte herum angesiedelt sind, darauf abzielen, US -Giganten »einzukreisen« und sie in ihrer Bewegungsfreiheit zumindest einzuschränken. Das aber setzt zu viel kapitalistischen Verstand voraus und überschätzt die deutschen Möglichkeiten des ökonomischen Wettbewerbs, vor allem auch, weil solche Strategien in mehreren Ländern gleichzeitig stattfinden müssten, um überhaupt erfolgreich zu sein.
1 Bisher unveröffentlichtes Manuskript. 2 Anm. Tilla Siegel: Mit »Schlüsselprojekten« werden hier die Verknüpfungen von Entwicklungshilfe und der Unterstützung von Großbauprojekten (west)deutscher Konzerne in der Dritten Welt bezeichnet, damit der Export von Investitionsgütern sowie der Versuch, dort Zugriff auf Rohstoffreserven zu erhalten. 3 Anm. Tilla Siegel: Damit gemeint war u. a. zwar auch Großbritannien, aber vor allem die USA . Siehe dazu auch Punkt 4.
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3. Der normale Wettbewerb durch Unterbieten und Senken von Preisen ist unter Investoren in der dritten Welt unüblich. Extraprofite sind in unterentwickelten Ländern meistens so hoch, dass sie auch einen hohen Anteil ungenutzter Produktionseinrichtungen mittragen können (siehe V W ). Und die Märkte sind im Allgemeinen nicht das Risiko wert, sich Ärger mit mächtigen Konkurrenten einzuhandeln, der sich dafür möglicherweise in anderen Teilen der Welt rächt oder sogar zu Hause, wo der größte Schaden entstünde. 4. Mein Artikel scheint nahezulegen, dass die USA und in geringerem Maße Großbritannien die größten wirtschaftlichen Konkurrenten Deutschlands seien. Dieser Eindruck muss differenziert werden: Tatsächlich ist Japan auf fast allen Märkten die größte Bedrohung für den deutschen Export. Beide Länder kämpfen in fast allen lateinamerikanischen Ländern um einen zweiten oder dritten Platz beim Import, und Japan ist dabei zunehmend erfolgreicher. Dasselbe gilt für Afrika. Es ist ein erbitterter Kampf, weil beide Staaten um dieselben Güter konkurrieren. Auch sind sie in einer vergleichbaren Situation, haben im zweiten Weltkrieg ihre ehemaligen Machtstellungen verloren und bauen sich nun neue auf, die sie mit dem Überschuss aus ihren Exporten bezahlen müssen. Und weil beide im Einflussbereich der Amerikaner, Briten, Franzosen oder Niederländer nach neuen Möglichkeiten für Investitionen suchen, könnte man annehmen, dass der Kampf hauptsächlich zwischen ihnen stattfindet. Anders als beim Export gibt es aber kaum Konkurrenz im Bereich der Investitionen und Produktion im Ausland. Das kommt vor allem daher, dass beide Länder aufgrund ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit auf eine Hauptregion beschränkt sind. Dabei bemüht Japan sich vor allem um Südostasien und hat in Lateinamerika und dem »armen Europa«, wo Deutschland vorrangig tätig ist, kaum mehr als eine suchende Stellung. Andererseits werden kaum mehr als 3 der deutschen Direktinvestitionen im japanischen Einflussgebiet angelegt, obwohl die deutschen Elektro- und elektronischen Industrien planen, Teile ihrer Produktion nach Südostasien zu verlagern. Es wird eine Zunahme kleinerer Konflikte zwischen beiden Staaten geben, aber die wichtigste Quelle in dem interimperialistischen Wettstreit um Investitionen wird vermutlich weiterhin das expandierende deutsche Kapital in Lateinamerika und dem »armen Europa« sein und im Falle von Japan Südostasien mit seinen etablierten Herrschaftsbereichen. 5. Profite: Anders als ihre amerikanischen und britischen Partner sind deutsche Firmen nicht verpflichtet, jährlich ihre Einnahmen aus Direktinvestitionen im Ausland zu melden. Die verfügbaren Daten sind verstreute Gefälligkeitsinformationen einiger Kapitalisten. Die folgenden Zahlen, basierend auf der Umfrage einer repräsentativen Studie, die weiter oben bereits mehrfach erwähnt wurde,4 liegen vermutlich immer noch unter dem tatsächlichen Umfang der 4 Anm. Tilla Siegel: Aus dem Hinweis auf S. 39 des Manuskripts lässt sich keine entsprechende Studie entnehmen. Allerdings weist Tröger kurz danach in Anmerkung 35 auf eine Studie hin, auf die sie sich möglicherweise bezieht: Grosche/ Lehmann-Richter: Die Gewinne aus deutschen Direktinvestitionen in Entwicklungsländern 1970, S. 52.
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Profite deutscher Konzerne, die aber dennoch geringer sein mögen als die vergleichbaren amerikanischen oder britischen Zahlen. Zumindest geben sie einen Überblick über die Erfolge deutscher Investitionen. Die chemische Industrie und die Ölkonzerne weigern sich, Zahlen über ihre Einkünfte und ihr Kapitalvermögen offenzulegen. 6,25 Nettoeinnahmen (aus der Produktion plus Zinsen im Verhältnis zum tatsächlichen Anlagevermögen) in der Dritten Welt ist relativ wenig verglichen mit den 12 der Amerikaner und 10 der Briten (beide ohne Öl).5 Die Gründe dafür liegen in der Unausgereiftheit deutscher Unternehmungen, in der Notwendigkeit, sich etablierten Unternehmen anzuhängen mit dem Ergebnis recht niedriger Extraprofite und einer niedrigen Kapitalkonzentration, vor allem, wenn man die chemische Industrie davon ausnimmt. Letztere ist stark monopolisiert und vor allem durch die drei IG -Farben Nachfolger – BASF, Hoechst und Bayer6 – vertreten, die nach dem Krieg als Erste wieder im Ausland Fuß fassen konnten. Deshalb sind die Profite der chemischen Industrie vermutlich auch deutlich höher als die von anderen Herstellern. 6. Reinvestitionen: Die durchschnittliche Reinvestitionsrate liegt bei 70 der Nettoeinkünfte – auch hier ohne Berücksichtigung der chemischen Industrie und der Ölkonzerne. Das ist ein sehr hoher Anteil verglichen mit 18 bei den Amerikanern und 34 bei den Briten (Durchschnitte der Jahre 1966 /67). Die chemische Industrie zeigt mit 4,3 des Einbringungswertes ein anderes Bild, verglichen mit den 5,5 anderer Hersteller (bezogen auf den Tageswert des Anlagevermögens). Da die Höhe der Investitionen im Allgemeinen viel kleiner ist als die der aktuellen Gewinne, liegt die Quote der Reinvestitionen vermutlich nicht über 2-3 . 7. Gewinnrückflüsse: Hier ein Beispiel für Verzerrungen in der offiziellen Statistik: Die Bundesbank berichtete über 6 Millionen DM Gewinnrückflüsse aus Direktinvestitionen, während die oben zitierte Studie nur für die Stichprobe im Jahr 1967 von 23 Millionen DM spricht. 30 des Gesamteinkommens der unterentwickelten Welt wird weitergeleitet, zusammengesetzt aus 40 der verzinslichen Investitionen und 60 aus eigenen Unternehmen. Ungefähr 15 dieser überwiesenen Einkünfte oder 4-5 der Gesamteinkünfte fließen in andere Beteiligungen, die übrigen 85 bzw. 25 gehen nach Deutschland.7 Dies sind die durchschnittlichen Anteile aller Industrieunternehmen mit Ausnahme der Ölkonzerne und der chemischen Industrie, wobei bei der letzten angenommen werden muss, dass ein unvergleichlich viel höherer Anteil an andere Beteiligungen geht. Die chemische Industrie wickelt 50-60 ihrer neuen Inves5 Siehe FN 3. 6 Einfügung Tilla Siegel. 7 Anm. Tilla Siegel: Wie Tröger hier auf 25 kommt, ist unerfindlich. Man darf aber nicht vergessen, dass es sich um ein unveröffentlichtes Manuskript handelt. Wesentlich ist ihr Hinweis darauf, dass die Gewinne nicht dort (in der Dritten Welt bzw. den Entwicklungsländern, wie wir heute sagen) verblieben, wo sie erzielt wurden. Vielmehr landeten sie auf unterschiedlichen Wegen vor allem bei den Großkonzernen der Ersten Welt.
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titionen über ein Netzwerk an Beteiligungen ab, sodass vermutet werden kann, dass ihre Profite größtenteils in die »internationale Sphäre« zusammenfließen. Die deutschen Ölkonzerne organisieren ihre ausländischen Investitionen als Filialen und nicht als rechtlich viel unabhängigere Tochtergesellschaften, weshalb alle Einkünfte automatisch nach Deutschland zurückfließen. Doch die besondere Abhängigkeit dieser »Satelliten« von den großen internationalen Ölgiganten führt dazu, dass der Großteil der deutschen Einkünfte entweder in Joint Ventures verbleibt oder kanalisiert über internationale Ölkonzerne in neue Unternehmungen geht. 8. Die chemische Industrie und in geringerem Ausmaß auch die Elektro- und elektronischen Industrien sind heute schon tatsächlich multinationale Konzerne: hohe Profite, eine geringe Sofortinvestition, eine internationale Verwaltung der Einkünfte und die Nutzung anderer nationaler und internationaler Geldmärkte. Was auf den ersten Blick wie eine ordentliche, ehrliche, etwas hausgemachte und paternalistische Form des Imperialismus aussieht, mit »angemessenen« Profiten, hohen Reinvestitionen, wenig Plünderung, mehr Fabrikation und nur geringen multinationalen Manövrieroptionen (ein Bild, das deutsche Kapitalisten und Beamte gern verkaufen), stellt sich als eine gewisse Rückständigkeit heraus. Der Unterschied zur chemischen Industrie ist verblüffend und zeigt die Universalität bestimmter »Stile« der Ausbeutung, die gebunden sind an das Niveau der kapitalistischen Entwicklung. 9. Deutschland ist durch die Schieflage der eigenen ökonomischen Entwicklung aufgrund der Dominanz der Schwer- und Investitionsgüterindustrie vielleicht mehr als andere imperialistische Länder an einer Weiterentwicklung der Industrialisierung in unterentwickelten Ländern interessiert. Die Investitionsgüterindustrie kann sich in Zukunft nur dann in der dritten Welt ausbreiten, wenn diese eine stärkere industrielle Entwicklung hat. Diese Tendenz spiegelt sich in den staatlichen Hilfsprogrammen, die vor allem von den Interessen der Exportindustrie bestimmt sind. Technische Hilfe, vor allem Bildungsprogramme für untere technische Führungskräfte, haben einen größeren Anteil an der gesamten deutschen Entwicklungshilfe als in anderen DAC -Ländern.8 Deutschland könnte damit einen Prototyp dessen darstellen, was Arrighi und Saul den »industriellen Imperialismus« genannt haben, der den extractive imperialism (Rohstoffimperialismus) mehr und mehr ersetzt.9 Diese Ansicht wird von Politökonomen der Neuen Linken in Deutschland geteilt. Es gibt jedoch mehrere Vorgänge, die dieser generellen Entwicklung zumindest vorübergehend entgegensteuern: Der eher kleine Anteil der rohstoffgewinnenden Industrie (25-30 ) an den deutschen Investitionen geht auf Wettbewerbsschwäche und mangelnden politischen Einfluss zurück und nicht auf die Einsicht in langfristig notwendige 8 Anm. Dagmar Reese: Development Assistance Committee oder DAC im Deutschen: Ausschuss für Entwicklungshilfe der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD). 9 Arrighi und Saul: Nationalism and Revolution in Sub-Saharian Africa, Mimeo 1969.
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Entwicklungen. Bei einer wachsenden Wettbewerbsstärke und einem besseren Stand in Schlüsselprojekten könnte der deutsche Anteil an der Rohstoffindustrie in den nächsten Jahren zunehmen. Arrighi und Saul haben recht, wenn sie auf die Überlegenheit der Hochtechnologie vor dem Produktionsfaktor Arbeit bei den neuen Investitionen hinweisen. Diese Tendenz führte – zusammen mit anderen Faktoren – zu dem deutlichsten Widerspruch in der jüngsten imperialistischen Entwicklung: Ein wachsender produktiver Apparat, der fast keine zusätzlichen Arbeitsplätze schafft, steht einer zunehmend arbeitslosen Masse gegenüber, die nicht in der Lage ist, diese Produkte zu konsumieren, also einem stagnierenden oder sogar rückläufigen Markt. Die durchschnittlich 50-60 an ungenutzter produktiver Leistungsfähigkeit in der lateinamerikanischen Industrie (1967) deuten heute schon auf die Sackgasse hin. Der Kreislauf im Bereich der Investitionsgüter – die Herstellung von Maschinen für die Produktion von Maschinen – kann zwar eine Zeit lang auch ohne den Endverbraucher profitabel sein, ist allerdings nicht unendlich, wie Lenin gezeigt hat.10 10. Ein anderer Trend geht in Richtung »industrieller Imperialismus«. Seit der Depression von 1966 /67 gibt es in der deutschen Bourgeoisie die zunehmende Tendenz, ganze Industrien langlebiger Investitionsgüter umzusiedeln, etwa die Leichtmetallherstellung oder die arbeitsintensive Elektronikherstellung. Sie folgen damit dem Beispiel amerikanischer oder britischer Multinationalisten. Franz Josef Strauß ergriff die Gelegenheit, sich hier zum Propheten aufzuschwingen: Wir sollten armen Ländern helfen, die Güter herzustellen, die auf dem heutigen technischen Stand sind, und wir sollten bei uns daran gehen, Güter herzustellen, die den technologischen Möglichkeiten der Zukunft entsprechen. […] Deshalb sollten wir Entwicklungsländern ermöglichen, nicht bei uns, aber mit uns zusammen, Fernseher herzustellen, Haushalts- oder einfache Bürogeräte, Autos usw., denn wir wollen ihnen morgen Computer verkaufen, deren Produktion in unserem Land zukünftig eine viel wichtigere Rolle spielen wird, als das heute der Fall ist.11 (Herr Strauß vergaß zu sagen, dass diese Art der Ökonomie eine florierende Kriegsproduktion und einen dauerhaften Krieg benötigt, aber sicher wird er daran gedacht haben.) Diese neue industrielle Arbeitsteilung – und der Zusammenhalt unter den Eigentümern – mit ihrer weltweiten Verbreitung ist sicherlich im Hinblick auf den Faktor der Arbeitskosten entstanden (er spielt also eine Rolle) und wird verstärkt durch die japanischen Importe, die den deutschen Markt überfluten. In einem einzigen Jahr, 1970 /71, ist die Produktion 10 Anm. Tilla Siegel: Bekannter für dieses Argument ist Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. 11 Der Volkswirt, Nr. 14, April 3, 1969. Anmerkung Tilla Siegel: Das Zitat wurde von der Autorin ins Englische übertragen und hier rückübertragen. Unsere Rückübertragung entspricht nicht genau dem Original. Aber es ist davon auszugehen, dass die Botschaft, die in diesem Statement enthalten ist, die damalige Einstellung deutscher Politiker wie F. J. Strauß deutlich macht.
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elektronischer Unterhaltungsgüter in Deutschland um 8 geschrumpft, während sich der internationale Markt um 11 erweiterte. Fast ein Drittel der verkauften Güter waren importiert, und 40 dieser Importe kamen von deutschen Subunternehmen im Ausland.12 Eine auf die Zukunft orientierte Marktanalyse, die von AEG -Telefunken durchgeführt wurde, zeigt das Tempo, mit dem die Eigenproduktion ausgetauscht wird. Anteil der Importe im Bereich der Unterhaltungselektronik 1971
1975
100
100
Tragbare Radios
58
65
Hausradios (mono)
70
100
Stereo-Geräte
18
30
Tragbare Fernseher
57
85
Normale Fernsehgeräte
29
85
90
6
17
30
3,6 Mrd.
5 Mrd.
Taschen-Transistoren
Farbfernseher
Gesamtdeutscher Markt
1980
50
6,2 Mrd.
11. Für die Länder der Dritten Welt bedeutet eine solche weltweite Arbeitsteilung zwar die Zunahme der Industrialisierung, aber in einer sehr viel stärker monopolisierten Form als heute. Das bedeutet aber nicht, dass es ihnen gelingt, sich eine industrielle Basis zu schaffen, die der Ausgangspunkt für einen vollentwickelten industriellen Arbeitsprozess wäre. Im Gegenteil: In der Phase der »Importsubstitution« könnten sowohl Peru als auch Kolumbien im eigenen Land Kühlschränke oder Radios produzieren. Im gleichen Maße jedoch, wie multinationale Unternehmen auf »gemeinsame Märkte« und »ökonomische Einheiten« dringen und sich damit auch durchsetzen, werden diese »nationalen Industrien« verschwinden und in einigen Ländern durch riesige spezialisierte Produktionsstätten ersetzt werden, die für alle Märkte produzieren, auch für die entwickelten. Es könnte also sein, dass ein Land in großem Umfang komplizierte elektronische Teile herstellt, aber Nägel importieren muss. Und die meisten armen Länder werden bleiben, was sie immer waren: Rohstofflieferanten und Bananenbauern. (Sollten solche Strukturen Wirklichkeit werden, wäre ein »chilenischer Weg« fast unmöglich – und nutzlos). Gesetzt, dies sei der Fall, ist 12 Handelsblatt, 21. Februar 1972.
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es lächerlich anzunehmen, es würde sich irgendwie eine nationale industrielle Bourgeoisie herausbilden, selbst in Randgebieten, und die bestehende Bourgeoisie würde mit der Ausweitung der Produktion verschwinden, wie man in der brasilianischen Autoindustrie sehen kann. Und Bonns »Herausbildung einer einheimischen Klasse von Unternehmern« ist nichts als eine verfluchte Farce, bei der ein paar Afrikaner als Shake-Hands-Manager eingesetzt werden und am knappen afrikanischen Kapital genippt wird, um das eigene Kleinbürgertum vor der Verstaatlichung zu bewahren.13 Strauß ist da zumindest ganz ungeniert mit seinem »nicht bei uns, aber mit uns zusammen«, was sich nur als »wir allein« lesen lässt. 12. Die Entwicklung in Deutschland selbst ist nicht schwer vorauszusehen: Wenn nichts anderes passiert, wird das Land sich zu einer großartigen Gesellschaft wandeln. Frauen werden dabei als Erste von einer massiven Arbeitslosigkeit betroffen sein und in die Küche zurückgeschickt werden, denn sie machen den Großteil der Fließbandarbeiterinnen in der Elektronikindustrie aus. Dann gibt es da noch die Reserve der etwa 12 ausländischen Arbeiter, die man ohne große Schwierigkeiten nach Hause schicken kann. Kapitalisten werden aus der Devise: »Hören wir auf, Menschen zu den Maschinen zu bringen, und bringen wir lieber Maschinen zu den Menschen« eine humanitäre Angelegenheit machen. Deutsche Arbeiter werden sich angesichts drohender Arbeitslosigkeit an einen niedrigeren Lohn und eine dreckigere Arbeit gewöhnen. Die größten Anpassungen werden während Rezessionen erfolgen und damit erklärt werden, dies sei ein »Gesundschrumpfungsprozess«. Die Teilung der Arbeit auf einer weltweiten Basis verbunden mit dem parallelen Prozess der Konzentration von Produktionsstätten in Großeuropa wird große Teile des Kontinents in ein Greater Appalachia verwandeln oder halten.14 Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch Dagmar Reese
13 Siehe oben, Aspekt 1 in den Erläuterungen. 14 Anm. Tilla Siegel: Damit weist die Autorin hin auf eine für andauernde Armut symbolhafte Region in den ach so reichen USA .
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Coalition of Labor Union Women: Strategic Hope, Tactical Despair (1975) The women’s movement has reached a new level – in spite of itself. A new consciousness has reappeared in the labor movement – against the labor unions. The Coalition of Labor Union Women (CLUW ) symbolizes both these developments. It signifies more than the intentions of its founders: It is women’s liberation in the working class.
The Sources of CLUW According to its founders, a group of trade-union officials, the stated objectives of this national coalition of trade-union women include organizing the approximately 32 million non-unionized women in the workforce; pressuring for affirmative action at the workplace; engaging in lobbying campaigns around issues concerning women; and encouraging women to move into policy-making positions within trade unions and political parties. Initially, rank-and-file women enthusiastically received the idea of an organization of women workers. After the founding conference in March 1974, they began immediately to organize CLUW chapters across the nation without waiting for the CLUW leadership to take the initiative. The concept of CLUW changed from that of a coalition of women in trade unions to a broader, more responsive organization of working women – at least in the minds of the rank and file. This transformation due to rank-and-file pressure is so threatening to union leaders, female and male, that they may well reduce CLUW to a paper organization or abolish it. But the needs and the spirit which initiated CLUW will survive in other organizations, in a broader movement, because these needs express concrete historical forces and material needs which together are stronger than the Coalition and the political factions or trade-union bureaucrats operating in or on it.
The Growing Economic Crisis Rising unemployment in spite of economic booms, and soaring inflation in spite of recessions, have brought home to the public the growing economic crisis. The present crisis is ending the pay-off to some parts of the American working class and reducing the standard of living to an »international level.« Profits must still be extracted, but to a larger extent this time from American workers, through higher prices, job speed-ups, automation, and runaway shops. 71
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For women, the feeling of being drawn into a full-fledged depression has been especially dramatic. Not only do we see inflation from week to week in the supermarkets, but the economic crisis has had an impact on our consciousness. Employed women recognize that they no longer hold jobs merely to »help the family out«; instead, their salaries are as vital for family survival as their husbands’. Women must continue working despite a continually contracting job market. While women’s unemployment rates are not now increasing as rapidly as men’s, many women are being forced into worse jobs. This is because the structural, i. e., long-term as opposed to short-term, decline in jobs has hit the female labor market hardest. Runaway shops are typical in the textile, garment, food processing, and electronics industries, while rationalization in office and retail work is just beginning. Furthermore, the brunt of short-term fluctuation on the job market, on the »last-hired, first-fired« principle, has fallen on women and Third World men. This survival problem is intensified for the millions of women who provide their families’ sole support. Clearly, such an organization as CLUW is vital to protect the interests of working women under any conditions, but particularly under the present ones.
The Bankruptcy of Traditional Trade Unionism The pressure on living standards through inflation and unemployment has increased the critical interest of working people in their only defense – unions. Full-hearted, proud identification with unions subsided since business and government succeeded in killing militant industrial unionism. Since the mid-1960s the trend has begun to reverse. The fight of black auto workers in and against the UAW, the struggle of farmworkers, miners, textile workers in the South, the Farah strikes, and the victory of the Miners for Democracy raised critical awareness about union leadership and structure on a mass scale.1 But unions are both unwilling and unable to resolve the major problems facing the workers. 1 Leadership and structure cannot be treated in isolation from each other, as it is usually done even in leftist analyses. Concentrating on the corruption of union bosses fosters the illusion that an exchange of personalities could change the fundamental dilemma of American trade-union politics. The outcry of the Left over Arnold Miller’s sellout is the result of a one-sided analysis. To criticize only the structure without past and present political practice of the leaderships which created and used it would eternalize the »given« structure as an a-historic, unchangeable fact and breed defeatism. Second, in this context, »structure« means not only more or less union democracy, but also the political form of American unionism. After decades of racketeering, financial rip-off, and political sellout, union democracy is the dominant issue for workers, and especially for women workers. But at least since Southern Republican senators and Northern capitalists fought for »union democracy« and passed the Landrum-Griffith Act, the unqualified call for more democracy is not necessarily the most progressive one. [Editor’s note: UAW = United Automobile, Aerospace and Agricultural Implement Workers of America].
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Inflation presents the clearest example of the labor movement’s refusal to confront the economic crisis effectively. Inflation is not just a bread-and-butter (i. e., economic) issue; it is also political. But the policy of the national union leadership has been to conceal its political aspects and concentrate workers’ attention on the bread-and-butter aspect only. As part of this policy, union leadership has chosen to sell relief in the guise of a cost-of-living escalator, while at the same time eliminating the workers’ only political weapon – the strike – by pushing for no-strike contracts. A more political response would be to attempt to force the capitalists to pay for wage increases out of their profits, to prevent them from passing on to consumers the increased costs of buying labor power; but this fight would challenge the role of unions as well as capitalists. Inflation does not result from labor-union policy but reflects a deficiency inherent in the profit motive of capitalism. Inflation, therefore, can only be cured by fundamental changes in the economic system. To treat it as only a cost-of-living issue perpetuates the crisis (which would not be bad if it were used to help build socialist consciousness), fosters monopolization, makes the rich richer and the poor poorer. Above all it deepens the existing economic divisions among workers.2 Women’s average earnings dropped from 63 to 59 of the male income in the last decade, and the average wage of black people lost again the few percentage points gained through the civil-rights movement. A second example of the inefficiency of traditional trade unionism is the extensive concentration of business that has developed in the last decades: when one vertically integrated conglomerate owns everything from oil refineries to banana plantations to hotel chains, a one-union strike in one industry is no longer an effective weapon. Yet food processing, retail, hotel, and other service industries with a predominantly female labor force either lack the barest minimum of organization or are just starting to unionize. Even in organized industries, the coordinating structure of the AFL -CIO has refused to unify its labor actions against conglomerates nationally, hiding its collaboration with big business under the banner of a »bread-and-butter« policy. The proclaimed un-ideological or »neutral« stand of union hierarchies and labor legislation has kept the power of the working class on a 19th-century level, whereas capital was allowed, even helped, to reach an unprecedented level of international and interindustrial concentration. The »bigger-piece-of-the-pie« strategy, ironically, has brought a smaller piece to the workers, because it refuses to deal with the whole pie. 2 The inflation rate for low incomes is much higher than the escalator would adjust, because the inflation rate for food, especially for staples, low-income housing, and transportation, is much higher than the rate for manufactured goods and luxury items. Furthermore, the »equal« adjustment rate increases the income differential drastically. Example: Family A receives $ 100 per week. Family B receives $ 200 per week. With an annual escalator of 10, the income difference between the two families grows from $ 100 to $ 204 over a 6-year period. Combined with the uneven inflation rate mentioned above, the difference in real income and living standards is substantially larger than the figures reveal.
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Because of both leadership and structure, an adequate response to inflation and its causes cannot come from union headquarters. Instead, the push for rejuvenation and political direction has to come from the workers themselves. For this reason, the multi-union strategy of CLUW is a positive sign of women’s search for an effective unionist strategy and politics more responsive to the economic needs of the rank and file.
The New Unions The expansion of the service sector and of office work has restructured the industrial employment pattern. More people, especially women, now work in these sectors than in actual production. Since the late 1960s, the service industry has been the principal employer of women (6.8 million of the 27.9 million women in the industrial workforce), followed by the trade industry, with 6.3 million women who hold jobs mostly in retail stores. In addition, since more and more of the service sector has been taken over by the state, and the employment of women on government payrolls, primarily as clericals and teachers, has soared, especially on the local and state level. Despite this increase in numbers of women working in the service sector, women remain clustered in fewer, lower-paid occupation groups than men. It is primarily the massive expansion of these lower-level »professional,« skilled service, and administrative employees, and of service and clerical workers which has brought about unionization, and not an absolute decline of status and income, the so-called proletarianization, as is often assumed. Today’s secretaries have nothing in common with the male secretary of the 19th century; elementary school teachers at the turn of the century were not better off than teachers of today. The unionization of this enlarged number of service workers and public employees has brought the greatest expansion of the labor movement in recent decades. New unions like the American Federation of Teachers (AFT ) and the American Federation of State, County and Municipal Employees (AFSCME) have surpassed most traditional unions in membership, money, and power. The force of this unionization has created, as before in labor’s history, an upsurge of political energy which partly explains the high proportion of these women in CLUW.
The Re-Emergence of the Women’s Movement The fourth and the single most critical factor behind the birth of CLUW was the women’s liberation movement. The ideas that the movement spread, though diffuse, created the consciousness essential for CLUW ’s beginning. As Olga Madar (former vice-president of the UAW and then current CLUW national Chairwoman) stated: 74
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The Women’s Movement gave us the impetus to our moving ahead (although many union women) had the same cultural hang-ups as the men over women having an equal role …. But the Women’s Movement has been helpful in making union women and blue-collar wives aware that there was blatant discrimination against women just because they were females.3 In short, the women’s movement, itself partly a result of women’s increased employment, facilitated the expression of women workers’ growing anger. Realizing that they would be locked into the most boring, demeaning, and underpaid jobs forever, without hope of promotion or advancement, women started to pressure within their unions for equal pay, equal work, and the implementation of Title VII of the Civil Rights Act and the Equal Rights Amendment. The emergence of CLUW proves that the issues raised by the women’s movement – sexual oppression and sex stereotyping – are not the gripes of neurotic middle-class ladies, but rather are issues of great importance to a broad spectrum of women workers. Although the women’s movement’s influence on workingclass women has been diffuse, abstract, and distorted by the mass media, CLUW would not have been created without it.
The Strategic Question: A Woman Proletariat? Employed working-class women do not have a group identity. Women who work outside the home do not yet see themselves as a class or part of a class subjected to common forms of oppression. Most importantly, they do not perceive themselves as a force which can act collectively and which, as a collective, has achieved something visible in the past. Women wage laborers are not yet conscious of being a historical subject. The role of women proletarians as a distinct historical force in the huge strikes in the textile and garment industries in this country in the early 20th century, in the French and Russian revolutions, and in the Paris Commune, for example, was suppressed soon afterward. Bourgeois journalists and historians filed them under »labor unrest,« the left under »the proletariat« or »revolutionary forces,« trade unionists under the »work-man’s (!) struggle.« »Working women« remains only a sociological category rather than a designation for a political force. Close your eyes and say aloud »workers.« It carries the spirit of past labor struggles, but the phrase »working women« still seems to be a mere percentage of the labor force, categories of female labor. The Sojourner Truths, Mother Joneses, and Emma Goldmans are no substitute for even a dim consciousness of a collective history. »Woman Proletariat«? What for? To drive another division into the working class? Hidden or overt accusations of divisiveness have paradoxically always been raised against those who struggled to abolish real economic divisions in the 3 New York Times: March 27, 1974, p. 27.
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working class. There are innumerable incidents in history where working women fought for higher wages for men. Where are comparable actions of the male proletariat? On the contrary, men so often struck against equal wages and equal work for women that it is historically correct to define trade unions as defense organizations against the intrusion of women and other minorities as well as against capitalists. The most outrageous and divisive lie in labor history, that at the beginning of the industrial revolution women flooded the market with cheap labor and took the jobs away from men, has been transported into a theory, ironically by those who called fervently for proletarian unity. They still believe in it, not asking what those women had done before: The fate of the English weavers still haunts us, that of the spinners remains unheard of. The subsequent militant, organized, and sometimes bloody drive of the male workers to get or keep women out of industries, trades, and unions through the 19th and the beginning of the 20th century is at best forgotten, at worst subsumed under »heroic working-class struggles.« The call for »unity« by white, male-dominated trade unions has as much credibility as the call for »industrial peace« by capitalists and governments. It means »Bow down and we will forge unity (peace) on your backs!« History is to learn from, not to »speak bitterness.« We uncover the dirty side of the glorified labor history to find out what to expect from today’s labor movement. To talk about the specific revolutionary potential of the woman proletariat does not mean to map out a women’s revolution ending up in daydreams about a matriarchal empire. It also does not mean the easy identity of interests announced traditionally by socialists and communists: »Whatever is good for the male workers (i. e., ›the Proletariat‹) is good for women anyway,« with some extras thrown in for the »social duty,« childbearing. Our strategy is to improve the social and economic position of women fundamentally and directly (and not indirectly as in traditional socialist strategies).4 This means attacking the division of labor.
Unequal Work and the Division of Labor The development of the means and forces of production, pressure from the labor movement, and the most profitable use capitalists could make of both – these factors forced the woman proletariat into two types of division of labor which may be described as horizontal and vertical.5 Horizontally, women were 4 I. e., »through integration into social production,« »after socialist accumulation,« »when we reach communism,« etc. Our criticism of this strategy does not mean that we anticipate the liberation of women before the creation of socialism. But the struggle for women’s liberation must be an integrated and equal aspect of the whole revolutionary struggle. 5 »Division of labor« generally describes the splitting of the production process into smaller and smaller special tasks on the plant or shop level. In this sense, it became an economic-technical term losing its social and political relevance. It might seem
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pushed into specific industries: the service sectors mentioned above, nondurable-consumer-goods production (such as textiles, food-processing, etc.), and »modern« industries which require a large, cheap labor force, such as pharmaceuticals and electronics. A huge army of clerical workers cuts across all industries and sectors, always in the lowest categories of labor; clerical work also has its own unique sectors, banking and insurance, for example. Women and minority people have their own strictly defined labor markets, with their own laws: easier replacement of workers through a huge reserve army of labor, even in economic booms, resulting in a low degree of unionization, low wages, and a high unemployment rate. The reduction of the wages of white male workers by competition from cheap labor is only a marginal result as compared to the central effect – keeping an important part of the workforce constantly unorganized and cheap. This labor-market segregation, along with forms of labor organization designed for craft workers, has greatly weakened women workers politically. For example, CLUW is the first major working women’s organization since the Women’s Trade Union League in the early 20th century. Today as then, the need for higher wages, job security, and immediate correction of criminal working conditions is so pressing for blue-collar women that their specific situation and problems are widely seen as an object for reform; but their needs are rarely seen in a revolutionary perspective. Women’s jobs are so terrible that many factory women have enthusiastically looked to the Equal Rights Amendment (ER A ) for help. There is confusion about this on the Left. The women’s liberation movement saw in ER A a reformist movement serving the career aspirations of professional women, represented by the liberal women’s organizations such as NOW. Leftist organizations protested the potential loss of maternity and other protective provisions for which »the working class has victoriously fought«6; unfamiliar with factory conditions, sing to use it for the different categories or levels of labor (unskilled / skilled, clerical / professional) in what I call »vertical division of labor«; and for labor in different industries as »horizontal division of labor.« That Marx used it in all three respects is not the only excuse. In the last years, the concept »labor-market segmentation« has come into use. It has the advantage of being able to define the position of a group of workers on the hierarchical ladder (vertical) and in type of industry at the same time. Furthermore, it can identify the economic position of the industry in terms of concentration, capital investment, etc. But »division of labor« is more useful for our purpose since it shows that all »categories«, »segments,« and »levels« of labor have their roots in the production process itself and can only be changed there and not at some political or legislative level. Most importantly, »division of labor« is a constant reminder that the separation of jobs, tasks, and industries has historically grown, is man-made, not eternal or absolute, in one word: it can be changed, whereas concepts like »category« or »segment« impress the eternity of the status quo on the mind. 6 Such analyses rarely understood the motivation behind these struggles, once discussed quite openly in the socialist movement: to make female labor more expensive in order to keep it out of the skilled labor market. Such a historically false solution was naturally
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they did not see how puny these »protections« were in comparison with the loss of protection due to inequality with men. Most leftists saw in the ER A only another plot of the ruling class to divide workers. They were therefore puzzled by blue-collar support for it. Women factory workers with career aspirations? The fact remains that in CLUW, Affirmative Action and the ER A will be major issues. CLUW ’s Statement of Purpose says: Employers continue to profit by dividing workers on sexual, racial and age lines. This encourages the segregation of job classifications and results in wages and benefit losses to women … The Coalition will seek to encourage women … (to) take positive action against job discrimination in hiring, promotion, classification and other aspects of work. The imminent danger of even larger structural unemployment of women will increase pressure for ER A as the only legal tool to break the narrow confinement of the female job market. The overwhelming vote of the more than 3000 women at CLUW ’s founding convention for ER A indicates the feelings of women workers.
Unskilled and Semi-skilled Work Vertically, the lowest categories of labor are filled with women. To accept this categorization as justified by skill or physical strength clouds its politicaleconomic function. The differences between unskilled and semi-skilled jobs are admittedly only differences in degree, subjected more to the requirements of profit and management’s control over the labor force than to objective differences in training and abilities of workers. (The president of the West German Parliament – a woman – searched for years, with much publicity, for one [!] case violating the »equal wages for equal work« law, as an exemplary court case. She did not find one. The thousands of cases reviewed always showed minute differences in job descriptions »explaining« male / female wage differentials, which are larger, by the way, in the skilled categories than in the unskilled.) The demand »equal wages for equal work« has become so obviously untenable that some European trade unions began recently to replace it with »equal wages for work of equal value« – whatever that means! The actual splitting of the production process can be dictated by the rationale of productivity and the »objective requirements« of the machinery, but even this is doubtful in many cases.7 The not a real solution; the contradictions emerged sharper than ever, needing now to be solved on a higher level – demanding equal protection for men. 7 Very little work has been done on this subject. Marxists have generally assumed a too straight identity or parallel between division of labor, productivity, and profits. Marglin: What Do Bosses Do? 1974 is one of the first to have pointed to the rationale of domination in the development of division of labor. Much more detailed analysis is necessary to make it politically relevant.
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categorization of labor, i. e., the basis of the wages, is dictated by the profit interest pure and simple: to throw as many people as possible into the lowest wage groups, but with enough artificial differences to avoid spontaneous solidarity. To have reinforced these job categories and wage differences by defining them for specific strata of the working class (for black women, brown men, white women) has been one of the brilliant maneuvers of the bourgeoisie.8 If anything, wage differences are an expression of working conditions: the most repetitive, dirty, and heavy jobs are the lowest paid, the least human equals the least »skilled.«
Different Exploitation The women’s movement identified the exploitation of women in two respects: 1) Double exploitation through the job and unpaid reproductive work. »Wages for housework« is one of its political expressions. 2) Extra-exploitation through lower wages. The demand »equal wages for equal work« represents the generally accepted opposition to extra-exploitation. The latter demand is based on two false assumptions: That »equal« work exists, and that there is »a fair day’s work«, i. e., that the male wage represents the »fair pay.« The feminist demand for »equal work« gets closer to reality, recognizing that women are forced into different, »lower« work. But since this usually means only equal representation in higher jobs, it does not question the existing division of labor and its economic expression, the wage and job categories. Women’s exploitation in industrial production is affected by different conditions from that of men. Women constitute the overwhelming majority of the manual work force in consumer-goods production. Mass production of nondurable, low-priced consumer items has been possible only through extreme taylorization and intensification of production-line work. Profits were made through women’s low wages9 and the high productivity of »light female« work. This »light« work is extraordinarily heavy and wearing. Its small motions, unending repetition, speed, necessity for constant attention, unremitting pressure produce all sorts of physiological injuries, nervous breakdowns, psychosomatic disorders, and a below-average life expectancy. At the same time, most women workers do a second job – housework. Under these conditions it becomes an 8 The obvious disciplining function is underlined by the fact that the sex stratification of jobs is often different, even reversed, from one town or company to another. See Blau: Sex Segregation 1973. 9 The extremely low wages are a result of several factors: the easy replacement of workers in taylorized production and the large female reserve army, in turn partly a result of women’s exclusion from other industries. This, and the traditional reluctance of unions to organize women, result in a very low unionization of the female industrial workforce. The importance of unionization is demonstrated by the comparatively high wages of auto workers.
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economic and medical necessity for most women workers to take breaks from their work lives. Only 40 of the female work-force – mostly lower professional-service workers – are able to maintain full-time, permanent jobs.
Skilled Work Many skilled jobs and crafts have been abolished by taylorization, mechanization, and automation. In some industries, like machine building, steel, or printing, it happened more slowly than Marx predicted from the example of the British textile industries. Unions jealously guarded job descriptions, apprenticeship, and the ethnic composition of skilled trades. But they preserved, if anything, only the status symbols and exclusivity, such as unnecessary years of »apprenticeship« to keep minorities out. The fate of the printers, the intellectuals of the working class, is a dramatic example in recent history: clerical workers were used effectively as scabs after a few weeks of training on the new machines, and this experience sent shock waves through all the skilled trades. The various skilled groups of the steelworkers will be the next to fall. International competition, such as the threat of steel mills in Brazil, has already convinced the union leadership. The economic crisis will convince the rank and file, so they hope, of the necessity of job re-definitions, speed-ups, and further de-humanization of their work.10 I. W. Abel of the United Steelworkers has cleared the path with his nostrike agreement. It is ironic that women finally gained support in a century-old demand for access to skilled jobs when the economic base for the demand dwindled away, at least in industrial production. The lessened resistance of unions and industrialists to letting women into once exclusive trades may have another political dimension: the black and female newcomers, anxious to keep their new status, un-acquainted with the traditional rules of the trade but used to monotony and low pay, may put up less resistance than the old brotherhood of skilled workers. The unavoidable fights arising from the intrusion of outsiders will loosen the internal cohesion of craft unions and diminish their retaliatory power. Industrial »progress« will run smoothly, and women may again function objectively as scabs.
10 This does not mean that all skilled jobs will disappear within a short time. The process has been going on since the industrial revolution, at times more quickly (especially in and after recessions, i. e., after further concentration), and in different industries at a different rate. At the same time, automation has produced some new, highly skilled jobs, more in repair service than in actual production, and watch-dog jobs (as in electric-energy production) which demand more knowledge in engineering than craft skills. But their numbers are minute compared to those destroyed in the same process. The »new working class« theory of Serge Mallet, André Gorz, and others is based on this small but strategically located group of highly skilled workers.
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This does not mean that women workers should give up their fight for equal work in industrial production, but they should be aware of the struggles that will follow with those who want to preserve the old unity of the working class. What is the strategic position of the woman proletariat? Its weaknesses have been noted again and again: less constancy at work and less involvement in labor struggles, due to responsibility for reproductive work and, as a result, »retarded consciousness«; the limitations of the female job market and the size of the female reserve labor army; a lower skill level, and therefore easier replacements of women workers. The strengths of the female proletariat have rarely been thought about. Women workers are less divided by real or imagined pay, status, and qualification differences, which have been some of the strongest barriers to class consciousness among working-class men. Racial tensions and outright racism – although undeniably present – are less sharp, less antagonistic among women than among men. One of the strategic goals of the woman proletariat should be an attack on job classifications and wage differentials. Work on the production line is a heavy job, not to be defined as a light, »less skilled« job with »less responsibility.« Why should monotony and speed be paid less than more humane »skilled« jobs? What is responsibility if we all have to carry the consequences anyway? The attack on the classification system must aim first at elevating the lower categories of jobs. But in the long run, it is a fight against the existing division of labor.11 For the woman proletariat, »division of labor« is not an esoteric intellectual problem but the concrete condition of their work, the visible tool of their exploitation. The demand for equal work and admission to skilled jobs is a search for »better, more interesting work, a more fulfilling job,« as a woman steelworker in a CBS interview put it, besides being a demand for decent pay and a stable job. The present unequal division of labor is basic to the maintenance of the profit system, as much as the private ownership of the means of production itself. A struggle against the division of labor is not a »deviation from the major contradiction,« but is aimed at its heart. The greater homogeneity of the female workforce is a reason and a precondition for building a force unified enough to attack such a complex and far-reaching issue. CLUW is certainly not the organization to confront the problem of division of labor, but it could be an agent for activating a collective sense of unity among working women. The founding of CLUW was a step toward working women uniting in the struggle to fulfill our own, self-defined economic and political needs. But a broad focus permeating all actions and politics of the Coalition, a 11 The experiences of auto workers in Lordstown, Fiat (Turin), Renault (Paris) – to name a few prominent examples – have to be learned from: They switched jobs to demonstrate the absurdity of the classifications, demanded their reduction, etc. That they are better unionized has been no help: Even the »progressive« central trade-union organizations of Italy and Europe fought actively against the demands of their workers.
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collective awareness of unity, can grow only if rank-and-file women, rather than union officials, are the moving force in CLUW leadership.
Division in the Female Workforce – Division in CLUW The old, more ideological than economic division between production workers and clerical workers has considerably diminished in the last decade. There remain a majority of white women in offices, although non-whites are increasing. The artificial identification of secretaries with management, and the sexist and condescending attitudes of unions toward the »gals in the office,« are giving way to the realization that office workers are workers too. The real division within the female workforce is between professional-service workers (teachers, registered nurses, social workers, administrative employees, etc.) on the one hand and the rest of the women workers on the other. It is certainly true that the objective difference between these female professionals and the overwhelmingly male high professionals (doctors, lawyers, university professors, architects, etc.) is larger than that between the two parts of the female workforce, or between males and females in industrial production. Therefore, it is appropriate to identify the majority of female professional-service employees as workers and not as a new professional class. The famous »proletarianization of the middle class« seems to be nothing but the unprecedented growth of the lower and middle skilled workforce in the service industries. It was »proletarianized« since it began. Yet, it would be dangerously misleading to assume unity under the banner »we are all workers« or through an emotional appeal to sisterhood. To begin with, educational differences are great, and professional-service workers are better paid, have more job security and benefits, are less regulated and disciplined, and have even some determination over their work – to a small, but for a woman on the production line to a great, degree. The differences are certainly not antagonistic, but they are real enough and might function as specific group interests. From these differences, unionization of professional-service workers get its political ambiguity12: On the one hand, unionization is progressive compared with bourgeois interest groups, professional associations, borrowed from the higher professionals. Unionization reflects the realization that »professional«service employees are dependent, like all the other workers, and must unionize to protect their interests. In this context, unionization is a progressive step toward unifying all workers’ interests. During the 1930s, 1940s, and 1950s, the state was able to solidify the power and the credibility to represent itself as the common interest, and to function as 12 Which facet of the new unionism dominates is not simply a function of the type of professional-service workers organized, but depends also on the local and national leaderships. AFT / UFT and AFSCME are good examples of the variety.
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a »neutral« mediator between two »private« parties, capitalists and workers, as a guard over union democracy, etc. Unionization of public-service and administrative workers has more than anything else destroyed the myth that the State is Us. The right to strike for public workers confronts the identity of interests between the state and private capital; it reveals that all functions of the state – even social services – are geared to sustain an apparatus in and through which private capitalist interests can operate profitably. The potential for developing class loyalty is critical among public employees who have not yet won the right to strike. On the other hand, rugged unionism which only fights for a bigger piece of the pie can be a reactionary fight for more professional privileges, making it a fragmenting force. Professional-service workers still tend to identify with the ideology and imitate the model, based on the status and privileges of the high professional strata as doctors and lawyers. Under the banner of militant trade unionism, freed from the constraints of professional ethics, they march – »Solidarity Forever« on their lips … if necessary, with the call for »workers’ control« – to fight for more of the privileges which they never had. More professional privileges mean by definition less self-determination for the blue-collar, working-class community. »Professional rights« have been, with few exceptions, partial rights to control and exploit those beneath as well as partial exemption from control from above. (The gains of such rights are minute for the individual professional workers but considerable for the union leadership in terms of political power in city governments.) By striving for the needs of one group at the expense of the other, a potentially unifying and progressive form of organization could turn into a powerful weapon for further dividing working women. CLUW has a singular chance to counteract the reactionary tendencies of women who have been trained to see themselves as professionals. Unionization has uprooted the traditional identification with doctors and lawyers, but things are still in flux. Shanker’s dangerous appeal, militant trade unionism mixed with elitist professionalism, demonstrates the floating political identification and social homelessness of the not-really-professionals and not-yet-proletariat. Close political and personal contacts among lower service workers, clerical, and factory workers could point out where real allies are. But this can happen only if all groups of working women are represented equally in the coalition. Currently, professional-service workers, along with union officials, are overrepresented in CLUW. This over-representation occurs not so much in the membership but in leadership positions. New unionization as among the professional-service workers creates a rather high level of political activity and awareness. Professional jobs require and reinforce certain superficial leadership abilities as rhetorical and organizational skills, some factual and procedural knowledge, self-assertion, etc. Lack of these personal skills is a considerable disadvantage among some factory and clerical workers. Yet, the most important factor is the nearly identical economic and political situation of professional-service workers and of women trade-union functionaries, regardless of which union they represent, and whether they have been 83
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cruited as professional trade unionists or from the rank and file. Both groups of women are mostly stuck at the lower-middle steps of the career ladder dominated by old men, and often stepped over by young men with less experience and often less ability. These women’s personal, political, and professional abilities and ambitions are constantly frustrated, sometimes with the threat of being degraded or dropped at an older age. CLUW is for both groups not only a political pressure group but also a way to gain a personal political visibility, which in turn could promote their professional careers. »The Coalition seeks … to encourage our leadership and our movement into policy-making roles within our own unions and within the union movement in all areas.« And: »Whenever or wherever possible, CLUW urges union women to seek election to public office or selection for governmental appointive office at local, county, state and national levels.« These passages from the »Statement of Purpose« are probably the most strongly felt. Without disqualifying these women as »petty bourgeois careerists,« without denying the justice of their demands for equality, they do not represent the most urgent or the long-term needs of the majority of CLUW ’s membership or constituency. CLUW must guarantee the leadership of blue-collar, rank-and-file women, if necessary through structural provisions. In order to ensure their political influence, leadership bodies should be composed according to the size of the sectors of the female labor force, such as clerical, professional, blue-collar and white-collar service and factory workers. Although some may object that such a strategy would be divisive, sometimes we must split now in order to unify later. Representation in CLUW in each region must be composed of both the organized and unorganized female labor force. Such a plan is the only way to guarantee a significant voice for the predominantly black and Third World women workers in unorganized factory and service jobs, and to prevent CLUW ’s bluecollar women from becoming mere adjuncts to skilled, »professional« women workers, and to trade-union functionaries.
The Membership Question The conflict between a club of professional women trade unionists and an organization of working women has been solved by a compromise: a coalition of women in trade unions. Difficulties began with the definition of membership: What is to be recognized as a labor union? What about women in organizing drives or the unemployed unable to pay union fees? What about domestics and women who have to work for their welfare checks but are not allowed to unionize? The irrationality of the definition is matched by the irrationality of the reasons given for it: »Do you want all these students in CLUW ?« (»Students« means probably younger, leftist women.) Well, the »students« are in, because they are more often unionized in contrast to 88 of the female workforce. And: »We want to apply pressure in and through our unions.« As if union hierarchies 84
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would be moved by something which they control. Or, the fantastic logic that un-unionized women are better organized – one of the proclaimed goals – if they are excluded from CLUW ! Membership is not primarily a question of the political aspirations of the women functionaries, but rather a question of the control of union hierarchies over the new organization. To keep the membership confined to union members is probably one of the strictest obligations of the women bureaucrats toward their bosses. Politically experienced women such as CLUW President Olga Madar13 have no illusions about CLUW ’s inconsistencies and limitations. Her prominent participation indicates the value the big industrial unions place on CLUW: To keep the growing unrest of the female rank and file out of the union, and to give them an »independent« organization to isolate disturbing women’s issues. This way, craft locals and other groups of skilled workers, some of whom are already on the verge of seceding because of the black question, will not be further alienated by the international having to take a stand on equal rights for women. CLUW can only accomplish this if it remains under firm control. Otherwise it could, on the contrary, carry the unrest into the unions instead of keeping it out. Control by the union hierarchies can only be exerted through the leadership of their women functionaries; their supremacy requires that CLUW elect its leaders through union caucuses. The problem of membership was a hot issue at the founding convention and has threatened to get out of hand ever since. If a vote on the question had not been blocked in Chicago, CLUW would be an organization open to all working women. But there is no force strong enough to pull such an organization together at this point, over the aggressive resistance of most labor unions.
Aspirations of Rank-and-File Women Two of the few floor votes which could not be prevented at the founding convention indicate the aspirations of rank-and-file women. They also illustrate that the rank and file is much more aware and militant than the leadership seems to have expected. An amendment to the Statement of Purpose from the floor called upon CLUW to fight for democracy in all unions. The officials denounced this amendment as anti-unionism, because in their view it was critical of traditional union politics, but it carried. This incident reiterated the tendency of officials to silence members by accusations and pointed out the dichotomy between the concerns of the officials and of the members. The one side wants to keep the unions an unquestioned authority, the other looks for an authority capable of challenging the unions. 13 Former international Vice President of the UAW, organizer of the women’s committee in the UAW, she participated in the UAW »goon squad« quelling rank-and-file unrest in 1973.
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The second dispute in which the leadership lost overwhelmingly to a coalition of rank-and-filers and leftists concerned a paragraph in the structure provision which read: »National CLUW and area CLUW chapters shall not be involved in issues or activities which a union involved identifies as related to a jurisdictional dispute.« This provision would have barred CLUW from supporting the United Farmworkers’ campaign. In general, if CLUW is serious about organizing the unorganized, it will invariably run into the conflicting interests of individual unions, into so-called jurisdictional disputes. Declaring these cases irrelevant for CLUW is no solution. If CLUW fails to develop guidelines for its organizing drives based on the interests of the women concerned and on today’s economic realities (conglomerates, runaway shops, etc.) rather than on the business perspectives of unions, it will fail in its primary reason for being.
A Viable Direction For CLUW to meet the needs and demands of working women, it must operate at three different levels: the individual, the union, and the multi-union. On the individual level, CLUW can actively support and advise women who have not been represented by their unions. Here CLUW will not act in place of the unions but will put pressure on the unions to do what they are supposed to do. For example, blatant cases of a union’s refusal to defend and represent its women workers should be publicized within the labor movement. On this level, the knowledge and experience of union officials is invaluable. On the union level, CLUW can organize women’s committees in union locals. The advantages are obvious: Women of a local union could legitimately unite to articulate their views on union matters and become a pressure group for women’s issues in contracts, strikes, etc. In addition, women’s committees could become a potential organizing tool for CLUW. However, an aggressive women’s committee will survive the inevitable attacks from union and management only if CLUW as a whole is willing to intervene in its behalf. At the same time CLUW must protect these committees against various forms of union cooptation in order to guarantee the continued presence of strong, internal pressure groups for women’s interests. One way to protect these interests is to have the women’s committee leaders elected by the rank-and-file women and supported by an independent operational fund from their union, rather than appointed by, and therefore accountable to, the male leadership. The multi-union level strategy is the most complex and the most crucial one at this time. If CLUW is serious about organizing women in non-union shops and supporting organizing drives, it will have to develop a set of principles to determine which of the unions contesting for representation should be supported. These principles should not only include the usual union demands such as pension, wage, and health benefits, but also such problems as strike vs. nostrike contracts, the union’s position or lack of one on the larger 86
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economic issues of inflation and progressive taxation, job classifications which discriminate on the basis of sex and race, and internal union democracy. Candidate unions could be rated according to their »women’s score« on wage differentials within unions and shops; the percentage of women with seniority rights; the number of women in skilled jobs; and the union’s active support in contracts and legislation for such women’s demands as day care, maternity benefits, and the ER A . If CLUW becomes a mass organization of working women, these principles will have a far-reaching educational impact on all workers by giving political direction to their strong but vague feeling of dissatisfaction with the unions. If it achieves these goals, it will have gone far toward effective action on behalf of women workers.
CLUW and the Women’s Movement The problem of class differences confronting CLUW has parallels in the women’s liberation movement. A multi-union political organization such as CLUW could be the best thing that has happened to the labor movement in a long time. Similarly, a multi-union organization of working women could be the best thing that has happened to the women’s movement by providing a focal point for coming to grips with diverse and complex economic issues relevant to women. The women’s movement, for its part, will have to confront these same issues if it is to gain the active support of working and non-privileged women. In this respect, the specific goals outlined above for CLUW can help direct the enormous energy of the women’s movement toward broader and more fundamental economic action. Although the women’s movement has primarily focused on professional demands, it may be capable of developing a viable relationship with CLUW that counteracts this tendency to ignore the needs of women workers. It can support major struggles that involve women workers and aid in the education, politicization, and organizing of all women around such issues, as increasing the minimum wage and the right to unionize. Until now, for example, bewildered feminists in CLUW have been shocked by the maneuvers pulled by union bureaucrats, but they have been helpless in responding to such tactics. Feminists who lack even the barest knowledge of the history of the labor movement, different kinds of unions and union structure, labor legislation, or the ongoing struggle for the right to unionize have vacillated between an uncritical acceptance of the union myth and emotional anti-unionism. To help overcome this deficiency, feminists should begin to integrate economic questions into our ideology. Without learning about and teaching economic theory, the history of the labor movement, the history of women in the workforce, and labor legislation, we cannot build a comprehensive theory of women’s exploitation. And without this knowledge, we cannot develop effective strategies and provide a 87
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socialist-feminist direction for either the women’s movement or working women’s organizations. CLUW is the first sign of an independent movement of women workers. The question that remains to be answered is whether CLUW ’s relationship to the existing women’s movement will ultimately be antagonistic or mutually supportive. Lacking a clear understanding of the capitalist system and how women are divided within it, we will continue to have a women’s movement and a working women’s organization of limited focus, instead of a revolutionary outlook that demands that women obtain power and self-determination. Without a strong revolutionary women’s movement, a working women’s organization cannot succeed; and without a successful organization of working women, the women’s movement cannot be revolutionary.
Conclusion While there is certainly a need for a revolutionary mass organization of women workers, CLUW is unlikely to be it. Not only because CLUW was founded by the wrong people, or because it is now controlled by trade-union functionaries, but because the political preconditions are not yet present for such an organization. First, while the economic homogeneity of the female workforce is a fact, its social integration is just developing (aided by the unionization of service and clerical workers), and it has not yet any political cohesiveness. CLUW could be an important tool in fostering this social integration and under certain conditions could also be one of the first steps toward the creation of a political force of working women, but these developments are now in an embryonic stage. Second, there is not yet a revolutionary strategy for the woman proletariat. The attempts of the women’s liberation movement to develop revolutionary goals for women have been in the realm of reproduction, not production. Even these concepts, such as the socialization of housework and the abolition of the family, have been more abstract ideas than revolutionary goals with theoretical foundations and strategies. The Left continues to view women in general, and women workers even more, as adjuncts to the male proletariat. No autonomous revolutionary role has been envisioned for women workers within the Marxist tradition. Women workers have been seen as especially exploited, especially dominated, especially oppressed, but never in a situation with unique and sharp contradictions which would create the potential for a revolutionary outlook. This article is an attempt to view the special conditions of the exploitation of women workers as the foundation of a specific revolutionary potential. One aspect of this potential has been sketched out: One of the main devices for exploitation of the female labor force has been the radical division of labor in social production and in society at large. Women more than any other social group need the abolition of this division of labor. The ER A campaign, or any equal-rights campaign for workers, has to be understood in this perspective. 88
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Such campaigns represent a political opportunity to fight against exploitation through the division of labor. Equal rights for all women mean first and foremost the abolition of the lowest categories of labor. Despite its limitations, CLUW is a sign of an independent movement of women workers. If this first move becomes a force strong enough and continuous enough to pressure for and set the standards for reform of the labor movement, it could be an important step toward the development of class consciousness among working women, their self-consciousness as a collective historical subject, a woman proletariat.
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Ingrid Kurz-Scherf
Kommentar zu »Coalition of Labor Union Women« Pragmatische Strategien der feministischen Revolution
I . Wenn Annemarie Tröger sich über die »Bienenköniginnen« der Frauenbewe-
gung lustig machte, dann meinte sie damit Frauen, die im streng basisdemokratischen und hierarchiefeindlichen Beziehungsgeflecht der Frauenbewegung eigene Mikrokosmen initiiert hatten, in denen sie mitunter erheblichen Einfluss ausübten, ohne allerdings den Gang der Bewegung dadurch insgesamt nachhaltig bestimmen zu können. Daran hat sich bis heute wenig geändert: Es gab und gibt prominente Figuren, mit mehr oder weniger maßgeblichem Einfluss, es gab und gibt Konflikte zwischen verschiedenen, manchmal von selbsternannten Wortführerinnen repräsentierten Strömungen und jeweils vehement verfochtenen Positionen und Perspektiven – aber die Frauenbewegung folgt keiner irgendwie von oben entwickelten Strategie, sondern einer ganz eigenen Dynamik mit immer wieder überraschenden Wendungen. Die US -amerikanische Frauenbewegung hatte in der Entwicklung der autonomen Frauenbewegung einen zeitlichen Vorsprung gegenüber Europa. Bis heute übersetzen sich Wendungen der feministischen Diskurse in den USA – meist mit einiger Zeitverzögerung – in die europäischen Debatten. In umgekehrter Richtung ist dies weniger der Fall. Anfang der 1970er Jahre erlebte Annemarie während ihres Aufenthalts in den USA jenen Eintritt der amerikanischen Frauenbewegung »in eine neue Phase«, der sich in Deutschland erst etliche Jahre später vollzog. Die »neuen Organisationsformen« in den USA – so die Beobachtung von Annemarie – würden mittlerweile nicht mehr nur oder vorrangig »von den Bedürfnissen der beteiligten Frauen geprägt […], sondern mehr von den Notwendigkeiten des politischen Kampfes und den Machtverhältnissen in der Gesellschaft.«1 Die Analyse dieser Entwicklung ist bei Annemarie noch stark imprägniert von ihrer politischen Sozialisation im SDS und dem in diesem Milieu weit verbreiteten (klassen-)kämpferischen Duktus. Gleichwohl markiert sie in ihrer Auseinandersetzung mit der US -amerikanischen Frauenbewegung in der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine deutliche Abgrenzung von (aus ihrer Sicht nur vermeintlich) linken, überwiegend androzentrisch und oft auch antifeministisch geprägten Politikkonzepten. Gleichzeitig formulierte sie Positionen und 1 Dieses Zitat stammt aus einer deutschsprachigen, unveröffentlichten Fassung »Eine neue Phase in der amerikanischen Frauenbewegung« vom Mai 1974. Ich beziehe mich im Folgenden aber vorrangig auf die hier wieder abgedruckte englischsprachige Fassung vom Juni 1975.
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Kontroversen, die einige der Grundfragen des Feminismus tangieren und die auch heute noch keineswegs als »erledigt« gelten können. So, wie Annemarie in den frühen 1970er Jahren die sozialen Verwerfungen einer ökonomischen Krise als einen der Ausgangspunkte für die Entfaltung einer neuen Dynamik der US -amerikanischen Frauenbewegung diagnostizierte, gelten die durch die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 /9 und deren Management ausgelösten Verschärfungen der sozialen Spaltungen als Impuls für eine Revitalisierung der kämpferischen Potentiale der Frauenbewegung. Mit der Anfang 2020 einsetzenden Corona-Krise kamen die sich u. a. unter dem Stichwort Frauen*Streik nahezu weltweit abzeichnenden Entwicklungen aber jäh zum Stillstand.2 Ob die Frauenbewegung nach den Erschütterungen durch die Corona-Pandemie wieder an der Dynamik anknüpfen kann, die sie in vielen Ländern schon seit 2016 und besonders prägnant zum 8. März 2019 entfaltet hat, ist ungewiss. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die Corona-Krise – wie vielfach befürchtet – eine dauerhafte Rückwärtsbewegung oder gar einen Rückfall in die Geschlechterverhältnisse der 1950er Jahre auslösen wird. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Frauenbewegung und des Wandels der Geschlechterverhältnisse spricht einiges dafür, dass sich die Frauen (und auch viele Männer) eine Restauration alter Geschlechterhierarchien und -stereotype nicht gefallen lassen werden. Ob es nach Corona gelingen kann, die vorher identifizierten Anfänge einer neuen Frauenbewegung wiederzubeleben, hängt nicht zuletzt davon ab, wie es dem Feminismus gelingt, jene Herausforderungen neu aufzunehmen, die seit einigen Jahren unter dem Stichwort »Intersektionalität« diskutiert werden. Die Bezeichnung gab es damals noch nicht, aber der Sache nach hat Annemarie Tröger in ihren Texten zu der in der USA 1973 gegründeten und bis heute existierenden »Coalition of Labor Union Women« (CLUW ) uns bereits einiges Wegweisende zu sagen. II . Annemarie analysierte die CLUW als einen Meilenstein in der Entwicklung der US -amerikanischen Frauenbewegung. Sie benennt u. a. den Anstieg der Erwerbslosigkeit und die schon mit der sogenannten Ölkrise insbesondere für Frauen einsetzende Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen als wichtigen Grund für den Zustrom von Frauen aus der working class zu der bislang von Studentinnen und Akademikerinnen geprägten amerikanischen Frauen2 Die Schreibweise »Frauen*Streik« folgt der Selbstbezeichnung dieser Aktionsform in Flugblättern, Aufrufen, Mitteilungen etc. und der überwiegenden Diktion der diesbezüglichen feministischen Literatur. Dabei geht es nicht nur und auch nicht in erster Linie darum, die Diversität der sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten unter den Beteiligten zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr betont die *-Schreibweise die feministische Perspektive des damit bezeichneten Handelns als Kernelement eines umfassenden gesellschaftspolitischen Projekts. Sie soll zum Ausdruck bringen, dass sich im Frauen*Streik die feministische »Auffassung von ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ zu einem durchaus revolutionären Verlangen nach Autonomie, Gleichstellung und Solidarität über Geschlechter-, Landes- und Klassengrenzen hinweg ausgewachsen« hat. Vgl. Marx Ferree: Feminismen 2018, S. 14.
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bewegung. Dabei sei allerdings auch deutlich geworden, dass zentrale Anliegen dieser Bewegung, wie der Kampf gegen die Kriminalisierung von Abtreibung und gegen sexuelle Belästigung, keineswegs als Spleen vergleichsweise privilegierter Frauen anzusehen seien, sondern wichtige Anliegen auch von Frauen am unteren Ende der sozialen Hierarchien darstellten. Mit dem Zustrom neuer Mitglieder und Aktivistinnen habe sich ein grundlegender Wandel der US -amerikanischen Frauenbewegung, wie Annemarie anmerkt, »in spite of itself« ergeben. Zeitgleich habe sich in der US -amerikanischen Arbeiterbewegung ein neues Bewusstsein entwickelt – und zwar »against the labor unions« und die durch die US -amerikanischen Gewerkschaften repräsentierte Linie eines weitgehend kapitalismuskonformen Politikkonzepts. Mit der Gründung von CLUW sei im Schnittpunkt dieser Entwicklungen eine völlig neuartige Organisation als Brückenschlag zwischen Frauen- und Arbeiterbewegung entstanden. Dabei – so eine der zentralen Thesen – verkörpere die CLUW ein Potenzial, das weit über die Intentionen ihrer Gründerinnen hinausgehe. Auf der Tagesordnung stünde nicht weniger als »women’s liberation in the working class« und damit ein Projekt, dem Annemarie bis ins hohe Alter eine Schlüsselbedeutung für die Frauenbewegung insgesamt, aber auch für die Perspektiven der politischen Linken beimaß. Sie wandte sich allerdings entschieden gegen eine Priorisierung des Klassenkampfs gegenüber dem Geschlechterkonflikt und gegen die Konstruktion eines scharfen Kontrasts zwischen »bürgerlicher« und »proletarischer Frauenbewegung«. Diese diene letztendlich nur der Diffamierung identitäts- und kulturpolitischer Ansätze in der Frauenbewegung, der Abwehr feministischer Kritik an von Männern dominierten und auf Männer fokussierten Weltsichten und Handlungskonzepten sowie der Leugnung und Untergrabung der Eigenständigkeit feministischer Theorie und Praxis. Sie plädierte vielmehr dafür, die Verbreitung und Verankerung der Frauenbewegung in unterschiedlichen Klassen und Milieus als einen Prozess der Ausdifferenzierung einer Bewegung zu begreifen, deren Einheit sich jedoch immer wieder neu in praktischer Solidarität zwischen Verschiedenen herstellen muss. Dabei beschreibt Annemarie die Differenz unter Frauen keineswegs nur als Vielfalt, sondern auch in der wechselseitigen Bedingtheit von Privilegierung und Diskriminierung – nicht nur im Verhältnis zwischen Männern und Frauen, sondern auch unter vergleichsweise privilegierten und vergleichsweise benachteiligten Frauen. Zwar hätten Interessenkonflikte zwischen Frauen in qualifizierten Tätigkeitsfeldern und leitenden Positionen auf der einen Seite und den überwiegend als Arbeiterinnen oder »einfache« Angestellte beschäftigten Frauen auf der anderen Seite keine antagonistische Struktur, weil alle Frauen der »doppelten Ausbeutung« durch niedrigere Einkommen und schlechtere Bedingungen in ihrer Erwerbstätigkeit und durch die geschlechtshierarchische Spaltung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit unterworfen seien. Um aber als eine soziale Bewegung handlungsfähig werden zu können, dürfe die Organisation von Bedürfnissen und Interessen auch in der Frauenbewegung nicht dem Prinzip der Verteidigung und Ausweitung von Privilegien folgen, sondern müsse vielmehr 92
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eine klare Priorität für den Abbau von Benachteiligungen setzen. Bezogen auf die CLUW votiert Annemarie in diesem Kontext für eine Quotierung der Leitungsfunktionen in dieser Organisation zugunsten von »rank-and-file women«. Sie entfaltet in ihrem Text eine radikale Kritik am kapitalistisch-patriarchalen System der Arbeitsteilung, die nicht in erster Linie aus dem Prinzip der funktionalen Differenzierung hervorgehe, sondern Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen sei. Dies gelte auch für die hierarchische Differenzierung zwischen leitenden und ausführenden, zwischen bezahlten und unbezahlten sowie zwischen qualifizierten und unqualifizierten Tätigkeitsfeldern. Die Frauenbewegung dürfe sich nicht auf die Forderung nach gleichem Lohn reduzieren. Sie müsse vielmehr »gleiche Arbeit« verlangen, also das Prinzip der (geschlechts-)hierarchischen Arbeitsteilung und dabei vor allem auch die legitimatorische Funktion der Leistungs- und Qualifizierungsideologie moderner Arbeitsgesellschaften attackieren. Annemarie bezeichnet ihren Artikel in einer Schlussbemerkung selbst als einen Versuch, »to view the special conditions of the exploitation of women workers as the foundation of a specific revolutionary potential«. Dieses revolutionäre Potenzial ist allerdings nicht per se, gleichsam durch die Klassenlage der working women gegeben, sondern muss sich schrittweise, mit sich allmählich radikalisierenden Initiativen der Transformation des Status quo – auch auf dem Weg einer konsequenten Gleichstellungspolitik oder durch institutionelle Verschränkungen zwischen Frauenbewegung und Gewerkschaften – entfalten. Frauenforschung und feministische Wissenschaft haben dabei nicht nur die Funktion der Kritik am Status quo, sondern auch die der Erkundung von und der Ermutigung zu alternativen Möglichkeiten. III . Die Aktualität der Texte Annemarie Trögers über die US -amerikanische Frauenbewegung aus den frühen 1970er Jahren speist sich nicht nur daraus, dass darin – wie bereits angemerkt – verblüffend früh spätere Debatten über »Intersektionalität« vorweggenommen wurden; vielmehr liegt dem noch nicht so bezeichneten, aber inhaltlich eindeutig intersektionalen Forschungsansatz in diesen Texten eine analytische Perspektive zugrunde, die in den aktuellen Debatten erst neuerdings wieder aufgegriffen wird. Mit dem analytischen Fokus auf die Verschränkung der sogenannten Frauenfrage mit der sogenannten Sozialen Frage gerät bei Annemarie quasi automatisch auch die Kategorie der Ethnizität bzw. race in den Blick, weil sie selbstverständlich (mit ihrer an Karl Marx und der Kritischen Theorie geschulten analytischen Kompetenz) race, class und gender als in den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und deren materiellen Grundlagen verankerte und wechselseitig aufeinander bezogene soziale Konstruktion begreift. Die wechselseitige Verschränkung von race, class und gender analysiert sie aber nicht nur im Hinblick auf die daraus resultierenden Modalitäten und spezifischen Erfahrungen von Unterdrückung und Diskriminierung, sondern v. a. im Hinblick auf das in ihr enthaltene Potenzial des Widerstands, der Emanzipation und der Revolution. Eine Besonderheit von Annemaries Konzept der Intersektionalität, als einer Kategorie der Analyse und der Motivierung und Mobilisierung politischen 93
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Handelns und sozialer Bewegung, ist die Verschränkung zwischen ihren Schriften und dem eigenen politischen Handeln. Als ich sie in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre im Berliner Frauenzentrum kennenlernte, fungierte sie – u. a. auch aufgrund ihrer in den USA gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse – als eine Art Leitfigur des linken oder auch des sozialistischen Feminismus im Strömungsdurcheinander der Berliner Frauenbewegung. Sie hatte sich sehr klar positioniert gegen orthodox-marxistische Gruppierungen einerseits, gegen die Forderung nach Lohn für Hausarbeit andererseits, aber auch gegen die Vereinseitigung und Verengung feministischer Perspektiven auf die Belange und Interessen einzelner Frauengruppen, auf Heile-Welt-Phantasien der Rückkehr ins imaginäre Matriarchat oder auf das spärliche Konzept des gerade aktuell Machbaren. Annemarie war maßgeblich beteiligt an der im Gedächtnis der autonomen Frauenbewegung stark vernachlässigten Kontroverse zwischen der Forderung nach »Lohn für Hausarbeit« einerseits und der nach »50 aller qualifizierten Arbeitsplätze für Frauen!« andererseits. Diese Kontroverse war der zentrale Gegenstand der 2. Berliner Sommeruniversität im Oktober 1977, an deren Gestaltung sie als Mitglied der Initiative gegen Frauenerwerbslosigkeit und als Mitglied der Vorbereitungsgruppe maßgeblichen Anteil hatte. In ihrem Beitrag zum Abschlussplenum dieser Veranstaltung begründete sie die Forderung nach »50 aller qualifizierten Arbeitsplätze für Frauen« als ein Konzept, das auf die Überwindung des gleichermaßen am Prinzip der Profitmaximierung wie an der Privilegierung von Männern orientierten Systems einer hierarchischen Arbeitsteilung zielte. Die Forderung war in ihrer Begründung durch Annemarie eingebunden in den umfassenden Horizont einer spezifisch feministischen Vermittlung von Gesellschafts-, Arbeits- und Geschlechterpolitik – ein immer noch aktuelles Anliegen der Frauenbewegung und der feministischen Wissenschaft. »Mit der Festschreibung der Hälfte der qualifizierten Arbeitsplätze für Frauen« – argumentierte sie, spätere Debatten um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorwegnehmend – »wollen wir die Berufsanforderungen auf das von einem Menschen leistbare Maß zurückschrauben, auf ein Maß, bei dem genug Kraft und Zeit bleibt, sich selbst zu reproduzieren – und das schließt das Großziehen von Kindern ein.«3 Die Forderung nach 50 aller qualifizierten Arbeitsplätze für Frauen hatte für maßgebliche Teile der autonomen Frauenbewegung nicht nur einen hohen programmatischen Stellenwert; mit ihr verband sich vielmehr auch das strategische Konzept eines Bündnisses zwischen der autonomen Frauenbewegung und emanzipatorischen Teilen der ArbeiterInnenbewegung und der Gewerkschaften. Deshalb spielte im Konzept der 2. Berliner Sommeruniversität deren Anerkennung als Bildungsurlaub für erwerbstätige Frauen auch ganz praktisch eine wichtige Rolle – wie Annemarie in einem gesonderten Beitrag in der Abschlusspublikation zur 2. Sommeruni ausdrücklich hervorhob.4 Zu erinnern ist in 3 Tröger: Die Hälfte 1978, S. S. 509. 4 Tröger: Weiterbildung 1978, S. 8-13.
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diesem Zusammenhang auch daran, dass sich der Berliner »Aktionsrat zur Befreiung der Frau«, dem Annemarie von Anfang an eng verbunden war, schon 1968 als eine seiner ersten Aktionen an der Initiierung und Vorbereitung eines Kita-Streiks beteiligte – in Kooperation mit gewerkschaftlich organisierten Erzieherinnen, die schon damals gegen die Geringschätzung von pflegenden und sorgenden Tätigkeiten in den modernen Gesellschaften opponierten. Helke Sander – eine der Gefährtinnen Annemaries in der Berliner Frauenbewegung – beschrieb das Konzept dieser Aktion später so: In Berlin gab es damals viel Feinindustrie, in der viele Frauen arbeiteten […]. Unsere Überlegung war also, wenn die Kindergärtnerinnen streiken und wenn die berühmten Arbeiterinnen, die ihre Kinder in diese Kindergärten bringen, diesen Streik unterstützen, indem sie zu Hause bleiben, dann ist die Wirtschaft in Berlin für einen Tag lahm gelegt.5 Letztendlich kam es 1968 /69 nicht zu dem vom Aktionsrat, von Erzieherinnen und Gewerkschafterinnen intensiv vorbereiteten Kita-Streik, insbesondere aufgrund des Scheiterns der von Anfang an schwierigen Kooperation zwischen Gewerkschaften und Frauenbewegung.6 Trotz der Ernüchterungen und Enttäuschungen auf diesem Feld hat Annemarie an dem Konzept eines Bündnisses zwischen Frauen- und ArbeiterInnenbewegung festgehalten – wie nicht nur an ihrem Engagement bei der 2. Berliner Frauenuniversität deutlich wird. Unsere Freundschaft und unser gemeinsames Engagement für immer wieder neue Initiativen in diesem Bereich in meiner Zeit als hauptamtliche Gewerkschafterin war auch gelebte Praxis eines Brückenschlags zwischen unterschiedlichen Feldern der politischen und beruflichen Einbindung. Besonders in Erinnerung ist mir das über längere Zeit intensiv verfolgte Projekt der Gründung eines »Sachverständigen Frauenrats«, mit dem wir in den 1980er Jahren der fragwürdigen Autorität der sogenannten Fünf Weisen – lange Zeit ausschließlich Männer – entgegentreten wollten und an dem neben Aktivistinnen der Frauenbewegung und feministischen Wissenschaftlerinnen auch Gewerkschafterinnen beteiligt sein sollten und tatsächlich auch waren. Annemarie war bei allem, was sie tat, Forscherin, immer auf der Suche nach Erklärungen für das, was ist, aber auch immer auf der Suche nach alternativen Möglichkeiten einschließlich der strategischen Momente politischen Handelns. Sie wird in diesem Band zu Recht als eine der Begründerinnen der Frauenforschung und der feministischen Wissenschaft gewürdigt, sie war für mich und für viele andere darüber hinaus eine Wegbereiterin der autonomen Frauenbewegung, auch in ihren nichtakademischen Strömungen, im Spannungsfeld von Gleichberechtigung und Revolution.
5 Sander 2008, zit. nach Wehling / Memmen / Welker: Der Kindergärtnerinnenstreik 1969, 2019, S. 39. 6 Vgl. Kurz-Scherf: Der intersektionale Frauen*Streik 2020.
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IV. In den jüngeren Debatten um die Revitalisierung der Frauenbewegung im Vorfeld der Corona-Krise insbesondere im Hinblick auf den Frauen*Streik aktualisiert sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Frauenbewegung und Gewerkschaften – sei es im Hinblick auf die Frage nach der Existenz und dem Status einer Frauenbewegung in den Gewerkschaften, sei es im Hinblick auf die programmatische und strategische Kompatibilität feministischer Anliegen mit gewerkschaftlichen Strukturen und Positionen, sei es im Hinblick auf unterschiedliche Konzepte von »Arbeit«, »Streik«, »Organisation« etc. Oder sei es schließlich im Hinblick auf Möglichkeiten der Überbrückung unterschiedlicher Grundlagen und Orientierungen des Denkens, Handelns und der habituellen Prägungen in den Gewerkschaften einerseits und in der Frauenbewegung andererseits. Mittlerweile ist der von Annemarie für die USA in der ersten Hälfte der 70er Jahre beschriebene Prozess längst in Europa und auch hierzulande angekommen. Dabei kann die gewerkschaftliche Frauenbewegung auf beachtliche Erfolge verweisen – etwa im Hinblick auf die Repräsentation von Frauen in gewerkschaftlichen Gremien oder auch im Hinblick auf die Verankerung geschlechterpolitischer Konzepte in der gewerkschaftlichen Beschlusslage. Die Spannungen zwischen Frauenbewegung und Gewerkschaften haben sich dadurch allerdings keineswegs aufgelöst, sie bringen sich vielmehr weiterhin auch als Konflikt bis hin zur Spaltung zwischen unterschiedlichen Strömungen und Anliegen der Frauenbewegung zur Geltung. Das Problem einer solidarischen Überbrückung unterschiedlicher und partiell widersprüchlicher Interessen von Frauen, wie es Annemarie in der Gründungsphase der CLUW analysiert hat, hat sich mit dem ebenso zögerlichen wie widersprüchlichen Fortschritt der Gleichberechtigung von Frauen im Zuge der Globalisierung unter der Hegemonie des sogenannten Neoliberalismus eher verstärkt als entschärft. Darüber hinaus hat die feministische Gewerkschaftsforschung auch auf vielfältige Weise die These bestätigt, dass der traditionell tief in den Gewerkschaften verankerte »proletarische Antifeminismus« nicht nur die Konsequenz der männlichen Dominanz in den Gewerkschaften mit der darin enthaltenen Tendenz zur Ausgrenzung und Abwertung von Frauen ist. Vielmehr ist der nicht nur in den Gewerkschaften, sondern in großen Teilen der politischen Linken traditionell gepflegte strukturelle, habituelle und programmatische Antifeminismus zugleich Bedingung und Folge der Integration der Gewerkschaften in die kapitalistische Wirtschaftsweise auf der Grundlage einer höchst fragwürdigen Befriedung des Klassenkonflikts »auf Kosten von Frauen«, aber auch auf Kosten all jener, die in diesem Spiel als people of color, aufgrund ihres Migrationshintergrunds oder als anders stigmatisierte Minderheit nur schlechte Karten haben. Deshalb hatte die Revitalisierung der Frauenbewegung im Vorfeld der Corona-Krise auch die Gewerkschaften erfasst. Ein besonderes Kennzeichen der Bewegung war die Breite und die Vielfalt ihres Themenspektrums und ihrer Aktionsformen. Es ging um Massendemonstrationen wie die nach der Wahl von Donald Trump, um die weltumspannende Mobilisierung in der Metoo-Bewegung
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gegen sexuelle Belästigung, um neue internationale Initiativen gegen Lohndiskriminierung, spezifische Formen der besonderen Ausbeutung von Frauen, vor allem aber auch gegen die Gewalt, die in vielen Ländern zu immer mehr Frauenmorden führt. In der Vielfalt der Anliegen fand eine Überlagerung der oft als cultural turn bezeichneten dominanten Perspektiven des Gender Diskurses seit dem Beginn der 1990er Jahre durch den seit einigen Jahren zu konstatierenden social return statt. Zwar hat sich der feministische Kulturkampf nicht – wie teilweise gefordert wird – in intersektionalen Verknüpfungen der »feministischen Klassenpolitik« aufgelöst.7 Dennoch erfährt die Auseinandersetzung über die Einbindung der Geschlechterverhältnisse in den Kontext der politischen Ökonomie der sozialen Ungleichheit in regionalen ebenso wie in globalen Maßstäben wieder wachsende Beachtung. Besondere Aufmerksamkeit finden in diesem Kontext internationale Tendenzen zur »Feminisierung von Arbeitskämpfen«. Dabei fungiert der Frauen*Streik (zum 8. März oder aus anderem Anlass) in Gestalt der Feminisierung klassischer Arbeitskonflikte und als neue Aktionsform, in der sich ein erweiterter Arbeitsbegriff mit einem erweiterten Verständnis von Streik verbindet, geradezu als Emblem einer neuen kämpferischen Frauenbewegung. Frauen seien dabei – so konstatieren Arruzza, Bhattacharya und Fraser in ihrem Manifest für einen »Feminismus der 99 « –, »den Streik neu zu erfinden«.8 Wenn Frauen – so auch Isabell Lorey – »überall dort streiken, wo sie arbeiten und tätig sind«, geht dieses neue Instrument einer weltweiten Frauenbewegung »weit über das klassisch gewerkschaftliche Verständnis von Streik hinaus. Es schließt die in keiner Gewerkschaft organisierten ArbeiterInnen der informellen Ökonomie ebenso ein wie die SorgearbeiterInnen in den Ökonomien der privaten Haushalte und verweist auf die darin eingeschriebenen Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse.«9 Insbesondere in zwei Punkten finden sich deutliche Parallelen zwischen dem von Annemarie in ihren Texten ebenso wie in ihrem Handeln entwickelten Konzept feministischer Politik und Wissenschaft und den aktuellen Diskursen um die Revitalisierung der Frauenbewegung unter dem Stichwort Frauen*Streik. Diese Punkte betreffen zum einen das bewegungsorientierte Verständnis von Intersektionalität und zum anderen das praxisorientierte Verständnis von feministischer Wissenschaft. Der dezidiert auf das Konzept der Intersektionalität fokussierte feministische Diskurs war bislang vorrangig auf die Verflechtung unterschiedlicher Achsen der Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung fokussiert (vgl. u. a. Walgenbach 2012). Demgegenüber gewinnt der Begriff der Intersektionalität im Kontext des feministischen Diskurses um die Feminisierung von Arbeitskämpfen und den Frauen*Streik zusätzlich die Bedeutung der Verflechtung unterschiedlicher Achsen des Widerstands und der Emanzipation.
7 Vgl. dazu Arruzza / Bhattacharya / Fraser: Feminismus 2019. 8 Ebd., S. 7. 9 Lorey: 8M 2018, S. 11.
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In einer Publikation aus dem Jahr 2019 plädiert beispielsweise Ilse Lenz für eine »grundlegende Unterscheidung zwischen ›politischer Intersektionalität‹, die in das Feld der Politik eingebracht und weiterentwickelt wird, und ›wissenschaftlicher Intersektionalität‹ im Feld der Forschung und Lehre.«10 Sie zielt dabei auf die Analyse und Bewältigung »intersektionaler Konflikte in sozialen Bewegungen«. In unausgesprochener Kontinuität mit dem Forschungsansatz von Annemarie zeigt Ilse Lenz, dass die Frauenbewegung keineswegs unausweichlich von »intersektionalen Konflikten« zerrissen wird. Sie konstituiere sich vielmehr von vorneherein in intersektionalen Prozessen. Lenz fasst ihre These folgendermaßen zusammen: »Frauen aus verschiedenen Klassen, Ethnien und Kulturen – also aus unterschiedlichen Positionierungen – kommen in Frauenbewegungen zusammen. Die Pionierinnen eröffnen einen Bewegungsraum und in der Folge fordern Frauen aus anderen Positionierungen Partizipation an der Bewegung ein. Der weitere Verlaufsprozess ergibt sich auch aus der Offenheit oder Geschlossenheit des Bewegungsraums und der ihn rahmenden Forderungen und Diskurse.«11 Für die Weiterentwicklung von »Intersektionalität« als Herausforderung und Perspektive sozialer Bewegungen und politischen Handelns könnte eine kritische Rekonstruktion und Aktualisierung von Annemaries Erkenntnissen zur Verankerung intersektionaler Konflikte in der sozialen Organisation und Konstruktion von Arbeit und der sich daraus ableitenden Notwendigkeit einer arbeitspolitischen Grundierung und Flankierung sozialer Bewegung sehr fruchtbar sein. Auch die in den Texten von Annemarie enthaltenen Anregungen zur Bearbeitung der Frage nach Hierarchien und Widersprüchen in intersektionalen Konstellationen sollten im Kontext einer Politisierung des Konzepts der Intersektionalität nicht außer Acht gelassen werden. Es ging Annemarie nicht nur um eine Politisierung der Kategorien und Konzepte von Forschung, sondern auch um die Politisierung der Forschung selbst. Tatsächlich erfährt dieser Forschungsansatz in der aktuellen Literatur zur Revitalisierung der Frauenbewegung und zum Thema Frauen*Streik eine Renaissance. Ebenso wie die frühen Texte von Annemarie hat diese Literatur den Charakter wissenschaftlich fundierter Agitation. So steht beispielsweise eine Studie von Ingrid Artus ihrem Gegenstand, der »Feminisierung« gewerkschaftlicher Arbeitskämpfe, ebenso wenig neutral gegenüber wie die Studie von Annemarie über Entwicklungen in der US -amerikanischen Frauenbewegung. Die Thesen, die Artus am Ende ihrer Studie formuliert, sind nicht nur Auftrag an weitere empirische Forschung, sondern folgen auch dem Anliegen der Ermutigung und Ermächtigung politischen Handelns. Sie stützen sich auf die Erkenntnis, »dass Streiks zwangsläufig immer einen Verstoß gegen alltägliche ›normale‹ Hierarchien und Anweisungsverhältnisse bedeuten. Sie setzen Routinen außer Kraft und wirken dadurch subversiv auf etablierte Herrschaftsverhältnisse. Sie lassen das Potenzial an Veränderungsmöglichkeiten erahnen und sind im Keim daher 10 Lenz: Intersektionale Konflikte 2019, S. 410. 11 Ebd., S. 419.
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utopische Momente. Sie revolutionieren zumindest ansatzweise und vorübergehend die Klassenverhältnisse – und im Fall feminisierter Streiks auch die Geschlechterverhältnisse.«12 V. Annemarie Tröger war eine Grenzgängerin, eine Kämpferin gegen das Denken und Handeln in falschen Alternativen, die emanzipatorische Bewegungen nicht nur spalten, sondern in ihr Gegenteil verkehren. So wandte sie sich beispielsweise gegen alle Versuche der Vereinnahmung des Feminismus durch den Liberalismus oder auch durch den Marxismus, in denen die Eigenständigkeit der Frauenbewegung und des Feminismus gegenüber von Männern definierten und dominierten Konflikten zwischen Kapital und Arbeit, Bürgertum und Arbeiterbewegung oder auch ganz generell zwischen rechts und links verloren geht bzw. aktiv geleugnet oder untergraben wird. Annemarie war selbst sehr eindeutig und auch stets sehr kämpferisch kritisch, links, sozialistisch, antikapitalistisch, antikolonialistisch – aber sie war dies alles auf eine sehr spezifische, nämlich feministische Weise. Sie hatte nicht den prätentiösen Habitus, mit dem so manche »Bienenkönigin« eifrig darauf bedacht war und ist, die eigene Stellung zu behaupten und die eigenen claims zu sichern. Gerade deshalb verkörpert Annemarie Tröger nicht nur mit ihren Schriften, sondern auch als Person und mit ihrem Handeln jenes Selbst-Bewusstsein der Autonomie der Frauenbewegung und des Feminismus, um die gegenwärtig wieder gerungen wird.
12 Artus: Frauen*Streik 2019, https://www.rosalux.de/publikation/id/39917/frauenstreik/ (letzter Zugriff: 19. 3. 2020).
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Annemarie Tröger
Alexandra Kollontai: Zwischen Feminismus und Sozialismus (1975) Wir täten Alexandra Kollontai unrecht, wenn wir dieses Manuskript als eine wissenschaftlich unangreifbare Abhandlung der Entwicklung der Frauenarbeit von der Steinzeit bis zum Monopolkapitalismus und zur sozialistischen Übergangsgesellschaft behandelten. Kollontai selbst erhob nicht diesen Anspruch; sie sagte schon 1925: »Eine Neubearbeitung, die mehr den heutigen Verhältnissen gerecht würde, hätte die Vorlesungen nämlich ihres bescheidenen Wertes beraubt, der darin besteht, daß sie die Arbeitsatmosphäre jener Jahre wiedergeben …«.1 Der Grad der wissenschaftlichen Vollständigkeit und historischen Objektivität dieser Arbeit wurde durch die damaligen ökonomischen und politischen Verhältnisse bestimmt: Die vierzehn Vorlesungen wurden an der SverdlovUniversität innerhalb der Schulung für proletarische und bäuerliche Parteikader vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen gehalten, die direkt aus der Produktion in die Arbeiterfakultät gekommen waren und anschließend in den Frauenabteilungen der Kommunistischen Partei Rußlands (KPR ) arbeiten sollten. Die Vorlesungen waren zugleich die Verteidigungsrede einer hohen bolschewistischen Funktionärin, die im Frühjahr 1921 im Kreuzfeuer der damaligen innerparteilichen Auseinandersetzungen stand. Das Vorlesungsstenogramm spiegelt nur zum Teil Kollontais theoretische Positionen wider; seine heutige Bedeutung liegt wesentlich darin, dass es ein lebensnahes Dokument über die ersten Jahre der Sowjetrepublik nach der Oktoberrevolution darstellt. Die Veröffentlichung dieses Textes versteht sich als Beitrag zur Diskussion über die Entwicklung des sowjetischen Sozialismus und zwar in einem Bereich, der in den Interpretationen von Ernest Mandel bis Rudi Dutschke unterschlagen wird: der sogenannten Frauenfrage. Der in jeder Revolution der Neuzeit aufbrechende Kampf der Frauen gegen ihre Unterjochung nahm im ersten Jahrzehnt der russischen Revolution besonders radikale, massenhafte, aber auch widersprüchliche Formen an. Wie in keiner der folgenden sozialistischen Revolutionen wurden die Befreiung der Frau, die Auflösung der Familie, die Sexualität, Liebe und Moral von den Massen so offen und »ungelenkt« diskutiert und umkämpft. »Einige sahen diese Entwicklung mit großem Misstrauen, andere mit Zurückhaltung, und wieder andere schienen darüber sehr erschrocken zu sein. Aber jedem war klar, dass eine 1 Kollontai: Die Situation 1975, S. 11.
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wichtige Entwicklung stattfand, sehr chaotisch, in wechselnd krankhaften oder abstoßenden, lächerlichen oder tragischen Formen, die noch nicht lange genug gedauert hatte, um ihre verborgenen Möglichkeiten zu zeigen, eine neue und höhere Form des Familienlebens hervorzubringen.«2 Es war ein heroischer und tragischer Kampf. Denn die Folgen des Bürgerkriegs und des Ersten Weltkriegs – Hungersnot und fast vollständiger Zusammenbruch der Produktion und des Verkehrswesens – machten alle Versuche, das tägliche Leben zu revolutionieren, zu einer hilflosen Beschwörung einer überwältigenden Realität. Die wenigen Kinder- und Säuglingsheime, die öffentlichen Volkskantinen, die Kommunehäuser in den Städten und eine Reihe von weiteren konkreten Versuchen bildeten im Wirrwarr von Bürgerkrieg, Inflation und Hungersnot kleine Inseln einer möglichen menschenwürdigeren Lebensform. Aber gerade weil die spontane Kulturrevolution in Russland scheiterte, erlebten die meisten Menschen die Industrialisierung, bei gleichzeitiger Übernahme von Sozialstrukturen, die sich für den Kapitalismus bewährt hatten – wie zum Beispiel der Kleinfamilie –, als erlösenden Ausweg. Gerade deshalb muss sich jede revolutionäre Frauenbewegung mit den konkreten Erfahrungen der Sowjetunion – sowohl in der Frühzeit der Revolution als auch in der Phase des Stalinismus – auseinandersetzen. In allen folgenden sozialistischen Revolutionen waren sich die Kommunistischen Parteien der polit-ökonomischen Tragweite des »Geschlechterproblems« und der wirtschaftlichen Einsetzbarkeit der Kleinfamilie nur allzu bewusst, um diese Bereiche nicht einer unkontrollierten Entwicklung zu überlassen.3 In der heutigen Frauenbewegung in Westeuropa und den Vereinigten Staaten gibt es wieder die alten Fraktionen: hier radikale Feministinnen, da Sozialistinnen, dort bürgerliche Feministinnen. Sie bekämpfen sich mit den gleichen Schlagworten wie ehedem: »Geht erst einmal in die Produktion und befreit Euch gemeinsam mit dem Proletariat« steht gegen »Zerstört die patriarchalische 2 Trotzky: Problems 1924, S. 24 (Übersetzung von der Verfasserin). Vgl. dazu auch Gladkow: Zement 1927. Die erste deutsche Übersetzung dieses Romans über die frühen Revolutionsjahre vermittelt ein lebendiges Bild von der Bedeutung des Frauenkampfes im revolutionären Prozess. In den später auf Anweisung der Partei umgeschriebenen Fassungen wurde der Konflikt zwischen den Geschlechtern harmonisiert. Vgl. die späteren Ausgaben im Verlag Kultur und Fortschritt (DDR ), Verlag Volk und Welt (DDR ) und im Oberbaumverlag. 3 Selbst in China, das heute als Beispiel einer gelungenen Kulturrevolution gilt, ging es in den befreiten Gebieten und auf dem Langen Marsch nicht darum, neue Formen des Zusammenlebens zu entwickeln, vielmehr sollte die traditionelle chinesische Großfamilie gezielt bekämpft werden, um damit die herkömmlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen auf dem Lande zu zerstören. Die Kommunistische Partei Chinas propagierte die Einführung der europäischen Kernfamilie, der »demokratischen Familie«. Trotz der revolutionären Gewalt und der Spontaneität besonders unter den chinesischen Frauen bestimmte die Partei von vornherein Ziel und Grenzen dieses revolutionären Prozesses. Der damalige Frauenkampf ist also eher als geglückte Massenkampagne der KPC h zu bezeichnen. (In der Großen Proletarischen Kulturrevolution waren die politischen Umstände wieder etwas anders.)
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Herrschaft« und gegen beides steht »Frauen ins Parlament«. Solche Befreiungskonzepte waren schon damals in ihrer Einseitigkeit falsch, sie sind inzwischen nicht richtiger geworden. Schon damals gingen sie an der konkreten Lebenssituation der Frauen vorbei; und schon damals waren sie nicht Ausdruck durchdachter Strategien. Die erneute Herausgabe von Kollontais Schriften ist insofern auch ein Beitrag zur Aufarbeitung radikalfeministischer und sozialistischer Ansätze, nicht weil Alexandra Kollontai eine Synthese zwischen beiden gefunden hätte, sondern weil in ihren Schriften der Widerspruch zwischen beiden Positionen deutlich hervortritt: Das sozialdemokratische Dogma »Die Befreiung der Frau folgt automatisch aus den ökonomischen Veränderungen« steht unmittelbar neben der feministischen Parole »Zerstört die alte Moral und Familie«. Alexandra Kollontai verkörpert diesen Widerspruch in ihrem Konflikt zwischen dem »machbaren« Sozialismus leninistischer Prägung und dem Kampf für die Emanzipation der Frau.
Feministische Sozialistinnen Alexandra Kollontai zählt zu den Frauen, die ich als »feministische Sozialistinnen« bezeichnen möchte. Zu ihnen gehören Angelika Balabanoff, Clara Zetkin, Inessa Armand, Dora Montefiore, Flora Tristan, Jeanne Deroin, Sylvia Pankhurst, Elizabeth Gurley Flynn und viele andere, deren Namen selbst die sozialistische Geschichtsschreibung nicht mehr kennt. Die feministischen Sozialistinnen kämpften in verschiedenen Ländern, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Organisationen für dieselbe Sache: eine Gesellschaftsordnung, in der Frauen und Männer befreit und gleich sind. Sie schlossen sich nicht der Frauenbewegung, sondern der Arbeiterbewegung an, weil sie nur von der Arbeiterklasse in absehbarer Zeit eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft erwarteten. Unterdessen wurden sie in einen Zweifrontenkrieg gegen das Kapital und gegen die Genossen im eigenen Lager verwickelt. Ihnen erschien der Kampf in den eigenen Reihen als ein Kleinkrieg gegen die Rückständigkeit der Genossen. Jedoch standen hinter der Mauer von Arroganz, Borniertheit und Chauvinismus konkrete ökonomische und politische Interessen der männlichen Arbeiterschaft: ‒ die meisten, relativ gesicherten, qualifizierten und am besten entlohnten Arbeitsplätze in der industriellen Produktion für sich selbst zu sichern; ‒ den Anteil am – von allen Familienmitgliedern erarbeiteten – Familienlohn so zu erhöhen, dass der Mann die ganze Familie ernähren konnte; ‒ solche Familienverhältnisse zu schaffen, dass die Frau voll für die Hausarbeit und für die persönlichen Dienstleistungen dem Mann zur Verfügung stand. Diese Forderungen widersprachen den Zielen und Strategien, die die feministischen Sozialistinnen selbst für die Befreiung angegeben hatten: Die Arbeiterinnen 102
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sollten durch eigene Erwerbstätigkeit von Mann und Familie unabhängig und sozial selbstständig werden. Durch die Eingliederung der Frauen in die Produktion würden zwangsläufig die Hausarbeiten mehr und mehr von der Gesellschaft übernommen werden müssen. Die feministischen Sozialistinnen leugneten den Interessengegensatz zwischen den Geschlechtern im Proletariat oder spielten seine Bedeutung zumindest herunter, um eine proletarische Frauenbewegung innerhalb der Arbeiterbewegung zu schaffen und um das revolutionäre Potenzial beider zu verbinden.4 Sie versuchten einerseits Arbeiterinnen in die Parteien und Gewerkschaften zu integrieren, wobei sie bestenfalls auf Gleichgültigkeit stießen, meist jedoch auf offene Feindseligkeit der Kollegen und Genossen.5 Andererseits versuchten die feministischen Sozialistinnen, relativ eigenständige Frauengruppen oder -abteilungen in den sozialistischen und kommunistischen Parteien aufzubauen, um durch eine eigene Machtbasis die Interessen der Frauen dort besser durchsetzen zu können. Doch kaum waren nach jahrelanger Aufbauarbeit die Frauenorganisationen oder Frauenabteilungen so weit stabilisiert, dass eine Beeinflussung der Parteipolitik möglich war, wurden sie als selbstständige Gliederungen der Partei – wie zum Beispiel auf dem SPD -Parteitag von 1908 – aufgelöst, oder die kämpferischen, selbstständigen und damit für die Parteiführung unbequemen Frauen wie Clara Zetkin und Alexandra Kollon4 Clara Zetkin zur Konkurrenz zwischen den Geschlechtern um Arbeitsplätze: »Die Konkurrenz der Frauen in den liberalen Berufen ist die treibende Kraft für den Widerstand der Männer gegen die Forderungen der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen. Es ist die reine Konkurrenzfurcht. … (Die proletarische Frau) braucht nicht darum zu kämpfen, gegen die Männer ihrer Klasse die Schranken niederzureißen, die ihr bezüglich der freien Konkurrenz gezogen sind. Das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals und die Entwicklung der modernen Produktionsweise nahmen ihr diesen Kampf ab. Umgekehrt – es gilt, neue Schranken zu errichten gegen die Ausbeutung der proletarischen Frau; es gilt, ihr ihre Rechte als Gattin, als Mutter wiederzugeben und zu sichern. Das Endziel ihres Kampfes ist nicht die freie Konkurrenz mit dem Mann, sondern die Herbeiführung der politischen Herrschaft des Proletariats.« Zetkin: Rede auf dem Gothaer Parteitag der SPD (1896, S. 100 ff ).. 5 Die Women’s Trade Union League (WTUL), eine von proletarischen und bürgerlichen Feministinnen in England und den Vereinigten Staaten kurz nach der Jahrhundertwende gegründete Organisation (vergleichbar dem früheren Deutschen Arbeiterinnenbund), musste bei ihrem Versuch, die Arbeiterinnen gewerkschaftlich zu organisieren, die Erfahrung machen, dass nicht die von ihr angenommene Rückständigkeit der Arbeiterinnen, sondern die schlichte Weigerung der »natürlichen Klassenorganisationen« der Organisierung der Arbeiterinnen im Wege stand. Häufig wussten WTUL -Kader nicht, in welcher Gewerkschaft sie die in ihrer Liga vororganisierten Frauen unterbringen sollten. Ebenso häufig passierte es, dass die Frauen die Gewerkschaften wegen der ihnen zuteilwerdenden Behandlung wieder verließen. Als ihre einzig erfolgreiche Arbeit betrachtete die WTUL die Gründung der International Ladies Garment Workers Union in den USA , in deren Satzung erstmals festgelegt war, dass die gewerkschaftliche Führungsspitze von Frauen und Männern – proportional zur Mitgliederschaft – zu bilden sei. Inzwischen wurde die Satzung wieder geändert, und die Gewerkschaftsleitung liegt fast ausschließlich in den Händen der Männer.
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tai wurden durch angepasstere und linientreue Frauen ersetzt. (Clara Zetkins zähes Ringen mit dem SPD -Parteivorstand um die politische Selbstständigkeit der Zeitschrift Die Gleichheit ist ein geradezu klassisches Beispiel. Weniger bekannt ist Alexandra Kollontais jahrelanger Kampf mit den Führern der Menschewisten und später mit dem Zentralkomitee der Bolschewisten um den Aufbau organisatorisch eigenständiger Frauenabteilungen.) Die Faustregel »Je lahmer der Verein, je zahmer seine Politik, desto länger seine Lebensdauer« gilt leider nicht nur für die Frauen- und Jugendorganisationen der bürgerlichen Parteien, sondern gerade auch für die der Gewerkschaften und revolutionären Parteien. Trotz der Ähnlichkeit der Feindseligkeiten vonseiten der Männer und der ablehnenden Haltung der sozialdemokratischen und kommunistischen Organisationen sollte man die unterschiedlichen Ursachen für den Antifeminismus nicht verwechseln: Gründete sich der Widerstand gegen organisatorisch eigenständige Frauengruppen, ja zum Teil sogar gegen die Mitgliedschaft von Frauen in den Gewerkschaften und der frühen Sozialdemokratie, im Wesentlichen auf den materiellen Interessenkonflikt zwischen den Geschlechtern im Proletariat, so waren in den späteren sozialistischen und kommunistischen Parteien der Alleinvertretungsanspruch und die Machtakkumulation des zentralisierten und bürokratisierten Parteiapparats die wesentlichen Ursachen.6 Ohne die historischen Leistungen der feministischen Sozialistinnen zu verkennen oder leugnen zu wollen – zum Beispiel ihre agitatorischen und organisatorischen Erfolge, die den sozialistischen Parteien viele weibliche Mitglieder zuführten, oder ihr zermürbender Kampf gegen Bürokratismus, Revisionismus und Frauenfeindlichkeit in ihren eigenen Parteien –, bleibt die historische Tatsache, dass das Ziel einer proletarischen Frauenbewegung im Sinne einer Bewegung unter proletarischen Frauen nicht erreicht wurde. Wenn es jemals eine ihrer Entstehung und ihren Zielen nach massenhafte Bewegung unter den Proletarierinnen gegeben hat, so war dies die Bildungsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieser Bildungswunsch der Proletarierinnen muss vor dem Hintergrund der Entwicklung des Arbeitsmarktes für Frauen im nichtlandwirtschaftlichen Sektor gesehen werden. Man muss davon ausgehen, dass es im 18. und 19. Jahrhundert zwischen Männern und Frauen eine scharfe Konkurrenz um Arbeit gab. Ging es in der Auseinandersetzung zwischen dem weiblichen und männlichen Proletariat während der ersten Phase der industriellen Revolution noch um eine Konkurrenz um jeweils einzelne Arbeitsplätze, so führten das Entstehen neuer Industrien und deren Ausdehnung im Wesentlichen zu einem Kampf um die Verteilung der Berufsgruppen und industriellen Arbeitsbereiche: es bildeten sich damals bereits Formen typisch weiblicher und typisch männlicher Arbeit heraus. In diesem Interessenkonflikt zwischen Männern und Frauen hatten die Männer Vorteile in zweierlei Hinsicht: Viele von ihnen waren beruflich besser und vielseitiger qualifiziert, da 6 Eine genaue Analyse der beiden Formen der Diskriminierung, proletarischer Antifeminismus und bürokratischer Antifeminismus, gibt es leider bisher nicht.
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sie aus traditionellen Handwerksberufen kamen. Noch wichtiger aber waren die kollektiven Erfahrungen der Männer in den althergebrachten Organisationsformen der Zünfte und anderen Zusammenschlüssen, die es ihnen im Gegensatz zu den Frauen ermöglichten, sich schon sehr frühzeitig und effektiv in Gewerkschaften zu organisieren.7 Die Anziehungskraft der »Bildungsbewegung« unter den proletarischen Frauen ist zu erklären als verzweifelte Suche nach einem Weg aus der Hölle der schwersten, miserabelsten und mit Hungerlöhnen bezahlten Frauenarbeit, aus der Misere der ewig Dienenden, als hilfloser Versuch, sich durch »Bildung« zumindest das vergleichsweise freie und erträgliche Leben der Männer zu schaffen. Bürgerlich demokratische Feministinnen, wie z. B. Luise Otto-Peters, die im Jahre 1865 führend an der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins beteiligt war, forderten für die proletarischen Frauen daher eine berufliche Ausbildung, um den Arbeiterinnen den Weg in die Facharbeiterberufe zu ermöglichen. Weder die Sozialdemokratie noch die feministischen Sozialistinnen konnten faktisch auf diese spontane »Bildungsbewegung« unter den proletarischen Frauen reagieren: Hätten sie sich für die materiellen Interessen der Arbeiterinnen nicht nur verbal auf Gewerkschafts- und Parteitagen eingesetzt, wäre es zum Bruch mit den meisten Organisationen des männlichen Proletariats gekommen, deren Ziel und Funktion es ja gerade gewesen war, Frauen aus bestimmten Bereichen der industriellen Produktion herauszuhalten. Alle Forderungen, die an den bestehenden Ungleichheiten im Proletariat ansetzten – wie die Forderung nach gleicher Arbeit und gleichem Lohn –, liefen Gefahr, den Interessenkonflikt zwischen Frauen und Männern im Proletariat aufzureißen und den »Geschlechterkampf« heraufzubeschwören. Damit wäre die einheitliche Front des Proletariats gegen das Kapital gefährdet worden, die die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie aus den Arbeiterorganisationen verschiedener Richtungen zu schmieden versuchten. Die feministischen Sozialistinnen mussten deshalb nicht nur darauf verzichten, die Forderung nach »gleicher Arbeit für Frauen und Männer« aufzustellen, sondern sie mussten diese Forderung in der Öffentlichkeit sogar aktiv bekämpfen, wenn Arbeiterinnen sie erhoben. Stattdessen riefen sie die Proletarierinnen mit abstrakten Parolen zur Revolution an der Seite der Arbeiter auf. Wenn Clara Zetkin in ihren politischen Schriften immer wieder hervorhebt, dass jede noch so geringe Verbesserung der Lebensbedingungen des Proletariats durch Reformen den revolutionären Kampf der Arbeiter vorantreibe, so war sie doch gleichzeitig an einem wesentlichen Punkt, nämlich an dem der Frauenarbeit, nicht in der Lage, die mit der Forderung nach Gleichheit angestrebten konkreten Verbesserungen der sozialen Lage der Arbeiterinnen anzuerkennen und – mit Ausnahme der Forderung nach Mutterschutz – kämpferisch zu ver7 Dieser Prozess der Arbeitsverteilung und seine ökonomischen, politischen und sozialen Konsequenzen können im Rahmen dieses Nachwortes nur angedeutet werden. Die Verfasserin plant eine ausführlichere Darstellung dieses Problems.
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treten. (Der Verzicht auf die Kampfparole »Gleiche Arbeit für Frauen und Männer« entwertete faktisch den Kampf um gleichen Lohn.) Stattdessen wurden die Arbeiterinnen als »rückständig« abqualifiziert, auf die die Agitation für die Revolution nur wenig Eindruck machte und die stattdessen in die Bildungszirkel der bürgerlichen Feministinnen liefen. Der Kampf der bürgerlichen Frauenbewegung für die Öffnung der höheren Bildungsanstalten für Frauen entsprach noch am ehesten den Vorstellungen, die von den Arbeiterinnen entwickelt worden waren, um ihre eigene soziale Lage zu verbessern: Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt, gleiche Arbeit und gleicher Lohn. Clara Zetkin hatte jedoch recht, wenn sie behauptete, dass der Kampf der bürgerlichen Frauen um Ausbildung nicht der Kampf der Proletarierinnen sei: Die praktische Umsetzung der Forderung nach Einlass der Arbeiterinnen in die Facharbeiterberufe hätte eine andere politische und ökonomische Strategie vorausgesetzt und in der Realität auch eine harte Auseinandersetzung innerhalb der eigenen Klasse bedeutet. Aber ihre Schlussfolgerung (vgl. Fußnote 3), die Arbeiterin sei durch das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals bereits dem Manne gleichgestellt, ist eine Abwendung von den realen Verhältnissen; ihre abstrakt bleibende Aufforderung an die Arbeiterin, für die Revolution zu kämpfen, bedeutet im Grunde eine Absage an die proletarischen Frauen bei deren Versuch der Durchsetzung ihrer konkreten Interessen. Damit begaben sich die feministischen Sozialistinnen selbst der Möglichkeit, eine Avantgarderolle für das weibliche Proletariat einzunehmen. Die historische Chance für eine sozialistische Frauenbewegung in den kapitalistischen Industrieländern wurde nicht genutzt. Das Kräfteverhältnis innerhalb der Arbeiterbewegung – ein organisiertes männliches Proletariat, das seine Interessen auch gegen die proletarischen Frauen kämpferisch durchsetzte, und ein schwaches oder gar nicht organisiertes weibliches Proletariat – beeinflusste von Anfang an die theoretische Diskussion über die »Frauenfrage« in den sozialistischen und somit später auch in den kommunistischen Parteien. Diese Tatsache lässt sich am Beispiel der Auseinandersetzung um das Problem der Gleichheit von Mann und Frau demonstrieren: Der Gleichheitsanspruch der bürgerlichen Feministinnen wurde von den Sozialisten als abstrakte und falsche These bekämpft. Abstrakt deshalb, weil aufgrund ihrer Gebärfunktion die Frau niemals dem Mann völlig gleich sein könne. Man müsse also die »Gleichheit der Ungleichen« anstreben, die aber erst in der Neuen Gesellschaft möglich sei. Diese Kritik bleibt jedoch ebenso abstrakt wie das, was sie kritisiert. Weder wurde die Gebärfunktion genauer definiert – ob sie »gesellschaftliche Pflicht«, »natürliche Bestimmung« oder gesellschaftlich nützliche Arbeit sei; ob sie unveränderlich mit der Sexualität gekoppelt sei; ob Frauen selbst darüber bestimmen könnten, ob sie ein Kind zur Welt bringen wollen oder nicht –, noch wurde von den Sozialisten dargelegt, wie die »Gleichheit der Ungleichen« herzustellen sei und wie sie auszusehen habe. Da all diese Fragen nicht einmal ansatzweise ernsthaft diskutiert wurden, kommt die Theorie über die »Gleichheit der Ungleichen« in den Verdacht, nur ein ideologisches Versatzstück zu 106
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sein, mit dem die ungleiche Arbeitsverteilung im Proletariat gerechtfertigt werden sollte. Für die heutige Frauenbewegung wirkt sich besonders gravierend aus, dass in der Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung keine historisch-materialistische Theorie der Emanzipation und deshalb auch keine revolutionäre Strategie und Taktik für organisatorisch autonome Basisorganisationen – wie zum Beispiel die Frauenabteilungen in der KPR und die Jugendorganisationen – geschaffen wurden, die den Anspruch auf »Gleichheit der Ungleichen« hätten einlösen können. Schon deshalb wird sich die Diskussion in der heutigen Frauenbewegung an der »abstrakten Gleichheitsforderung« der bürgerlichen Feministinnen orientieren müssen, nicht weil sie philosophisch oder historisch »richtig« ist oder weil die Gleichheit mit dem Manne so erstrebenswert ist, auch nicht, weil sie jemals für alle Frauen im Kapitalismus oder im Sozialismus voll erreichbar wäre. Sondern weil wir die abstrakte Gleichheit als Maßstab, als strategische »Hilfskonstruktion« brauchen, die die Widersprüche aufdeckt, an der wir die »historischen Kompromisse« messen können, die die Schritte im Emanzipationsprozess der Frauen abstecken. Nur wenige feministische Sozialistinnen wie Kollontai und Armand kamen überhaupt in die Situation, die Versprechung »nach der Revolution« einlösen zu müssen. Sie waren allerdings durch die Politik der vorrevolutionären Zeit auf die Bedingungen nach der Revolution denkbar schlecht vorbereitet worden. Es gab nur wenige Konzepte und Strategien, an denen sie sich bei ihrer Arbeit in der Übergangsgesellschaft hätten orientieren können. Die Vorarbeiten von Kollontai über den Mutterschutz bildeten einen solchen Eckpfeiler in der Arbeit der Frauenabteilungen der KPR .
Zur Ausgabe dieses Textes In Anlehnung an August Bebels Forschungsansatz8 vollzieht Alexandra Kollontai in ihrer ökonomisch-historischen Darstellung in den ersten sechs Vorlesungen die sich verändernde Stellung der Frau in den verschiedenen ökonomischen Entwicklungsstufen nach und arbeitet gleichzeitig die Klassen und die jeweilige Situation der Frauen in diesen Klassen innerhalb einer Entwicklungsstufe heraus. Im Unterschied zu Friedrich Engels, der zwar die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Grundlage des Privateigentums ansieht, jedoch in der Entstehung des Privateigentums die eigentliche Ursache der Unterjochung der Frau erblickt, sind für Kollontai Arbeitsteilung und Arbeitsverteilung die materielle Basis der Unterdrückung: »Je perfekter diese Arbeitsteilung wurde, desto abhängiger wurde die Frau, bis schließlich ihre Leibeigenschaft ein Faktum war«.9 Dem Privat8 Bebel: Die Frau 1879. 9 Kollontai: Die Situation 1975, S. 33. Einige Jahre nach Kollontais Vorlesungen erschien Briffaults Monumentalstudie »Die Mutter« in drei Bänden, in der in Hunderten von
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eigentum schreibt Kollontai nur eine unterstützende Funktion zu: »Viele sind der Überzeugung, dass Leibeigenschaft und unmündige Stellung der Frau parallel zur Einführung des Privateigentums entstanden. Dies ist nicht richtig. Das Privateigentum trug zwar zur Entmündigung der Frau bei, aber eben nur dann, wenn sie bereits auf Grund der Arbeitsteilung ihre Bedeutung in der Produktion eingebüßt hatte«.10 Dieser Denkansatz hat gegenüber der Privatbesitztheorie den Vorteil, dass er die veränderte Stellung der Frau in der historischen Entwicklung und deren Variationen innerhalb einer Gesellschaft besser erklären kann. Die Unterdrückung der Frau wird nicht als Zustand, sondern als Prozess begriffen. Damit ist Veränderung durch das Eingreifen der Frauen selbst möglich, die aufgrund der Privatbesitztheorie dazu verdammt sind, darauf zu warten, dass das – männliche – Proletariat die Revolution durchführt. Die Verschärfung der Unterdrückung und Ausbeutung vollzieht sich bei Kollontai nicht mehr in schleichender, unbemerkter Anonymität, sondern wird als konkretes »Wegnehmen« gezeigt, das aktiv bekämpft werden kann. Meinte Engels noch, dass der Übergang von der mutter- zur vaterrechtlichen Ordnung, die »welthistorische Niederlage des weiblichen Geschlechts«, unbemerkt an den Beteiligten vorübergegangen sei, so stellt Kollontai fest: »Die Vorherrschaft des Mannes, d. h. des Patriarchates und des Vaterrechts, entstand nicht von einem Tage zum anderen. Die alten Volksmärchen zeugen von einem Jahrhunderte währenden Kampf zwischen Matriarchat und Patriarchat«.11 Mit dieser scharf formulierten Gegenthese zu Friedrich Engels tritt Alexandra Kollontai politisch denjenigen ihrer Parteigenossen entgegen, die – Engels zitierend – erklärten, da es kein Privateigentum mehr gebe, seien die Frauen nun befreit, man brauche nichts mehr zu tun. So wichtig der Schritt über Engels’ These hinaus ist, Kollontais analytisches Instrument bleibt als politische Waffe stumpf: Da sie ohne genauere Differenzierungen zwischen »produktiver« und »unproduktiver Arbeit« unterscheidet, kann sie mit ihrem Ansatz letzten Endes nicht viel mehr erklären als Engels mit dem Begriff des Privateigentums. Schon bei der Analyse der Unterdrückung der Frauen in der Periode vor der eigentlichen Phase der Warenproduktion muss sie zu der Hilfskonstruktion der »Arbeit unter offenem Himmel« und der »Arbeit am Herd« greifen.12 In der Periode der Manufaktur und des Industriekapitalismus, in der die »produktive« Arbeit der Frauen offenkundig ist, kann Kollontai mit ihrem theoretischen Ansatz die weiter bestehende Unterdrückung der Frauen durch die Männer nicht erklären. zusammengetragenen ethnologischen Einzeluntersuchungen Kollontais Hauptthese gestützt wurde. Briffault stellt die für sozialistische Gesellschaften interessante These auf, dass in Gesellschaften, die noch keinen Privatbesitz kannten, die »Macht zu produzieren«, d. h. bestimmte Güter produzieren zu dürfen, die sozialen Beziehungen in vergleichbarer Wese bestimmt hat wie später der Privatbesitz. Briffault: The Mothers 1927, S. 437 ff. 10 Kollontai: Die Situation 1975, S. 31. 11 Ebd., S. 30. 12 Ebd., S. 34.
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Es bleibt unklar, ob sie »produktiv« als Mehrwert produzierend versteht oder als Arbeit auf dem jeweils höchsten Stand der Produktivkräfte. Diese Unklarheit der Begriffe verwirrt: In ihrer Diskussion über die sozialistische Wirtschaft belastet sie sie zusätzlich mit der moralischen Wertung »gesellschaftlich nützlich« und »gesellschaftlich nicht nützlich« – womit dann Hausarbeit als nicht nützlich zu qualifizieren wäre.13 Zu allen Zeiten produzierten Frauen gleichermaßen wie Männer Güter – seien es Gebrauchs- oder Tauschgüter – und damit Mehrwert: Die vereinfachende Unterscheidung zwischen »produktiv« und »unproduktiv« führt hier nicht weiter. So stimmt Kollontais Analyse nur für die Fälle der Geschichte, in denen Frauen sich Zugang zu hochqualifizierten und kontrollierenden Arbeiten verschafft hatten, z. B. in verschiedenen Handwerksberufen des Mittelalters. Die Emanzipationsparole »Durch die Produktion zur Emanzipation« ist fragwürdig, denn die Frauen der unteren Klassen und Schichten waren schon immer in die jeweilige Warenproduktion eingegliedert; »befreit« wurden sie dadurch jedoch nicht, ja noch nicht einmal vom Manne unabhängig. Trotz ihres richtigen theoretischen Ansatzes kann Kollontai das klassische sozialistische Emanzipationstheorem nicht weiterentwickeln, denn als Sozialistin vertritt sie eine Auffassung von der »Einheit der Arbeiterklasse«, die ihr gebietet, bestimmte Erkenntnisse nicht auszusprechen und gewisse politische Schlussfolgerungen nicht zu ziehen, die sich aus ihrer eigenen Analyse ergeben. Die Forderung nach gleicher Arbeit für Frauen und Männer war ein Testfall. Dass diese Forderung im Jahre 1921 keine historische Relevanz gehabt hat, spielt in diesem Zusammenhang keine wesentliche Rolle, da ja auch die Bolschewisten von einer Analyse des Kapitalismus ausgingen, die – ebenso wie die Emanzipationstheorien der sozialistischen Feministinnen – nicht auf die russischen, sondern auf westeuropäische Verhältnisse bezogen war. Alexandra Kollontai versteht Familie nur als eine Kategorie des Überbaus und nicht als verbreitete Organisationsform der Warenproduktion bis weit in das industrielle Zeitalter hinein. Deshalb muss sie auch die tatsächliche produktive Leistung der Frau als Warenproduzentin in der Geschichte unterschätzen. Die Widersprüchlichkeit der politischen Position der feministischen Sozialistinnen tritt in Kollontais Darstellung der Frauenbewegung krass zutage.14 Die politischen Kämpfe der – zum größten Teil – bürgerlichen Frauen des 18. Jahrhunderts in Frankreich und den Vereinigten Staaten werden von ihr noch neutral, manchmal sogar liebevoll nachgezeichnet. Die Beschreibung der Rose Lacombe zeigt sogar gewisse autobiografische Züge.15 Ihre Analyse der Frauenbewegung in der bürgerlichen Revolution weist auf einen Tatbestand hin, den man ebenso gut auf die sozialistische Revolution beziehen könnte: Indem die Frauen die allgemeinen revolutionären Ziele und Ideale auf sich beziehen und 13 Ebd., S. 176. 14 Vgl. Vorlesung 7 und 8 in: ebd. 15 Ebd., S. 117 ff.
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dafür in und mit der revolutionären Bewegung kämpfen, tendieren sie notgedrungen zum jeweiligen radikalen Flügel der revolutionären Bewegung. »In den sozialistischen Parteien gehörten die Frauen bezeichnenderweise sehr oft zur ›Linken‹«.16 Darüber hinaus wird der revolutionäre Prozess in einem unbeabsichtigten und für die Mehrheit der Revolutionäre unakzeptierbaren Maße beschleunigt und radikalisiert, sodass die Mehrheitsfraktion, spätestens nach der Stabilisierung der revolutionären Macht, nicht nur die Aktivistinnen, sondern die gesamte »Frauenfrage« hinauswerfen muss. Kollontai stellt zu Recht fest: dass die Forderung der Frauen nach Gleichberechtigung von der amerikanischen Gesellschaft vor dem Bürgerkrieg allgemein unterstützt wurde, ganz besonders in den revolutionären Kreisen. Die Frau wurde von der Bourgeoisie auf jede erdenkliche Art und Weise ausgenützt und in den Bürgerkrieg hineingezogen. Man forderte von ihr staatsbürgerliche »Mannhaftigkeit«, Opferwilligkeit und Begeisterung für die Republik. Doch kaum hatte sich der Siegesjubel gelegt und der bisherige Feind – das feudale England – konnte die Interessen der amerikanischen Bourgeoisie nicht länger bedrohen, da flaute das Interesse sogar der leidenschaftlichsten Demokraten für die Forderung der Frauen nach Gleichberechtigung rasch ab.17 Man war also gewarnt! Kollontais polemische Angriffe in der achten Vorlesung gegen die bürgerlichen Feministinnen des 19. und 20. Jahrhunderts – also die direkten Konkurrentinnen der sozialistischen Feministinnen – begnügen sich jedoch nicht mehr damit, das klassengebundene Bewusstsein und den Opportunismus der bürgerlichen Frauenbewegung in der Wahlrechtsfrage zu kritisieren, sondern Kollontai betreibt hier bewusste Geschichtsklitterung. Ihre effektivsten Mittel sind Auslassungen, die Zusammenlegung von Ereignissen aus verschiedenen Ländern und Zeiten ohne Datenangabe und vor allem der methodische Trick, die Differenzierungen und inhaltlichen Differenzen im Lager der Feministinnen nie darzustellen und die Feministinnen samt und sonders mit dem konservativsten Teil der bürgerlichen Frauenbewegung gleichzusetzen. Kollontai unterscheidet noch nicht einmal zwischen gewerkschaftlich orientierten, teilweise organisierten, den progressiven Feministinnen18 und katholischen, protestantischen oder liberalkonservativen Frauenrechtlerinnen. Die gewerkschaftlich orientierten Feministinnen forderten das Recht auf Arbeit und zwar das Recht auf gleiche und qualifizierte Arbeit für die Frauen schon zu einem Zeitpunkt, als die männlichen Mitglieder der Gewerkschaften die Frauenarbeit noch aktiv bekämpften und die 16 Ebd., S. 146. 17 Ebd., S. 123. 18 Auf ihren verschiedenen Reisen durch Europa und die Vereinigten Staaten dürfte Alexandra Kollontai unter anderem folgende Organisationen kennengelernt haben: die in England und den USA weitverbreitete WTUL , die East London Federation of Suffragettes und in Deutschland den seit 1865 existierenden Allgemeinen Deutschen Frauenverein.
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Sozialdemokraten zwischen Einschränkung und »Zulassung« der Frauenarbeit schwankten. Diese Feministinnen bauten ihre Organisationen als »pressure groups« auf, um den Arbeiterinnen Zutritt und, durch den »vororganisierten« Zusammenhalt, einen gleichen Platz in den Gewerkschaften zu erkämpfen. Und das zu einer Zeit, in der die Mehrheit der Sozialdemokraten noch über die »Schmutzkonkurrenz« der Arbeiterinnen klagte und bestenfalls die männlichen Genossen aufforderte, die »rückständigen« Kolleginnen in den Gewerkschaften zu organisieren. In Kollontais Geschichtsschreibung sieht dies so aus: Dass dann schließlich ein Teil der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Forderungen stellte, die man bei den Sozialisten entliehen hatte, lag nur daran, dass sie sich der Unterstützung der Proletarierinnen vergewissern wollten, ihre Mitarbeit erkaufen wollten, um so ihre eigene politische Bedeutung zu vergrößern.19 Die Forderungen der progressiven Feministinnen nach gleicher Arbeit und nach Zulassung der Frauen zur Facharbeiterausbildung werden von Alexandra Kollontai nicht einmal erwähnt, sondern mit dem Hinweis auf die »doppelte gesellschaftliche Verpflichtung der Frau« und auf die Gebärfunktion abgeblockt. Die Bildungsbewegung der Arbeiterinnen am Ende des vorigen und zu Beginn dieses Jahrhunderts wird mit keinem einzigen Wort erwähnt, obwohl dem Bildungskampf der bürgerlichen Frauenbewegung, dem Kollontai schließlich ihr eigenes Universitätsstudium in der Schweiz verdankt, viele Buchseiten gewidmet werden. Zur selben Zeit benutzt Kollontai das Argument, dass Arbeiterinnen eben noch nicht so qualifiziert seien, als Erklärung für die Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern selbst im Sozialismus. Mit der Forderung nach Zugang zu qualifizierter Arbeit wurden die progressiven Feministinnen zu Fürsprechern und Vertretern eines wesentlichen Interesses der Arbeiterinnen jener Zeit und gewannen dementsprechend Einfluss unter den Arbeiterinnen – selbst Kollontai muss diese Tatsache in einem Halbsatz zugestehen: »… wobei wir gar nicht ausschließen wollen, dass sich die bürgerliche Frauenbewegung aus den verschiedensten Schichten rekrutierte.«20 Die meisten der progressiven Feministinnen waren weder Sozialisten noch Marxisten, sondern bürgerliche Demokraten, »Achtundvierzigerinnen«, wie Clara Zetkin sie zum Beispiel in Deutschland nannte.21 Die Behauptung »sie standen dem Sozialismus völlig fremd gegenüber«22 ist jedoch eine Verfälschung oder zumindest eine Vereinfachung. Zwischen dem 19 Kollontai: Die Situation 1975, S. 128. 20 Ebd. 21 Gemeint ist hier die bürgerliche Revolution im Jahre 1848 in Deutschland und Österreich. Clara Zetkins Einschätzung der progressiven bürgerlichen Feministinnen ist in vieler Hinsicht realistischer und auch gerechter als Kollontais Polemik, die vom Geiste des Bürgerkrieges in Russland geprägt ist. Vgl. die Kurzbiografie über Luise Otto-Peters in: Zetkin: Zur Geschichte 1958, S. 151 ff. 22 Kollontai: Die Situation 1975, S. 128.
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Lager der progressiven bürgerlichen Feministinnen und den sozialistischen Parteien gab es besonders in den angelsächsischen Ländern zahlreiche »Deserteure«, und zwar in beide Richtungen. Alexandra Kollontais beste Freundinnen, die sie gerade auch in den schweren Jahren ihrer Fraktionstätigkeit in der »Arbeiteropposition« unterstützten, kamen ursprünglich wie z. B. Clara Zetkin und Sylvia Pankhurst aus dem Lager der bürgerlichen progressiven Feministinnen. Die Ungerechtigkeit, ja der persönliche Hass in der Darstellung der bürgerlichen Frauenbewegung entspringen der Konkurrenzsituation zwischen den sozialistischen Feministinnen und den gewerkschaftlich orientierten bürgerlichen und proletarischen Feministinnen, obwohl letztere feministische Gruppierung in Russland faktisch keine Rolle spielte und deshalb für die Frauenarbeit der Bolschewistinnen keine politische Konkurrenz darstellte. Ein Grund für diese ungerechte Polemik ist wahrscheinlich auch in Kollontais politischer Situation im Jahre 1921 zu suchen: Wegen ihrer Position in der Familien- und Frauenpolitik und ihrer exponierten Stellung in der »Arbeiteropposition« wird sie in der Parteipresse als »Feministin« und »Anarchistin« persönlich angegriffen. Sie benützt die Vorlesungen, um sich öffentlich vom Feminismus zu distanzieren. Ohne großen Erfolg: Im November 1923 veröffentlichte Polina Vinogradskaia, eine Genossin der Frauenorganisation, eine beißende und ungerechte Kritik, in der »nachgewiesen« werden sollte, dass Kollontai ihre anarchistischen Tendenzen bereits in der Schrift »Die neue Moral und die Arbeiterklasse« (1918) enthüllt habe, da sie annehme, die zukünftige Gesellschaft werde auf Liebesbeziehungen statt auf der materiellen Basis beruhen. Während Marx die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen gesehen habe, interpretiere Kollontai sie als Geschichte des Kampfes zwischen den Geschlechtern. Des »George Sandismus«23 schuldig, sei Kollontai eine »Kommunistin mit einer soliden Dosis feministischen Mülls«. »Wie konnte sie solange als eine Führerin nicht nur der russischen, sondern auch der internationalen kommunistischen Frauenbewegung gelten?«24 Die letzten fünf Vorlesungen sind eine Art Rechenschaftsbericht über die Frauenpolitik der KPR in den Jahren nach der Oktoberrevolution. Kollontais martialischer Sprachstil, der Zweckoptimismus der Parteifunktionärin und der stetige Elan der Berufsrevolutionärin können indessen kaum ihre Rat- und Hilflosigkeit angesichts der gesellschaftspolitischen und ökonomischen Realität in den Jahren des Kriegskommunismus verdecken. Mit dieser Problematik steht aber Alexandra Kollontai nicht alleine da. Die gesamte Parteiführung der KPR stand zunehmend hilflos vor den wirtschaftlichen Folgen des Weltkriegs, des Bürgerkriegs und der Wirtschaftsblockade durch die westlichen kapitalistischen Industrieländer. In der andauernden Unsicherheit, wie lange die Bauern und 23 Nach der französischen Schriftstellerin George Sand. 24 Vinogradskaia: Voprosy morali pola, byta i tovarishch Kollontai (Probleme der Moral, Sexualität, des Alltags und Genossin Kollontai), in: Krasnaja, nov, 6, 1923, S. 179-214. Zitiert nach Geiger: The Family 1968, S. 82.
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Arbeiter diesen ökonomischen Zustand noch ertragen würden, entschloss sich die Mehrheit der Parteiführung, das Experiment des Kriegskommunismus zu beenden und zumindest vorübergehend wieder Methoden der kapitalistischen Wirtschaftspolitik einzuführen.25 Die Losung der Partei hieß: aufbauen, aufbauen, aufbauen. Und zwar um jeden Preis. Unter solchen Umständen über die Befreiung der Frau zu reden, musste der Mehrheit der Parteimitglieder als realitätsblinder Luxus erscheinen. Alexandra Kollontais couragierter Kampf gegen dieses resignative Denken in der Partei ist nicht nur Ausdruck ihres geschärften Bewusstseins in Bezug auf die Probleme der Frauen in der Übergangsgesellschaft, sondern spiegelt meiner Meinung nach auch ihre Einsicht wider, dass die Schaffung neuer Produktionsverhältnisse nur dann eine wirkliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewirken kann, wenn neue kollektive Lebensformen vom Proletariat entwickelt werden und die Arbeiterklasse die Planung der Volkswirtschaft in ihre eigenen Hände nimmt. Hatte man gehofft, dass Kollontai mit ihrer Gegenposition zu Friedrich Engels und mit ihrer politischen Interpretation der Arbeitsteilung und Arbeitsverteilung in den ersten sechs Vorlesungen ein analytisches Instrument zur Behandlung der Problematik der Frauenarbeit in der neuen eigentumslosen Gesellschaft sich habe schaffen wollen, so wird man enttäuscht: Die Behandlung des Themas Frauenarbeit in der Periode der Diktatur des Proletariats verkommt zur schlechten Agitationsrede: »Erst durch die allgemeine Arbeitspflicht veränderte sich die Rolle der Frau in der Volkswirtschaft. Sie ist jetzt allgemein als eine Arbeitskraft akzeptiert, die teilnimmt an der gesellschaftlich nützlichen Arbeit für das Kollektiv. Wir können aus dieser Entwicklung die Schlussfolgerung ziehen, dass die Gleichberechtigung der Frau auf allen anderen Gebieten mit der Zeit verwirklicht werden wird«.26 Als ob Bäuerinnen nicht schon im zaristischen Russland zu Zwangsarbeiten herangezogen worden wären, als ob sich dadurch jemals ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft verändert hätte! Ihre Verteidigung, ja Glorifizierung der allgemeinen Arbeitspflicht hat mehrere Gründe: Zum einen scheint ihr dadurch die Hauptforderung des linken Flügels der Sozialisten, was die »Frauenfrage« betrifft, durchgesetzt. Alle Frauen werden Lohnarbeiterinnen und damit in das Proletariat integriert; jetzt ist es möglich, kulturrevolutionäre Maßnahmen einzuleiten, die zur Befreiung der Frau führen. Zum anderen muss Alexandra Kollontai als hohe Parteifunktionärin auch in der Bauern- und Arbeiterschaft unpopuläre Schritte der Sowjetregierung verteidigen. Trotzdem bleibt es unverständlich, dass sie kommunistische Arbeiterinnen und Bäuerinnen, d. h. die zukünftigen Kader der Frauenabteilungen, wie kleinbürgerliche Hausfrauen agitiert, um sie vom Wert der gesellschaftlichen Arbeit zu überzeugen.
25 Vgl. Kollontais Ausführungen über die Neue Ökonomische Politik – NEP – besonders in der 11. Vorlesung. Kollontai: Die Situation 1975, S. 182-193. 26 Ebd., S. 171.
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Mit einer Offenheit, die drei Jahre nach der Oktoberrevolution noch möglich ist, 50 Jahre danach sicherlich nicht mehr, gibt die Parteifunktionärin zu, »dass der Durchschnittslohn aller Frauen halb so groß ist wie der Durchschnittslohn aller männlicher Arbeiter«.27 Sie erklärt dies mit der geringeren Qualifizierung der Frauen, misst dieser Tatsache aber nur den Stellenwert eines organisatorischen Problems für die zukünftige beruflich-technische Bildung bei. Aber die Problematik der Arbeitsteilung in der industriellen Produktion wird ja gerade durch die ungleiche Verteilung der Arbeit auf die Geschlechter, die ihren krassesten Ausdruck in den »typischen Frauenarbeiten« findet, zu einem gesellschaftspolitischen Problem. Bereits in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution fand in der KPR , auf den Gesamtrussischen Gewerkschaftskongressen, im Obersten Volkswirtschaftsrat und im Volkskommissariat für Arbeit eine Auseinandersetzung über die Einführung und Anwendung des Stücklohnprinzips und des Taylor-Systems statt. Genauso wie in den kapitalistischen Vereinigten Staaten sollte auch in der sozialistischen Übergangsgesellschaft die in winzige Teiloperationen zerlegte Arbeit vorwiegend von Frauen verrichtet werden. Kollontai bereitet die späteren Kader der Frauenabteilungen nicht auf diese – gerade für die Frauen – wichtige ökonomische und politische Entwicklung vor. Selbst wenn man die vertikale Arbeitsteilung, d. h. den Mechanismus, der die Frauen in die unteren Stufen einer Produktionshierarchie zwingt, durch die berufliche Qualifizierung von Frauen als überwunden betrachtet – was nicht der Fall ist –, so bliebe immer noch die horizontale Arbeitsteilung, d. h. das Abdrängen der Frauen in bestimmte Industrien und Berufe, als effektiver Hebel zur Unterbezahlung von Frauen im planwirtschaftlichen System bestehen. Der Dienstleistungsbereich ist das deutlichste Beispiel dafür: Um den Aufbau anderer Sektoren, wie z. B. der Schwerindustrie, voranzutreiben, spart die Sowjetregierung an Investitionen im »unproduktiven« Dienstleistungsbereich. Da es sich hier um einen arbeitsintensiven Bereich handelt, werden also die Löhne gesenkt, um die Kosten zu drücken. Selbst wenn die Frauen nun aufgrund ihrer Ausbildung höher qualifiziert sind, so verdienen sie durch diese Sparmaßnahme doch nicht mehr als früher, und die Lohndifferenz zwischen den unterdessen gleich ausgebildeten Männern und Frauen stellt sich auf einer neuen Ebene wieder her.28 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Kollontai sich dieses Problems bewusst gewesen ist. Im Gegenteil, sie verteidigt sogar mit einer gewissen Naivität die ausschließliche Beschäftigung von Frauen im Dienstleistungssektor, z. B. in den öffentlichen Volkskantinen, Säuglings- und Kinderheimen, Reinigungskolonnen etc., und zwar, weil die Frauen aufgrund ihrer hausfraulichen Fähigkeiten von 27 Ebd., S. 187. 28 Genaue Daten zur durchschnittlichen Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern liegen aus keinem sozialistischen Land vor, denn sie zählen zu den bestgehüteten Geheimnissen, wie auch Evelyn Leopold und Jutta Menschik im Jahre 1974 für die DDR feststellen. Leopold / Menschik: Gretchens rote Schwestern 1974. Die Schätzungen für die Sowjetunion in den 60er Jahren belaufen sich im Allgemeinen auf Lohndifferenzen zwischen 30 und 40 Prozent.
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dieser Arbeit am meisten verstünden. Diese fatale »Beweisführung«, mit der Frauen seit eh und je in die mühsamsten und unproduktivsten Arbeitsbereiche abgedrängt wurden, ist nur vor dem Hintergrund der von Kollontai angestrebten Sozialisierung der Hausarbeit verständlich. Als Linkskommunistin hält sie das Problem der ungleichen Bezahlung und der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in der vergesellschafteten Produktion für relativ unwichtig, denn sie glaubt, dass sich auch in Zeiten des Mangels eine weitgehend egalitäre Gesellschaftsordnung durchsetzen wird und dass durch diese Entwicklung die Unterschiede in Bezahlung und Privilegien zwischen den verschiedenen Schichten im Proletariat verschwinden würden. In Kollontais Analyse wird deutlich, dass die mechanische materialistische These »Frauen in die Produktion, dann wird sich die Gleichheit zwischen Mann und Frau von selbst herstellen« zwar im Kapitalismus als Begründung des Rechts der Frauen auf Arbeit einen fortschrittlichen, wenn auch in sich widersprüchlichen Charakter hat, dass diese These jedoch in ihr Gegenteil umschlägt, wenn sie unverändert auf die sozialistische Übergangsgesellschaft angewendet wird. Das ursprünglich sozialdemokratische Emanzipationskonzept verkommt dann zur Apologie für die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht und faktisch ungehinderten Ausbeutung der unqualifizierten und unterbezahlten weiblichen Arbeitskräfte. Man sollte meinen, dass Kollontai aufgrund ihrer politischen Einstellung und Praxis das sozialdemokratische Emanzipationskonzept kritisch überprüft und weiterentwickelt hätte. Fatalerweise greift aber Kollontai immer dann, wenn die gefährlichen Konsequenzen einer undifferenzierten Emanzipationsstrategie in ihrer eigenen Darstellung sichtbar werden – wie z. B. im Abschnitt über den Lohn –, zurück auf egalitäre Glaubensbekenntnisse und versichert ihren Schülerinnen, dass die kommunistische Gesellschaftsordnung in greifbarer Nähe sei und dass deshalb die momentanen Schwierigkeiten überwunden werden könnten. Ihre radikale linkskommunistische Position erstarrt zur Phrase, die objektiv eine »rechte« Politik innerhalb der KPR legitimiert. Es ist auch heute noch eine interessante historische Erfahrung, dass eine revolutionäre Persönlichkeit wie Alexandra Kollontai in der Tagespolitik des Krisenjahres der russischen Revolution 1921 in wesentlichen gesellschaftspolitischen Fragen wechselweise linke und rechte Positionen vertreten hat. Einerseits lehnte sie die neue ökonomische Politik als restaurativ ab, andererseits propagierte sie – ohne den Entwicklungsstand der Produktivkräfte zu berücksichtigen – in den Frauenabteilungen der KPR ein Modell von allgemeiner Frauenarbeit, das, wenn es jemals in die Praxis umgesetzt worden wäre, zu einem System von FrauenZwangsarbeit hätte führen müssen, wie es selbst in der stalinistischen Periode nicht existierte. Diese widersprüchliche theoretische Position Kollontais war nicht ganz untypisch für eine Reihe von europäischen Linkskommunisten in jenen Jahren, weil in ihrem Denken egalitäre, utopisch-sozialistische Elemente unvermittelt neben ökonomistischen Vorstellungen und planwirtschaftlicher Hilflosigkeit standen.
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Kollontais kulturrevolutionärer Ansatz: die »organische« Verbindung von Arbeit und Privatleben Das bisher Gesagte vermittelt nur eine, und noch nicht einmal die wesentliche Seite der Alexandra Kollontai. Berühmt und angefeindet wurde sie als Kulturrevolutionärin und Mitglied der Arbeiteropposition in der KPR . Bis heute ist ihre Forderung, den getrennten Familienbereich, die Privatsphäre aufzulösen und alle Funktionen der Familie – von der emotionalen Stabilisierung über die Essenszubereitung bis zur Kinderaufzucht – mit der Herstellung der Güter, mit der Produktion organisch zu verbinden, eine theoretische, aber auch praktische Herausforderung an alle sozialistischen und kommunistischen Parteien. Mit diesem kulturrevolutionären Anspruch nimmt Alexandra Kollontai selbst innerhalb der Gruppierung der feministischen Sozialistinnen eine Avantgarderolle ein. Ihre Position geht auf die gemeinsame Wurzel von Marxismus und Feminismus, den utopischen Sozialismus – also auf das Denken von Charles Fourier, Robert Owen, Claude Henri de Saint-Simon etc. – zurück. Kollontai richtete sich mit ihren kulturrevolutionären Forderungen an das russische Proletariat, besonders an die Proletarierinnen: Zerstört die bürgerliche Familie, befreit Sexualität, Mitgefühl und Liebe aus den Fesseln der monogamen Ehe und richtet sie stattdessen auf alle Menschen, verwendet eure Energien, Gedanken und Hoffnungen, eure schöpferischen Kräfte für den Aufbau einer menschenwürdigen, kommunistischen Gesellschaft.29 Diese Parolen umreißen ihr Programm zur Revolutionierung der Lebensund Arbeitsformen, es beschränkt sich also nicht auf die Veränderung des Bewusstseins, sondern es ist nur dann realisierbar, wenn das Wirtschaftssystem von den Arbeiter- und Produktionskollektiven nach kommunistischen Prinzipien neu organisiert wird, wenn also die ökonomische Entscheidungsgewalt in den Händen des Proletariats liegt. Die Partei kann nach Kollontais Meinung nur die politischen Bedingungen für die »praktische Eigeninitiative der Arbeitermassen« schaffen. Aus dieser politischen Überzeugung wurde Kollontai zu einem der Führer der »Arbeiteropposition«.30 29 Siehe dazu vor allem Kollontai: Die neue Moral 1920, und Kollontai: Ein Weg 1923. – Anm. d. Hrsg.: Der zweite Text erschien zuletzt auf Deutsch in: Kollontai: Der weite Weg 1979. 30 Die Arbeiteropposition bildete sich 1920 als eine linke Oppositionsgruppe innerhalb der KPR , der wenige Parteimitglieder wie Schljapnikow und vor allem kommunistische Gewerkschaftler angehörten, die sich aber nach Kollontais Darstellung wie eine Bewegung in den Industriezentren Russlands ausbreitete. Kollontai vertrat die Arbeiteropposition auf dem X . Parteitag der KPR im März 1921 mit der programmatischen Schrift: Die Arbeiteropposition. Deutsch in: Kool/ Oberländer (Hrsg.): Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur 1967, S. 182 ff. Trotz des Fraktionsverbotes, mit dem die Arbeiteropposition von diesem Parteitag belegt wurde, brachte Kollontai die Sache der Arbeiteropposition im Juli 1921 vor den 3. Kongress der Kommunistischen Internationale, weil sie glaubte, dass dieser innerrussische Streit an Prinzipienfragen rühre, die die
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Der zentrale Punkt der Auseinandersetzung zwischen Parteimehrheit und »Arbeiteropposition« war die Frage, wer der Vertreter des Proletariats sei, Partei oder Gewerkschaften, und wer deshalb das Recht habe, die zentralen Leitungsund Planungsorgane der Wirtschaft zu besetzen. Damit verbunden war der Kampf der Arbeiteropposition gegen die »schädlichen Abweichungen des Bürokratismus« in Partei und Staatsapparat und gegen die Neue Ökonomische Politik, durch die die Betriebskomitees der Arbeiter wieder aus ihren 1917 erkämpften Machtpositionen verdrängt und die Betriebsleitung in die Hände von staatlich eingesetzten Managern gelegt wurde. Nur im Kontext dieses Machtkampfes zwischen den Organisationen der Arbeiterklasse und der Partei ist Kollontais Position in der Frage der Revolutionierung des täglichen Lebens und der Befreiung der Frau verständlich. In den menschlichen Beziehungen, in der Sexualität und Emotionalität sieht sie eine materielle Gewalt, die nicht nur Reflex der jeweiligen ökonomischen Bedingungen ist, sondern die selbst die ökonomischen Verhältnisse beeinflusst und die in den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft von Anfang an mit einbezogen werden müsse. Lenin und die Mehrheit der Parteimitglieder gingen davon aus, dass die Familie als ökonomische Einheit zwar aufgelöst, die monogame Form der Ehe als Beziehung zwischen den Geschlechtern jedoch aufrechterhalten werden sollte; im Unterschied dazu vertritt Kollontai die Auffassung, dass die Ehe aufgelöst werden müsse. Sie fordert die Frauen auf, Sexualität »wie ein Glas Wasser« zu konsumieren. Denn sie sieht in der Aufrechterhaltung der Institution der Ehe die Gefahr, dass zum einen die »natürliche« Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und zum anderen die emotionale Abhängigkeit der Frau vom Mann perpetuiert werden. Die »Glas-Wasser-Theorie« löste in der Partei einen Sturm der Entrüstung aus.31 Kollontai will nicht, wie ihr vorgeworfen wurde, eine allgemeine Prostitution propagieren, sondern Liebe, Emotionalität und Zuwendung sollen nach ihrer Vorstellung aus den Fesseln der monogamen Mann / Frau- und der Mutter / Kind-Beziehung gelöst und allen Menschen zugewandt werden. Diese Transformation stellt sie sich jedoch nicht im Sinne der Freudschen Subinternationale Arbeiterbewegung angehen. Die Arbeiteropposition wurde in wenigen Jahren von der Partei ausgeschaltet. 31 Lenins Reaktion auf die »Glas-Wasser-Theorie« überliefert Zetkin: »Die Glas-WasserTheorie hat einen Teil unserer Jugend toll gemacht, ganz toll. Sie ist vielen jungen Burschen und Mädchen zum Verhängnis geworden. … Die berühmte Glas-WasserTheorie halte ich für vollständig unmarxistisch und obendrein für unsozial. … Rationalismus, nicht Marxismus wäre es, die Umwandlung dieser Beziehungen (zwischen den Geschlechtern, A. T.) für sich und losgelöst aus ihrem Zusammenhang mit der gesamten Ideologie unmittelbar auf die wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft zurückführen zu wollen. Nun gewiß! Durst will befriedigt sein. Aber wird sich der normale Mensch unter normalen Bedingungen in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze trinken? Oder auch nur aus einem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lippen ist?« Zetkin: Erinnerungen an Lenin, in: dies., Ausgewählte Reden und Schriften, Band 3, 1960, S. 139 f.
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limationstheorie vor, sondern eher als eine Art Ausweitung oder Verallgemeinerung dieser Energien auf die gesamte Gesellschaft. »Der Mutterinstinkt darf natürlich nicht unterdrückt werden, aber warum sollten sich Fürsorge und Liebe der Mutter auf das eigene Kind begrenzen? Ist es nicht menschlicher, wenn die Mütter ihren wertvollen Instinkt auf eine sinnvollere Weise verwenden und zwar für die Fürsorge aller schutzbedürftigen Kinder?«32 Wenn an dieser Stelle auch der Eindruck entstehen mag, Kollontai beziehe sich auf Zetkins Aussage, dass die Frau die positiven Eigenschaften, die sie sich im Lauf der gesellschaftlichen Entwicklung habe aneignen können, der Gesellschaft auch wieder zugute kommen lassen müsse, so sind beide Vorstellungen doch nicht identisch. Kollontai betont viel stärker als Zetkin die Dynamik und Kraft der Sexualität. Deren Umpolung auf die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion stellt sie sich nicht vor als eine mechanische Übertragung oder zweckrationale Ausnutzung »intimster« menschlicher Regungen zum Zweck der Steigerung von Produktionsziffern, sondern als eine vollständige Umwälzung der bisher voneinander getrennten Lebensbereiche, eine Integration von Privat- und Arbeitssphäre. Wie sie sich die neue harmonische Einheit vorstellt, ist nur in Andeutungen erkennbar; ihr aktiver Einsatz für die Kommunehäuser, den Naturallohn, ihre Forderung, dass häusliche Dienstleistungen als Teil des Achtstundentages angesehen werden sollen, all das deutet daraufhin, dass sie von einem Arbeits- und Lebenskollektiv ausgeht, wie es Marx im Kapital erwähnte. Daher sieht sie in einigen Maßnahmen des Kriegskommunismus bereits die Anfänge der neuen kommunistischen Gesellschaft. »Diese Naturalwirtschaft ist ein wichtiger Versuch gewesen, den Produktions- und Konsumsektor organisch zu verbinden und die tiefe Kluft zu überbrücken, die durch das kapitalistische System zwischen beiden Sektoren geschaffen worden ist«.33 Andererseits sagt sie nichts darüber, welche ungeheure Umwälzung der Produktionsmethoden, Technologien der Arbeitsorganisation, der Arbeitszeit usw. eine solche Integration der Arbeit und des »Familienlebens« voraussetzen würde. Es hätte allerdings auch nicht ihrer Überzeugung entsprochen, dass einzelne Theoretiker oder bürokratische Institutionen diesen Umformungsprozess bestimmten. Wer kann der Schöpfer, der Erbauer der kommunistischen Wirtschaft sein? Nicht einzelne geniale Abkömmlinge der Vergangenheit, sondern jene Klasse, die mit den neu sich bildenden und in einem schmerzhaften Geburtsvorgang entstehenden Produktionsformen eines produktiveren und vollkommeneren Wirtschaftssystems organisch verbunden ist … das Arbeiter-, das Produktionskollektiv … .34 Der Realismus der Kollontai’schen Utopie kommt darin zum Ausdruck, dass sie als eine der wenigen schon in den ersten Revolutionsjahren auf die Bedeutung 32 Kollontai: Die Situation, 1975, S. 202. 33 Ebd., S. 188. 34 Kollontai: Die Arbeiteropposition, S. 208.
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einer neuen Arbeitsmotivation für den Aufbau des Kommunismus hinweist. »Jedem Marxisten ist bekannt, dass die Wiederherstellung der Produktion und die Entwicklung der Produktivkräfte des Landes von zwei Bedingungen (Faktoren) abhängen: von der Entwicklung der Technik und von der zweckmäßigen Organisierung der Arbeit durch eine geschickte Steigerung der Arbeitsenergie und die Suche nach neuen anspornenden Motiven für die Arbeit.« Und weiter schreibt sie: »Einen Anreiz, einen Beweggrund für die Arbeit zu finden, ist die größte Aufgabe der Arbeiterklasse an der Schwelle zum Kommunismus.«35 In der Sowjetunion sind die mangelnde Arbeitsmoral, der ständige Arbeitsplatzwechsel, die Gleichgültigkeit und die Leistungsverweigerung der Arbeiter und Bauern auch heute noch ein zentrales Problem. Durch die Einführung des Leistungs- und Prämienlohns, durch die kampagnenartig organisierten Produktionsschlachten, durch die administrative Kontrolle der Leistung, die Einführung des Prinzips der materiellen Interessiertheit, d. h. einer Vertiefung der Lohndifferenzen, der Anwendung von Zwangsarbeit usw., versuchte die Parteiund Staatsführung der UdSSR in den letzten 50 Jahren, die fehlende Arbeitsmotivation herzustellen. Diese Entwicklung in der Sowjetunion zeigt, dass Kollontais Denkansatz nach wie vor aktuell ist.
35 Ebd., S. 220, S. 209.
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Snapshots of Memory and Commentary on »Alexandra Kollontai« 1. I have no continuous memory of Annemarie, our lives unfolded an ocean apart. But our moments of contact were memorable. I think of many as snapshots. The first memory I have of Annemarie is of her swooping into the New York City anti-war scene of the 1970s like a fiery comet, ablaze with intelligent enthusiastic energy, beautifully enticing, and enviable at the same time. I don’t remember much detail – there was so much going on – but I remember her bright consuming eyes, her spirited way of speaking. She was in mid-passage on her way to Latin America. Then I remember experiencing from afar her urgency and power in organizing the Summer University for women in Berlin, a pioneering effort to bring women scholars and women’s history into the academy. I wasn’t in Berlin at the time, but the news and excitement of it found sisterly support here in our German Women’s History Group. My next snapshot is more like a video, working with her for a smooth English version of her article in When Biology Became Destiny: Women in Weimar and Nazi Germany (Monthly Review Press, 1984) that I co-edited with Atina Grossmann and Marion Kaplan. Annemarie was a challenging author, adamantly argumentative about the precise phrasing of her meanings. We had lively verbal sparring matches that ended well and warmly. The result was her highly sophisticated analysis of capitalist production changes to the sexual division of labor as defended by changes in the ideologies of gender by the Weimar, Nazi, and post-war West German governments. I remember a visit to Berlin in the early 1980s for research on the countrywomen’s organization of Germany that existed from the 1890s through the Nazi period. Annemarie organized a small group of women for me to interview who had belonged to it in Celle, where her mother had lived. But she was upset with how polite I was in my interrogation of them, because for her they were old Nazis who deserved harsher behavior. I’m not sure she accepted my explanation of how an oral history should be conducted even with disgraceful people. Another snapshot: a visit I made to Berlin in the 1990s with a friend. Annemarie offered us her little studio apartment in Klausenerplatz, separate from her residence with Burghard. I remember her entering, her arms generously laden with warm bedclothes, her big eyes glowing with welcome. But eventually there was a sad summer in which Annemarie came to terms with the fact that she would not finish her dissertation. My guess is that her 120
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energy, her activism, her engagement with the world did not allow her that kind of drudge work. But I think she did not get over the disappointment. However, undaunted, Annemarie returned to her home state of Thuringia after the fall of the Berlin Wall, to try to organize the confused countrywomen into the kind of professional group I had studied. She asked me for some of my work about them. Of course, times and context had changed too much for that to work. And then a later snapshot: a party at the apartment she shared with Burghard soon after their marriage. As I climbed up the stairs, I saw her standing at the top with a hint of haughtiness: impeccably dressed, wearing a spectacular necklace of many tiny pearls that she had beaded together herself after finding them in Cairo. Ever Annemarie, enticing and enviable as ever. 2. The essay »Alexandra Kollontai: Zwischen Feminismus und Sozialismus« so clearly shows Annemarie Tröger’s dual identity as a scholar and activist that I can almost hear her voice: urgent, feisty, then again calm, analytical, a duality I believe she struggled with personally all her life. One senses that she feels some identity with Kollontai in this formative time of revolution in the 1920s, when Kollontai delivered these lectures to students being prepared for party cadre work. There is the same contradiction of utopian hope and realistic assessment of its attainment. In the 1920s Russia and Germany, as in the 1970s United States, women’s movements long in the making broke through along with other social movements for equality, even for revolution. In the United States, which Tröger visited, a women’s movement claiming to represent all women in the slogan »Sisterhood is Powerful!« ultimately had to face the fact that women of the upper-class, professions, working-class, and women of color faced different problems and possibilities and would have to organize separately. At best, they could ally rather than conflict. In Kollontai’s time, the contradiction ran into hostile competition as it was embedded in clear class conflict. Bourgeois women organized vibrantly and efficiently, drawing on their educational background and wealth. Working-class women depended economically and politically on the solidarity of and with working-class men who had the advantage of historical experience of organization in guilds, unions, and political parties, Working women’s self-organizations were discouraged and ultimately became subsidiary to the socialist and communist unions, and parties which insisted that all energy be directed at the primary class struggle. Once won, they assured the women, all other inequalities would be resolved. Similar tensions afflicted American working-class women’s organizations that Tröger saw and even worked with during her time here. And similar misogyny afflicted their efforts as Kollontai had witnessed in the political parties and that Tröger experienced in the SDS . Her indignation boils over into the past, as she accuses socialist men of enduring only tame behavior by women, something Kollontai (and others like Clara Zetkin) were incapable of. 121
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And yet, despite her passion, Tröger like Kollontai, came to terms with the merely possible. The problem of the »equality of inequality« – the reproductive constraints on women – led Kollontai to urge maternity protection (Mutterschutz) in her day as an important reform. And Tröger faults the women’s movement of her own time for undervaluing limited reforms as stages toward its own more abstract goal of total equality. However, Tröger is also critical of Kollontai. She considers her emphasis on the sexual division of labor as signally responsible for discrimination to be inadequate as it leads her to dismiss the family as mere superstructure. She also finds Kollontai to be »hateful« in her opposition to the bourgeois women’s fight for women’s education, claiming it was only a ploy for their electoral agenda. In fact it did lure some working class women as a hope for improving their condition. But, Tröger argues, by focusing on a utopian future, Kollontai’s position became right-wing, that is, keeping women in their place until the structures were changed. And, of course, as an educator herself, Tröger could only affirm the value of education. In the end, for all her immediate socialist feminist passion for change and her rage at the obstructionist forces, Annemarie Tröger’s historical scholarship led her to a more patient assessment of possibilities. She could well understand Alexandra Kollontai.
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Feministische Wissenschaft: Primat der Praxis und methodische Ansätze einer Geschichte von unten
Annemarie Tröger
Summer Universities for Women: The Beginning of Women’s Studies in Germany? (1978)1 The first »Summer University for Women,« a week-long conference devoted to the topic »Women and Research« was held at the Free University of West Berlin (FU ) in July 1976. This first venture was the work of a group of women faculty members at the FU, who were responsible for the program’s content as well as its organization. Geared primarily towards women who were university students, the first Summer University focused on generating interest in Women’s Studies as well as applying political pressure on German universities to improve women’s opportunities for study and work. Despite the short periods of time involved in the preparation and the improvised nature of many of the presentations, the session was a great success: approximately 1,500 women took part in the week-long series of discussions on academic and political issues. In October of 1977 the second Summer University was held, again at the FU, but in many respects a session quite different from the first. This second conference was organized by a group of twelve students and one of the faculty women from the previous year; the group was formed as a result of the first university-wide women’s meeting in the history of the FU, a meeting which had taken place in January of that year.2
The German Situation In order to clarify the political importance of the »Summer University for Women,« it is necessary to give the American reader at least a brief outline of the situation of Women’s Studies in Germany. First of all, it must be understood that the women’s movement in West Germany and Berlin has not yet succeeded in establishing Women’s Studies Centers as they exist at colleges and universities in the U. S. Courses dealing specifically with women are being taught by feminists – either by regular faculty members or, in most cases, by women hired as instructors for this express purpose. Until 1976, such courses were to be found 1 Translated by Beth Weckmueller 2 The papers of the first Summer University are available in the book: Frauen und Wissenschaft (Women and Research). The papers of the second Summer University will be published under the title: Frauen als bezahlte und unbezahlte Arbeitskräfte (Women as Paid and Unpaid Labor). [Editor’s note: comparate the list of references in this volume.]
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only at the larger universities, but more recently they are being offered almost everywhere. Despite the proliferation of such women’s courses and their implication in terms of the increased presence of the women’s movement at the universities, however, German women are still facing the problem which the American women’s movement had already begun to overcome during the early 1970s: there is no scholarly journal of feminist studies, nor are there curricula or bibliographies for students and faculty members to draw upon. Even the theses and dissertations which have recently been written on feminist themes generally disappear into the morass of each university’s library before being systematically cataloged for future reference. Hence, offering any feminist course requires extraordinary scholarly diligence on the part of students as well as faculty and takes up a great deal of time and energy. At the same time, however, given university requirements as they stand at present, women’s courses are regarded as merely extracurricular and must be undertaken as an extra burden in addition to the mandatory course load. Consequently, at the end of each semester students and faculty members invariably face the dilemma of having to choose between their regular duties and intensive involvement with women’s issues. It is not difficult to imagine which of the two generally gets the short end of the stick. There is an additional aspect unique and important to the situation in Germany which should not be overlooked. In the last few years a great number of women’s courses have been offered through the extensive network of adult evening schools, which encompass virtually every city and town in Germany. These classes are usually taught by university students or unemployed academics, and many housewives and working women enroll. But, here, too, the unique opportunities afforded by adult evening school courses cannot be fully utilized because of the lack of curricula and instructional materials.
The Function of the Summer Universities The information outlined above allows us to determine the particular political role played by the Summer Universities: They should continue to generate interest in writing theses and dissertations on topics related to women. They should give women or groups of women working on larger projects the opportunity to present their ideas and discuss them with others working in related areas. In this respect, the Summer Universities serve the function of academic conferences such as those held in the U. S . – for example, the »Women in German« and Berkshire Conferences. Above all they should serve as a sort of »information bureau,« providing a place where women can learn about what has been written recently; much of this information would otherwise go unnoticed. The widespread interest in Women’s Studies which has been demonstrated and articulated by the Summer University sessions, moreover, should work to 126
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apply pressure to the universities and other state institutions towards the establishment of women’s research facilities and educational programs. Whether or not German Women’s Studies Centers can or even should correspond to those in the U. S. is, however, a question now under debate within the women’s movement. Given the relatively elitist criteria for admission to German universities (as opposed, for example, to those of American colleges), would we not be in danger of creating women’s research centers which were not only elitist but ensconced in ivory towers as well? And given the new laws governing higher education, laws designed to reestablish the power wielded by professors, would we not be in danger of creating centers which became the playground and meal tickets for a hoard of conservative faculty members? Since the second Summer University was better planned and greater effort was made to attract West German women to give presentations, it was able to fulfill its informational function more successfully than the first session. No fewer than 66 topics were presented for discussion, and while this number may not exhaust the supply of women’s research subjects, it does give a good indication of the work being done on the topics of female employment and housework.3
Opening the University In stark contrast to the first Summer University, the second session set as a prime goal the inclusion of as many housewives and working women as possible. The group organizing the session, therefore, attempted to gain the status of an official »educational holiday«4 for the conference since this would allow workers to take part. After the group had fought its way through the various legal technicalities and bureaucratic channels and had begun publicizing the possibility of obtaining paid vacation time to attend the session, it was not long before both government and private employers reacted. The liberal university administration withdrew its official support for the venture, thus placing the planning group and the entire conference in an uncomfortable, only quasi-legal position. The 3 The vast majority of the lectures and workshops concerned themselves with this topic as well as the two panel discussions on Tuesday and Thursday nights. Each of these evening symposia dealt with political strategy and women’s work: Tuesday – debate about wages for housework; Thursday – discussion on demanding 50 of all skilled jobs for women. Other important areas covered were the situation of women in fascism, the use of oral history as a tool in the study of women’s history, feminist aesthetics (although there were very few literary studies), general analysis of patriarchy, discussion of how women are peculiarly affected by Berufsverbot and preparation for the Russell Tribunal on that topic, as well as women in the social system of the Federal Republic of Germany (FRG), particularly in academia. 4 Bildungsurlaub, the »educational holiday« described above, is a benefit rarely used by most German working people, although the week allowed for such continuing education is a right for which they struggled a long time.
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Summer University for Women became a conference held at rather than by the FU -Berlin. But the major result of this action was that many working women, particularly secretaries and other office employees, were placed in a difficult position with regard to their employers. Many of these women, out of fear of losing their jobs, did not press their case. Nonetheless, about 200-250 working women did participate, along with the many housewives who had managed to secure an educational »holiday« from their husbands. Through this incident it became evident that women had climbed out of the sandbox reserved for the women’s movement: women’s emancipation was threatening to cost money, lots of money in fact, and at that point even the liberals decided enough was enough! But why did the planning group place so much emphasis on including working women? Weren’t the academic functions which the Summer University session could fulfill, such as those sketched earlier, important enough in and of themselves? This critique was made by certain women active in the university women’s movement. Two considerations, which also relate to the way in which the academic women’s movement regards its own role, must be mentioned in this context: first of all, it must be noted that active feminist students and faculty members view themselves as part of the women’s movement outside the confines of the university; the women’s centers which have recently sprung up in all of the larger cities in West Germany are the focal point of such feminist activity. In conjunction with this self-image, then, the Summer Universities provide an opportunity to present political positions and issues of current importance in the women’s movement, and to open channels for discussion, especially for women who in the past have had little or nothing to do with the women’s movement. They should also provide an opportunity to counteract the distorted, myopic and often downright hostile image of the women’s movement presented by the mass media. Previously uninvolved women should also be given the opportunity to become familiar with the entire spectrum of issues and differing viewpoints. As we were able to ascertain from comments made by many women and especially from the questionnaire which was circulated by the planning group, the Summer University sessions succeeded in providing a forum for the women’s movement. As one woman, a union activist, noted: »I had no idea that feminists were involved with so many different questions and issues. I’d always thought they only talked about ›intercourse.‹« But even more important is the question of the political function of feminism as an academic discipline. In the preface to the printed program of the second session, the planning group states: »Feminist studies is not merely a peripheral concern for women who are social scientists. If it is reduced to that, then the Summer University sessions will have failed to make their point. It is the goal of feminist studies to bring women to the point of being able to analyze their experiences and circumstances, and then to uncover the historical and social conditions on which these depend. This simultaneously implies learning to recognize individual experiences as a part of collective experience, thereby 128
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covering the pivotal points to which we must direct our energy in order to change our position in society.« »The Summer University may be seen as one minute, perhaps futile attempt to bridge the gap between those who are supposed to work but not think and those who, though allowed to think, are supposed to do so in order to ›produce‹ rather than to reflect. It will not enable us to overcome the social division between manual and intellectual labor. Even the Summer University will still be riddled with academic women who are ›working on‹ the situation of other women. A first step towards remedying this problem may be seen in our attempt to open up the Summer University to all women and to include as many working women as possible – whether they work inside or outside the home. Their critique of the questions posed, the methods employed and the results of such activity are at least as important as – and perhaps even more important than – the academic analyses themselves … These small steps towards the unification of theory and praxis represent to us the process which may eventually lead to truly feminist studies.« Measured in terms of the number of participants, the success of the second Summer University was overwhelming: even by conservative estimates, a total of approximately 4,000 women took part in the presentations and discussion sessions. At times such numbers led to the edge of total organizational collapse, for instance, on those occasions when hundreds of women jammed the corridors in search of a still larger room to accommodate their overflowing workshop. As a result of such experiences, tentative plans are being made to organize conferences akin to the »Summer University for Women« at as many other German universities as possible. The limitations imposed by having to deal with such a large audience also led some of the participants to complain that their own scholarly interests had been neglected, but even this criticism has its positive side: the Berlin research group for »Oral History,« for example, is now planning its own conference to explore the topic »Women in the Weimar Republic and under National Socialism,« to be held in Berlin in June of 1978.5 The important fact remains: the Summer University precedent has been established, and a new group is already beginning preparations for the third session.
5 Editors Note: On the history, the preparations and realisation of the first conference of women historians in June 1978 at the Free University (FU ) of Berlin see Introduction od the editors, p. 18, fn. 30, and Commentary of Reese: Mündliche Geschichte in this volume, p. 207.
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Johanna Kootz
Kommentar zu »Summer Universities for Women« Annemarie Tröger berichtet einem US -amerikanischen Publikum über die ersten beiden Sommeruniversitäten an der FU Berlin, die Frauen unterschiedlichster sozialer Herkunft, Lebensumstände, Bildungs- und Berufsbiographien eine Gelegenheit boten, sich aus feministischer Perspektive mit der Produktion und Reproduktion von Wissen auseinanderzusetzen und, ausgehend von eignen Erfahrungen, Kompetenzen und Bedürfnissen, sich über ihre Erkenntnisinteressen zu verständigen und neue Wege der Wissensvermittlung zu erproben. Sie skizziert die Probleme, deren Lösung den Frauen an deutschen Hochschulen bevorstand. Allerdings scheint mir bezüglich der Problemlösungen der Hinweis auf die USA irreführend, da der Realisierung der angestrebten Ziele eine nicht vergleichbare (west-)deutsche Hochschulstruktur wie auch sehr unterschiedliche Fachkulturen entgegenstanden. Das Fortbestehen ideologischer und struktureller Kontinuitäten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kennzeichnete auf spezifische Weise unser Bildungs- und Hochschulwesen. Eigene Erfahrungen und Untersuchungen bestätigten weitgehend die Vorurteile in und außerhalb des akademischen Milieus gegenüber den Studienmotivationen und -kompetenzen von Frauen.1 Weder die von der Westdeutschen Rektorenkonferenz 1956 gebilligte Empfehlung »Wo geeignete weibliche Hochschullehrer zur Verfügung stehen, sollten die Fakultäten auch sie für die Besetzung eines Lehrstuhls in Erwägung ziehen«,2 noch die Denkschrift des deutschen Akademikerinnenbundes von 1961 »Zur Lage der Dozentinnen an deutschen Universitäten«, mit der der Wissenschaftsrat um eine Intervention zugunsten hochqualifizierter Wissenschaftlerinnen gebeten wurde, lassen erkennen, dass es sich bei den beklagten Zuständen um die Folgen der Missachtung des Artikels 3 des Grundgesetzes handelt. Die patriarchalischhierarchische Struktur der staatlich finanzierten Universitäten war unverändert geblieben. Professoren entschieden über die Lehrplanung, die Themenwahl und Begutachtung von Qualifikationsarbeiten, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und die Verleihung akademischer Titel – wobei die Habilitation als Qualifikationsnachweis für eine Professur, eine auf männlichen Karriereverläufe zugeschnittene deutsche Besonderheit, ein spezielles Mittel der Kontrolle zukünftiger Kollegen darstellt. Nur wenigen Frauen gelang es, eine dieser privilegierten Positionen einzunehmen. Ihnen blieben, wenn überhaupt, die zeitlich befristeten Mittelbaustellen vorbehalten. Es fehlte der in den siebziger 1 Anger: Probleme 1960; Vetter: Zur Lage der Frauen 1961, S. 644-660. 2 Zur Lage der Dozentinnen 1963, S. 12-15.
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Abb. 1: Sommeruniversität Berlin 1977
Jahren wachsenden Zahl von Studentinnen an Rollenvorbildern – beziehungsweise mussten sie diese erst wiederentdecken.3 Anders als in den USA konnten sich Studentinnen und Dozentinnen nicht auf feministisch engagierte wohlhabende Sponsorinnen oder Stifterinnen stützen, die durch die Gründung alternativer Bildungseinrichtungen ihren Forderungen Nachdruck verliehen und entsprechende Reaktionen der untereinander – auch um Gebühren zahlende Studierende – konkurrierenden Hochschulen provozierten. Immerhin wurde in der Bundesrepublik seit dem Beginn der sechziger Jahre die Notwendigkeit einer grundlegenden Bildungsreform erkannt. Als maßgebliches Hindernis für wirtschaftliches Wachstum und die Durchsetzung des Bürgerrechts auf Chancengleichheit hatte man die Unterrepräsentanz der Jugendlichen aus den »bildungsfernen« sozialen Schichten auf allen Ebenen des Bildungswesens diagnostiziert und schließlich auch die offensichtliche Benachteiligung der Mädchen und Frauen bei der beruflichen Bildung, den weiterführenden Schulabschlüssen und dem Hochschulzugang festgestellt. In Berlin wird 1969 mit einem neuen Universitätsgesetz die Ordinarienuniversität durch die Gruppenuniversität ersetzt; an der FU Berlin konnte damit erstmals ein wissenschaftlicher Assistent, Rolf Kreibich, zum Präsidenten gewählt werden. Obwohl 1974 das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung über Forschung, Lehre und Berufungen wieder allein den Professoren übertrug, blieb der Einfluss innovativer Impulse in den Fachbereichen erhalten. 3 Schmidt-Harzbach: Kampf ums Frauenstudium 1977, S. 33-72.
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Vor diesem Hintergrund kann die Initiative für die Sommeruniversität am Ende der 70er Jahre als eine praktische Kritik an der nach wie vor männlich dominierten Hochschule angesehen werden. Die Mitglieder der Vorbereitungsgruppe gehörten den Jahrgängen zwischen 1939 und 1945 an. Trotz zeitlich befristeter Verträge und zusätzlicher Belastungen waren sie in ihren Disziplinen (Geschichte, Sozialwissenschaften, Germanistik, Anglistik, Politologie) aktiv geworden, um Lehre und Forschung im Sinne von Fraueninteressen zu verändern.4 Angesichts ihrer ungesicherten beruflichen Zukunft gab es auch unter den Initiatorinnen Diskussionen darüber, wie die eigenen wissenschaftlichen und beruflichen Interessen mit den politischen Zielen der Frauenbewegung zu vereinbaren sind und unter welchen Voraussetzungen sie feministische Forschung innerhalb der Hochschulen betreiben sollten. Rückblickend denke ich vor allem an die teilweise erbittert geführte Diskussion, die im Frauenzentrum stattfand, als 1976 das erste Frauenhaus eröffnet wurde. Die Frauenbewegung hatte zwei Jahre für ein autonomes Frauenhaus gekämpft und wurde dann mit der Tatsache konfrontiert, dass dessen Finanzierung nur im Rahmen eines wissenschaftlich begleiteten Modellprojekts gewährleistet werden konnte. Obwohl damit erstmals eine fundierte Untersuchung der allgegenwärtigen Gewalt gegen Frauen ermöglicht wurde und das gesamte Frauenhausteam an der Forschung teilnahm, wurde der Vorwurf der Ausbeutung der hilfesuchenden Frauen zugunsten wissenschaftlicher Karrieren erhoben.5 Ich erinnere mich auch an die oft aggressive Atmosphäre der Auseinandersetzungen, sobald die Kooperation mit Institutionen und die Projektfinanzierung mit »Staatsknete« zur Diskussion stand. Annemarie Tröger bezeichnet die Sommeruniversitäten als kleine Schritte hin zu einer Vereinigung von Theorie und Praxis auf einem Weg, der zu echten feministischen Studien führt. Sie betont, dass den radikalen Forderungen konkrete Schritte folgen müssten, und fragt sich, wie die Aufgaben der Sommeruniversitäten angesichts der organisatorischen Probleme und fehlender materieller Ressourcen bewältigt werden können und ob Frauenstudienzentren nach dem Vorbild der USA eine sinnvolle Alternative wären.6 Die Errichtung eines eigenständigen Frauenforschungszentrums findet sich in einer Resolution der Arbeitsgemeinschaft »Frauen und Wissenschaft«, die während der ersten Berliner Frauenkonferenz der traditionellen Frauenverbände und der autonomen Frauengruppen 1977 verabschiedet wurde.7 Das Kuratorium der FU folgte 1978 der Aufforderung des Berliner Abgeordnetenhauses »Die Möglichkeiten zur Einrichtung eines wissenschaftlichen Forschungs- und Studienschwerpunkts über
4 Schöpp-Schilling: Frauenspezifische Lehrveranstaltungen 1977, S. 402 ff. 5 Mit der Vorlage des Abschlussberichts der AG »Sozialwissenschaftliche Frauenforschung« war die dreijährige Modellphase beendet. Das erste Frauenhaus wurde danach aus öffentlichen Mitteln finanziert. Hagemann-White / Kootz u. a.: Hilfen für misshandelte Frauen 1981. 6 Tröger: Weiterbildung 1978, S. 12 f. 7 1. Berliner Frauenkonferenz der traditionellen Frauenverbände 1978.
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Frauenfragen [zu prüfen]«, mit der Einstellung einer Planungsgruppe, die mit der Erarbeitung eines Konzepts beauftragt wurde.8 Die Mitarbeiterinnen der Planungsgruppe9 erstellten eine detaillierte Datenanalyse zur Situation der Studierenden und des weiblichen wissenschaftlichen Personals in den Fachbereichen und Zentralinstituten. Es wurden Daten von Abschlussarbeiten zu Frauenforschungsthemen und dem einschlägigen Lehrangebot erhoben, auch zur Diskrepanz zwischen der Zunahme der Frauenforschung außerhalb der Universität und ihrer fehlenden Verankerung und Förderung in der Universität. Aufgrund dieser Einsichten wurde die Zentralisierung der Frauenforschung an einem gesonderten Institut an der Universität abgelehnt und das Konzept für eine dezentrale Einrichtung in eine Beschlussvorlage für den Akademischen Senat (AS) der FU integriert.10 Mit der Zustimmung des AS zu dieser Vorlage bekannte sich 1980 erstmals eine bundesdeutsche Hochschule dazu, der Benachteiligung von Frauen im Wissenschaftsbetrieb entgegenzuwirken, die gleichmäßige Repräsentanz beider Geschlechter unter allen Beschäftigungsgruppen des wissenschaftlichen Personals anzustreben und die Entwicklung von Frauenstudien und Frauenforschung in die Ausstattungsplanung aufzunehmen.11 Den Fachbereichen / Zentralinstituten wurden konkrete Aufgaben zur Durchsetzung dieser Ziele gestellt. Darüber hinaus hielt der AS in Ergänzung zu diesen Aktivitäten eine unterstützende Dienstleistungseinrichtung für erforderlich, […] solange, bis der angestrebte Ausgleich erreicht ist und Frauenstudien zum selbstverständlichen, integralen Bestandteil von Lehre und Forschung geworden sind […].12 Nachdem die Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenstudien und Frauenforschung (ZE) 1981 ihre Arbeit aufgenommen hatte, übernahm sie u. a. die von Tröger genannten Funktionen der Sommeruniversitäten:13 Öffentlich zugängliche Vortragsreihen und Konferenzen boten in- und außerhalb der Universität tätigen Frauen die Möglichkeit, ihre Arbeitsergebnisse und Projekte vorzustellen und zu publizieren; die interdisziplinäre und hochschulübergreifende Vernetzung sowie die Kooperation mit autonomen Frauenforschungseinrichtungen bildeten wichtige Arbeitsschwerpunkte der ZE .14 Die Argumente gegen eine an der FU angesiedelte Einrichtung – sie werde von oben gesteuert, für staats- und parteipolitische Interessen verfügbar, sie 8 9 10 11
10 Jahre später … 1991. Kerstin Dörhöfer, Petra Hörig, Gisela Steppke, Elisabeth Böhmer. Dokumentation der internationalen Konferenz 1980. 1985 wurde in § 2, Abs. 2 des Hochschulrahmengesetzes die strukturelle Benachteiligung von Frauen im Hochschulwesen anerkannt. 12 6 Jahre danach 1986. 13 Tröger: Summer Universities 1978, S. 176. S. 124. 14 10 Jahre später … 1991, S. 16 ff.
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Abb. 2: Sommeruniversität, Berlin 1977
werde den autonomen Forschungsvorhaben und -initiativen Finanzmittel entziehen, die Spaltung zwischen »Karriere«- und »Objektfrauen« fördern und zu einer Schwächung der Frauenbewegung an den Hochschulen führen etc. – erwiesen sich zumindest im Hinblick auf die Handlungsspielräume der ZE als unhaltbar. Für die vom Asta-Lesbenreferat vorbereitete 6. Sommeruniversität 1982 übernahm die ZE die Trägerschaft.15 Die weiterhin ungesicherte Kontinuität für Lehre, Forschung und Finanzierung der Frauenstudien mobilisierte nicht nur vielfältige Aktivitäten von Studentinnen, Dozentinnen und nichtwissenschaftlichen Beschäftigten in den Fachbereichen, sondern auch die Solidarität einiger Professoren.16 Die Konflikte um die Ausschreibung und Berufung von Frauenforschungsprofessuren belegen, dass jedes Mittel, auch vermeintlich obsolet gewordene Vorurteile, genutzt wurde, um die weibliche Konkurrenz abzuwehren. Die ambivalenten Implikationen der Institutionalisierung sind jedoch unübersehbar. Ursprünglich waren die von der Frauenbewegung vertretenen Forschungsinteressen auf die inhaltliche Umgestaltung und Veränderung wissenschaftlicher Arbeit und deren Struktur ausgerichtet. Weil der AS -Beschluss die Förderung von Frauenstudien und 15 Die siebte und letzte Sommeruniversität fand 1983 an der TU Berlin statt. 16 Bock: Pionierarbeit 2015, S. 48 f. – Die Besetzung der ersten Professur für »Politische Wissenschaft unter besonderer Berücksichtigung von Frauenforschung« mit Carol Hagemann-White war dem von den Politologen Peter Grottian und Wolf-Dieter Narr entwickelten Teilzeit-Professurenmodell zu verdanken. Vgl.: 6 Jahre danach 1986, S. 29 ff.
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Abb. 3: Sommeruniversität, Berlin 1977
Abb. 4: Sommeruniversität, Berlin 1977, Pressekonferenz: v. l. n. r.: Barbara Duden, Ingrid Schmidt-Harzbach, Irmela von der Lühe, Annemarie Tröger, vorn daneben (Rückansicht) Christa Müller
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-forschung sowie die Erhöhung des Anteils von Wissenschaftlerinnen auf allen Statusebenen empfahl, war es möglich, dass die Besetzung von wissenschaftlichen Positionen mit Frauen gegenüber den angestrebten strukturellen Veränderungen Priorität gewann. Auch garantierte der Förderbeschluss keineswegs die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen im Wissenschaftsbetrieb. Das zeigte die mangelnde finanzielle Fundierung von Frauenstudien und deren von wissenschaftspolitischen Entscheidungen abhängige Kompensation durch zeitlich begrenzte Sonderprogramme für die Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen, einschlägige Lehrveranstaltungen und Forschungsvorhaben. Die Frage, die Annemarie Tröger mit dem Titel ihres Beitrags »Summer Universities for Women: The Beginning of Women’s Studies in Germany?« aufwirft, lässt sich – rückblickend auf die Ausgangssituation – positiv beantworten. Die Sommeruniversitäten haben wesentlich dazu beigetragen, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und über Berlin hinaus den Diskurs zwischen Frauenforschung und Frauenbewegung in den Hochschulen zu verankern. Dass die Sommeruniversitäten für Frauen eine so große Anziehungskraft ausübten, bestätigte das Bedürfnis, sich kritisch mit den durch die Wissenschaft gestützten und legitimierten Ursachen und Konsequenzen der eigenen gesellschaftlichen Benachteiligung auseinanderzusetzen. Die Öffnung der Hochschule für nicht akademisch ausgebildete Teilnehmerinnen und die antihierarchische Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden stand in der Tradition einer kritischen Universität, die dazu beitragen sollte, zu bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, d. h. auch zu geschlechtsbezogenen Machtverhältnissen, Alternativen zu entwickeln. Aus dieser Perspektive waren die Sommeruniversitäten wohl auch für Annemarie Tröger ein Experiment auf dem Weg zu einer zukünftigen, demokratisch verfassten Universität.
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»Ich komme da mit den feministischen Gedanken nicht mit …« Ein Versuch, Forschung feministisch zu betreiben (1981)1 Vor drei Jahren, auf dem Berliner Arbeitstreffen »Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus« kam es in der Arbeitsgruppe »mündliche Geschichte« zu einer Auseinandersetzung um die Frage, wie eine nicht-ausbeuterische (feministische) Forschung aussehen soll und ob ein emanzipatorisches Lernen mit den Interviewten gemeinsam, d. h. mit wesentlich älteren Frauen aus verschiedenen sozialen Schichten, möglich ist. Die Position der »radikalen Fraktion« damals lässt sich in dem Ausruf zusammenfassen: »Ich verstehe nicht, warum es nicht möglich sein sollte, sich mit den (interviewten) Frauen zusammenzusetzen und die Interviews gemeinsam auszuwerten. Und wenn das nicht möglich ist, müssen wir eben die Studie abbrechen!« (Sinngemäß) Zugespitzt formuliert: Ist nicht jede Auswertung und Interpretation, die über die Köpfe unserer Befragten hinausgeht, also ihr Interesse und ihr Verständnis nicht mehr berührt, eine Degradierung der Interviewten zum Objekt? Das heißt zu Ende gedacht: Ist dann nur Forschung über solche Frauen möglich, die der Forscherin an Ausbildung und sozialem Hintergrund gleich, auf jeden Fall nicht »unterlegen« sind?2 Ich selbst habe damals zu einer »mittleren Fraktion« gehört. Ich glaube – auch heute noch –, dass es ein »Recht« für die feministische Forscherin gibt, an Fragestellungen zu arbeiten, die den Befragten gleichgültig sind oder von ihnen sogar abgelehnt werden (falls sie sich dann noch interviewen lassen), und Interpretationen und Ergebnisse zu formulieren, die am Verständnis der Befragten vorbeigehen oder ihrem Selbstverständnis widersprechen. (Ausschließen würde ich eine bestimmte Art psychologisierender Interpretation, die sich anheischig macht, die Persönlichkeits- oder Triebstruktur der Befragten zu analysieren.) In den meisten Fällen werden wir leider nicht mehr tun können, als die »Autorenrechte« der Befragten peinlich genau zu beachten3 und unsere Ergebnisse mit ihnen zu diskutieren. 1 Ergänzungen zum besseren Verständnis des gesprochenen Textes stehen in einfachen Klammern und stammen von der Autorin. Auslassungen im Interviewtext sind mit drei Punkten markiert 2 Diese Frage wurde auch dieses Mal wieder diskutiert, aber von vielen abgelehnt, da es bedeuten würde, dass nur die Geschichte der Frauen, die sowieso am ehesten in der Geschichtsschreibung auftauchen, geschrieben wird. 3 Dazu gehört die Erklärung unserer Forschungsziele, ihrer evtl. Veränderungen, der »Forschungsstrategie« und der einzelnen Arbeitsschritte. Eine Kopie der Abschrift, das
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Mir liegt nicht daran, die Auseinandersetzung um und die Versuche von emanzipatorischer Forschung abzubrechen, um damit zur Tagesordnung des normalen Wissenschaftsbetriebs überzugehen. Im Gegenteil, ich habe diese Frage innerhalb der Frauenforschung und vor allem außerhalb immer wieder zur Diskussion gestellt und werde es auch weiterhin tun. Gerade deshalb finde ich es wichtig, realistisch, d. h. selbstkritisch, die Hindernisse und Schranken, die die Klassengesellschaft auch uns Frauen setzt, genau anzugeben und einzukalkulieren und die – meist kleinen – Schritte der praktischen Überwindung aufzuzeigen. Wie ich weiß, ist eine solch uneuphorische Position in der Frauenbewegung nicht sehr beliebt. Viel lieber spürt frau den heißen Atem großer Deklarationen und »revolutionärer« Entwürfe, deren Durchführbarkeit nachzuprüfen aber meist in der Mode des nächsten heißen Entwurfs vergessen wird. Und die »mündliche Geschichte« oder »autobiographische Methode« (was für mich dasselbe ist) steht in der Gefahr, eine Mode zu werden, mit ungeheuren Erwartungen überfrachtet (radikale Subjektivität, Geschichte aus der Sicht der Betroffenen, Auflösung der Expertinnenrolle, völlig neue »Durchblicke« etc.), die, wenn sie sich nicht erfüllen, zur ebenso schnellen und heftigen Verdammung Umschlägen.
Versuch einer gemeinsamen Interpretation Im Folgenden möchte ich an einem Beispiel zeigen, dass eine gemeinsame Auswertung und Interpretation möglich ist, aber eine grundsätzlich unterschiedliche Einstellung der Befragten und der Interviewerin zum Material besteht, die es schwer macht, eine gleichgewichtige Situation herzustellen, selbst wenn, wie in diesem Falle, die »Bildungsschranken« keine große Rolle spielen. Im vorliegenden Falle gibt es eine Reihe von Faktoren, die die interpretative Zusammenarbeit begünstigten: Hilde R., 78, ist eine Intellektuelle und zwar eine nicht-akademische, die zu allen Zeiten zu den interessantesten Intellektuellen gehört haben. Sie gehört der neuen Frauenbewegung an und nimmt, soweit es ihre Gesundheit erlaubt, an deren Aktivitäten teil. Ihr sind also die Theorien, Konzepte und Denkweisen der Frauenbewegung vertraut. Schließlich: Hilde R. und ich wurden zwar nicht in dieselbe soziale Schicht (und auch nicht unter demselben Sternzeichen!) geboren, es gibt aber eine gewisse – zeitlich verschobene – Parallelität in den Lebensverläufen: Ihr Vater starb zu Anfang des Ersten, meiner infolge des Zweiten Weltkriegs, wir beide wuchsen also als Recht auf Veränderung oder Zurücknahme von Äußerungen, strikte Anonymität, falls gewünscht, die Genehmigung aller wörtlichen Zitate. Last not least gehört dazu, dass wir unsere Forschungsintentionen beständig selbstkritisch hinterfragen: Wem dienen sie, wozu könnten sie evtl. missbraucht werden; Fragen, die für Historiker / innen relativ neu zu sein scheinen, die aber, je mehr sie sich eigentlich sozialwissenschaftlichen Methoden nähern, um so dringlicher werden. Und keine noch so demokratische Vorgehensweise kann uns diese Fragen abnehmen.
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Abb. 5: Die Familie
Töchter alleinstehender Mütter auf. Wir schlossen uns, jeweils in unseren frühen Zwanzigern, einer linken Bewegung an: sie der KPD der Weimarer Republik und ich dem SDS und der Studentenbewegung (von der Hilde übrigens so gut wie nichts hält). Und schließlich: Wir sind beide in der Frauenbewegung. Das folgende sind kurze Ausschnitte aus einem Interview, das ein Jahr dauerte, mit regelmäßigen wöchentlichen Sitzungen von drei bis fünf Stunden, davon wurden ca. 50 Stunden aufgenommen und 700 Seiten abgeschrieben.4
4 Dieses Interview mag unsinnig lang erscheinen. Jedoch kommen erst jetzt, nachdem Hilde sich in ihr Leben »eingearbeitet« hat, die interessantesten und bedeutungsvollsten Erinnerungen »zutage«, die ich leider nicht immer aufnehmen kann. Es ist, als sei erst einmal eine Schicht weggeschaufelt, und die darunterliegenden, psychischen, sozialen und historischen Verknüpfungen und Bedeutungen würden erst jetzt für die Erzählende sichtbar: nicht als theoretische Analysen, sondern als (plötzlich) bedeutungsvolle Nebenereignisse, als Erinnerung an frühere Empfindungen und Gefühle. Insgesamt halte ich aus methodischen Gründen nicht viel von den üblichen zwei- bis vierstündigen Interviews, der Aussagewert bleibt meist relativ begrenzt. Das aber ist ein neues Thema, das ich hier aus offensichtlichen Gründen nicht behandeln kann.
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Ich erwähne all das, um keine Illusionen zu wecken: Im »Normalfall« wird die Zusammenarbeit bei der Auswertung schwieriger sein. Das Vorgehen ist relativ einfach: A. Interviewausschnitte (In diesem Falle wurden die Ausschnitte von mir zusammengestellt, in anderen Fällen von Hilde. Sie stammen aus verschiedenen Teilen des Interviews.) B. Hildes Interpretation der Ausschnitte, d. h. Interpretation ihrer eigenen Erzählung C. Meine Interpretation der Erzählung (B. und C. wurden unabhängig voneinander angefertigt.) D. Hildes Kommentar zu meiner Interpretation E. Fragen an Hilde bezüglich der Vorgehensweise
A. Interviewausschnitte Die Ausschnitte betreffen das Verhältnis von Ehepartnern vor dem Ersten Weltkrieg, wie es sich in der Erinnerung der Tochter widerspiegelt. Die Szene: eine Familie der Mittelschicht, er ist Postbeamter im Mittleren Dienst, sie ist Hausfrau. Das Ehepaar hat nur eine Tochter (Hilde R.), kurz nach der Jahrhundertwende geboren. Ein Dienstmädchen (Anna) lebt im Haushalt. Das 2 /-ZimmerAppartement befindet sich im dritten Stock eines Mietshauses in einer ostdeutschen Großstadt (nicht Berlin). Die Szenen spielen zwischen 1910 und 1913. Erzählerin ist die Tochter, die im Verlaufe des gesamten Interviews immer wieder betont, ihre Mutter gehasst und ihren Vater geliebt und verehrt zu haben; diese Haltung gegenüber dem Vater konnte das ganze Leben durchgehalten werden, weil er im Ersten Weltkrieg starb. – Kannst du dich erinnern, wie sich Mittag- und Abendessen in deiner Kindheit abspielten? Das kann ich. Die Küche lag mit einer Wand am Treppenflur und daneben war die Wohnungstür, und wenn mein Vater kam, dann hat er mit seinem Stock an die Küchenwand geklopft: Dann musste … in dem Moment mussten die Kartoffeln abgegossen werden, also eine (der drei Frauen) goss die Kartoffeln ab, eine machte ihm (die Tür) auf, dann ging er rein und wusch sich vermutlich die Hände, eine brachte ihm die Hausjacke, dann wurde aufgetragen, auf die Sekunde wurde das Essen aufgetragen; Anna aß in der Küche … ich aß mit Anna lieber in der Küche als am Tisch. Und dann ging es durch das Schlafzimmer – da stand das Bett der Eltern und mein Kinderbett an der Wand – also durch das Schlafzimmer kam man zum Wohnzimmer … ich habe den Raum gar nicht mehr in Erinnerung, denn ich bin da kaum jemals gewesen, ich weiß auch nicht, wo ich als Kind da gesessen habe. Also das war dann der Wohnraum mit einem großen Tisch, und da wurde dann Mittag zelebriert. Und dann legte sich mein 140
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Vater hin für eine Viertelstunde, da wurde genau nach der Uhr gesehen, … hat sie (die Mutter) ihn wohl geweckt, und dann machte er, dass er wieder davonkam. Abends kam er um acht Uhr wieder, und da war ich schon im Bett. – Da hast du ihn gar nicht gesehen? Naja, vielleicht hat er mir Gute Nacht gesagt, aber nicht unbedingt, dann ging er nach hinten (in den Wohnraum) und dann wurde Abendbrot gegessen – zelebriert. Übrigens, meine Mutter hatte eine Ausbildung an einem Offizierskasino, eine vollständige Ausbildung im Kochen, also die kochte sagenhaft, so was Schönes habe ich nie wieder (gegessen), wie ein Essen von meiner Mutter, wirklich wahr. Das war was für meinen Vater! Also der schwitzte beim Essen, so schön war das! (Lachen) Darum bin ich auch so dick und esse gern.
Haushalt Na, meine Mutter, die war doch eine feine Frau! Die ging einkaufen und die schmeckte das Essen ab. Aber sie würde niemals auf die Idee gekommen sein, Kartoffeln zu schälen, niemals. … Meine Mutter hat sämtliche Dienstmädchen rausgeschmissen. Da hat sie zum großen Teil auch Recht gehabt … Die eine hat mich gezwickt, und da fragte mein Vater, was ich hätte, und da habe ich gesagt: »Nun ja, das hat das Mädchen gemacht.« Schluss, aus. Ein andermal kommt mein Vater vom Dienst und sagt: »Was machst du denn hier in der Schlafstube?« Da sage ich: »Ich warte, bis es zwölf Uhr ist, ja, das Mädchen hat gesagt, wenn eine Frau in den Spiegel guckt, und die Uhr schlägt, dann erscheint der Teufel im Spiegel.« Und den wollte ich sehen. Die wollte mir Angst machen, nicht wahr, aber bei mir reagiert es ja immer entgegengesetzt … Und mein Vater, der ist geplatzt, der hasste die Juden, Katholiken, und ich weiß nicht, was noch alles … Freimaurer. Und er ist also einfach geplatzt, und das Mädel wurde entlassen. Und da ging er wieder zu dieser Vermittlerin und sagte: »Also wissen Sie, es ist furchtbar, und ich krieg – meine Frau kriegt jedes Mal Ärger mit den Mädchen.« Sagt sie: »Ja, ich kann Ihnen ein Mädchen besorgen, ein ganz feines Mädchen, aber die muss erst ablegen – die ist also von ihrem Chef geschwängert worden –, dann können Sie das Mädchen haben, das Mädchen ist erstklassig, das kann ich nur empfehlen.« Na schön, da mussten wir warten, meine Mutter musste zu Hause alles (selbst) machen, ich weiß nicht, wie lange – drei, vier Wochen, und dann war es so weit. Anna wurde (von Vater) eröffnet: »Passen Sie mal auf, ich habe hier zu sagen, und wenn meine Frau Ihnen etwas sagt, was nicht richtig ist, dann kommen Sie zu mir. Ich möchte, dass Sie hierbleiben, dass Sie für meine Hilde sorgen, da liegt mir sehr viel dran. Und wenn Sie mit Hilde gut umgehen können, dann bin ich zufrieden. Und wenn zu Hause Ärger ist, bitte kommen Sie zu mir.« Und meiner Mutter wurde gesagt: »Das ist das letzte Mädchen, das ich 141
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einstelle, in Zukunft musst du deinen Kram alleine machen.« Und so behielten wir Anna. Und Anna hatte mehr Rechte als jede andere, und ohne Anna, also ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. … Mein Vater wusste alles. Mein Vater konnte alles. Mein Vater war also derjenige, der Recht sprach in der Familie, er war die oberste Instanz. … (Die Mutter brachte 1907 ein zweites Kind zur Welt, das kurze Zeit darauf starb.) Ja, danach, da war (es) aus, da hatte er nichts mehr besehen können. Da hat sie gesagt, sie macht das nicht noch mal durch, und dann nachher, dann wird nichts draus – und überhaupt, sie hätte ja nun ein Kind, und das würde ja nun wohl genügen. Und zu anderen Zwecken war sie nicht (da). – Woher weißt du das? Durch unsere Anna … ja, also Einzelheiten hat sie natürlich nie erzählt. Aber dann sagte sie mal wieder: »Ich verstehe die Mutti nicht, ich meine, er ist so ein netter Mann …« und so – solch unzusammenhängende Sachen. Kein sexuelles Wort ist bei uns zu Hause jemals gesprochen worden, von Vater nicht, von Mutter nicht, von Anna nicht. … Wenn Weihnachten war, und der Baum geputzt und alles wunderschön, da dauerte es nicht lange, dann fingen mein Vater und meine Mutter an, sich zu zanken. Na, der wollte auch was haben zu Weihnachten, und das war doch nicht drin! – Du sagtest, dass dein Vater Zeichenstunden bei einer Malerin nahm? Das werde ich nie vergessen, das fing so an: Da ist ein Naturkundemuseum, und mein Vater war hundertprozentig begeistert für solche Sachen. Und scheinbar auch etwas listig (sagt er): »Also heute, Sonntagvormittag, gehen wir mal ins Naturkundemuseum.« Na schön, wir gingen ins Naturkundemuseum, und am Ende des Museums ist da eine große Gestalt – ein Skelett, also wirklich sehr sauber ausgeführt, wohl nachgemacht. Und meine Mutter sieht das … und »Komm, komm, komm …« und raus aus dem Museum und ach, (sie war) überhaupt voller Grauen. Und mein Vater hat sich erregt, ach, war der wütend. Ich werde nachher sagen, warum. Naja, dann gingen wir da lang, und da sagt mein Vater: »Ach komm, wir wollen mal die Frau R. besuchen, dass du sie mal kennenlernst – bei ihr lerne ich doch Zeichnen, und die wollte sowieso die Hilde gerne sehen.« Na schön, wir sind alle beide rauf, auch so eine Mietskaserne … und meine Mutter ganz Hass und ganz Wut. – Woher weißt du das? Naja, also ich weiß es aus dem Zank, der sich daraus ergeben hat. Ich weiß noch, dass die (Malerin) von mir auch ganz begeistert war. Mein Vater hatte natürlich schon wieder alles Mögliche erzählt gehabt. Ja, und dann haben die beiden – mein Vater und meine Mutter – ganz fürchterlich gezankt nachher, als sie wieder runterkamen. Als sie (die Mutter) die Frau gesehen hat, sie war eine 142
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sehr attraktive Frau, dazu eine Künstlerin, die wirklich etwas konnte. Und was war meine Mutter dagegen? Die kam sich klein und hässlich vor, obwohl sie so einen Hut mit so einer Feder drauf hatte … (lacht) … also jedenfalls diese Frau hatte bestimmt gar kein Geld für so eine Straußenfeder. Naja, und dann war häuslicher Krieg, und dann hat meine Mutter verlangt, dass er sie (die Malerin) nicht mehr sieht. Aber das ging wohl nicht, und da hat er einen Antrag gestellt, dass er versetzt wird. (Die Erzählerin ist zu diesem Zeitpunkt etwa acht bis neun Jahre.) – Hat sich denn dein Vater so ohne Weiteres da hinein gefügt? Der hat sich in alles gefügt, was zu fügen war. Was sollte er machen? Er wäre als geschiedener Mann – noch dazu schuldig geschiedener Mann – niemals auf das Reichspostministerium gekommen (sein Karriereziel, wofür er noch spät den Doktor macht), und als schuldig geschiedener Mann … meine Mutter hätte mich bekommen, und das, nein, hätte er nie zugelassen. Also ich habe selten einen Menschen … ich glaube niemals geliebt wie meinen Vater. Also das ging damals alles nicht – genau wie (es) bei der Post nachher hieß, dass Frauen, die heiraten, rausgeschmissen werden … die Post ist doch moralisch bis sonst wohin gewesen in allen Sachen. – Hat sich das Verhältnis dadurch, dass ihr umgezogen seid, zwischen deinem Vater und deiner Mutter irgendwie verändert? Nein, er war weniger zu Hause, er hat doch nur sein Postamt (gemacht). […] Auf jeden Fall, sie wollte von meinem Vater körperlich nichts wissen. Also, mein Vater hat sich Bücher besorgt, über hysterische Frauen. Ich habe sie leider weggeschmissen. So tolle Abhandlungen für den kleinen Mann, der sowieso nichts begreift, so ungefähr, also ein tolles Zeug, das war nicht zu verwenden. Dann hat er ein kleines Sofa gekauft, so ein Ecksofa, sodass man ganz dicht beieinander sitzen musste, weil nicht mehr Platz war. Dann hat er sich eine Klampfe gekauft, dann hat er Lieder vorgesungen: nichts zu machen, … dann hat sie angefangen zu heulen und ist ins Schlafzimmer gesaust und hat abgeschlossen. Dann kam Anna aus ihrem Zimmer, das lag daneben, so ein ganz kleiner Raum: »Ach, ich verstehe auch die Mutti nicht, das ist so ein netter Mann.« Das ist alles, was ich darüber weiß, aber ich weiß, dass sie weggerannt ist, das habe ich selbst gesehen. – Hast du dir das selbst erklären können? Kaum … ich habe meine Mutter gehasst, die ganze Jugend durch. – Du sagtest, dass deine Großmutter (die Mutter der Mutter) deinem Vater das Studium finanziert hat, um seinen Doktor zu machen? … Ja, und außerdem hat meine Mutter Nadelgeld gehabt, ich nehme an, 300 Mark im Monat … Dafür sind sie dann gereist und so etwas. Mein Vater hat das erstklassig verwaltet. – Das ist aber schon einiges, wenn deine Großmutter ihm erst einmal das Studium bezahlt hat und dann noch 300 Mark Nadelgeld, das ist ja fast mehr als das Gehalt deines Vaters? (Tatsächlich war es ca. 1 /3 mehr als der Verdienst des Mannes.) 143
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Ja. Ja, die hat sich ja verliebt in meinen Vater, die Großmutter. Den mochten sie alle gern. Mein Vater hat sich z. B. nichts daraus gemacht, für meine Mutter in die Markthalle zu gehen und einzukaufen … der hatte einen großen flachen Korb, und den hat er zur Markthalle hingebracht, weil die auf seinem Wege zum Dienst lag, und bei einer bestimmten Marktfrau bestellte er die Eier. Wenn er vom Dienst zurückkam, holte er sie ab, die (Marktfrau) war so begeistert, dass mein Vater bei ihr die Eier gekauft hat, die hätte sie ihm beinahe noch nachgeschmissen. – So etwas gab es nicht, welcher Beamte würde Eier in einem Korb kaufen? Meinem Vater hat das nichts ausgemacht.
B. Hildes Interpretation der Ausschnitte »Diese Haltung hat das ganze Leben durchgehalten, weil der Vater im Ersten Weltkrieg fiel.« Das habe ich mich oft gefragt, ob, wenn ich älter wurde, sich nicht Reibungspunkte ergeben hätten. Ich weiß es nicht. Mein Vater hat mich in A. wegen meiner Vier in Französisch und konstanter Faulheit übers Knie gelegt. Ich sagte kein Wort, sondern starrte ihn nur fassungslos an. Darauf verließ er schnell den Raum, mit Tränen in den Augen. Er hat nie versucht, mich noch einmal zu verhauen. Ich glaube, er wäre mir gegenüber hilflos gewesen. Vor allem, weil er ja wusste, dass ich etwa 1911 bis 1913 Stimmbruch hatte. (Von einer Gesangspädagogin und Sängerin festgestellt – und mit Singverbot in der Schule. H. R.) Dass ich meine Mutter hasste, hat zwei Gründe: einmal, weil sie mir alles verbot, sodass Anna intervenieren musste. Und zweitens, weil sie mich für schuldig hielt am Tode meines Schwesterchens. (H. war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt.) So hasste sie mich – und ich tat es ihr gleich. Ihr Verhalten während meiner Kleinkindzeit war nicht mütterlich-schmusig, sondern sie tat alles, was nötig war und mehr, aber fern zu mir. Es konnte sich wohl keine Bindung ergeben. Als Vorbild für Gerechtigkeit, Anstand, Treue war mein Vater lebenslang für mich in den verschiedenen Phasen meines Lebens wichtig, und ich tue mir auf meinen »anständigen« Charakter auch etwas zugute. Aber seine deutschnationale Politik, sein Hass auf alle nicht angepassten Deutschen musste ich überwinden, als ich in Berlin Kinderhortnerin lernte. Zum Text: Habe ich so kindlich gesprochen? Es kommt mir so billig vor! (Mittagsritual:) Du sagst drei Frauen, ich war aber Kind! Anna hat nie gesagt »netter Mann«. Dazu war sie viel zu schlesisch-unterwürfig. So etwas kommt vom Auf-Band-Sprechen, da muss ich schnell einen Satz zusammenkriegen, und dann phantasiere ich. Anna dürfte gesagt haben: »Ich verstehe die Mutti nicht, der Herr ist doch so gut zu uns.« Auf jeden Fall »gut« und nicht »nett«. (Zu den beständigen Fragen der Interviewerin: Woher weißt du das?) Möglicherweise hat Anna mit mir gesprochen, wenn ich zu Besuch nach 1920 nach W. gekommen bin (als der Vater bereits tot war). Ich weiß nur, sie »petzte«, dass 144
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meine Mutter den ganzen Sekt mit ihrem Untermieter ausgetrunken hätte (50 Flaschen im Keller), und war der Meinung, das müsste mich ärgern. Als ich ihr antwortete, dass sie ja mit ihren Sachen machen könne, was sie wolle, war Anna sprachlos. Sie glaubte, Mutti müsse mir den Sekt vererben. Im Naturkundemuseum war mein Vater wütend, weil er mir das Skelett so begreiflich machen wollte, dass mich kein Grauen erfasst. Und meine Mutter reagierte zu schnell, das Grauen hatte ich noch Jahre. Wieso »Postamt« gemacht? Das ist ein Riesenbau gewesen in A., und er war der Chef, weil der (eigentliche) Direktor krank war. Da war er sehr beschäftigt und stolz – und wir auch.
C. Meine Interpretation In diesen Ausschnitten interessiert mich vor allen Dingen: 1. Die Beziehung zwischen den Ehepartnern (und nicht die Beziehung beider Elternteile zur Tochter, die eine sehr viel längere Ausschnittsammlung erforderlich gemacht hätte). 2. Ich versuche dabei, soziale Tendenzen in der bürgerlichen Ehe vor dem Ersten Weltkrieg aufzuzeigen, und vermeide bewusst eine psychologische Interpretation.5 Es geht mir um die Verteilung von Macht zwischen den Ehepartnern und von Entscheidungsbefugnissen (und ihrer Veränderung) in einem Haushalt der sogenannten neuen oder abhängigen Mittelschicht. 3. Methodisch wird dabei der vorliegende Einzelfall nicht eigentlich »verallgemeinert« (d. h. deduktiv oder induktiv benutzt). Vielmehr wird er »in Beziehung gesetzt« zu sozialhistorischen Tendenzen und Phänomenen. Dabei handelt es sich in der ersten Interpretation um nachgewiesene und in der zweiten um weniger abgesicherte historische Erscheinungen. Die wissenschaftliche Funktion der lebensgeschichtlichen Erzählung ist deshalb eine jeweils andere: In der ersten Interpretation werden (neue) Verknüpfungen zwischen bekannten Phänomenen hergestellt, in der zweiten wird eine Hypothese zur Erscheinungsform und Funktionsweise eines Phänomens aufgestellt. Die Schilderung geschieht im Wesentlichen in zwei Stilarten in der Darstellung von besonderen Situationen und konflikthaften Ereignissen und von tagtäglichen Ritualen, die meist auf Nachfragen der Interviewerin erzählt werden. 5 In der Bielefelder Diskussion meinten Carola Lipp und Karen Ellwanger, Tübingen, dass die folgende letztendlich doch eine psychologische Interpretation sei, bei der ich nur versäumt hätte, meine eigene psychische Kondition »einzubringen«. Ich bin nicht der Meinung, überlasse aber das Urteil darüber der geneigten Leserin.
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Nicht-konflikthafte Situationen oder Ereignisse werden hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den Eltern im eigentlichen Interview nicht erzählt, nur später erwähnt Hilde, dass die Mutter dem Vater bei seinen Vorbereitungen für das Rigorosum zu helfen pflegte. 1. Das Verhalten des Vaters und das Verhältnis zwischen den Eheleuten ist voller Inkonsistenzen: Das Ritual der Mahlzeiten widerspricht in seiner sozialen Bedeutung dem Ritual des Eierkaufs. Vor allem steht das (erste) Ritual im Gegensatz zur ökonomischen Abhängigkeit der Familie von der Mitgift der Frau und zur Macht- und Hilflosigkeit des Mannes gegenüber ihrer sexuellen Verweigerung. Dieser – für eine Kleinfamilie etwas pompöse – Ritus, in dem der Mann die weiblichen Mitglieder des Haushalts zweimal am Tage um sich herumspringen und sich »zelebrieren« lässt, die strenge hierarchische Verteilung des Raumes in einer 2 /-Zimmer-Wohnung, all das sollte wohl ein Stück des patriarchalen Mythos seiner schwindenden Realität aufrechterhalten. Und zumindest bei dem Kinde verfehlte der Ritus seine Wirkung nicht: »Mein Vater wusste alles. Mein Vater konnte alles. Mein Vater war also derjenige, der Recht sprach in der Familie, er war die oberste Instanz.« Auf der anderen Seite enden seine Versuche, die sexuelle Verweigerung der Ehefrau zu durchbrechen, eher als komische Demonstration von Hilflosigkeit. Zwei Säulen der bürgerlichen Ehe sind morsch: die wirtschaftliche Abhängigkeit und die sexuelle Verfügbarkeit der Frau. Nur in einer Hinsicht »stimmt« die Ehe noch: Sie ist eine ausgezeichnete Köchin, und er isst gern. Die Ritualisierung der Mahlzeiten mag auch dem Bedürfnis beider entsprochen haben, wenigstens in einem Punkt eine »ordentliche« Ehe zu führen. Die gesuchte Zweisamkeit bei den Mahlzeiten, die selbst das einzige Kind ausschließt, weist auf eine solche Ersatzfunktion hin. Nun handelt es sich hier keinesfalls um den Extremfall eines besonders neurotischen Ehepaars. Sexuelle Verweigerung (»Hysterie«) von Frauen scheint gerade vor dem Ersten Weltkrieg eine verbreitete Erscheinung gewesen zu sein, wenn man der medizinischen und belletristischen Literatur der damaligen Zeit Glauben schenkt. Schließlich verdankt Freud selbst seine Karriere zu einem guten Teil diesem drängenden sozialen Problem. Es wurde vor allem dann zum sozialen Problem, wenn, wie in diesem Falle, die Frau der gesetzlich verankerten »ehelichen Pflicht« eine (potenzielle) ökonomische Unabhängigkeit und gleichzeitig die bürgerliche Moral entgegensetzen konnte. In dem von der Frau erzwungenen Ortswechsel und der Trennung des Mannes von seiner Mätresse demonstrierte sie eine gewisse Macht. Ihr wesentlichstes Druckmittel war paradoxerweise der bürgerliche Moralkodex, der eigentlich dazu da war, ihre sexuelle Dienstleistung zu garantieren. War es im traditionellen, selbstständigen Kleinbürgertum für den Mann nicht unbedingt geschäftsschädigend, wenn er dem häuslichen sexuellen Notstand durch außereheliche Beziehungen abhalf, so wurde die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Moral für die Männer der abhängigen Mittelschicht, besonders im deutschen Beamtentum, eine zweischneidige Geschichte. Für sie bedeutete die Verletzung des Kodex eine Behinderung, wenn nicht sogar ein Ende ihrer 146
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riere.6 Das heißt auf der anderen Seite, dass den Frauen dieser Schicht ein ziemliches Druckmittel zuwuchs, das sie durchaus benutzten. Das soziale Problem (Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts) war also weniger eine plötzliche, massenhafte sexuelle »Unlust« von Frauen, die schon vorher ebenso verbreitet gewesen sein mag, sondern der Widerspruch, zu dem sich die bürgerliche Moral entwickelt hatte, und der u. a. durch das absolute und relative Anwachsen jener Schicht zum »gesellschaftlichen Problem« wurde.7 (Auf die Bedeutung der Sexualreform ist in diesem Zusammenhang von anderen hingewiesen worden. Eine weitere Frage ist der häufig festgestellte und bewitzelte »Moralismus« unter deutschen bürgerlichen Frauen jener Zeit, der auch die bürgerliche Frauenbewegung weitgehend prägte. Warum sollten sie den Moralkodex gerade in dem Moment aufgeben, wo er zum ersten Male auch ein Machtmittel für sie wurde?) 2. Noch interessanter für die Entwicklung der Familie in der »neuen Mittelschicht« erscheinen mir die Passagen, die die Entscheidungsbefugnisse im Haushalt und die ökonomische Beziehung zwischen den Ehepartnern berühren: Einerseits liefert ihr Nadelgeld einen entscheidenden Beitrag zum Lebensstandard der Familie. Auf der anderen Seite behielt er das gesamte Familienbudget, einschließlich ihres Geldes, unter strenger Kontrolle. Aus dem vom Ehemann äußerst genau geführten Haushaltsbuch geht hervor, dass die Frau von ihren 300 Mark monatlich drei Mark zur Verfügung hatte, die Tochter eine Mark. Noch deutlicher wird die systematische Entmündigung der Frau in ihrem traditionellen Bereich, in der Frage der Entlassung und Neueinstellung von Dienstboten, vor allem in den Anweisungen des Hausherrn an das Dienstmädchen, sich in allen wichtigen Dingen und bei Streitigkeiten mit der Hausfrau an ihn zu wenden. (Eine Ungeheuerlichkeit, die z. B. bei meinen Großmüttern an den Rand der Scheidung geführt hätte.) Obwohl ich hier – im Gegensatz zur sexuellen Verweigerung – keine so massive Evidenz aus der Literatur habe und auf die Gefahr hin, das vorliegende Beispiel zu überziehen, möchte ich folgende Hypothese daran anschließen. Im traditionellen Kleinbürgertum, bei den Bauern und Arbeitern jener Zeit, blieb den Frauen mindestens ein Bereich, den sie eigenständig verwalten konnten, indem sie »das Sagen« hatten: der Haushalt und die Kindererziehung. Natürlich schrumpfte auch hier ihr Einflussbereich, aber mehr durch ökonomische Ver6 Ich habe Hilde gefragt, warum wohl ihr Vater diesen seltsamen Familienbesuch bei seiner Freundin veranstaltet habe. Sie zuckte mit den Schultern. Ob er vielleicht ihre Mutter habe eifersüchtig machen wollen? Nein, so Hilde, das sei nicht seine Art gewesen. Dann bliebe also nur noch die Erklärung, dass er nach außen hin sein Verhältnis habe »legalisieren« wollen. Das schon eher, meinte Hilde. 7 Ich bin von Ilse Brehmer, Bielefeld, zu Recht darauf hingewiesen worden, dass wohl weniger die »sexuelle Unlust« an sich als vielmehr die Angst vor Schwangerschaften der Hauptgrund der sexuellen Verweigerung gewesen sei – wie es auch im Text steht. Die wöchentliche »eheliche Pflicht«, eine meist sehr knappe Angelegenheit, sei für die Frauen erträglicher gewesen (»Augen zu und über sich ergehen lassen«) als die permanenten ehelichen Querelen, wenn die Verweigerung nicht das einzige ihnen bekannte Verhütungsmittel gewesen wäre.
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änderungen als durch den direkten Zugriff des Mannes. Natürlich gab es auch hier »Haustyrannen«, aber eher als Ausnahme, deren Machtüberschreitung zum Teil erbittert bekämpft wurde. Ich glaube jedoch, dass unter den Männern der neuen Mittelschicht eher eine allgemeine Tendenz bestand, die Verfügungsgewalt – nicht die Arbeit – im letzten Stück des autonomen Bereichs der Frau an sich zu ziehen. Das hat auch eine gewisse Plausibilität: Die Männer dieser Schicht brachten nach der Arbeit noch genügend Energien mit nach Hause – im Gegensatz zu Arbeitern –, um sich in die Haushaltsangelegenheiten einzumischen. Und die Majorität unter ihnen hatte im Beruf keinen autonomen Bereich des Handelns – im Gegensatz zu traditionellen, selbstständigen Kleinbürgern. (Diese »Plausibilität« trägt auch in diesem Falle: Nach der Versetzung erhielt der Mann einen sehr viel selbstständigeren und verantwortungsvolleren Posten. Gleichzeitig zog er sich, nach der Erzählerin, fast vollständig aus der Familie und dem Haushalt zurück.) Ihre Einmischung in den Haushalt, selbst wenn sie eine geringfügige Verschiebung in der Arbeitsteilung mit sich brachte, geschah aber mit dem Ziel der Sicherung einer Herrschaftssphäre und nicht mit dem Ziel einer Demokratisierung der Ehe. Unter diesem Gesichtspunkt ist vielleicht das Ritual des Eierkaufs in unserem Beispiel zu erklären: Da der Mann sonst keine weiteren Hausarbeiten und keine anderen Einkäufe machte, war diese Handlung eher eine symbolhafte Demonstration nach außen. Die Hausfrauen dieser Schicht scheinen eher mit einem ambivalenten Verhalten darauf reagiert zu haben (selbst wenn man die offensichtliche Unterwerfung der Frau in unserem Falle aus methodischen Gründen außer Acht lässt). Das »Sichkümmern« des Mannes bedeutete einerseits eine gewisse Anerkennung ihrer Arbeit. Es bedeutet auch die Herstellung von einer Art Intimität mit dem Mann, mit dem man sonst nichts mehr gemeinsam hatte, und die um so wichtiger wurde, je oberflächlicher und geringer die sozialen Beziehungen außerhalb der Kleinfamilie wurden. Außerdem versprach es eine gewisse Demokratisierung des Familienlebens, die allerdings nie eingelöst wurde, weil der Teilung der Verfügungsgewalt niemals die Teilung der Hausarbeit folgte. Ein zu heftiges Insistieren auf eine tatsächliche Arbeitsteilung hätte aber die »Unterhaltsberechtigung« der Frau bedroht, konnte sie ihm doch nicht eine Berufstätigkeit oder ein gleich großes Gehalt entgegensetzen. Die Einmischung des Ehemannes bedrohte also nicht nur den letzten Rest von Autonomie im eigenen Bereich, sondern indirekt auch die Existenzberechtigung der Hausfrau. Es gab bekanntlich eine Tendenz im »gemäßigten« Teil der alten Frauenbewegung, zu einer Art Arbeitsteilung mit ihren wilhelminischen Männern zu kommen, die sie selbst für die beruflichen, politischen und moralischen Bereiche vorschlugen. Diese Tendenz, selbst die Grenzen für eine »weibliche Welt« zu ziehen, die sie letztlich eher einsperrten als absicherten, muss vor dem Hintergrund existenzieller Verunsicherung gesehen werden. Wie tiefgreifend solche Ängste sind, zeigen Studien aus der jüngsten Zeit: Selbst berufstätige Frauen – Arbeiterinnen und Angestellte – setzen die Arbeitsteilung im Haushalt nur halbherzig durch und nehmen lieber eine enorme Doppelbelastung auf sich. 148
D. Hildes Kommentar zu meiner Interpretation Zu deiner Interpretation habe ich unterschiedliches zu sagen: Ich habe bisher das Leben meiner Eltern für eine Seltenheit gehalten. Selten war wohl nur der Anstand meines Vaters. Dass es die Liebesheiraten mehr in der Poesie und weniger in der Wirklichkeit gab, dürfte stimmen. Aber ist ein Eheleben nicht im Allgemeinen voller Inkonsistenz? Ich kann nicht beurteilen, ob man das Leben meiner Eltern verallgemeinern kann. Bei dir ist es den ländlichen Auffassungen von »Einheirat« angenähert. (Nein, entgegengestellt. A . T.) Übrigens, der Bruder meines Vaters hat auch (eine Frau) mit Nadelgeld geheiratet. Und dann machte der Schwiegervater mit seiner Fabrik pleite, und meine Mutter konnte sich vor Freude nicht lassen, dass der »Poussierstengel« auch mal Pech hatte. Ihm unterstand damals ein mittleres Steueramt – er hätte also genug Geld gehabt. Da fällt mir ein, dass sich Tante E. sehr über ihn beschwert hat: Alle Urlaubsreisen (Schiffsreisen) machte er ohne sie. Er wusste, weshalb. Zum Begriff Nadelgeld: Ich habe mal im Lexikon der Frau nachgesehen. Da steht: Geldzuweisungen des Ehemannes an seine Ehefrau zur Bestreitung persönlicher Bedürfnisse, früher auch Spindelgeld genannt. In China heißt es Pudergeld. Die Summe des Nadelgeldes wurde im frühen deutschen Recht bis in die Neuzeit z. B. in Eheverträgen des Hochadels festgelegt. Von Zahlungen der Eltern steht nichts darin. Wenn das so ist, dann ist der Ausdruck hier unangebracht. (Zu: »Unter den Männern der neuen Mittelschicht bestand eine Tendenz, die Verfügungsgewalt in dem letzten Stück des autonomen Bereichs der Frau an sich zu ziehen.« …) Ja, das sehe ich auch so: die Verfügung über das Budget muss dem Manne zustehen, denn das Geld reicht nie, um das Image eines Beamten bis ins Letzte darzustellen. Man kann immer am Essen sparen, aber nicht an der Aufmachung. (Aber) ich komme da mit den feministischen Gedanken nicht mit: Ich habe es immer so gehalten: Meine Freundin hatte im Hause zu sagen und ich in den äußeren Fragen. Auch im Papierkrieg. Soweit ich nicht arbeitete, habe ich Kartoffeln geschält und andere Zureichungen gemacht. Sie entschied über das Essen. Soweit ich arbeitete und sie nicht –, wollte ich bedient sein. Wenn Männer heiraten, um regeneriert zu werden, wird die Form der Zuwendungen (Übernahme von Hausarbeit) immer schwanken. Mein Vater zog sich in A. aus der Familie zurück, indem er in seiner freien Zeit bis zur Dunkelheit im Garten arbeitete. (Das heißt, indem er sich seinen eigenen »Reproduktionsbereich« suchte, A . T.) Der Begriff der »Neuen Mittelschicht« ist mir nicht klar. Die Beamtenschaft existiert doch seit dem ollen Fritz – oder besser seinem Vater. Wir sprachen darüber, ob mein Vater wohl zu den Nazis gegangen wäre, was ich für möglich halte. Aber darüber zu urteilen, dürfte schwer halten. Hätte mein Vater den Ersten Weltkrieg überlebt, dann hätte er auch von den grauenvollen Erlebnissen völlig geändert zurückgekommen sein können. Natürlich könnte ihn sein Hass auf die Juden zum Nationalsozialismus getrieben haben. 149
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Ich gebe die Möglichkeit zu, dass ich mich bei seinem Überleben auch zum Nationalsozialismus entwickelt hätte. – Aber das sind doch Spintisierereien.
E. Fragen an Hilde zur Vorgehensweise Folgende Fragen habe ich nach dem Abschluss von D. an Hilde geschickt: 1. Hast Du Einwände gegen die Art der Interpretation? Wird durch die Verbindung mit sozialhistorischen Entwicklungen dem konkreten Einzelfall (Deiner Eltern) Gewalt angetan? Werden dadurch die konkreten sozialen Beziehungen »schief« oder gar falsch dargestellt? Nein. 2. Sträubt sich bei Dir innerlich – emotional – etwas gegen eine solche verallgemeinernde Interpretation? Nein. 3. Inhaltlich: Ist etwas falsch interpretiert, erinnerst Du Dich an Ereignisse, die meiner Interpretation widersprechen würden? Nein. 4. Oder ruft diese Interpretation Erinnerungen wach, die sie unterstützen würden? Ja, z. B. die Geschichte mit Onkel Paul (siehe D). 5. Am wichtigsten: Hast Du eine Interpretation zum Verhältnis zwischen Deinen Eltern, die Dir wichtiger, richtiger und plausibler erscheint? Sozial gesehen nicht. Ich weiß nur nicht, wieweit sich das verallgemeinern lässt.
Unvermeidbare Missverständnisse Durch Hildes Antworten auf meine Fragen (in E.) legitimiert, könnte ich mich jetzt zurücklehnen im Gefühl, ein Stückchen emanzipatorischer Forschung getrieben zu haben. Ich hatte es leicht: Als Intellektuelle sieht Hilde die Berechtigung für Verallgemeinerungen, und sie kennt die Vorläufigkeit von Hypothesen. Um so mehr fallen die Ungleichheit unseres »Diskurses« und die Missverständnisse in einzelnen Punkten ins Auge. Der Wechsel von der Rolle als Erzählerin, d. h. einer »Beteiligten«, zu der einer Betrachtenden scheint sehr schwierig zu sein, auch noch, wenn Jahrzehnte dazwischenliegen. So bleibt Hilde in B., aber auch noch in D. ihrer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit ihren Eltern verhaftet. Zentral ist dabei ihr ungelöster Konflikt zwischen ihrer emotionalen, aus der Kindheit stammenden Bindung an den Vater und ihrer späteren intellektuellen und politischen Distanz zu ihm als junge Erwachsene und Kommunistin. Die Schwierigkeit des »Perspektivenwechsels« ist nicht nur Hildes Problem, sondern das fast aller Erzählenden. Eigentlich aber ist es unser Problem. Wir sollten uns bei unseren Forderungen nach »Subjektivität«, gemeinsamer Forschung und »nicht-entfremdeter 150
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Wissenschaft« einmal überlegen, welche widersprüchlichen Anforderungen wir an unsere »historisch betroffenen« Partnerinnen stellen: Einerseits wollen wir die spontane, unvermittelte Erzählung, »so, wie es gewesen ist«, und keinesfalls die durch analytische Begriffe gefilterten und zusammengefassten Berichte. Andererseits verlangen wir aber von ihnen, dass sie sich blitzschnell umorientieren und ihr Leben aus unserer feministischen oder sozialwissenschaftlichen Perspektive sehen. Hildes »ich komme da mit den feministischen Gedanken nicht mit« ist eine deutliche Ablehnung meines Herantragens heutiger feministischer Vorstellungen und Normen an ihre elterliche Familie und an ihre eigenen Lebensverhältnisse. Für sie hatte jene familiäre Arbeits- und Machtverteilung unter den damaligen Verhältnissen ihren Sinn und ihre Berechtigung (hatten sie ja auch!). Wenn ich möchte, dass Hilde ihre Geschichte so erzählt, wie sie (für H.) war, dann kann ich nicht von ihr verlangen, dass sie die Logik ihrer damaligen Umstände verlässt. Für mich aber ist das kritische Hinterfragen von geschlechtsspezifischen Macht- und Arbeitsverteilungen, ihrem Zustandekommen und damit ihrer Veränderbarkeit nicht verzichtbar. Wir agieren also in zwei verschiedenen Bezugssystemen, die nicht ohne Weiteres angleichbar sind. Die Bezugssysteme sind schon deshalb nicht ohne Weiteres integrierbar, weil Erzählende und Interviewerin unterschiedliche Gründe haben, sich auf ein solches, für beide Seiten anstrengendes, lebensgeschichtliches Gespräch einzulassen. Die verschiedene Motivation ergibt sich allein schon aus den unterschiedlichen Lebensphasen, in denen (normalerweise) beide stehen. Während die jüngeren Forscherinnen noch versuchen, etwas zu verändern, und deshalb in die Vergangenheit zurückgehen, wollen die Erzählerinnen mit ihrem Leben abrechnen, bestimmte Entscheidungen und Verhaltensweisen rechtfertigen, Konflikte lösen usw. Ihre Hoffnungen auf eine Veränderung in den ihnen bleibenden Jahren sind – realistischerweise – gering. »Mit sich und dem eigenen Leben ins Reine kommen« ist – bewusst oder unbewusst – die Suche nach einem inneren Zusammenhang zwischen all den verschiedenen sozialen Bezügen, Lebenssituationen, Wohnorten usw. Einen solchen Zusammenhang herzustellen – vom »Sinn des Lebens« ganz zu schweigen –, ist für die Generation, die schon in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gelebt hat, wahrhaftig ein Kunststück. Häufig ist allein die eigene »Persönlichkeit«, der eigene Charakter das einzig Stabile, der rote Faden in der schnellen Folge unterschiedlicher »Rollen«, in die frau / man hineingedrängt wurde. Gerade die Älteren haben deshalb das Bedürfnis, das Besondere und Einzigartige ihres Lebens zu zeigen, das Personenspezifische zu betonen (vom normalen Einzigartigkeitsgefühl einmal ganz abgesehen). Wir dagegen suchen in ihren Lebensgeschichten das Allgemeine, das Verallgemeinerbare. das Frauenspezifische. Unser Versuch, das Leben in einen äußeren historischen Zusammenhang zu stellen, führt gerade bei Frauen, die ja (noch) keine eigene Geschichte haben, nur selten dazu, den inneren Sinnzusammenhang zu verstärken oder gar herzustellen. Vielmehr kann unser eifriges Bemühen, möglichst viele äußere Bezüge 151
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zu sehen, Gefahr laufen, ihren mühsam aufgebauten und sowieso schwierig durchzuhaltenden inneren Zusammenhang zu zerreißen, ihr Leben noch mehr zu zerfasern, als es schon ist.8 Wir werden deshalb gerade bei Frauen wenig Begeisterung finden, wenn wir ihr Leben »verallgemeinern«, d. h. zu sozialen Gruppierungen und historischen und politischen Ereignissen in Bezug setzen, es sei denn, sie haben diesen Bezug selbst schon hergestellt. Und häufig werden sie sich besonders dagegen wehren, in »Frauenzusammenhänge« gesetzt zu werden, denn die bringen (bisher) wenig oder keine »historisch legitimierten« und gesellschaftlich anerkannten Identifikationsmöglichkeiten. Bisher Gesagtes umreißt nur den Idealfall, bei dem keine wesentlichen Klassen-, Bildungs- oder Kulturbarrieren und keine grundlegenden politischen Differenzen zu überwinden sind. Aber schon dieser Idealfall zeigt, dass eine gemeinsame Wissenschaft kein harmlos-freundliches Plaudern mit »Omis« um den Kaffeetisch sein kann. Wer harte und offen ausgetragene Konflikte scheut, sollte erst gar nicht damit anfangen, denn die in der Frauenbewegung so beliebten atmosphärisch ausgetragenen Konflikte wären für viele alte Frauen tödlich – und das meine ich wörtlich. Altenfürsorge ist eine wichtige und aufreibende Sache, aber es ist keine emanzipatorische Wissenschaft. »Was ist denn nun der Nutzeffekt des ganzen aufwendigen Verfahrens?« fragte mich ein Kollege. Natürlich gibt es auch den.9 Aber gerade gegenüber 8 Bei Männern scheint das einfacher zu sein. Meist haben sie zumindest eine Phase, einen Zusammenhang in ihrem Leben, der »historisch legitimiert« ist. Diese »heroische Phase« – so kurz sie gewesen sein mag – wird von vielen auf das ganze Leben übertragen. Sie wird zu ihrer historischen Identität (als Freikorpsmann, als Gewerkschaftsfunktionär, als Metaller, als Korpsstudent). Männlich dominierte und besonders linke Projekte, die mit »mündlicher Geschichte« arbeiten, scheinen es geradezu als ihre emanzipatorische Mission zu begreifen, die jeweilige männlich-heroische Rolle – Pose – zu verstärken statt abzubauen. Auf jeden Fall laufen alle mir bekannten Forschungsentwürfe darauf hinaus. Die weniger heroischen Rollen, z. B. als Ehemann oder Familienmitglied, werden bestenfalls gestreift. Die »naturwüchsige« Tendenz von Männern, diese Seite auszublenden wird von den Wissenschaftlern eher als urige Marotte denn als gravierendes menschliches Defizit begriffen. Es ist bereits abzusehen: Der inzwischen gerühmte und anerkannte »Blick von unten« wird wieder einäugig und schielend sein. 9 Der »direkte« wissenschaftlich verwertbare Nutzen soll hier an einigen Beispielen, die im Text vorgekommen sind, kurz wiederholt werden. Denkbar sind weitere wissenschaftliche Nebeneffekte: – Zur Korrektur bzw. Vervollständigung der Auswertung: H.s Hinweis auf den Widerspruch zwischen zu geringem Beamtengehalt und bürgerlichem Repräsentationsbedürfnis als Grund für die Kontrolle des Mannes über das Budget dürfte mehr ins Gewicht fallen als meine Hypothese des unausgelasteten Aktivitätsdrangs von Beamten und Angestellten. – Zur Korrektur von Erinnerungsirrtümern und Lokalisierung von Gedächtnisspuren, was häufig Hand in Hand geht: Da Annas (angeblicher) Ausspruch: »… das ist doch so ein netter Mann …« an zwei verschiedenen Stellen des Interviews gleichlautend auftauchte, glaubte ich irrtümlich an einen »originalen« Gesprächsfetzen, wie sie gerade aus der Kindheit häufig hängen bleiben. H.s sprachliche Korrektur, und damit verbunden ihre Einsicht in die elterliche Beziehung auf ihr 18. bis 20. Lebensjahr (als Anna »petzte«), ist mir trotz häufigen Nachfragens im
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dem Effektivitätsdenken männlicher Wissenschaft muss der emanzipatorische »Wert an sich« immer wieder thematisiert werden. Denn bei unseren Kollegen habe ich keine Sorge: Schon beim leisesten Hauch von Widerständen und Schwierigkeiten werden sie schnell und effektiv auch den zartesten Schleier emanzipatorischen Anspruchs fallen lassen. Und falls sich das Emanzipatorische nicht als neues Karrieremuster einrichten und verkaufen lässt – ein Kapitel für sich –, finden sich sicher genügend grundsätzliche Einwände, z. B. solche, wie ich sie eben geäußert habe, um zu beweisen, dass alles gar nicht geht. Dagegen sehe ich für die Frauenforschung eher die Gefahr, zwischen dem emanzipatorischen und radikaldemokratischen Totalanspruch der Frauenbewegung und den Förderungs- und Qualifikationskriterien des Wissenschaftsapparates zerrieben zu werden. Leider werden dabei die Ehrlichsten und Sensibelsten, deren Arbeiten uns vielleicht wirklich ein Stück weiterbrächten, das Handtuch werfen, während andere zwar weiterhin das Banner engagierter Wissenschaft wie Prophetinnen vor sich hertragen, sich aber in der Praxis einen feuchten Kehricht darum scheren werden. Dann besteht aber die Gefahr, dass sich Frauenforschung und mündliche Geschichte ähnlich entwickeln wie die Handlungsforschung, der bisher ernsthafteste Versuch progressiver (männlicher) Sozialforschung: Auf der einen Seite zu einem abstrakten »Diskurs« über Interaktionsstrukturen und Metaebenen, dem selbst die meisten Sozialwissenschaftler nicht mehr zu folgen in der Lage sind, geschweige denn diejenigen, mit denen man einmal interagieren wollte. Die wenigen praktischen Überreste sind, von Ausnahmen abgesehen, zur sozialtherapeutischen Gestaltung von Heimabenden und Wochenendseminaren geworden. Vom ehemaligen sozialkritischen Anspruch – vom gesellschaftsverändernden ganz zu schweigen – ist nicht viel geblieben.
Interview nicht gelungen zu klären. Zur Einschätzung der geschilderten Konfliktsituationen ist aber die Lokalisierung der Einsicht und damit der Auffrischung der Erinnerung von großer Bedeutung. – Zur Herausforderung von neuen Erinnerungen und Erzählungen.
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Dagmar Reese
Kommentar zu »Ich komme da mit den feministischen Gedanken nicht mit …«1 Während Tröger im Auditorium saß, stellten Teilnehmerinnen ihres Seminars zur mündlichen Geschichte auf der zweiten Berliner Sommeruniversität im Oktober 1977 die Methode vor, mit der sie sich seit einem Jahr beschäftigt hatten. »Geschichte des Alltags: Mündliche Überlieferung« war die erste öffentliche Präsentation der Oral History. Die Veranstaltung war gemeinsam vorbereitet worden. Sie wurde eingeleitet mit Tonbandauszügen aus einer Rede der ehemaligen Reichsfrauenführerin, Gertrud Scholz-Klink. Das Team stellte sich und die Methode vor und gab Hörbeispiele seiner Arbeit. Für den inhaltlichen Teil waren vier »Wahrnehmungsebenen«2 gebildet worden, an denen sich die Einstellung der interviewten Frauen zum Nationalsozialismus abbilden sollte. Dazu wurden Interviewausschnitte vorgeführt und interpretiert. Dieses Verfahren führte im anschließenden Diskussionsteil zu einer heftigen Auseinandersetzung mit den Zuhörerinnen, die in dem Vorwurf gipfelte: Also ihr habt am Anfang gesagt, ihr wollt die nicht als Versuchskaninchen benutzen. Was jetzt hier abläuft, ist voll das. Ihr habt hier in Konserven [Kassetten, D. R .] die Sprache der Frauen angeschleppt, im Interview ist noch so etwas wie Kooperation spürbar, aber jetzt …3 Über die »misslungene« Veranstaltung berichtete in der Oktobernummer der Courage Sigrid Fronius, 1966 Hochschulreferentin im AS tA der FU Berlin. Sie schilderte das Vorgehen als Beispiel einer Wissenschaft, die »andere Frauen zum Objekt ihrer Analyse« macht, um damit »Material für ihre Diplomarbeiten« zu sammeln. Für das Team, das zum ersten Mal mit seiner Forschung zu Frauen im Nationalsozialismus vor die Öffentlichkeit getreten war, war der Vorwurf ein Schock.4 Die Gruppe antwortete mit einem Leserbrief und verwies darauf, dass 1 Nicht einzeln nachgewiesene Zitate sind dem vorstehend abgedruckten Text von Annemarie Tröger entnommen oder stehen als Zahlen in einfachen Klammern. 2 Der Begriff bezog sich auf die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Politik durch die Zeitzeuginnen und ihre Einstellung dazu. 3 Dammer / Czarnowski/ Schwarz: Geschichte des Alltags 1978, S. 390. 4 Wie gravierend das Erschrecken der Beteiligten war, zeigt die Tatsache, dass sich drei der vier aktiv beteiligten Frauen an gar nichts erinnern. Die vierte, Gudrun Schwarz, schrieb auf Nachfrage am 29. 8. 2020 an Reese: »An die Veranstaltung habe ich eine ganz blasse Erinnerung – eigentlich nur ein Bruchstück. Meine Mutter hatte damals Interviews mit ihren Nachbarinnen für uns gemacht. Davon gab es eine Tonbandaufnahme und auch eine Abschrift. Nach sehr kurzer Zeit kamen alle Damen ins Schwärmen, ›Ach die schöne Zeit‹. Ich glaube wir haben Teile dieser Aufnahmen zur Illustration genommen. Keine Erinnerung habe ich aber an die Reaktionen der Teilnehmerinnen, an den
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kommenta r
Abb. 6: Hilde Rausch
sie »ein Stück verdrängter deutschen Geschichte« aufarbeite. Da Frauen ihre Erinnerungen seltener verbalisierten, sei ein methodisches Werkzeug, eine »Interviewtechnik« (Hervorhebung im Leserbrief ), nötig. Auch verkenne die Kritik, dass das Verhältnis zu den Befragten im Projekt durchgehend diskutiert werde und weit über die Interviews hinausreiche.5 Die Diskussion betraf einen zentralen Konflikt zwischen dem moralischen Anspruch der neuen Frauenbewegung auf Gleichheit und Solidarität und dem Bedürfnis einer nachgeborenen weiblichen Generation, Wissen über die Teilhabe von Frauen an der Geschichte des Nationalsozialismus zu generieren, ein Konflikt, der wenige Jahre später in der Diskussion über die Mittäterschaft von Frauen sowie im Historikerinnenstreit aufbrach.6 Tröger selbst war sich der Artikel in der Courage, den Leserbrief oder den reumütigen Bericht im Buch zur Sommeruni 77.« 5 Fronius: Sommer-Uni 1977, S. 39. Vgl. auch den Leserbrief: Arbeitsgruppe »Frauen im Alltag« 1978, sowie den Bericht über die Veranstaltung von Dammer / Czarnowski / Schwarz: Geschichte des Alltags 1978, S. 389 f., in dem die Gruppe sich mit der Kritik solidarisiert und darauf hinweist, dass sie als Resultat dieser Kritik begonnen habe, sich selbst zu interviewen. 6 Thürmer-Rohr: Aus der Täuschung 1983, S. 11-26.
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Aktualität der Debatte bewusst, griff sie auf und brachte sie auf dem ersten Historikerinnentreffen in Berlin im Juni 1978 ein: Thesen für den Versuch, »eine Diskussion über theoretisch-methodische und moralische Probleme zu strukturieren«. Auch hier gingen die Meinungen auseinander. In einem Vortrag, den Tröger 1986 in Australien über den hier vorliegenden Text hielt, räumte sie im Vorspann ein, dass sie zunächst, in ihrem Enthusiasmus für die Methode der Oral History, der Meinung gewesen sei, ein Interview könne nur gemeinsam mit der interviewten Person ausgewertet werden. Jetzt dagegen vertrete sie eine »revisionistische« Position, die der Interviewerin das Recht zugestehe, eigenen Fragen nachzugehen und Interviews in einer Art auszuwerten, die möglicherweise am Verständnis der interviewten Person vorbeiginge. Weil sie dennoch nicht zum »normalen« Wissenschaftsbetrieb übergehen, sondern weiterhin »emanzipatorische Forschung« betreiben wollte, fuhr sie fort, habe sie den »Versuch einer gemeinsamen Interpretation« gemacht.7 Dafür verwandte sie die Gespräche mit ihrer wichtigsten Interviewpartnerin, Hilde Radusch. Es geht also in dem hier kommentierten Text vorrangig um die Auswertung eines Interviews. Der Text sollte exemplarischen methodischen Charakter haben. In einem 1979 zusammengestellten Papier über ihre Forschungsinteressen nannte Tröger zwei Forschungsprojekte, mit denen sie sich beschäftigte: das Kiezprojekt, an dem sie mit einem »Team« arbeitete und dessen Förderung im August 1979 begann, sowie ein zweites Projekt: Biographien von Frauen aus Deutschland, das sie allein bearbeite und gerade begonnen habe. Das kann sich nur auf ihre im Januar 1979 beginnenden Gespräche mit Radusch beziehen. Ein Jahr lang trafen sich die beiden Frauen für Gespräche von drei bis fünf Stunden Dauer. Davon wurden 50 Stunden auf Kassetten aufgenommen und ein etwa 700 Seiten umfassendes Transkript erstellt.8 Vor allem aber entstand aus den Gesprächen eine enge freundschaftliche Beziehung. Es ist unklar, wann Tröger Radusch kennenlernte. Nachweislich waren beide Frauen Teil der Initiativgruppe für die Bildung des Frauenforschungs-, Bildungsund Informationszentrums (FFBIZ ), die, nach einem Aufruf in der Courage im März 1978, im April 1978 zum ersten Mal tagte und damit in zeitlicher Nähe 7 Anna Tröger: Between Factual History and the History of Experience. Der Vortrag ist Teil eines Berichts über die am 14. November 1986 von Shelley Schreiner und Diane Bell organisierte Konferenz an der australischen Deakin-Universität, Geelong: »This is my Story: Perspectives on the Use of Oral Sources«, S. 31-46, hier S. 32; FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-240. Der Bericht wurde 1990 als Buch veröffentlicht: Schreiner / Bell (Hrsg.), This is my Story 1990. 8 Über die Anzahl der aufgezeichneten Stunden gibt es unterschiedliche Angaben. In einem Antrag auf ein Stipendium zum Abschluss einer Forschungsarbeit vom 30. 2. 1989 spricht Tröger von 50 Sitzungen à drei bis vier Stunden und einem Transkript von 800 Seiten, einem Bericht über die Konferenz an der australischen Deakin-Universität: »This Is My Story« zufolge hat sie 1986 angegeben, 17 Stunden auf Kassette aufgenommen und ein Transkript von 700 Seiten zu haben. In jedem Fall war es ein langes, ausführliches Interview. FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-60 sowie 240.
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zum Beginn der Gespräche steht.9 Mit Radusch traf Annemarie Tröger auf eine Frau mit einer großen Ausstrahlung, die vom Alter her – sie wurde 1903 geboren – ihre Mutter hätte sein können. Für jemanden, der an der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit interessiert war, vertrat Radusch geradezu leitbildhaft mit ihrer früheren Zugehörigkeit zur KPD sowie dem offenen Bekenntnis zu ihrer Frauenliebe ein »anderes, besseres« Deutschland. Es war jedoch vor allem Raduschs Persönlichkeit, ihr Selbstbewusstsein und ihre Gradlinigkeit, die Tröger imponierten.10 In einem Antrag für ein Stipendium, den Tröger 1989 stellte, um Raduschs Biographie zu verfassen, schrieb sie: Die Mischung von Normalität und einer gehörigen Portion von Eigen-Sinn prädestiniert die Lebensgeschichte von Hilde Radusch (HR ) für eine Biographie, durch die viele politische Zusammenhänge und soziale Umstände deutlich gemacht werden können, ohne dabei jedoch Gefahr zu laufen, daß die Hauptperson und ihre persönliche Geschichte dahinter verschwindet.11 Wer war diese Frau? Hilde Radusch wurde 1903 in eine bürgerliche Familie hineingeboren.12 Sie blieb das einzige Kind. Ein jüngeres Geschwisterkind kam vier Jahre später zur Welt, verstarb aber kurz nach der Geburt. Tröger rechnete die Familie in dem vorliegenden Text der neuen Mittelschicht im Kaiserreich zu. In einem Vortrag in Australien fünf Jahre später sprach sie von einer Familie der unteren Mittelschicht,13 was verwundert, weil der Vater, finanziert von der mütterlichen Großmutter, im Alter von 36 Jahren promovierte, als Beamter im mittleren Dienst bei der Post arbeitete und neben seinem Gehalt noch beträchtliche zusätzliche Einnahmen durch seine Frau hatte. Im elterlichen Haushalt lebte weiter ein Dienstmädchen, Anna. Radusch war dem Vater zugewandt und 9 An dem Treffen am 27. 4. 1978 hatten sowohl Tröger als auch Radusch teilgenommen, Tröger als Vertreterin eines »Frauenzentrums am Klausener Platz«, Radusch für die Gruppe L 74. Den Konzeptentwurf für das FFBIZ am 2. 6. 1978 unterzeichnete nur Tröger. FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-290. 10 Wie auch Radusch von Tröger beeindruckt war. Radusch an Tröger 10. 9. 1979, FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-133. 11 Antrag auf ein Stipendium zum Abschluss einer Forschungsarbeit vom 30. 2. 1989, FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-60. 12 Dies und das Folgende beruht einerseits auf Angaben von Annemarie Tröger in veröffentlichten wie unveröffentlichten Texten, FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-60 und FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-240; andererseits auf dem Film von Pieke Biermann und Petra Haffter: »Die eigene Geschichte: Muss es denn gleich beides sein?« sowie der Biographie von Claudia Schoppmann: »Nicht Opfer …« 1993, S. 32-41. 13 Siehe dazu FN 12, FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-240, S. 34. Tröger wusste seit Mai 1981, dass Radusch bei der Beschreibung der Breslauer Wohnung, in der sie als Kind gelebt hatte, den »Salon« vergessen hatte zu erwähnen, den sie als Kind selten bis nie und immer nur mit den Eltern betreten hatte. Die Wohnverhältnisse waren also großzügiger als im Text beschrieben. Es ist auch denkbar, dass der Vater beim Stellenwechsel von Breslau nach Ascherleben vom mittleren in den gehobenen Dienst wechselte. Radusch an Tröger 21. 5. 1981. FFBIZ Be Rep. 500 Acc. 800-134
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gab in den Gesprächen an, ihre Mutter zu hassen.14 Der Vater fiel 1915 im Krieg, als sie zwölf Jahre alt war. Sie zog mit der Mutter nach Weimar und kam 1920, siebzehnjährig, nach Berlin, wo sie ihr Leben lang blieb. In einer Zeit der beginnenden Hyperinflation machte sie am Pestalozzi-Fröbel-Haus, einer der traditionsreichsten und anerkanntesten Ausbildungsstätten für Mädchen und junge Frauen, eine Ausbildung als Hortnerin. Gleichzeitig arbeitete sie als Erzieherin.15 Über die Arbeit im kommunistischen Jugendverband, dessen jugendbewegte Aktivitäten sie anzogen, wurde sie mit kommunistischen Ideen vertraut und trat 1924 in die KPD ein. Später engagierte sie sich im Vorstand des Roten Frauenund Mädchenbundes, der 1925 gegründet wurde. Bei der Post bekam sie noch in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre »die relativ gesicherte Stelle einer Telefonistin.«16 Zur selben Zeit begann sie, in einer dauerhaften, offen lesbischen Beziehung zu leben. Arbeit, Parteimitgliedschaft und eine erfüllte Liebesbeziehung waren die Grundpfeiler für die »glücklichste und produktivste Phase in ihrem Leben«.17 Nach den Berliner Stadtverordnetenwahlen von 1929 wurde sie eine von insgesamt 56 kommunistischen Stadtverordneten, verlor dadurch aber ihre Stelle bei der Post.18 Als exponierte kommunistische Politikerin wurde sie im April 1933 verhaftet und saß erst am Alexanderplatz, später im Frauengefängnis Barnimstraße ein. Ihre Liebesbeziehung zerbrach. Nach der Entlassung lebte sie unter prekären Bedingungen, immer im Visier der Gestapo. Im Mai 1934 erhielt sie eine Stelle als Hilfsarbeiterin bei Siemens, wo sie an einer illegalen kommunistischen Zeitung mitarbeitete. 1936 fand sie wieder Arbeit als Angestellte. Sie lernte Eddy kennen, ihre langjährige zweite Lebensgefährtin. Gemeinsam gingen beide Frauen 1944 in die Illegalität, als Radusch in Gefahr war, im Rahmen der »Aktion Gitter«, von der ehemalige politische Gegner der NSDAP betroffen waren, verhaftet zu werden. Das Paar lebte bis Kriegsende im brandenburgischen Prieros in einer Gartenlaube, ohne ausreichende Nahrung und Heizmöglichkeiten, was zu schweren bleibenden Gesundheitsschäden führte. Nach der Befreiung im Mai 1945 kehrten sie nach Berlin zurück. Für einige Monate wurde Radusch Leiterin der Schöneberger Abteilung von Opfer des Faschismus. 1946 trat sie nach Differenzen mit der Partei aus der KPD aus, 1948 14 Bei Claudia Schoppmann wird die Beziehung zur Mutter deutlich positiver beschrieben. Vgl. Schoppmann: »Nicht Opfer …«, S. 38. 15 In ihrem Vortrag in Australien im November 1986 erklärte Tröger, Radusch habe zwischen 1920 und 1922 als Kindergärtnerin gearbeitet. Wahrscheinlich verliefen Ausbildung und Arbeit parallel. Siehe FN 7. 16 Antrag auf ein Stipendium zum Abschluss einer Forschungsarbeit. FFBIZ B Rep. 500 Acc. 200-60. 17 Ebd. 18 Radusch blieb kommunistische Stadtverordnete bis 1933, nicht, wie bei Schoppman beschrieben, bis 1932. Die unterschiedlichen Angaben beruhen darauf, dass Radusch gleichzeitig Stadtverordnete und Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung des Bezirks Mitte war, Letzteres aber offenbar nur bis 1932. Schoppmann: »Nicht Opfer …« 1993, S. 36; Christine Fischer-Defoy: Vor die Tür gesetzt 2006, S. 316. Ich danke Siegfried Heimann für diesen Hinweis.
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war sie kurze Zeit Mitglied der SPD. Mit dem Verkauf von Trödel, durch Arbeitslosengeld und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schlugen sie und Eddy sich die nächsten Jahre durchs Leben. 1960 starb die Freundin. Die bedrückende Zeit endete, als es ihr Anfang der siebziger Jahre gelang, als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung anerkannt zu werden und eine Rente zu erhalten. Sie schloss sich der neuen Frauenbewegung an, wurde Mitinitiatorin von L 74, einer Gruppe älterer lesbischer Frauen, die die Zeitung UkZ (Unsere kleine Zeitung) herausgaben und sich früh für ein Frauenarchiv engagierten. Radusch war sehr aktiv, genoss das Zusammentreffen mit den meist jüngeren Frauen und die Anerkennung, die sie von ihnen bekam. Sie nahm an Veranstaltungen teil, machte Lesungen und gab bereitwillig Auskunft über ihr Leben. In einem Brief, den sie Tröger in dieser Zeit schrieb, stellte sie nicht ohne Stolz fest: »Ja, ich werde scheinbar berühmt und das vor meinem Tode.«19 Da waren bereits mehrere Texte über sie veröffentlicht sowie ein Film gedreht worden, der zwischen März und Mai 1986 im dritten Programm des Fernsehens ausgestrahlt wurde.20 Trögers »Versuch einer gemeinsamen Interpretation«, der im Zentrum dieses Textes steht, reiht sich ein in eine Vielzahl von Überlegungen zu spezifisch feministischen Methoden in den 1970er und 1980er Jahren21 und war zugleich eine Diskussion, die über die Frauenforschung hinausreichte und die betraf, die, wie die Oral Historians, mit subjektiven Materialien arbeiteten. Dabei bestand nicht nur der Anspruch, das Alltägliche, Weibliche, Private, Persönliche, Emotionale in den Blick zu nehmen, das bisher in der Geschichte ausgespart geblieben war, sondern auch, die befragten Subjekte in eine alternative, eigene Geschichtsschreibung miteinzubeziehen. Das hatte Tröger noch im ersten Entwurf ihres Projektantrages für das Kiezprojekt Anfang 1979 gefordert. Ziel des Projektes sei es, ein »neues Verständnis der Geschichte« und ein »anderes Geschichtsbewusstsein« zu entwickeln.22 Nach dem langen, intensiven Interview mit Radusch glaubte Tröger, ein Verfahren gefunden zu haben. Zwar räumte sie ein, dass – grundsätzlich – für Interviewerin und Interviewter eine unterschiedliche Beziehung zum Material bestehe, es im Fall von Radusch aber eine gemeinsame Basis gäbe – die Intellektualität, Zugehörigkeit zur Frauenbewegung, Erfahrung des frühen Verlusts des Vaters und die Entscheidung für eine linke Bewegung im jungen Erwachsenenalter. Das vorgeschlagene Verfahren bestand aus fünf Schritten: Im ersten stellte eine der Parteien Interviewausschnitte zusammen. Das war hier Tröger, in anderen Fällen – die wir nicht kennen – soll es auch Radusch gewesen sein. In den nächsten beiden Schritten erklärten Interviewerin und Interviewte unabhängig voneinander ihre Sicht auf die ausgewählten Ausschnitte. Im vierten Schritt 19 Radusch an Tröger vom 30. 11. 1985, FFBIZ B Rep. 500. Acc. 800-133. 20 Neben dem hier vorliegenden Text gibt es einen zweiten, in dessen Zentrum dieselbe Geschichte steht, die dort aber entlang der Fotos interpretiert wird. Vgl. dazu den Kommentar von Elizabeth Harvey in diesem Band. 21 Vgl. Stephanie Bethmann: Feministische Methodologien 2019, S. 489-498. 22 Projektantrag o. D., FFBIZ , B Rep. 500 Acc. 800-71, S. 2.
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bekam die Interviewte die Möglichkeit, die »Fremdsicht« der Interviewerin auf ihr eigenes Leben zu kommentieren. Im fünften bewertete sie entlang von Fragen der Interviewerin deren Vorgehensweise. Die von Tröger gewählten Textausschnitte betrafen das Machtverhältnis der Eheleute, wie es sich durch Rituale, die Entscheidungsgewalt innerhalb des Haushalts über die Dienstboten, den Umgang mit Sexualität und den Finanzen rekonstruieren lässt. Raduschs Interpretation der Texte war kurz. Sie beschrieb ihr unterschiedliches Verhältnisses zu den Eltern, monierte, von Tröger als eine von drei Frauen und nicht als Kind wahrgenommen worden zu sein, korrigierte Sätze, die sie selbst dem Dienstmädchen Anna in den Mund gelegt hatte, und räumte ein, manches Erzählte nicht als Kind, sondern erst sehr viel später von Anna erfahren zu haben. Sie ergänzte den Vorfall im Naturkundemuseum und pochte auf ihren sozialen Status. Trögers Interpretation ist deutlich umfangreicher und dominiert allein schon durch ihre Länge die ihrer Interviewpartnerin. Dabei ging es ihr um die Beziehung der Eheleute und die Machtverteilung in einem Haushalt der »›neuen‹ oder ›abhängigen‹ Mittelschicht« (S.145). Methodisch will sie den vorliegenden Einzelfall nicht durch sozialwissenschaftliche Verfahren – sie nennt Deduktion und Induktion – bearbeiten, sondern eine Beziehung herstellen »zu sozialhistorischen Tendenzen und Phänomenen« (ebd.). Damit entschied sie sich für einen fluiden Umgang mit dem lebensgeschichtlichen Material und konzentrierte sich, deutlich angelehnt an Paul Thompson, auf zwei Stilarten von Ereignissen: besondere, konflikthafte Begebenheiten einerseits sowie Rituale andererseits. Sie wies vor allem auf die Inkonsistenzen im Machtverhältnis zwischen den Eheleuten hin. Hinsichtlich dieser Machtverteilung stellte sie klar, dass der Vater, trotz des üppigen finanziellen Beitrages seiner Frau zum Budget der Familie, die alleinige Verfügungsgewalt über die Finanzen für sich beanspruchte und auch über die Dienstboten entschied, ein Bereich, der üblicherweise der Frau überlassen war. Trögers Interpretation hielt Radusch im nächsten Schritt die Besonderheit ihres Elternhauses entgegen. Was Tröger als Inkonsistenzen ausmachte, betrachtete sie als Eigenheiten. Ohne Trögers Interpretationen infrage zu stellen, grenzte sie sich von ihren Schlussfolgerungen ab. Sie monierte – zu Recht – die Verwendung des Begriffs Nadelgeld für die Zuwendungen der Großmutter an ihre Mutter. Sie stimmte Tröger zwar darin zu, dass es eine Tendenz gab, dass die Männer in die Verfügungsgewalt ihrer Ehefrauen eingriffen und sie sich zu eigen machten, stellte aber klar, dass sie die Verfügung des Mannes über das Familienbudget für richtig hielt. Das galt auch für die in der Familie praktizierte Arbeitsteilung. Dass ein berufstätiger Mann sich an Hausarbeit beteiligen müsse, war für Radusch nicht einsichtig. Das galt nicht nur für ihre Eltern, sondern auch für ihre eigene Partnerschaft, in der sie die überkommenen Geschlechterrollen übernahm und zwischen sich und ihrer Partnerin verteilte.23 »Soweit ich 23 Vgl. dazu Susanne zur Nieden: Der »kesse Vater« 2003, S. 319-324.
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arbeitete – und sie nicht –, wollte ich bedient sein.« Mit ihrem Unverständnis für Trögers »feministischen Gedanken« grenzte sie sich deutlich von deren Sichtweisen ab. Dennoch bewertete sie Trögers Interpretationen nicht als Eingriff, sondern zeigte sich fast durchweg damit einverstanden. Nur die Verallgemeinerungen mochte sie nicht auf ihrer Familie sitzen lassen. Es ließe sich manches gegen Trögers Umgang mit dem Interview einwenden – die schnellen Generalisierungen, die wenigen Nachfragen –, doch ging es Tröger vorrangig um die Darstellung der Methode. Dass Tröger im neuesten »Handbuch der interdisziplinären Geschlechterforschung« von Stephanie Bethmann zu denen in der frühen Frauenforschung gezählt wird, die »[…] schwankten zwischen einer naiven Verdopplung alltagsweltlicher Perspektiven einerseits und durch feministische Befreiungstheoreme geleiteten Interpretationen, die den Beforschten ein ›falsches Bewusstsein‹ unterstellten, andererseits«, ist allerdings falsch und hat mit dem Text nicht mehr viel zu tun.24 Das zeigt der letzte Teil, den Tröger unter die Überschrift »Unvermeidbare Missverständnisse« gestellt hat. Hier stellte sie klar, dass es in dem Diskurs zwischen beiden Beteiligten über die Interpretation von Textausschnitten eine »Ungleichheit« gibt, die aus dem Wechsel von der »Erzählerin« zur »Betrachterin« resultiert. »Einerseits wollen wir die spontane, unvermittelte Erzählung, […], und keinesfalls die durch analytische Begriffe gefilterten und zusammengefassten Berichte. Andererseits verlangen wir aber von ihnen, dass sie sich blitzschnell umorientieren und ihr Leben aus unserer feministischen oder sozialwissenschaftlichen Perspektive sehen.« Dabei geht es für Tröger nicht um eine Wertung, eine Entscheidung zwischen richtig oder falsch, sondern die Gegenüberstellung unterschiedlicher Sichtweisen, die sich aus den jeweils eigenen Bezugssystemen herleiten, die sie nicht infrage stellt. Vielmehr wollte sie mit diesem Verfahren Raum schaffen für eine Reflektion, und zwar auf beiden Seiten, und begriff dies als emanzipatorische Forschung. Dass sie zuletzt den gesamten Text unter Raduschs Einwand stellte – »Ich komme da mit den feministischen Gedanken nicht mit« –, war eine Geste, mit der sie als Interviewerin am Ende noch einmal hinter ihre Interviewte zurücktrat. Nihil de nobis sine nobis – Nichts über uns ohne uns – ist eine demokratische Forderung, die heute einen anderen Fokus, aber nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat, wie die Debatte über die Kolonialisierung, die »Black Lives Matter« oder die LGBTQI * Bewegungen zeigen. Dagegen lässt sich mit wissenschaftlich begründeten Argumenten, dem Gegensatz von Parteilichkeit und Objektivität, Einfühlung und Sachlichkeit, nichts einwenden. Es bleibt der Wunsch und das Recht selbst jedes Einzelnen in modernen Gesellschaften, den im Grundsatz unendlichen Perspektiven menschlichen Lebens historisch Geltung zu verschaffen. Dennoch: Was Tröger als Methode vorstellte, taugte kaum für den wissenschaftlichen Alltag. Zwar war ihr Versuch im konkreten, sehr speziellen Binnenverhältnis und an einem einzigen Beispiel scheinbar gelungen. Das bestätigte 24 Stephanie Bethmann: Feministische Methodologien, S. 494.
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Radusch, nachdem sie den Text erhalten hatte, in einem Brief vom 21. 5. 1981, als sie schrieb: »Ich bin begeistert von Deiner Arbeit.«25 Ganz offensichtlich öffnete ihr das lebensgeschichtliche Interview immer weiter reichende Erinnerungsräume.26 An Trögers Umgang mit ihr fand sie nichts einzuwenden: »Deine ›uneuphorische‹ Position gefällt mir sehr. Ich habe nichts dagegen, wenn Du in der Auswertung eine andere Meinung hast. Meist hat sie mich bereichert.«27 Gleichwohl kamen die beiden mit dieser aufwendigen Methode der Auswertung eines Transkriptes von 700 Seiten nicht voran. Tröger hatte inzwischen in Hannover eine Lehrtätigkeit aufgenommen. Immer wieder hielt sie sich in den USA auf. 1986 wurden sie vom Humanities Research Centre an der Australien National University in Canberra, Australien für drei Monate als visiting fellow eingeladen, zwischen 1984 und 1987 engagierte sie sich in dem internationalen Oral-HistoryProjekt zur 1968er-Studentenbewegung. Anfang 1989 stellte sie schließlich bei der gerade gegründeten Förderkommission Frauenforschung einen Antrag auf ein Stipendium, um Raduschs Biografie beenden zu können.28 Von dem Verfahren zur gemeinsamen Auswertung war darin nichts mehr zu finden. Was sie damals nicht wusste, war, dass Radusch ihr zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten schriftlich das Recht auf die öffentliche Verwendung der Aufzeichnungen über ihr Leben entzogen und auch alle früheren Zustimmungen widerrufen hatte.29 Die Jahre waren dahingegangen. Um Radusch herum war es stiller geworden. Das Alter war mühsam. Sie litt unter Schmerzen und fühlte sich einsam. Eine Veröffentlichung im Nishen-Verlag hatte sich im Jahr zuvor zerschlagen.30 Obwohl die beiden sich im Herbst 1988 mehrmals sahen, Radusch auch wusste, dass Tröger einen Antrag stellen wolle, um die Biographie fertigzustellen, hatte sie ihre Erklärung Tröger gegenüber nicht erwähnt.31 Noch hielt offenbar das Band, das die beiden verband. Es mussten erst Dritte dazukommen, um klare Verhältnisse zu schaffen.32 Erst dann war dieses mit großen Hoffnungen begonnene Projekt gescheitert.
25 Brief Radusch an Tröger vom 21. 5. 1981, FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-134. 26 Besonders hatte es ihr der Hinweis in FN 3 von Trögers Artikel angetan, wonach ein langes Interview einem kurzen vorzuziehen sei, weil es Schicht um Schicht abtrage, um zuletzt »bedeutungsvolle Nebenereignisse, als Erinnerung an frühere Empfindungen und Gefühle«, (S.139) sichtbar werden zu lassen. Das erinnert an die Beschreibung einer Psychoanalyse. 27 Brief Radusch an Tröger vom 21. 5. 1981, FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-134. 28 Siehe FN 11. 29 »Betrifft Annemarie Tröger«: Erklärung Radusch vom 22. 9. 1988, FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-137. 30 Brief Radusch an Tröger vom 15. 6. 1987, ebd. 31 Brief Tröger an Radusch vom 7. 4. 1989, ebd. 32 Diese Dritte wird aus Datenschutzgründen nicht genannt, lässt sich im FFBIZ aber einsehen. Ebd.
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Zwischen Kunst und Zeitungsmarkt – Ein Ausschnitt aus dem Leben der Fotografin Ilse Bing (1983) ILSE BING , geb. 1899 in Frankfurt a. M., Studium der Kunstgeschichte in Frank-
furt a. M. und Wien, 1926 Kauf ihres ersten Fotoapparates, von 1929 bis 1933 freie Fotografin bei der »Frankfurter Illustrierten«, 1930 Auswanderung nach Paris, dort freie Kunstfotografin und Fotojournalistin, Reportagen (Mode, Portraits, Theaterfotografie), regelmäßige Beiträge in »Harper’s Bazaar«. 1937 Heirat mit dem Pianisten und Musikwissenschaftler Konrad Wolff, 1940 im französischen Internierungslager Gurs, Juni 1941 Emigration nach New York, Arbeit als Portraitfotografin, Fotoarbeiten in abstrakter Fotografie. Wiederentdeckung ihrer Arbeiten aus den 20er bis 50er Jahren in mehreren eigenen Ausstellungen in den USA, Frankreich und Deutschland. Ilse Bing lebt heute [1983, Anm. d. Hrsg.] mit ihrem Mann in New York. Ich ging zu Ilse Bing u. a. mit der Frage, wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen einer Pressefotografin Ende der 20er / Anfang der 30er Jahre aussahen. Wie konnte sich eine Frau in diesem noch offenen und wenig arbeitsteiligen Berufsfeld gegen ihre männlichen Kollegen durchsetzen? Mit dieser eher sozialgeschichtlichen als kunstverständigen Fragestellung hatte ich mir mit der wachen, quirligen Frau, die als 84-jährige in Manhattan herumradelt, um als Hundepflegerin Geld zu verdienen, die falsche »Zeitzeugin« ausgesucht. Nicht, weil sie sich – wie einige ihrer zeitgenössischen Kollegen – für ein Genie hält, das per definitionem den kleinen hässlichen Querelen des Berufsalltags enthoben ist, sondern eher, weil Ilse Bing »eine ungewöhnliche Frau (ist), die aus den Widrigkeiten des Lebens eine Gelegenheit zur kreativen Selbstbehauptung zu machen scheint« – wie eine feministische Kunstzeitschrift der USA sie charakterisiert.1 In ihrer Erinnerung spiegeln sich die Verhältnisse als das, was sie aus ihnen gemacht hat. Die Bedrohungen, Einschränkungen und Zwänge aber hat sie aus ihrem Gedächtnis aussortiert – sie selbst meint, sie habe sie damals gar nicht wahrgenommen. Die Metapher der Nachtwandlerin benutzt sie, um sich selbst zu charakterisieren. So menschlich sympathisch das ist – ich habe selten einen älteren Menschen getroffen, der so frei von Bitterkeit und Ressentiment war –, so ungeeignet ist sie als Objekt, um an ihr die Benachteiligung von Frauen in den Anfängen der Pressefotografie nachzuzeichnen.
1 Osterman: Ilse Bing 1983.
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Ilse Bing kommt, wie viele ihrer damaligen Berufskollegen, aus einem bürgerlich-jüdischen, aber ökonomisch nicht mehr gesicherten Elternhaus. Sie studierte Kunstgeschichte und lebte während ihrer ganzen Studienzeit zu Hause, zunächst um den Vorstellungen ihrer Eltern von einer wohlerzogenen Tochter zu entsprechen, nach dem Tode ihres Vaters, eines Frankfurter Kaufmannes, aus ökonomischer Notwendigkeit. Zur Fotografie kam Frau Bing eher zufällig. Da sie für ihre Doktorarbeit Fotos brauchte, kaufte sie sich 1927 eine Kamera und begann damit zu »spielen«. Der Redakteur der Frankfurter Illustrierten, Max Geisenheyner, interessierte sich für ihre Bilder und begann, ihr Aufträge zu geben: hauptsächlich Sozialreportagen und atmosphärische Schilderungen. Die Jahre ihrer ersten Berufserfahrung als Pressefotografin – 1928 /29 – kann man sich glücklicher nicht wünschen: Dem direkten ökonomischen Zwang noch nicht ausgesetzt – sie lebte noch bei ihrer Mutter –, stand sie unter keinem Zeitdruck und konnte ihren Verdienst ausschließlich für Fotomaterialien und Bücher verwenden. Unter der wohlwollenden Förderung von Geisenheyner war sie dem Konkurrenzdruck enthoben. »Alle paar Wochen oder Monate sind mal Sachen von mir erschienen. Dann habe ich mal wieder erfahren, dass es eine Reportage gab, die in meiner Richtung lag … Es war alles viel weniger geschäftlich damals.«2 Geisenheyner ließ ihr auch inhaltlich völlige Freiheit: »Z. B. sagte er mir: ›Da ist jetzt eine Sitzung von der Heilsarmee, sehen Sie mal, was Sie machen können!‹ Er hat mich auch nach Stuttgart zu einem weiteren Treffen der Heilsarmee geschickt und ließ mir völlig freie Hand. Ich konnte auch Bilder machen, die damals ganz ungewöhnlich waren, so Stillleben, die die Atmosphäre ausdrücken. Die hat er dann auch gebracht. Ich war mir damals gar nicht bewusst, wie gut es mir beim Geisenheyner ging.« Im Frühjahr 1929 »kam der Augenblick, wo ich mich entscheiden musste, entweder die Fotografie für ein halbes Jahr zu lassen oder Kunstgeschichte aufzugeben (AT: »Es ging nur um ein halbes Jahr?«). Wenn man so jung und so begeistert ist, ist ein halbes Jahr eine schwere Trennung. Auf jeden Fall habe ich gleich nein (zur Kunstgeschichte) gesagt, da konnte mir niemand helfen.« Ihre Entscheidung wurde ihr von Familie und Freunden nicht leicht gemacht, denn: Man wusste ja nichts über moderne (Kunst-)Fotografie. Ein Fotograf galt damals als ein Handwerker, ja, er wurde mehr oder weniger wie ein Schuster angesehen. Und ein ›Fräulein Doktor‹, das war etwas, zu dem man aufsah. Und dass ich das aufgab für die Fotografie – alle Leute haben mich fallengelassen. Und meine beste Freundin hat zu mir gesagt: »Ich habe keinen Respekt mehr vor dir!« Die soziale Isolierung mag dazu beigetragen haben, dass Ilse Bing kurz darauf (1930) ebenso plötzlich den Entschluss fasste, nach Frankreich auszuwandern. 2 Anm. d. Hrsg.: Dieses und die folgenden Zitate von Ilse Bing stammen aus einem Interview, das Annemarie Tröger im Mai 1983 mit der Fotografin in New York führte.
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z w ischen k u nst u nd zeit u ngsm a r k t
»Ich fühlte mich eng in Frankfurt, es war nicht der Ort für mich, es war ein Instinkt, ich hatte das Gefühl, ich muss nach Paris gehen.« Das Gefühl der Enge mag aus mehreren Gründen bei ihr gewachsen sein: Der zunehmende Konservatismus, der mit der Weltwirtschaftskrise fast alle Bereiche des sozialen und kulturellen Lebens in Deutschland erfasste und in dem die anschwellende faschistische Bewegung nur ein Teil war. Sensible Menschen wie Ilse Bing mögen das kommende Unheil gespürt haben, ohne es damals ausdrücken zu können. Und für sie persönlich, so meint sie heute selbst, sei es als damals immerhin schon 31-jährige höchste Zeit gewesen, das behütete, aber auch beengende Dasein einer höheren Tochter zu beenden. »Vom ersten Tag an in Paris war ich glücklich. Da hatte ich das Gefühl, von meinen Füßen gehen die Wurzeln in das Pflaster hinein. Das war eine Atmosphäre, in der ich mich wirklich entfalten konnte.« Dieses Hochgefühl kennzeichnet noch heute ihre Erinnerungen an die Pariser Jahre, obwohl sie hier zum ersten Mal die ökonomischen Schwierigkeiten und Härten einer »freien Mitarbeiterin«, die unfairen und z. T. ausbeuterischen Praktiken von Redaktionen und Fotoagenturen und die Konkurrenzkämpfe unter ihren Kollegen kennenlernen musste. Was aber ist das gegen das Bewusstsein, einer revolutionären Entwicklung der Fotografie beizuwohnen, an dieser Entwicklung mitzuarbeiten, Teil einer Avantgarde zu sein? Ilse Bing arbeitete wie in Frankfurt auch in Paris zunächst unter der Patronage eines bekannten Journalisten, Heinrich Guttmann, zu dem sie durch Geisenheyner vermittelt wurde. Das Verhältnis zu Guttmann scheint aber weniger das eines wohlwollenden Mäzenatentums wie bei Max Geisenheyner gewesen zu sein, sondern eher eine Art »Angestelltenverhältnis mit beschränkter Haftung«. »Ich lebte von den Reportagen, die ich für Guttmann auf eigenes Risiko gemacht habe.« D. h., sie wurde nur dann für einen Auftrag bezahlt, wenn er von einer Zeitschrift gedruckt wurde. Dafür konnte sie in einer von Guttmann eingerichteten Dunkelkammer arbeiten und neben einer Reportage auch für sich selbst Fotos machen – ihre »eigentliche« Arbeit, für die sie sehr schnell in Paris künstlerisch anerkannt wurde. Später, als sich das Verhältnis zu Guttmann, der hauptsächlich für die deutsche Presse arbeitete, mehr und mehr löste, verkaufte Ilse Bing mehr »freie« Fotos als Auftragsarbeiten. Die von mir als »Patronage« bezeichneten Beziehungen zu einflussreichen Journalisten sind keinesfalls ein »frauenspezifisches« Phänomen, sondern sie stellten in jener Zeit auch für Männer – zumindest solange sie Berufsanfänger waren – die lebensnotwendige Verbindung zum Zeitungsmarkt her. Im handwerklich-technischen Bereich ihres neuen Berufes war Ilse Bing ganz auf sich selbst angewiesen. Von ihren Berufskollegen, auch von denen, die sich als »Kunstfotografen« betrachteten, konnte sie am wenigsten Hilfe erwarten. Sie hüteten ihre technischen Tricks wie ihre Augäpfel – ein Ausdruck des harten Konkurrenzkampfes zwischen ihnen, eines Konkurrenzkampfes, den Ilse Bing für sich und die Kunstfotografie niemals akzeptieren wollte, dessen Auswirkungen sie aber bitter zu spüren bekam. Sie blieb in der ganzen Pariser Zeit von 165
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ihren Berufskollegen ziemlich isoliert, von wirklichen Freundschaften zu der französischen Fotografin Florence Henri, die im selben Mietshaus wohnte, und zu Emmanuel Sougez abgesehen. »Ich war viel, sehr viel allein in den Jahren«, sagt sie heute, obwohl sie in der Pariser Fotografenszene keinesfalls unbekannt war. »Es gab keine ›community‹ unter den Fotografen in Paris, so wie die Maler, die immer so eine Clique bilden. Die Fotografen hatten immer so ihre Geheimnisse, ich habe das fast schmerzlich empfunden. Z. B. dass Man Ray nicht gesagt hat, wie man solarisiert, eine rein technische Angelegenheit. In dem Augenblick, wo ich die Solarisierung entdeckt hatte, habe ich das meinen Schülern sofort gezeigt.« Aus der Schwierigkeit, sich bei der schnellen technischen Entwicklung der Fotografie in jenen Jahren das handwerkliche Rüstzeug anzueignen und auf dem neuesten Stand zu halten, machte Ilse Bing eine ihrer »Gelegenheiten zur schöpferischen Selbstbehauptung«: »Ich bin ein absoluter Autodidakt, ich habe alles durch meine Bilder gelernt, und ich habe dadurch, dass ich alle Fehler gemacht habe, die man nur machen kann, viele neue Ideen bekommen. Ich muss alles alleine machen, das ist für mich das Wesentliche an der Fotografie. Das geht vom Knipsen bis zum letzten Aufkleben. Deshalb könnte ich auch nie in einem Betrieb arbeiten.« Schon nach einem Jahr in Paris erhielt Ilse Bing künstlerische Anerkennung: Als Nebenprodukt einer Reportage für Guttmann über das Wachsfigurenkabinett des Moulin Rouge fotografierte sie die Can-Can-Tänzerinnen dieses Etablissements bei der Probe. »Mir war gar nicht bewusst, dass ich da etwas Neues machte.« Ihre Bilder wurden in eine bereits fertige Ausstellung über moderne Fotografie der Galerie »La Pléiade« am Boulevard Raspail aufgenommen und zwar ins Schaufenster. Sie wurde von dem einflussreichen Emmanuel Sougez entdeckt, der von der »fotografierten Bewegung« in ihren Bildern beeindruckt war. Daraus ergab sich »die schönste, künstlerisch produktivste Freundschaft in meinem Leben«. Sougez bezeichnet sie später als die »Königin der Leica«, eine Kamera, die sie bis 1950 ausschließlich benutzt. Selbst als ihr »Harpers Bazaar« eine große Kamera für die Modefotos geben wollte, lehnte sie ab: »Die Leica war mein Instrument, mit dem ich ausdrücken konnte, was ich wollte. Ich fühlte mich freier und beweglicher mit ihr. Und durch die Vergrößerung kommt irgendwie ›Luft‹ oder Atmosphäre in die Aufnahme. Ich wollte nicht diese typische Modeaufnahme, wo die Betrachter zu sehr am Material hängen bleiben. Es soll doch etwas Lebendiges, aus dem Leben Ausgeschnittenes sein.« 1932 nimmt der New Yorker Kunsthändler Julien Levy Bilder von Ilse Bing in seine erste Fotografieausstellung auf. Daraufhin entwickelt sich die Geschäftsverbindung zu »Harper’s Bazaar«. 1937 werden Bilder von ihr in die Ausstellung »Photography 1859-1937« des »Museum of Modern Art« in New York aufgenommen. Der relativ schnelle künstlerische Erfolg zog aber nicht automatisch einen finanziellen und geschäftlichen Erfolg auf dem Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt nach sich. Hier scheinen andere und härtere Gesetze zu gelten. Nach den 166
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ersten Jahren mit Guttmann konnte sie sich zwar einige unabhängige Beziehungen zu Redaktionen – z. B. zu Vu – aufbauen. Aber es dürfte im Großen und Ganzen für die männlichen Kollegen leichter gewesen sein, sich auf diesem Markt durchzuboxen. »Ich bin nie zu Zeitschriften hingegangen, nie, nicht weil ich arrogant war, sondern weil ich nicht konnte – gehemmt war.« Die Fotoagenturen, die Mitte der 30er Jahre in Paris entstehen, scheinen dieses geschlechtsspezifische Handicap der Fotografinnen nicht erleichtert, sondern eher vergrößert zu haben. »Das Entstehen des Agenturwesens ist eine traurige Geschichte für die Fotografen. Die Emigranten, die (nach 1933) aus Deutschland nach Paris kamen – Paris war ja das Zentrum der modernen Fotografie –, viele von ihnen sind dann Agenten geworden. Bevor diese Agenten nach Paris kamen, war ich in persönlichem Kontakt mit den Redakteuren, z. B. von Vu. Als die Agenturen auftauchten, war mir dieser Weg abgeschnitten. Da kam ein Herr von ›Black Star‹ zu mir. Ich zeigte ihm meine ganze Kollektion, und er sagte zu mir: ›Von diesen Bildern geben Sie mir einen Druck, ich zahle Sie nicht dafür. Wenn das Bild verkauft wird, bekommen Sie 50 Prozent.‹ Ich musste darauf eingehen, denn der Weg zur Redaktion war mir ja abgeschnitten, denn die Redaktionen kamen ja sehr viel besser dabei weg. Wenn ein Redakteur z. B. ein Zigarre rauchendes Baby auf einem Elefanten wollte, dann hatte der Agent zehn davon, da hat sich ja alles konzentriert. Außerdem hat der Agent dem Redakteur eine Pauschalgebühr gemacht, wenn er z. B. 100 Fotos kaufte. Bei mir ging das nach einzelnen Bildern, nach einzelnen Reportagen. Das ging nicht nur mir so, sondern die ganze Struktur der Fotografen zur Presse hat sich in den Jahren nach 1933 geändert. Das Schlimmste war der Bilderraub. Das ist mir öfter gesagt worden: ›Da und da habe ich doch ein Bild von dir gesehen!‹ Das war in englischen, französischen und amerikanischen Zeitschriften, da konnte man doch gar nicht folgen. Einmal habe ich es greifbar gehabt: Da erschien ein Foto von ›Black Star‹ ohne meinen Namen, eine ganze Seite mit einem Porträt von Arthur Schnabel (1936 aufgenommen), ohne dass ich etwas dafür bezahlt bekommen hatte. Selbst wenn sie mich dann später bezahlen mussten, aber das Bild hätte doch mit meinem Namen erscheinen müssen! Also diese Agentursachen waren zum Kotzen! Nun, die Geschichte hat ja noch ein gutes Ende: Anfang der 60er Jahre bekam ich ein großes Paket mit Fotos von mir: ›Black Star‹ hatte seine Schubladen geräumt. Ich wusste gar nicht mehr, was die aus den 30er Jahren noch von mir hatten. Ich habe ja meine Bilder nach dem Konzentrationslager in Frankreich lassen müssen. Und die hätte ich jetzt nicht, wenn sie ›Black Star‹ nicht zurückgeschickt hätte. Die Bilder sind ja jetzt wertvoll.« Ilse Bing wurde einmal von »Black Star« von Paris nach England geschickt, um das »Glyndeboume Opern Festival« zu fotografieren – einer der größten Aufträge, die sie von »Black Star« erhalten hat. »Black Star« beanspruchte nun aber auch die Rechte für die Bilder, die sie nebenbei für sich auf der Reise gemacht hatte, und »die mit dem Festival gar nichts zu tun hatten.« Das war ein Novum für sie, das sie heute noch empört. 167
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Abb. 7: Selbstporträt im Spiegel 1931; © Estate of Ilse Bing
Ob mit oder ohne Agenturen: Zu keiner Zeit konnte sich Ilse Bing ganz oder für längere Zeit von ihrem Beruf ernähren, selbst nicht in ihrer aktivsten, schöpferischen und bekanntesten Phase in den 30er Jahren. Immer musste sie nebenbei durch Nachhilfestunden, Sprachunterricht oder andere Jobs ein »Zubrot« verdienen. Und hier hatten Frauen – besonders Frauen wie Ilse Bing – durchaus einen Vorteil vor ihren männlichen Kollegen: Für sie bedeutete es weniger eine Statuseinbuße, einen Verlust von Ansehen und Selbstbewusstsein als für die Männer ihres Standes. (Ich möchte die etwas boshafte Hypothese aufstellen, dass die Erhebung der Fotografie zur Kunst Ende der 20er Jahre eine ökonomische Notwendigkeit war. Nur so gelang es den Pressekonzernen, eine große Zahl von jungen kreativen Menschen meist bürgerlicher Herkunft an sich zu binden und im produktiven Trab zu halten, ohne sie angemessen bezahlen zu müssen oder zu können. Die Aura des Künstlers und das Flair der Bohème erlaubte es den jungen Fotografen, von ihrem Beruf nicht leben zu müssen, ohne sich als Versager zu fühlen und in ihrer bürgerlichen Umwelt als »Niete« zu gelten.) Der prekäre Zustand des »Doppelverdienens« ist für Ilse Bing wiederum ein Anlass zur kreativen Selbstverwirklichung: Sie fühlte sich frei – und nahm sich die Freiheit, bestimmte Aufträge oder Angebote abzulehnen und schöpferische 168
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Pausen einzulegen. So weigerte sie sich ab 1933, ihre Bilder in Deutschland drucken zu lassen, obwohl sie dazu – unter der Bedingung, dass ihr Name nicht erschien – Gelegenheit gehabt hätte. Aus der Verhinderung des Berufs (von dem sie sich hätte ernähren können) machte sie ihre Arbeit zur Berufung: »Ich habe niemals gearbeitet, um Geld zu verdienen. Ich habe Geld verdient, um arbeiten zu können, um künstlerisch für mich etwas aufzubauen.«
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Commentary on »Zwischen Kunst und Zeitungsmarkt« The contributions to this volume remind us how many new departures in feminist scholarship were taking place in the late 1970s and early 1980s, among them the initiatives to uncover hidden histories and individual life stories through applying feminist perspectives to the newly emerging practice of oral history. Simultaneously, new beginnings were also evident in the history of photography. A field which up to that point had tended to be dominated by art-historical perspectives began to open up to new social-historical approaches, and historians began to take photographs more seriously as sources for interpreting past political and social developments. In her publications from the early 1980s addressing different aspects of the history of photography, Annemarie Tröger demonstrated how the concerns of feminist history and oral history could intersect with a new, politically engaged history of photographs and photographic practice. Her involvement with the emerging field was first evident in her participation in the Frankfurter Fotogespräche in May 1982, documented in an early number of the journal Fotogeschichte.1 This workshop, a joint initiative undertaken by the journal together with the Historisches Museum Frankfurt, aimed to bring together interdisciplinary perspectives on the theme of Fotografie und Wirklichkeit.2 Tröger’s contribution on Lebensgeschichte und Fotografie tackled the different challenges involved in interpreting photographs and personal testimony as sources for life history writing.3 In the published version of her presentation, she invited the reader to join in the exercise of juxtaposing two studio photographs taken shortly after 1900 with a life-history interview conducted decades later with the person (Hilde R.) who appeared in the photographs as a child. Tröger then offered her own close reading of the visual clues offered by the photographs about the relationships between the individuals portrayed. Tröger spelled out the limits of the evidence that photographs could provide regarding the nature of social interactions and relationships in the past. But she also showed the difficulties of teasing out in her chosen example the contradictory stories told years later by Hilde R. about her parents’ marriage. Her concluding thoughts on how personal photos may be used to interrogate a life-story narrative are cautious, even downbeat – »Das Foto ist keine sicherere oder objektivere Quelle als die mündliche Erzählung. Die Möglichkeiten falscher oder irreführender Darstellungen sind hier ebenso groß und z. T. noch weniger nachprüfbar« – but she 1 Fotogeschichte 1982, 2. Jg., Heft 5. 2 Starl / Schmidt-Linsenhoff: Begrüßung, in: Fotogeschichte 1982, 2. Jg., Heft 5, pp. 3-4. 3 Tröger: Lebensgeschichte und Fotografie, in: Fotogeschichte 1982, 2. Jg., Heft 5, pp. 29-34.
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ends on a positive note, emphasising the immediacy and expressive power of photographs: »Eines ›kann‹ jedoch das Foto wie kaum eine andere Quelle: Uns einen sinnlichen Eindruck zu geben von Personen und Gegenständen, über die wir nur reden und schreiben können.«4 In 1983, Tröger was involved in the team led by Diethart Kerbs, Walter Uka, and Brigitte Walz-Richter that put together on behalf of the Bund Deutscher Kunsterzieher e. V. a pioneering exhibition in West Berlin on the history of press photography. Under the title »Die Gleichschaltung der Bilder: Pressefotografie 1930-1936,« the exhibition was on display in Galerie 70 in Schillerstrasse between September and November 1983.5 In the exhibition catalogue, Tröger is credited under the heading Mitarbeit as having undertaken interviews. She contributed to the volume a transcript of the interview she conducted in April 1983 with Rolf Peter Petersen on the history of the photo agency Dephot and its enforced closure in 1933, and an article based on her interview with Ilse Bing, on which more below. The editors’ preface explained what gave rise to the exhibition: it was one of a series of events proposed by the Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz in the Berliner Abgeordnetenhaus and organized by the Berliner Kulturrat in order to document the destruction of democracy in 1933 and the cultural devastation that accompanied it.6 Diethardt Kerbs then used his Introduction to issue a manifesto for a self-determined and emancipatory historical practice that would make the most of newspapers and photographs as historical sources: Beide – Zeitungen wie Fotos – können uns dazu verhelfen, ein Bild von der Vergangenheit zu gewinnen, selbständig und ohne Bevormundung in der Geschichte zu graben und nach Anknüpfungspunkten für eigene Probleme und Hoffnungen zu suchen.7 The following year Tröger worked again with Kerbs to publish a collection of photographs by Gerhard Gronefeld of Frauen in Berlin 1945-1947, drawing on Gronefeld’s personal archive. Doubtless due to this personal cooperation with the photographer himself, the edition only touched in its introductory text very briefly on Gronefeld’s wartime stint as a Propagandakompanie photographer and his work for the magazine Signal. It highlighted instead how he had outwitted the Allied occupying forces and concealed his camera and equipment so that he could document from the outset the city under occupation.8 Tröger and Kerbs worked together with Gronefeld to provide captions, and Tröger wrote a concluding text in which she drew on her research on women in Germany during 4 5 6 7 8
Fotogeschichte 1982, p. 34. Kerbs / Uka / Walz-Richter (Eds.): Gleichschaltung der Bilder 1983. Kerbs / Uka / Walz-Richter: Vorwort, in: Gleichschaltung der Bilder 1983, pp. 4 f. Kerbs, Einleitung, in: Gleichschaltung der Bilder 1983, p. 7. Editorische Notiz, in: Gronefeld: Frauen in Berlin 1984, p. 2. For additional information on Gronefeld’s career, see Ranke: Deutsche Geschichte kurz belichtet 1991.
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and after the Second World War in order to comment on the photographs.9 The published selection, she explained, steered clear of the already clichéd image of Trümmerfrauen, but it nevertheless highlighted how the predominantly female adult population of the city succeeded in keeping daily life going in the aftermath of defeat. The edition included many images that Tröger characterized as »Sittenbilder,« showing – as of course a professional press photographer would show – the more visually striking and piquant dimensions of women’s post-war lives in occupied Berlin and their diverse efforts to secure a meagre existence. Commenting on the surreal elements in Gronefeld’s shots of collapsed and halfburied monuments among the cabbages and potatoes that women had planted in Berlin’s public parks, Tröger drew a pointed conclusion: »Der Alltag der Frauen machte die Symbole des männlichen Heroismus zur Farce.«10 Re-reading Tröger’s diverse and idiosyncratic texts on photography offers salutary reminders of the activist context and the commitment to collective intellectual endeavour from which they arose. In the case of her collaboration with Diethart Kerbs on the Gronefeld photo-edition, there is also a sense of a shared mission to retrieve and make known valuable visual sources hidden in private collections. But along with the vivid insights and provocative interpretations that her texts provide, they also raise some questions and paradoxes, as I will explore in the following using the example of her article on Ilse Bing. We cannot be sure how Tröger came to interview Ilse Bing in Manhattan in May 1983: whether she already had a personal contact with Bing and persuaded the exhibition curators of Die Gleichschaltung der Bilder that the exhibition catalogue should include an interview with Bing, even though on the face of it Bing – as a native of Frankfurt who emigrated to Paris in 1930 – had a relatively tenuous connection with the Berlin press photography scene that was the subject of the exhibition. Perhaps Tröger argued that the catalogue should include at least one contribution focused on a woman photographer; alternatively, perhaps the curatorial team already had this idea and commissioned Tröger to provide such a contribution. Whatever the story behind her contribution, the piece on Bing was deftly positioned in the volume straight after Kerbs’ 1982 interview with Harald Lechenperg about a 1930 assignment in Afghanistan and a scoop which, he boasted, had put him »in die erste Reihe der reisenden Bildjournalisten.«11 Since no original transcript of Tröger’s interview with Bing has come to light, there is also no way of finding out the duration and scope of the interview and what Tröger left out when compiling her article. What follows here, therefore, is a reading of the article, asking what it tells us about Bing’s career trajectory, what it says about Bing’s photographs – including in the light of literature on
9 Tröger in: Gronefeld: Frauen in Berlin 1984, p. 31. 10 Ibid. 11 Kerbs: Harald Lechenperg in Afghanistan, in: Kerbs / Uka / Walz-Richter (Eds.): Die Gleichschaltung der Bilder 1983, pp. 86-90.
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the photographer that has appeared in the decades since 1983 – and what it may also tell us about its author and her approach to her subject. The article, which is accompanied by a brief note on Ilse Bing’s biography, focuses explicitly on an »Ausschnitt aus dem Leben der Fotografin Ilse Bing,« particularly on the years 1930-1936 in line with the periodization of the exhibition. In highlighting this phase of Bing’s career as taking place »Zwischen Kunst und Zeitungsmarkt,« it shows how Bing navigated between working as a press photographer, contributing Bildreportagen and individual images to illustrated magazines, and building her reputation as an art photographer to the point that her photos were included in the exhibition Photography 1859-1937 at the Museum of Modern Art in New York in 1937. How does Tröger present Bing’s career as a photographer starting in the 1920s in Frankfurt? It is striking that Tröger admits immediately at the start of her article that her initial agenda – to use Bing as a case study of the discrimination suffered by women photographers and photojournalists in a man’s world – had met an obstacle in Bing’s refusal to dwell on past difficulties, which had included being incarcerated in 1940 under the Vichy regime in the concentration camp at Gurs before being able to emigrate, with her husband, to New York in 1941. Bing had wanted, instead, to present herself as someone who had ignored or side-stepped difficulties and injustices in order to build a life as a creative artist. Nevertheless, for all Tröger’s admiration for Bing’s outlook, and her acknowledgement that Bing had no interest in being constructed as a victim of sexism, throughout the text Tröger insists that Bing really had been generally disadvantaged as a woman. To this reader at least, it seems that Tröger had to work hard to present Bing’s career as a story of gender-based discrimination. Tröger begins with recounting the story of how Bing’s turn to photography was the accidental result of Bing purchasing a Voigtländer camera in 1927 to take particular photographs (of buildings, it turns out)12 for her planned PhD in art history. As she began to use it, she became fascinated by its possibilities. Her photographs came to the attention of the editor of the Frankfurter Illustrierte,13 Max Geisenheyner, who commissioned her to undertake photo features – including the welfare office feature published just before Christmas in 1929. Tröger does not provide information about how Geisenheyner came across Bing and her photographs; presumably Bing did not explain how she came to have this connection. Up to this point, Tröger can only underline Bing’s extraordinary good fortune to have a powerful patron fostering her early career. Even once Bing recounts to Tröger the story of her more mixed fortunes as a photojournalist and budding art photographer in 1930s Paris, there seems to 12 The actual subject matter of Bing’s planned PhD, not mentioned by Tröger, was the architect Friedrich Gilly (1772-1800). Schmalbach: Ilse Bing 1996, p. 5. 13 Tröger refers to the periodical even pre-1931 as Frankfurter Illustrierte rather than Das illustrierte Blatt, see also footnote 17 below.
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have been little for Tröger to pick up on that would have shown Bing being disadvantaged as a woman. Tröger admits this and even points out that the need for photojournalists to have powerful connections was »keinesfalls ein ›frauenspezifisches Phänomen‹.«14 Nevertheless, she is still determined to find Bing disadvantaged by alleged inhibitions when it came to self-promotion, particularly in the world of photojournalism, and suggests that Bing’s negative experiences with the newly powerful photo agencies operating in 1930s Paris – about which Bing was scathing – could be ascribed to »dieses geschlechtsspezifische Handicap.«15 But Tröger then paradoxically cites a gender-specific reason why Bing had an advantage as a woman over her male colleagues: she had allegedly fewer reservations about taking on low-status jobs to make ends meet. »Und hier hatten Frauen – besonders Frauen wie Ilse Bing – durchaus einen Vorteil vor ihren männlichen Kollegen: Für sie bedeutete es weniger eine Statuseinbuße, einen Verlust von Ansehen und Selbstbewusstsein als für die Männer ihres Standes.«16 What does Tröger’s article tell us about Bing’s photographs and her photographic practice? One puzzling characteristic of the article is that Tröger spends no time discussing the photographic work by Bing that she reproduces – a photo-reportage from Das illustrierte Blatt, 1929, on scenes in a welfare office,17 and Bing’s famous Selbstporträt im Spiegel from 1931. The photos simply appear as illustrations for the interview. Perhaps this was because Bing’s images did not speak to Tröger’s interests – did Tröger regard the 1929 social reportage on a welfare office as conventional, or fashion images and Paris street scenes as shallow? Or did this seeming disregard for the distinctive qualities of Bing’s photography perhaps reflect more the fact Tröger was from the outset consciously rejecting an art-historical approach to Bing’s work that would have dwelt on the technical and aesthetic features of the pictures themselves? That said, Tröger does address issues of technique, underlines the importance to Bing of her Leica camera (she had by now switched to a Leica), and uses her discussion of photographic technique to underline one of her general hypotheses about the harsh climate of competition between photographers, even, or particularly, among those of the avant-garde: thus Bing, as she presented her history to Tröger, had to discover solarization for herself rather than being shown the technique by Man Ray or any other leading light of avant-garde photography at the time. Tröger’s article appeared at a time when women photographers and artists of the inter-war European avant-garde were attracting increasing attention from researchers, publishers, and curators. Tröger’s work reflected this trend but also 14 15 16 17
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Tröger: Zwischen Kunst und Zeitungsmarkt, p. 165. Tröger: Ibid., p. 167. Tröger: Ibid., p. 168. Menschen helfen einander. Notizen aus der öffentlichen Fürsorge. Spezial-Aufnahmen Ilse Bing, in: Das Illustrierte Blatt, No. 51 (21. December 1929), pp. 1494 f. – Das Illustrierte Blatt was renamed Frankfurter Illustrierte in 1931: Kerbs/Uka/Walz-Richter (Eds.): Die Gleichschaltung der Bilder 1983, p. 200.
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contributed to it: in writing about Bing and in undertaking further efforts to bring her work to a new public, Tröger helped revive interest in Bing’s work. In June 1984, Bing wrote to Tröger to thank her for her assistance in fixing up lecture invitations in November 1984 in Essen and at the Historisches Museum Frankfurt.18 Subsequently, Bing’s work was the subject of retrospectives in New Orleans in 1985, in Paris in 1987, and in Aachen in 1996, and the interview she had granted to Tröger became a resource for later catalogues.19 But what of the issues that Tröger raised about how women fared in the competitive and commercial worlds of photojournalism and art photography? And what should we make of Tröger’s account of Bing’s career today in the light of the research that has appeared since 1983? In some respect the more recent research fills in some gaps and modifies some of Tröger’s picture of Bing as a solitary »Einzelkämpferin,« somewhat isolated both in her Frankfurt days and later in Paris, who felt inhibited about promoting herself. In relation to her Frankfurt years, for all that Bing portrayed herself as on the outermost fringes of the Bauhaus, the contacts traced by later researchers – between her and the Bauhaus architect Mart Stam, who helped her place her work in the periodical Das neue Frankfurt, and her encounter with the Bauhaus-influenced photography of Florence Henri – emerge as a dimension of Bing’s early career (and her decision to depart for Paris) that is absent from Tröger’s account. And whereas Tröger mentions that Bing’s unconventional photographs of Moulin Rouge can-can dancers were accepted for display along other examples of modern photography in the window of the bookshop-gallery La Pléiade – a move which in turn led to Bing’s work being discovered by Emmanuel Sougez as he passed by – the Foreword to the catalogue of the Ilse Bing retrospective exhibition in Paris in 1987 presents Bing’s own initiative in the episode much more dramatically: in this account, Bing had seen the display, returned home, fetched her Moulin Rouge photographs, gone into the shop and persuaded the shop-owner to add her photos to the window display.20 While not all of Tröger’s assumptions and speculations have been borne out by more detailed research over the past decades, her insistence on a gender perspective on Bing’s biography – even in face of Bing’s own lack of interest in the question – continues to provide a fruitful angle on the world of avant-garde art photography and on photojournalism in the interwar period. The continuing interest in viewing Bing through the lens of gender is reflected in the exhibition catalogue Frauenobjektiv and Unda Hörner’s recent overview of Paris-based avant-garde women photographers of the 1930s under the title Madame Man 18 Ilse Bing, airmail letter date stamped 28 June 1984 to Annemarie Tröger. Private archive Annemarie Tröger. 19 Schmalbach: Ilse Bing 1996, p. 6. Bing also assisted other researchers, for instance, giving an interview in 1985 to Nancy C. Barrett, author of: Ilse Bing: Three Decades of Photography 1985. 20 Reynaud: Ilse Bing et Paris, in: Ilse Bing – Paris 1931-1952 1987, p. 7.
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Ray.21 Here, Bing’s career is traced alongside that of other women photographers, many of whom – unlike her – had undergone formal training as a photographer. What these studies illustrate is that many female contemporaries of Bing, whether self-taught or not, made their living through photography, whether through selling their work to the illustrated press, undertaking commissions for fashion houses and advertising agencies, or working as studio photographers – though their careers, too, were patchy and precarious. To that extent, the newer studies provide a richer context for understanding the features that Bing shared with other women photographers of her generation. Moreover, the questions posed by Tröger, inspired by her critique of capitalism and her identification with outsiders as well as by her feminism, about competition between photographers and the role played by money, power and connections in determining what photos found an audience remain as valid today as they were then.
21 Frauenobjektiv – Fotografinnen 1940-1950, 2001; on Bing see pp. 126 f.; Hörner: Madame Man Ray 2002.
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Annemarie Tröger / Lore Kleiber / Ingrid Wittmann
Mündliche Geschichte: Ein Charlottenburger Kiez in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus (1982)
Inhalt • Bericht zur Methode (Annemarie Tröger) • Der Kiez als soziales Gebilde (Annemarie Tröger) • Die soziale Topografie des Kiezes (Lore Kleiber) • Machtübernahme und NS - Terror im Kiez (Ingrid Wittmann) • Ehe und Karriere eines nationalsozialistischen Ehepaares (Ingrid Wittmann) • Juden im Kiez (Ingrid Wittmann) • Von der Kiez-Gesellschaft zur Kellergemeinschaft. Bombenkrieg 1943-45 (Annemarie Tröger)
Bericht zur Methode Es hat sich, glaube ich, inzwischen erübrigt, die Methode der »Oral History« (»Mündliche Geschichte«) gegen den grundsätzlichen Einwand der Unwissenschaftlichkeit zu verteidigen. Als 1976 die Projektgruppe »Mündliche Geschichte – Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus«, aus der das »Kiez-Projekt« hervorgegangen ist, anfing zu arbeiten, hielten viele Hochschullehrer innerhalb und außerhalb der FU Berlin diese Methode bestenfalls für eine nicht ernst zu nehmende Spielerei von (meist) weiblichen Universitätsmitgliedern – wenn ihr wissenschaftliches Gewissen sie nicht zu noch härteren Urteilen trieb. Einige dieser Hochschullehrer betreuen inzwischen selbst Forschungsprojekte oder Dissertationen, die mit dieser Methode arbeiten. Institute, die noch vor zwei Jahren, als das Kiez-Projekt im Rahmen der »Berlindienlichen Forschung« gefördert zu werden begann, eine befristete institutionelle Anbindung dieses oder ähnlicher Projekte weit von sich wiesen, planen inzwischen selbst – dankenswerterweise – die Einrichtung permanenter Arbeitsschwerpunkte »Oral History« oder veranstalten einschlägige Konferenzen. Heute besteht vielmehr die Gefahr, dass die »Mündliche Geschichte« oder »Biografische Methode« zu einer akademischen Methode wird. Interviewverfahren: Im Folgenden erübrigt es sich deshalb auch, die »Mündliche Geschichte« im Allgemeinen und ihre verschiedenen Anwendungsformen 177
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zuhandeln. Vielmehr soll nur unser spezifischer Ansatz des lebensgeschichtlichen Interviews diskutiert werden. Seine Anwendbarkeit auf die nicht unproblematische jüngere deutsche Geschichte zu überprüfen, war eines der Ziele dieser Untersuchung. In dieser Hinsicht verstand sich das Projekt als Pilotstudie. Nach einer Reihe von Probeinterviews, die die Erstellung des Interviewleitfadens begleiteten, entschieden wir uns für die offene, vom Befragten weitgehend selbst gesteuerte, lebensgeschichtliche Erzählung. Das heißt: Die ganze Biografie der / des Befragten sollte – zumindest in Umrissen – deutlich werden, allerdings wurden die Lebensphasen, die in die Zeit der Weimarer Republik und des NS fielen, zum zentralen Thema der Gespräche. Da wir uns aus Zeitgründen auf die Generation konzentriert hatten, die um die Jahrhundertwende und vor dem Ersten Weltkrieg geboren wurde, stand damit die Jugend und das jüngere Erwachsenenalter im Vordergrund der meisten Interviews. Das bedeutet für die Auswertung: Einige unserer Ergebnisse mussten auf die »Altersvariable« hin hinterfragt werden. Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Befragten sollte ihr eigenes Leben stehen und nicht die Fragen unseres Forschungsinteresses. Selbstverständlich waren die Befragten bei der Kontaktaufnahme über die Ziele des Projekts so weit informiert worden, dass uns ihr Leben im Kiez in den 20er und 30er Jahren interessiere. »Offen« heißt, dass es keinen festgelegten Fragenkatalog und keine festgelegten Antwortmöglichkeiten gab. »Selbst gesteuert« bedeutet, dass die Befragten den Gesprächsverlauf weitgehend selbst bestimmen sollten, für sie wichtige Themen ansprechen und plötzlich auftauchende Erinnerungen einbringen konnten. Es gab nur wenige Fragen, die – falls notwendig – von der Interviewerin thematisiert werden sollten. Dazu gehörte z. B. die Präsenz von Juden im Kiez, die Judenverfolgung sowie einige lokale politische Ereignisse. Die Rolle der Interviewerin sollte sich im Übrigen möglichst darauf beschränken, bestimmte Themen durch Nachfragen zu vertiefen. Begründung der Vorgehensweise: 1. In den Vorinterviews hatte sich gezeigt, dass das Thema NS sehr häufig umgangen wurde. Bei direkten und notwendigerweise relativ allgemeinen Nachfragen wurde meist mit Argumenten aus der Entnazifizierungszeit geantwortet, die oft noch mit popularisierten Ideologemen der Totalitarismustheorie und des Kalten Krieges (»im Osten ist es ja genauso«) überhöht, zusammengefasst und beendet wurden. Die vorrangige Beschäftigung des Gesprächs mit dem eigenen Leben sollte es den Befragten dagegen ermöglichen, die Ereignisse ihres »privaten« Lebens und ihr Verhalten ohne politischen Legitimationsdruck zu schildern, um dann die konkreten politischen Umstände und Bedingungen – ggf. durch Nachfragen – herauszuarbeiten. (Ergebnis:) Die Interviewerinnen brauchten die Einsicht in die konkreten Lebensumstände, um differenzierte (politische) Fragen stellen zu können. Das lebensgeschichtliche Interview ist also keine »Überrumpelungstaktik«, um die Befragten in das unbeliebte Thema NS hineinzulocken – so naiv 178
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ist niemand –, sondern eine Möglichkeit, die Komplexität und Widersprüchlichkeit dessen, was als »politische Durchdringung des Alltags« bezeichnet wird, mit eigenen Worten und in der Sprache des »Erlebten« darzustellen. Das erleichterte die Antworten selbst in den schwierigen Interviews, die mehr auf ein »Abfragen« hinausliefen. 2. Der zentrale Untersuchungsgegenstand des Kiez-Projektes ist die Struktur des sozialen Zusammenhangs in einem Berliner Arbeiterwohnviertel in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Es mag wie ein Widerspruch erscheinen, das lebensgeschichtliche Interview, das sich auf das individuelle Schicksal konzentriert, zur Untersuchung der sozialen Beziehungen einzusetzen. Das Vorgehen der counter-factual-evidence wurde jedoch bewusst gewählt, denn es lässt sich in soziologischen community-Studien, die auf Befragungen basieren, in unseren Vor- und auch noch in den Hauptinterviews zeigen, dass direkte Fragen nach sozialen Beziehungen ein zu positives, idealisiertes Bild ergeben. Die sozialen Normen, eine verträgliche Nachbarin, ein solidarischer Genosse, ein zuverlässiges Familienmitglied, kurzum, ein geachtetes und integriertes Mitglied jedweden sozialen Zusammenhangs zu sein, sind zu stark, als dass Abweichungen von dieser Norm, wie Konflikte und Auseinandersetzungen, einer fremden Interviewerin gegenüber zugegeben würden. Kann dieser bias in einer soziologischen Studie durch andere Techniken (z. B. teilnehmende Beobachtung) korrigiert werden, so ist das in einer historischen Arbeit aus offensichtlichen Gründen nur sehr schwer möglich. (Ergebnis:) Beurteilte man den sozialen Zusammenhang ausschließlich nach den Antworten auf direkte Fragen, dann wäre der Kiez »wie eine Familie«, die Bewohner eines Hauses »sich einig«, die Laubenkolonien Paradiese froher Gemeinschaft und die lokalen Parteiorganisationen wahre Festungen politischen und sozialen Zusammenhalts gewesen. Vereinzelte Störenfriede dieser Idyllen wären danach Menschen mit irgendwelchen Charakterfehlern oder soziale Außenseiter gewesen. Die Veränderungen im Nationalsozialismus bleiben dann allerdings unerklärlich: die Angst, das gegenseitige Misstrauen, die in den Interviews – nur zurückhaltend – benannten, aber aus den lokalen Polizeiakten nachweisbaren Denunziationen. (s. »Kiez als soziales Gebilde« und »Kieztopographie«; s. o. meine Kritik am Borsig-Projekt.) Aus unseren Erfahrungen ist der vorsichtige Schluss zu ziehen, dass in einer frei erzählten Lebensgeschichte die für das Individuum wichtigsten sozialen Bezüge und Bezugspersonen deutlicher und ehrlicher hervortreten, als es in endlosen Fragelisten nach allen denkbaren sozialen Beziehungen, wie sie in der experimentellen Sozialpsychologie benutzt werden, der Fall wäre. Ein Teil der für das Individuum im Lebensrückblick weniger wichtigen sozialen Beziehungen bleibt allerdings unerwähnt. Es hat sich weiterhin bestätigt, dass durch die Schilderung von Ereignissen (»Geschichten«) sich die Qualität und die Funktion bestimmter sozialer Beziehungen, aber auch ihre Zwiespältigkeit, klarer abzeichnet als in anderen, sonst üblichen Erfassungsmethoden. Der durch die biografische Methode induzierte bias, sich selbst als autarke, von niemandem abhängige 179
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Person zu schildern, trat besonders bei einigen Männern hervor, der sich aber dank seiner Durchgängigkeit relativ leicht entdecken und abschätzen lässt. 3. Es ist eine bekannte Tatsache, dass eine Erhebung mit einem Fragebogen nur die »Vorurteile« des Forschers bestätigt. Schon bei der Konstruktion unseres sehr langen und mehrschichtigen Interviewleitfadens, der nur die Funktion einer Gedächtnisstütze hatte, war uns deutlich geworden, dass die Komplexität eines »einfachen Lebens« nicht in einem Fragenkatalog zu fassen ist, besonders dann nicht, wenn man (wie wir) seine Verflochtenheit und seine Abhängigkeit von den zeithistorischen Umständen aufzuzeigen versucht. (Ergebnis:) Durch die lebensgeschichtlichen Erzählungen sind wir auf eine Unmenge von Zusammenhängen und Querverbindungen gestoßen worden. So war uns z. B. die Einwanderung nach Berlin als Tatsache und als statistische Größe durchaus bekannt. Sie taucht in unserem Leitfaden v. a. als »Nahrungsmittel-Verbindung zum Land« auf. Uns war aber nicht bewusst, wie die Einwanderung und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Einwanderungsgeneration (ob zur ersten, zweiten etc.) das Schicksal des Individuums determinierte und die Kiez-Gesellschaft prägte. All das wird in den frei erzählten Lebensgeschichten sehr deutlich (s. u.). 4. Begriffe für soziale Beziehungen wie »Freund«, »Freundin«, »Nachbar«, »Kollege« etc. sind in ihrer emotionalen und funktionalen Bedeutung unterschiedlich, je nach Alter, Schicht und Geschlecht, und sie verändern sich in der historischen Entwicklung. Mit direkten Fragen können die Bedeutungsunterschiede nicht herausgearbeitet werden. (Ergebnis:) In der lebensgeschichtlichen Erzählung werden die von den Befragten gewählten Begriffe meist im Zusammenhang mit bestimmten erläuternden Handlungen verknüpft. So wird der Bedeutungsgehalt der sozialen Begriffe vom Befragten selbst definiert. Diese vier Gründe waren die wichtigsten, uns für lebensgeschichtliche Gespräche zu entscheiden, trotz der Schwierigkeiten und methodischen Probleme, die dieses Vorgehen besonders für die Auswertung mit sich bringt. Suchte man ein wissenschaftliches »Modell«, so ähnelt unser Vorgehen noch am ehesten der Studie von Oscar Lewis, Ruth M. Lewis und Susan M. Rigdon über die kubanische Revolution.1 Kritik an der Methode: Psychologismus. Die methodischen Probleme der freien, unstrukturierten lebensgeschichtlichen Erhebung sollen hier kritischer, als es in kurzen Schlussberichten sonst üblich ist, diskutiert werden, gerade weil die »Mündliche Geschichte« – und hier besonders die »Lebensgeschichte« – im Begriff ist, zu einer intellektuellen Mode zu werden, mit ungeheuren Erwartungen überfrachtet, die spätestens dann in sich zusammenfallen, wenn der / die Forscher / in vor einem Berg von inhomogenem, z. T. diffusem und widersprüchlichem Material steht. Denn die Modewelle der kurz redigierten und schnell 1 Lewis / Lewis / Rigdon (Hrsg.): Living the Revolution, 1: Four Men 1977, 2: Four Women 1977, 3: Neighbors 1978.
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publizierten lebensgeschichtlichen Erzählungen oder Interviewausschnitte, die als besonders originäre »Geschichte von unten« verkauft wurden, hat sich inzwischen auch schon gebrochen. Einige Wissenschaftler, auch einige »mündliche« Historiker, äußern gegenüber dem Ansatz der lebensgeschichtlichen Erzählung, der über die Fakten einer »Bewerbungsbiografie« hinausgehe, den Verdacht des unqualifizierten Psychologisierens, des Psychologismus. Obwohl ein solcher Vorwurf nur bei völliger Unkenntnis über psychologische und psychoanalytische Verfahren erhoben werden kann, gebe ich zu, dass auch mir die Vorstellung eines Schwarms von Jungakademikern, der, mit Tonbandgeräten bewaffnet, über greise Arbeiter / innen und Kleinbürger / innen herfällt, um dann die Bänder nach »Freud’schen Fehlleistungen« abzusuchen, Unbehagen bereitet. Weil diese Gefahr besteht, soll der Unterschied zwischen psychologischen und psychoanalytischen Verfahren und dem lebensgeschichtlichen Interview in der »Oral History« kurz skizziert werden. In der Gesprächssituation selbst taucht die Gefahr des dilettantischen und gefährlichen Psychologisierens kaum auf, denn erfahrungsgemäß weichen beide Beteiligten »instinktiv« auch nur der Erwähnung psychisch konfliktbeladener Ereignisse aus: der Befragte, weil es sehr schmerzhaft – wenn nicht sogar »verdrängt« – ist; der Interviewer, weil er sich hilflos fühlt. Gesprächsteile, die oft für »psychologisch unheimlich interessant« oder »erhellend« gehalten werden, entpuppen sich bei genauerem Anhören meist als Situationen, in denen die Befragten Meinungen äußern oder Handlungen beschreiben, die sie für sozial sanktioniert halten oder bei denen sie glauben, dass sie von der Interviewerin nicht geteilt werden, die sie aber bei größerer Vertrautheit mit ihr »nun mal ganz ehrlich« mitteilen möchten. Im Übrigen ist die Mehrzahl der Befragten durchaus in der Lage, sich gegen gelegentliche Übergriffe von Interviewern zur Wehr zu setzen. Der Ruf nach psychologischen Techniken wird in der aktuellen Diskussion v. a. dann laut, wenn sich die Forscher überfordert fühlen: Die Befragten erweisen sich als »schwierig« und »störrisch«, sie erzählen, wie sie wollen, sie lassen sich von ihrem Erzählfaden nur schwer abbringen, oder sie lassen sich abfragen, anstatt ihre Geschichte herauszusprudeln, sie sind »schwerhörig« bei bestimmten Themen, kurzum, sie erweisen sich als die Stärkeren und Dominanten in der Gesprächssituation. Damit wäre der schwerwiegendere Teil des o. g. Vorwurfes beantwortet. Es bleibt die Gefahr, dass bei der Interpretation den Lebensgeschichten – und damit den Befragten – popularisierte Interpretationsmuster der unterschiedlichsten psychologischen Schulen übergestülpt werden. Allerdings trifft dieser Vorwurf nicht nur die »Oral History« oder den lebensgeschichtlichen Ansatz. Viel mehr haben gerade in den letzten Jahren, bei der Öffnung der Geschichtswissenschaft für politisch und sozial relevante Fragestellungen und in der neueren Wirtschaftsund Sozialgeschichte die »Ismen« verschiedenster Provenienz geblüht: Ökonomismus, Soziologismus, Psychologismus und neuerdings Ethnologismus. Die 181
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Unzulässigkeit von psychologisierenden Interpretationen soll an der grundsätzlich unterschiedlichen Gesprächsintention und -führung beim psychologischen / psychoanalytischen Gespräch einerseits und dem lebensgeschichtlichen Interview in der »Oral History« andererseits gezeigt werden. Für das psychologische Gespräch ist die Darstellung von äußeren Lebensumständen nur insofern interessant, als bestimmte Faktoren und Konstellationen, die mit der Genese des Leidens verbunden sind, aufgespürt werden können. »Schlüsselsituationen«, in denen solche Konstellationen auftauchen, werden bis ins Detail mit nach Schulen unterschiedlichen Techniken »durchanalysiert«. Art und Intensität der Durcharbeitung ist keinesfalls vergleichbar mit der relativ simplen Form der Gesprächsführung in der »biographischen Methode«. Das Auftreten von ähnlichen Situationen wird im Lebensverlauf bis in die frühe Kindheit zurückverfolgt. Äußere Lebensumstände und das Zeitgeschehen werden nur dann erhoben, wenn sie für die Entwicklung des Leidens und der Syndrome von Bedeutung sind. Generell wird der Patient von der Darstellung der äußeren Lebensumstände immer wieder auf sich selbst gelenkt. Dagegen zielt das lebensgeschichtliche Interview gerade in die umgekehrte Richtung: weg von der eigenen Person hin zur Darstellung der sie umgebenden Welt. Dabei soll ein möglichst breites und vielfältiges Spektrum von sozialen und historischen Situationen entstehen. Das einzelne Bild ist dementsprechend gröber und würde für eine psychologische Interpretation nicht annähernd ausreichen. Werden einzelne Situationen näher beleuchtet, so geschieht ihre Auswahl nach dem Forschungsinteresse des Interviewers, nicht aber nach ihrem Stellenwert für die Persönlichkeits- oder Krankheitsentwicklung des Interviewten. Die »Analyse« der in sozialen Situationen wirksamen Akteure und Kräfte geschieht im psychologischen Gespräch mit dem Ziel, ihre psychische »Repräsentanz« beim Patienten festzustellen. Im lebensgeschichtlichen Interview dagegen versucht man, ein möglichst realistisches Bild vom sozialen Kräfteverhältnis zu gewinnen. Die individuelle psychische »Repräsentanz« erscheint hier eher als »störender Faktor«, den man so weit wie möglich versucht zu reduzieren. Eine Art von »Motivationsforschung« war allerdings schon immer ein legitimes Interesse von historischer Forschung: Wie kam es zu bestimmten Entscheidungen und Handlungen einer Person? Welche Faktoren und situativen Umstände spielten dabei eine Rolle? Wie groß war der Entscheidungs- oder Handlungsspielraum? Welche Personen (-Gruppe) aus dem sozialen Umfeld unterstützte oder sabotierte die Entscheidung? Was für Kaiser Heinrich oder Otto v. Bismarck billig ist, sollte für Anna Schulze recht sein, wenn auch mit anderen Quellen und Fragen und in einem anderen Feld sozialer Bedingungen. Bei der Auswertung der Erzählungen sind drei Arten des Vergleichs angewandt worden: a) zwischen Archivmaterial und Aussagen in den Interviews. Ein direkter Vergleich (schriftliche gegen mündliche Aussage) ist jedoch nur in wenigen Fällen möglich. Meist kann der Vergleich nur nach dem ersten 182
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schritt (zusammenfassende Darstellung durch die Forscherin) durchgeführt werden. b) der interindividuelle Vergleich: Aussagen zu einem bestimmten Ereignis und Einschätzung eines Sachverhalts von mehreren (möglichst allen) Befragten. Unterschiedliche Erfahrungen und Erlebnisse der Befragten in Bezug auf eine soziale Gruppe (Hausgemeinschaft) oder auf eine Form des sozialen Zusammenhangs (Parteien, Familien). c) der intraindividuelle Vergleich: Stellenwert einer Aussage in Bezug auf die gesamte Erzählung eines Befragten (»Standardgeschichte«, auf Nachfrage etc.); Bedeutung eines Ereignisses (auch: eines sozialen Zusammenhangs) für den Lebensverlauf des / der Befragten. Das Ziel ist, eine Kombination von b und c durchzuführen: Zunächst soll eine Aussage einer Person vor dem Hintergrund der gesamten Lebensgeschichte »validiert« werden (c). »Validierung« kann hier nur heißen, dass der Bedeutungsgehalt einer Aussage konkretisiert und eingegrenzt wird, und nicht, ob sie »richtig« oder »falsch« ist (außer bei Jahreszahlen und »einfachen« historischen Tatsachen). Danach erst wird die interpretatorisch relativierte Aussage in den Zusammenhang mit den Aussagen anderer Befragter zum gleichen Thema gebracht (b). Es ist einsichtig, dass ein solches Vorgehen – methodisch und in der Darstellung – leicht ist bei einer relativ homogenen Gruppe, noch dazu, wenn sich die Aussagen auf einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund beziehen (z. B. proletarische Jugendliche zu ihrem Sportverein). Sehr viel schwieriger – aber um so notwendiger – ist das Verfahren, wenn die Erfahrungen einer komplexen Gruppe, wie der »Kiezgesellschaft«, verglichen werden. Methodische Schwierigkeiten: 1. Im Gegensatz zu Fragebogeninterviews tauchen nicht alle für die Hauptfragestellungen relevanten Themen in allen Erzählungen auf. Einige Themen erscheinen nur in einem Teil der Interviews. Damit ist die interindividuelle Vergleichbarkeit (b) reduziert. Diese Schwierigkeit war voraussehbar. Es wurde trotzdem darauf verzichtet, die Liste der »obligatorischen Fragen« wesentlich zu verlängern, weil das den Charakter der frei erzählten Lebensgeschichte zerstört hätte. Die geringere inter-individuelle Vergleichbarkeit wurde also zugunsten der intra-individuellen (c) in Kauf genommen. 2. Die Interviews sind aus verschiedenen Gründen unterschiedlich lang. Es wurde auf eine willkürliche Festlegung der Dauer verzichtet, weil wir uns methodisch und inhaltlich auf einem unbekannten Territorium befanden (freie Erzählung über die NS -Zeit): Dass Antifaschisten – mit welchen Behinderungen auch immer – erzählen würden, war klar und von vielen Journalisten und Wissenschaftlern vor uns gezeigt worden. Wie aber würden die »kleinen Mitläufer«, die »Unpolitischen«, die ehemaligen Nationalsozialisten reagieren? Zunächst einmal waren wir froh, wenn solche Befragten überhaupt bereit waren zu reden. Eine grobe Übersicht über die Länge der Interviews ergibt: Nicht etwa die mittelständischen »Gebildeten« erzählen länger und »freier«, wie in den meisten sonstigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, sondern Arbeiter / 183
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innen. Das korreliert aber sehr stark mit einer antifaschistischen Vergangenheit. Auch die ehemaligen »bewussten« Nationalsozialisten / innen reden nach einer »Eingewöhnungsphase« relativ frei – und hätten wahrscheinlich noch länger geredet, wenn die Interviewerinnen den Kontakt nicht hätten »einschlafen« lassen. Am schwierigsten waren die Interviews mit den »unpolitischen« und »kleinen Mitläufern«. Sie erzählen – in Bezug auf den Nationalsozialismus – kaum frei, lassen sich abfragen und antworten zwar meist bereitwillig und ehrlich, aber kurz. Sie haben noch am wenigsten eine »fertige«, erzählbare Interpretation über jene Zeit – im Gegensatz zu (ehemaligen) Kommunisten und Sozialdemokraten, deren Darstellungen am parteioffiziellen Geschichtsbild überprüft werden müssten. Am schwierigsten war die Kontaktaufnahme mit dem alteingesessenen Kleinbürgertum, von ihm kamen die meisten »glatten« Absagen. Insgesamt sind also die Lebensgeschichten der Befragten am ausführlichsten, mit denen noch am ehesten eine »positive« Identifikation möglich war, und die sich gleichzeitig am problemlosesten interviewen ließen. Das ist zwar verständlich, bringt aber methodische und v. a. inhaltliche Probleme mit sich, sodass in ähnlich gelagerten Projekten, in denen die Aussagen verschiedener Personen miteinander verglichen werden, die Interviewdauer besser zu begrenzen ist. 3. Die Probleme und Gefahren liegen auf der Hand: Das – nicht zahlenmäßige, aber inhaltliche – Übergewicht der problemlosen Gesprächspartner kann sehr leicht das Gesamtbild eines »Kiezes im Faschismus« prägen, um so leichter, als es an bereits vorhandene Interpretationsmuster von KPD / SED und SPD anknüpfen kann. Damit aber wäre die Chance vertan, die die Oral History und besonders das lebensgeschichtliche Interview bietet, nämlich der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit einer historischen Situation, wie sie sich gerade im Alltag der »kleinen Leute« niederschlägt, auf die Spur zu kommen. Vorbemerkungen zu den Untersuchungsergebnissen: Die für diesen Kurzbericht vorgegebene Form erlaubt uns nur in groben Linien, die Ergebnisse unserer Forschungsarbeit vorzustellen. Wir bedauern, dass das Interviewmaterial, auf dem die von uns verwendete Oral-History-Methode im Wesentlichen basiert, hier nicht zum Belegen unserer Aussagen zitiert werden kann und das Charakteristische dieser Methode nur theoretisch nachzuvollziehen ist. Um überhaupt noch in dieser Kurzform inhaltliche Aussagen treffen zu können, konzentrieren wir uns auf nur wenige Punkte, die keinesfalls einer Gesamtdarstellung des Kiezes und unserer Arbeit entsprechen. (Eine Darstellung der Kommunisten und Sozialdemokraten fehlt.) 1. Die soziale Topographie des Kiezes, die aber nur in sehr geraffter Form skizziert werden kann. Die Basis hierfür ist verschiedenes Aktenmaterial (Gestapo-Akten, Adressbücher, Gerichtsakten, Polizeiberichte), konfrontiert mit Informationen aus den Interviews. 2. Die Phase der nationalsozialistischen Machtübernahme wird in Ereignisform wiedergegeben am Beispiel des Mordes an dem SA -Sturmführer Maikowski und dem darauffolgenden NS -Terror im Kiez. 184
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3. Die Phase der stabilisierten NS -Herrschaft zwischen 1934 und Kriegsbeginn soll an der verkürzten Geschichte einer Ehe eines untergeordneten Nazifunktionärs dargestellt werden, um die Komplexität und Widersprüchlichkeit zu zeigen, die gerade diese Phase kennzeichnet. In den Punkten 2. und 3. entspricht die Form der Darstellung auch der Form des erhobenen Interviewmaterials. Würde man diese Form willkürlich in eine abstrakte und zusammenfassende Analyse pressen, so entstünde ein blasses, banales Bild. Die Qualität dessen, was und wie es durch unsere Methode erforscht werden kann, würde nicht deutlich. Wir haben die Beispiele so gewählt, dass in Punkt 2. sowohl mündliche als auch schriftliche Quellen miteinander verglichen wurden (vgl. Methodenteil a und b), und der unter Punkt 3. angegebene Fall wurde aus dem Vergleich mündlicher Aussagen zweier Personen gewonnen (Vergleichsebene c). 4. Das Thema »Juden im Kiez« hat eher Überblickscharakter. Dies entspricht auch der Erhebungsmethode, die in diesem Fall angewendet werden musste. Wir konnten keine Juden aus dem Kiez interviewen, sodass es sich immer um Meinungen über Juden und die Wahrnehmung ihrer Präsenz im Kiez handelt. 5. Die Abschnitte über den »Kiez als soziales Gebilde« und über den Bombenkrieg entsprechen im Stil noch am ehesten den normalen sozialwissenschaftlichen Analysen, obwohl auch der »Bombenkrieg« noch vergleichsweise »konkretistisch« ist. Methodisch wurde dabei die Aussage einer Person vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte »reinterpretiert« und dann erst mit den Aussagen der übrigen Personen zum gleichen Punkt in Verbindung gesetzt (Kombination von Vergleich c und b). Über mehrere Schritte der Zusammenfassung und des Weglassens »unwichtiger Details« und des Abklärens mit der relevanten Literatur kommt man zu den eher analytischen Stücken. Aber auch hier konnte man nur auf eine Dimension der sozialen Beziehungen (»Nachbarschaft«) eingehen. Wichtige Themen wie: der Einschnitt, den der Krieg für die Lebensläufe bedeutet, oder: die Wahrnehmung der Kriegsvorbereitung u. a. konnten noch nicht einmal angedeutet werden.
Der Kiez als soziales Gebilde Aus den Erzählungen (und nicht den Antworten auf direkte Fragen) ergibt sich in sehr groben Zügen folgendes Bild vom sozialen Zusammenhang im Kiez: Die rein räumliche Nähe ergibt in einer Großstadt noch keinen sozialen Zusammenhalt. Das »Dorf in der Großstadt« (urban village), das gerade heute wieder mit dem Begriff »Kiez« verbunden wird, haben wir nicht gefunden. Zwar gab es noch einige Kuh- und Pferdeställe, aber im Gegensatz zu einem Dorf lagen die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten der lohnabhängigen Bevölkerung außerhalb des Kiezes. Räumliche Nähe plus gleiche oder ähnliche Schichtzugehörigkeit produzieren ein gewisses »positives Wohngefühl« in der Angestellten- und Beamtenschicht, 185
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in der Arbeiterklasse sogar ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. (Das mag in unserem Falle besonders bei Jugendlichen dadurch bestärkt worden sein, dass die wenigen proletarischen »Kerne« von kleinbürgerlichen Wohnquartieren umringt waren.) In normalen Zeiten bringt ein solches »Zusammengehörigkeitsgefühl« zwar gewisse subkulturelle Formen wie Kinder-, Hof- und Straßenfeste sowie Kinderund Jugendcliquen hervor, seine Belastungsfähigkeit in Zeiten politischer Repression scheint nach unseren Ergebnissen allerdings relativ gering gewesen zu sein. Ein wirklich aktiver Zusammenhalt und ein tragfähiges Netz für das Individuum ergibt sich jedoch in »normalen« Zeiten erst, wenn zu räumlicher Nähe und gleicher Schicht etwas Drittes hinzukommt: familiäre Beziehungen, Parteizugehörigkeit, kirchliche oder berufsständische Organisationen, sportliche Vereinigungen etc. Die Bedeutung des geographischen Raumes als ein Faktor des sozialen Zusammenhalts ist bei Arbeitern größer als bei Angestellten, bei Frauen größer als bei Männern. Für den Kiez hatten diese Organisationen aber nur dann eine integrative Funktion – ihre lokale Präsenz vorausgesetzt –, wenn sie eine gewisse dominante Stellung erreichen konnten. Die von der KPD organisierten Häuserschutzstaffeln sind ein positives Beispiel für die integrative Funktion über Parteigrenzen hinaus. Ansonsten konnten diese Vereinigungen ebenso Polarisierungen hervorrufen (vgl. SPD vs. KPD, Katholische Kirche vs. Evangelische Kirche). Die Bedeutung der einzelnen Faktoren und ihre gegenseitige Verknüpfung wird in der folgenden Beschreibung des Kiezes deutlicher (soziale Topografie).
Soziale Topographie des Kiezes Das von uns für die Lokalstudie ausgewählte Gebiet umfasst eigentlich mehrere »Kieze«. Der Begriff »Kiez« bezeichnet für den Berliner meistens nur wenige Straßen, eine Straßenkreuzung oder ein kleines Karree, das für die Anwohner übersichtlich und in seiner Zusammensetzung homogen ist. So hat sich unser Untersuchungsgebiet mit wachsender Interviewzahl vergrößert. Das Kernstück bildet der Danckelmann-Kiez mit der Danckelmann-, Seeling- und Nehringstraße. Hinzu kamen die übrigen Straßen innerhalb des Rechtecks, das von der Schlossstraße, der Sophie-Charlotte-Straße, dem Kaiserdamm und dem Spandauer Damm begrenzt wird. Die von der Schlossstraße in Richtung Wilmersdorfer Straße führenden Querstraßen, der Gierkeplatz und die lange Wall(heutige Zille-)straße wurden ebenfalls in die Untersuchung mit aufgenommen. Diese Erweiterung erwies sich als notwendig, da unsere Interviewpartner selbst den Kiez in der Erinnerung weiter fassten und z. B. in dem beschriebenen Gebiet sehr häufig die Wohnung wechselten – sie sich diesen Teil Charlottenburgs sozusagen »erwohnten«. Dieses Phänomen begegnete uns vorwiegend bei den Befragten der ersten Einwanderungsgeneration und bei Proletariern der zweiten Einwanderungsgeneration. Eine Stabilisierung der Wohnverhältnisse scheint 186
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bei denjenigen Kiezbewohnern eingetreten zu sein, die in die kleinbürgerliche Schicht aufgestiegen waren. Der Kiez ist nicht nur eine geographische Kategorie, sondern existiert viel mehr als Vorstellung im Kopf der Kiezbewohner und wird in der Erinnerung deutlich als Lebensbereich, in dem Wohnen, Familienleben und bei Proletariern auch Freizeit stattfindet. Bei den meisten Erwerbstätigen (sogar bei »Zugehfrauen«) war der Arbeitsplatz bereits aus dem Kiez ausgegliedert. Um zu ihrer Arbeitsstätte zu gelangen, verließen sie den Kiez in Richtung Siemensstadt oder Berlin-Mitte. Nur bei Befragten des traditionellen Kleinbürgertums fielen der Wohn- und Arbeitsbereich noch zusammen. Unsere anfängliche Vermutung, dass es sich bei dem erweiterten Kiez um eine vorwiegend von Arbeitern bewohnte Gegend handelte, mussten wir bereits nach einem Blick in die Adressbücher von 1928 korrigieren. Die Adressbücher sind u. a. nach Straßen geordnet und geben Aufschluss über eine Reihe sozialer Fakten. So zeigen die Angaben über die Grundstückseigentümer, dass sie z. B. in der Christstraße eher in ihren eigenen Häusern lebten, während die Eigentümer der proletarischen Mietskasernen z. B. der Danckelmannstraße von diesen entfernt wohnten. Ein Teil der kleineren Mietshäuser war noch im Besitz von kleinbürgerlichen Rentiers – häufig mit Handwerksberufen –, während die größeren bereits Kapitalgesellschaften gehörten. Nach 1938 ist eine Reihe dem Namen nach jüdischer Besitzer durch Treuhand-Gesellschaften »ersetzt« worden. In einem Fall arrondierte die katholische Kirche ihren Grundbesitz durch Ankauf eines Grundstücks in der Christstraße, das zuvor ein jüdisches Säuglingsheim beherbergte. Die Anzahl der Mietparteien pro Haus gab uns Auskunft über die Belegungsdichte. Bei den Häusern mit den meisten Mietparteien handelt es sich um solche mit bis zu vier Hinterhöfen, die in dem Karree Danckelmann-, Seeling-, Nehring- und Knobelsdorffstraße bzw. in der Sophie-Charlotte-Straße lagen. Hier wohnten ca. 400 bis 600 Menschen beieinander. Man kann von sogenannten proletarischen Kernen im Kiez sprechen. Daneben zeigt sich anhand der Mietparteien auch die relative soziale Durchmischung unseres Untersuchungsgebietes, die durch die Baugeschichte bedingt war; so waren die dicht bewohnten Mietskasernen alle jüngeren Datums als etwa die nur von fünf Mietparteien bewohnten Häuser. Die Angaben über den Beruf des Haushaltsvorstandes wiesen auf eine relativ große Inhomogenität auch innerhalb der von uns diagnostizierten proletarischen bzw. kleinbürgerlichen Nischen hin. Dies meint nicht ein Zusammenwohnen von Proletariern und Kleinbürgern »Tür an Tür«, sondern in der bekannten Trennung nach Vorderhaus und Hinterhaus. Interessant ist die relative Dichte bestimmter Berufsgruppen wie z. B. Eisenbahnbeamter in der Nehringstraße. Natürlich wohnten auch in solchen Häusern, bei denen der Beamtenbauverein Inhaber war, ausschließlich kleine und mittlere Beamte wie z. B. in der Wallstraße/Ecke Kaiser-Friedrich-Straße, am Horstweg und in der Wundtstraße. Jeweils an der Peripherie des erweiterten Kiezes wohnten Angehörige sog. besser gestellter Berufe wie Kaufleute, Ingenieure, Künstler sowie gehobene Militärs 187
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und Staatsbeamte. Häufig besaß hier jede Mietpartei einen eigenen Telefonanschluss, was für jene Zeit auch als Statussymbol gewertet werden muss. Neben der für Großstädte üblichen Gewerbestruktur, die die Versorgung der dort lebenden Bevölkerung sichern sollte, gab es noch eine für den Kiez charakteristische Ansammlung bestimmter Gewerbezweige wie z. B. Fuhrunternehmen, die durch die Nähe zum Güterbahnhof Charlottenburg begünstigt wurden. Darüber hinaus hatte sich eine Reihe relativ moderner Gewerbezweige angesiedelt, die sich als Zulieferbetriebe für die Elektrobranche spezialisierten, wobei die Nähe zu Siemens und Osram eine Rolle spielte. Der größte Gewerbebetrieb im Kiez war die Engelhardt-Brauerei, die einen gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Schokoladenfabrik gebauten Gebäudekomplex als Auslieferungslager nutzte. In dieser Zeit waren auf dem Gelände ca. 50 Pferdegespanne untergebracht. Nach der Ausweisung aus dem Ostberliner Hauptbetrieb nach 1945 wurde die Brauerei in die Danckelmannstraße verlegt.2 Der Kiez besaß – wie sich ebenfalls aus den Adressbüchern ablesen lässt – eine Anzahl von Fürsorgeeinrichtungen, die allerdings in keinem Verhältnis zu der Einwohnerzahl dieses Viertels standen, wie z. B. vier Kindergärten. Im Kiez befanden sich viele Kleinhändler, die die Versorgung der Bevölkerung mit Dingen des täglichen Bedarfs durch ihre Läden sicherstellten. Auch die in den Hinterhöfen vereinzelt vorhandenen Kuhställe spielten in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. In unseren Interviews wurde die Möglichkeit, täglich frische Milch zu bekommen, von den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Interviewten sehr begrüßt, die in sicherem Abstand von diesen Ställen wohnten, während sich die proletarischen Befragten – als direkte Anwohner – nicht so positiv dazu äußerten. Das individuelle »Kiezgefühl«, das bei jeder Interviewperson mehr auf Integration oder auf Abgrenzung ausgerichtet sein konnte, bestimmte auch die Färbung ihres Kommentars zum Kiez als Wohnviertel. Hierbei trat die lebensgeschichtliche Entwicklung (Familiengründung; gerade zugewandert; das Bemühen, sozial aufzusteigen bzw. den Status zu halten) neben die besonderen politischen Bedingungen am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus und prägte das Kiezgefühl jeder Interviewperson in spezieller Weise. Die relativ breit gefächerte soziale Zusammensetzung der Kiezbevölkerung erlaubte vielen Bewohnern, sich zumindest mit ihrer unmittelbaren Umgebung (Vorderhaus, Hinterhaus, Straßenseite) in Übereinstimmung zu fühlen. Die kleinbürgerlichen Bewohner grenzten sich natürlich deutlich gegenüber den vorwiegend proletarischen Kernen des sog. Kleinen Wedding ab. Häufig war diese Abgrenzung bereits seit der Kindheit eingeübt, wenn z. B. der Schulweg zur Oberrealschule am Sophie-Charlotte-Platz oder zum Lyzeum in der Danckelmannstraße durch den eher proletarischen Teil des Kiezes führte. Andererseits 2 Zur Geschichte der Engelhardt-Brauerei siehe Ziegler: Die Dresdner Bank 2006, S. 292-325.
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begriffen einige bürgerliche Interviewpartner, dass selbst dieser Teil des Kiezes noch lange nicht so »schlimm« war wie z. B. die Ackerstraße im »richtigen« Wedding. Die positive Identifikation der proletarischen Kiezbewohner wurde gestärkt durch die Mitgliedschaft zu einer im Kiez vertretenen politischen Gruppe, in Vereinen, und den engen verwandtschaftlichen Zusammenhang im Viertel. Dies wurde in den Interviews häufig durch die Formulierung »meine Leute« unterstrichen. Ebenso wie die weiblichen Angestellten als Kategorie innerhalb der erwerbstätigen Bevölkerung eine wachsende Bedeutung in den 20er Jahren erfuhren, begegnete uns auch unter den Interviewten ein relativ großer Anteil von Frauen, die sich früher in den verschiedensten Bereichen als Angestellte qualifiziert hatten. Sie bilden auch in Bezug auf die Kiezuntersuchung eine besondere Gruppe, da sie sozusagen nur mit einem Bein im Kiez standen; d. h. ihre Wahrnehmung und Kommentierung von Ereignissen im Kiez unterschied sich wesentlich von der anderer Interviewpersonen. Das deutliche Desinteresse der weiblichen Angestellten am Kiez ist nur z. T. mit ihrer Abneigung zu erklären, zu sehr mit dem proletarischen Kiez identifiziert zu werden. Ebenso wichtig ist hierfür ihre starke Berufsidentifikation. Bedingt durch ihren Arbeitsplatz, der häufig im alten Zentrum Berlins (Berlin-Mitte) lag, nahmen sie auch dort gleich die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung wahr in Form von Tanztees, Theaterbesuchen etc. Ihre gesamte Orientierung wies hinaus aus dem Kiez in Richtung Kudamm / Tauentzien / Alexanderplatz, sodass ihre Erinnerung an Einzelheiten des Alltags im Kiez z. T. sehr rudimentär ist. Auch untereinander hielten sie als soziale Gruppe keinen Kontakt, denn sie gehörten hier keinem Verein an, sondern schlossen sich – wenn überhaupt –Tennis-, Wassersport- und anderen standesgemäßen sportlichen Vereinigungen an, die natürlich nicht im Kiez lagen. Die Kneipen als politische und soziale Kristallisationspunkte im Kiez: Die Kneipenkultur des Kiezes ist eng verknüpft mit seiner politischen und sozialen Struktur. Zu Beginn der dreißiger Jahre besaß der Kiez eine Unzahl an Kneipen. Die kürzeren Straßen hatten mindestens drei bis vier, die längeren wie z. B. die SophieCharlotte-Straße hatten ca. 15 Kneipen. Ein großer Teil der Kneipen hatte Nebenräume für Vereinstreffen, einen Billardtisch, einzelne besaßen auch eine Kegelbahn oder einen Kinovorführraum als zusätzliche Attraktion. Mit der zunehmenden Schärfe der politischen Auseinandersetzungen im Kiez wurden die verschiedenen Kneipen als Treffpunkte für politische Zusammenkünfte immer wichtiger und in ihrer politischen Ausrichtung eindeutig festgelegt, soweit sie nicht schon lange vorher als Stammlokal z. B. einer bestimmten SPD Abteilung galten. Diese besondere Rolle der Kneipen hatte zur Folge, dass sie auch der bevorzugte Aufenthaltsort von Polizeispitzeln waren. Sie observierten hier die Aktivitäten der lokalen Arbeitersportvereine (z. B. auch und mit großem Aufwand die Pichelsberger Rudergesellschaft, den Radfahrerbund Solidarität und andere), besonders im Hinblick auf ihre kommunistische 189
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richtung.3 Als Nachrichtenzentrale kam den jeweiligen Kneipen auch eine wichtige strategische Bedeutung zu, besonders wenn Überfälle und Razzien bevorstanden. Hier gab es Warnsysteme, so wurde z. B. Alarmbereitschaft ausgelöst durch Radfahrer, die von einer Kneipe zur nächsten fuhren. Zu den wichtigsten KPD -Verkehrslokalen im erweiterten Kiez gehörten »Werner« und »Stani« in der Wallstraße. Bei »Werner« verkehrte montags die Häuserschutzstaffel Max Hölz der KPD. Auch bei »Tietz« in der Nehringstraße 4 trafen sich Anhänger der KPD, ebenfalls bei »Bode«, Nehring-/Ecke Christstraße, und in der »Danckelmannhütte«. Die SA hatte ein Sturmlokal in der Hebbelstraße, das anfangs als Nest ihrer Überfälle im Kiez galt. Ein weiteres befand sich am Horstweg. Während des BVG -Streiks benutzten KPD und NSDAP gemeinsam das Lokal »Freischütz« in der Kirchstraße 1 (Gierkezeile) als Streiklokal, das sonst als reines NS -Lokal galt. Während desselben Streiks wurde auch eine Kneipe in der Sophie-Charlotte- Straße observiert, in der Sammlungen von Geldern und Lebensmitteln für die streikenden Arbeiter entgegengenommen wurden. Für die großen Abstimmungen in diesem Streik hatte man die Hohenzollernfestsäle in der Schlossstraße gemietet – 400 Arbeiter nahmen an einer Versammlung teil. Ab 1932 wurden die Hohenzollernfestsäle auch von den Nazis für größere Treffen gemietet. Die Kneipen, von denen die meisten auch tagsüber geöffnet waren, bildeten einen wichtigen Treffpunkt für Arbeitslose, wo auch die Frauen ihre Ehemänner aufzufinden wussten. Die Nationalsozialisten schätzten nach ihrer Machtübernahme die Bedeutung der Kneipen für das Leben im Kiez hoch ein und erteilten ihren Parteimitgliedern ein Kneipenverbot für solche Lokale, deren Wirte keine Nationalsozialisten waren. Dies wurde erst dann aufgehoben, wenn der Wirt gewechselt hatte (Quelle: Gauamtsblätter). Auch die zahlreichen Festsäle im Kiez waren ein wichtiger Bestandteil des sozialen Lebens und der Freizeit des Proletariats. Sie befanden sich an der Schloss-, Kaiser-Friedrich-, Bismarckstraße und um den Richard-Wagner-Platz. Die dortigen Tanzveranstaltungen wurden von unseren Interviewpartnern auch wochentags besucht, allerdings nur, solange sie noch unverheiratet waren. In mehreren Fällen war ein solcher Besuch im Festsaal für unsere Interviewpartner ehestiftend (Loge-, Zille- / Ecke Kaiser-Friedrich-Straße). Die meisten dieser Tanzböden wurden von dem im Kiez lebenden Proletariat genutzt. Von ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit her tatsächlich gemischt waren die Besucher des Lokals »Spandauer Bock« und der »Zelte« im Tiergarten. In diesen beiden Gartenlokalen hätten sich unsere Interviewpartner auf ihren Sonntagsausflügen alle einmal begegnen können.
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GS tA PK (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz), Rep. 219, Nr. 66, Dok. 51
und 211.
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Machtübernahme und NS -Terror im Kiez Die Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde von den meisten Zeitgenossen erst mit dem Reichstagsbrand voll realisiert. Im Unterschied dazu mussten die Bewohner unseres Kiezes die Machtübernahme bereits mit dem Tag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, dem 30. Januar 1933, zur Kenntnis nehmen. Der Grund dafür ist, dass sich für sie als Charlottenburger mit diesem Tag untrennbar ein Ereignis verbindet, das weit mehr als nur lokale Bedeutung erlangte, nie eindeutig geklärt wurde und noch immer Gegenstand vieler Vermutungen und Legenden ist. In der Nacht des 30. Januar 1933 zog der Charlottenburger SA -Sturm 33 – in Berlin berüchtigt wegen seiner Gewalttätigkeit – auf dem Rückmarsch von dem Fackelzug zu Ehren des »Führers« durch die Wall(heute Zille-)Straße, die als die Kommunistenhochburg der Umgebung galt. An der Spitze marschierte der Sturmführer Hans Eberhard Maikowski, der eine gewisse lokale Berühmtheit erlangt hatte im Straßenkampf gegen die Kommunisten und der – nach eigenem Geständnis – am 9. Dezember 1931 in Charlottenburg den Arbeiter Walter Lange erschossen hatte. Begleitet wurde der Zug von einem Polizeioberwachtmeister Zauritz, einem der Vossischen Zeitung zufolge überzeugten Republikaner. Gerade an diesem Tage, da Hitlers Ernennung zum Reichskanzler erfolgt war, und auf dem Heimweg von einer Jubelfeier zu seinen Ehren stellte das Einschwenken der SA von der Bismarckstraße in die abseits ihrer Route liegende Wallstraße eine bewusste Provokation dar, d. h. sie demonstrierten damit ihren Sieg nach jahrelangen Straßenkämpfen. Die Bewohner der Wallstraße reagierten darauf mit »Nieder!«- und »Rotfront!«-Rufen. Es wurde nie geklärt, von welcher Seite die ersten Schüsse fielen, jedenfalls entstand eine Schießerei, in der Maikowski und der Polizist Zauritz tödlich verletzt wurden. Die Wallstraße wurde von der Polizei hermetisch abgeriegelt, und sämtliche Wohnungen wurden durchsucht. Zwei der von uns Interviewten, die in der Wallstraße wohnten, beschreiben die Vorgänge dieser Nacht. Außer der Beschlagnahmung »einer Anzahl von Schuss- und Stichwaffen« blieb die Großrazzia jedoch ergebnislos; Festnahmen erfolgten erst im Verlauf der weiteren Untersuchungen. Für die beiden Getöteten konnten die Nazis trotz aller Anstrengungen und des Aussetzens einer hohen Belohnung keinen Täter präsentieren. Die – noch nicht gleichgeschaltete – bürgerliche Presse bemängelte u. a., dass kein Obduktionsbericht veröffentlicht wurde. Dies gab dem Kiez-Gerücht Nahrung, dass Maikowski das Opfer einer verirrten Kugel aus den eigenen Reihen geworden sei, was uns gegenüber auch von der Ehefrau eines der beteiligten SA -Männer (der – Zeitungsberichten zufolge – in unmittelbarer Nähe Maikowskis gestanden hatte) geäußert wurde. Nach Aussage dieser Frau hielt auch der Sturm 33 selber diese Version für wahr. Auch die Zeitung Rote Fahne (vom 1. 2. 1933) benennt Augenzeugen, die den Hergang in diesem Sinne schildern. – Eine andere Legende geht dahin, dass Maikowski von den Nazis absichtlich liquidiert wurde, weil er sich durch seine opponente Haltung mächtige Gegner geschaffen habe – eine Version, die heute noch innerhalb der Familie des Getöteten kolportiert wird. 191
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Maikowski und Zauritz erhielten ein Staatsbegräbnis im Berliner Dom, aufgebahrt in Anwesenheit der gesamten NS -Prominenz. Ein Pfarrer der Charlottenburger Luisengemeinde feierte Maikowski als Helden und Märtyrer seines Führers. Die Kommunisten ehrten den Polizisten Zauritz, indem sie zur Stunde der Trauerfeier Kränze an der Stelle niederlegten, wo er getötet worden war, diese wurden jedoch von der Polizei beschlagnahmt. Die Bewohner der Wallstraße mussten hinnehmen, dass ihre Straße in »Maikowskistraße« umbenannt wurde, wie sie bis Kriegsende hieß. Damit wurde der Sieg noch einmal von der neuen Machtelite demonstriert. An die feierliche Umbenennung erinnern sich einige der von uns Interviewten, auch daran, dass die SA stundenlang auf der Richard-Wagner-Straße strammstehen musste, bis »die Hautevolee« kam, ebenso an die Enthüllung eines Denkmals zu Ehren Maikowskis in Gestalt eines Brunnens, der heute verschwunden ist. Die Gabelung der Zillestraße, die frühere Rosinenstraße, heißt bis heute Zauritzweg. 1934 ereignete sich ein weiterer Vorfall im Kiez, der von ähnlicher anthropologisch-symbolhafter Bedeutung ist, wenn auch in seiner Aussagekraft sehr viel komplexer: Der Kommunist Richard Hüttig wurde verhaftet und in Plötzensee hingerichtet. Sein letzter Wunsch, nach seinem Tode noch einmal durch die Seelingstraße, in der er gewohnt hatte, gefahren zu werden, wurde von den Nationalsozialisten erfüllt. Gleichzeitig machten sie aber aus diesem »humanitären Akt« eine brutale Machtdemonstration, indem sie den Bewohnern der Seelingstraße, seinen Freunden und Nachbarn, die Leiche des von ihnen Ermordeten auf diese Weise präsentierten. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und deren oben geschilderten unmittelbaren Auswirkungen im Kiez nahmen die Versuche der Nationalsozialisten, die kommunistischen und sozialdemokratischen »Kerne« des Kiezes zu unterwerfen und zu kontrollieren, Formen an, welche – bei aller Brutalität der Straßenkämpfe früherer Jahre – eine neue Qualität darstellten. Sie konnten nunmehr ihren langjährigen und persönlich wohlvertrauten Gegnern – diese Generation junger Männer kannte sich im Kiez aus der Schule, aus dem Verein, aus der Nachbarschaft – mit der Staatsmacht im Rücken entgegentreten und sie aufgrund eines »Verdachts« oder anlässlich einer Razzia »legal« verhaften lassen. Oder aber sie konnten sie auch »privat« eigenmächtig durch ihre SA -Clique jederzeit ungestraft ausschalten. Das Volkshaus der Sozialdemokraten in der Rosinenstraße 4 (bzw. Zauritzweg) machte der Sturm 33 zu seiner Kaserne und zum »wilden KZ «, wie uns aus mehreren mündlichen Quellen bekannt ist und wie auch Jan Petersen in seiner Chronik dieser Jahre (»Unsere Straße«, Bern 1936, S. 77 f.) beschreibt. Die SA agierte in dieser Phase, im Frühjahr 1933, wie Freischärler, die – plötzlich schwer bewaffnet und motorisiert – im Kiez den Bürgerkrieg auf eigene Faust inszenierten. Etliche Beispiele aus unseren Interviews belegen dies. Eine Frau erzählte uns, wie sie einmal mit Kollegen damit beschäftigt war, die Reklame eines Kinos am (heutigen) Klausenerplatz auszuwechseln. Plötzlich 192
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kamen offene Lastwagen vorbeigerast, besetzt mit grölenden SA -Leuten, die wild um sich schossen. Vorfälle dieser Art sind – nach mehreren Interviewaussagen – an der Tagesordnung gewesen zu dieser Zeit. Gleichzeitig gab es aber auch die generalstabsmäßig organisierten und durchgeführten Razzien der Polizei, bei denen die SA »nur« als Hilfstruppe fungierte, und die den Kernen des Kiezes galten, die Arbeiterwohngebiete Wall-, Seelingund Danckelmannstraße, bei denen ganze Straßenzüge abgeriegelt und die einschlägig bekannten Häuser systematisch durchsucht wurden. Aus unserer Untersuchung lässt sich deutlich nachweisen, welchen Anteil die »kleinen« Nazis im Kiez in der Unterdrückung und Zerschlagung der Organisationen der Arbeiterbewegung gespielt haben. Das Sichherausreden auf die großen politischen Vorgänge kann zumindest für diese Phase nicht akzeptiert werden. Angesichts dieser neuen Lage mit ihren für die ortsansässigen Nazis so vorteilhaften Bedingungen ist es kein Wunder, dass der offene Ausdruck des Widerstandes und des Hasses gegen die neuen Machthaber nicht lange durchgehalten werden konnte. Keiner der von uns Interviewten gibt an, selbst aktiv an irgendeiner Art von Widerstandsaktion im Kiez beteiligt gewesen zu sein. Der einzige uns erzählte Fall, der als solcher interpretiert werden könnte, hat gleichzeitig den Charakter eines privaten Racheaktes. Es ist anzunehmen, dass die Enge des Zusammenlebens und das Sichkennen im Kiez solche Widerstandsaktionen eher behindert als gefördert haben und dass den Nationalsozialisten die Unterwerfung des Kiezes in relativ kurzer Zeit – und zwar im Wesentlichen bis zum Sommer 1933 – gelungen ist. Abgesehen von einigen Flugblattaktionen – die allerdings zum Teil auch von verfolgten religiösen Gruppen herrührten (Polizeiberichte) –, haben wir keine Anzeichen, dass ab diesem Zeitpunkt noch offener Widerstand gewagt wurde. Wir haben durch die Auswertung sowohl des Interviewmaterials als auch des uns zugänglichen Archivmaterials untersucht, welche unterschiedlichen Grade und Formen der Unterdrückung und Kontrolle durch die Nationalsozialisten ausgeübt wurden und wie es ihnen gelungen ist, den Kiez und seine Bewohner mit dem Netz ihres Kontrollapparates zu überziehen und gleichzeitig durch Institutionen der sozialen Wohlfahrt (NSV, NSF u. a.) in ihr System zu integrieren und von ihm abhängig zu machen. Wie engmaschig dieses Netz nationalsozialistischer Institutionen, Dienststellen, NS -Bedarfsartikelläden etc. im Kiez bereits 1934 war, zeigt ein offizielles »NS -Adressbuch von Groß-Berlin« aus dem gleichen Jahr. In diesem Adressenverzeichnis inserierten gleichzeitig viele kleine Geschäftsleute aus dem Kiez, was sowohl für die übrigen kleinen Geschäftsleute als auch für die Bevölkerung ein Signal von erheblicher Bedeutung gewesen sein dürfte. Wurde doch durch das Inserat augenfällig, dass der Milchmann von nebenan oder der Fahrradhändler schon Nationalsozialisten waren. Das opportunistische und feinfühlige Sichanpassen dieser Klasse wird in einigen Interviews relativ offen geschildert. Selbst wenn das Kleinbürgertum während der Weimarer Republik weniger als die 193
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Arbeiter durch politische Organisationen in der Machtstruktur des Kiezes eine Rolle spielte, so ist sein sichtbares »Umschwenken« von großer sozialer Bedeutung gewesen. Die Haltung der gebildeteren Angestellten- und Beamtenschicht, so wie sie sich aus den heutigen rückblickenden Äußerungen in den Interviews rekonstruieren lässt, ist als positiv bis herablassend einzustufen. Allerdings lässt sich aus demselben Adressbuch (nicht nur für Charlottenburg) nachweisen, dass sich die kleineren und mittleren Funktionäre der NSDAP und ihrer angegliederten Organisationen fast ausschließlich aus der Schicht der technischen Intelligenz und der mittleren Angestelltenebene rekrutierten. Es ist uns gelungen, zumindest an einigen Punkten, die innere Szene dieser subalternen Funktionäre etwas genauer zu beleuchten. Als Beispiel dafür soll die folgende Darstellung der Ehegeschichte eines dieser NS -Amtsträger aus dem Kiez stehen.
Ehe und Karriere eines nationalsozialistischen Ehepaares Im Mai 1936 hielt die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink vor Vertretern der Industrie eine Rede, in der sie sich »an meine lieben deutschen Männer« wandte. Der Ausgangspunkt war die bedenkliche und in Widerspruch zur offiziellen NS -Familienideologie stehende Erscheinung, »dass durch die nationalsozialistische Weltanschauung manche deutschen Familien, manche Ehen etwas ins Wanken geraten sind, etwas sacht ausgedrückt«. Die Ursache dafür sah sie in der Weigerung oder dem Unvermögen der Frauen, ihren »kleinen SA-Männern« in ihren »revolutionären Gedanken«, in ihrer »stetig vorwärtsdrängenden Entwicklung« zu folgen. Beweise für die Existenz dieses nationalen Phänomens, das die Reichsfrauenführerin bekümmerte, dieses »Auseinanderwachsen« in »vielen deutschen Ehen«, die jahrelang »gut und friedlich miteinander gelebt« hätten, waren sogar in den Interviews innerhalb unseres eng begrenzten Charlottenburger Kiezes zu finden. Als Beispiel sowohl für das Leben in der Phase der etablierten Macht des Nationalsozialismus als auch zur Erhellung des sozialen und psychologischen Hintergrundes des oben erwähnten Phänomens soll an dieser Stelle die Lebensgeschichte einer Charlottenburger Hausfrau, Ehegefährtin eines subalternen NS -Funktionärs dienen – in notwendigerweise stark geraffter Form. Die Methode der Oral History gibt uns die Möglichkeit, diese »Krise hinter verschlossenen Türen« näher zu beleuchten, und zeigt außerdem das Ausmaß, in dem die Parteiaktivitäten des Ehemannes die familiären Interaktionen beeinflussten. Frau A. stammte aus gutbürgerlichen und relativ wohlhabenden Verhältnissen und wuchs auf mit Freiheiten, die für ein junges Mädchen kurz nach der Jahrhundertwende keineswegs selbstverständlich waren: Sie trieb Sport, besaß ein Fahrrad etc. Dennoch wurden Ordnung und Sparsamkeit ihr als die obersten Werte vermittelt, die ihr Leben beherrschen sollten; Unregelmäßigkeit und Verschwendung waren ihr verhasst. Durch ihre sportlichen Aktivitäten lernte sie mit 17 Jahren ihren späteren Mann kennen. Sein sozialer Hintergrund war, 194
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glichen mit dem ihren, bedeutend ärmer. Sein Vater war als Erdarbeiter früh Invalide geworden, die Mutter besserte das Familieneinkommen durch Heimarbeit auf. Durch die Schwester dieses Mannes, die wir ebenfalls interviewen konnten, wissen wir von den Opfern, die es die Familie kostete, die Söhne zur höheren Schule zu schicken, und als wie beschämend Herr A. es empfand, ärmlich gekleidet, ohne Strümpfe und in Holzpantinen gehen zu müssen. Es scheint, dass der unbedingte Entschluss zum sozialen Aufstieg sich bereits in früher Jugend bei Herrn A. festgesetzt hatte – und ebenso die Idee, dass weibliche Familienmitglieder für dieses Ziel jedes Opfer zu bringen hatten: Den Interviewaussagen seiner Schwester zufolge verlangte er (ebenso wie sein jüngerer Bruder), dass sie nach ihrer Schulentlassung 1905 sofort eine Arbeit als Näherin oder Dienstmädchen annahm, um mit ihrem Verdienst seine eigene Ausbildung mitzufinanzieren. Als unverheiratet gebliebener Schwester fiel dieser Frau zeitlebens die Rolle zu, die Brüder mit ihren Ersparnissen zu unterstützen. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Herr A. auch von seiner Frau in späteren Jahren verlangte, ihre eigenen Interessen seiner Karriere unterzuordnen. Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg erhielt er eine Position als Verwaltungsbeamter, die ihm – außer einem ausreichenden Einkommen – auch eine Reihe anderer Vorteile sicherte, z. B. erhielten A.s trotz der angespannten Wohnungsmarktsituation 1920 durch »Beziehungen« eine hübsche Dreizimmerwohnung. Frau A. wirtschaftete umsichtig, bereits 1923 konnten sie sich eine Urlaubsreise leisten. Die ersten Jahre ihrer Ehe, in der sie sparsam das Einkommen ihres Mannes verwaltete und sich im Sommer täglich nach Dienstschluss mit ihm zum Tennisspielen oder zum Spazierengehen traf, werden von Frau A. als die glücklichsten ihres Lebens geschildert. 1924, nach vierjähriger Ehe, wurde ihr erster Sohn geboren, doch Frau A. wusste auch für die nächsten Jahre die Mutterpflichten mit ihren Freizeitbedürfnissen zu vereinbaren: Entweder nahm sie das Baby im Kinderwagen mit zum Tennisplatz, oder sie ließ es so lange bei ihrer Mutter. Der Sport bildete den Mittelpunkt von Frau A.’s Dasein in jenen Jahren (1920-1930); er bedeutete für sie nicht nur gesunde Bewegung und aktiv gestaltete Freizeit, sondern befriedigte auch einen gewissen Ehrgeiz: »Bei Wettkämpfen war es immer so, dass von sieben Preisen fünf von uns beiden geholt wurden.« Inzwischen entwickelte sich die berufliche Karriere ihres Mannes höchst zufriedenstellend. Mit 35 Jahren hatte er eine Position, die seine eigenen Aufstiegserwartungen noch übertroffen haben dürfte. 1930 wurde ihr zweiter Sohn geboren. Die Familie bezog 1933 eine größere und repräsentativere Wohnung in einer der »besseren« Gegenden am Rande des Kiezes. Die Möblierung der vorderen Räume als »Herren«- und Speisezimmer in einer dem Status von Herrn A. angemessenen Weise zehrte die Ersparnisse auf, was Frau A. zu noch vorsichtigerem Umgang mit dem Einkommen ihres Mannes veranlasste. Im Gegensatz zu früher, wo Sparsamkeit ihr als Frau eines kleinen Beamten zur Tugend gereicht hatte, versuchte sie nun, in repräsentativeren Lebensumständen, ihre Sparmaßnahmen möglichst nicht nach außen sichtbar werden zu lassen. 195
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Das berufliche Vorwärtskommen ihres Mannes und der Umzug brachte so eine spürbare Reduzierung ihres gesellschaftlichen Lebens und ihrer Freizeit mit sich. Sie hatte viel weniger die Möglichkeit, Sport zu treiben. Außerdem verfügte sie durch das zweite Kind und die mit der größeren, aufwendigeren Wohnung verbundene Mehrarbeit über viel weniger freie Zeit. So lagen die Dinge etwa um die Zeit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Etwa im März 1933 trat Herr A. der Partei bei; weil es, wie sie sagt, im öffentlichen Dienst und in seiner gehobenen Stellung gar nicht anders möglich war. Nach allem, was sie über ihn erzählt, handelte es sich hierbei jedoch nicht nur um einen Akt bloßer Anpassung, sondern eher um ein politisches Bekenntnis, das er nunmehr, nachdem die Nationalsozialisten an der Macht waren, nach außen dokumentieren konnte. Wenige Monate später jedoch trat ein Ereignis ein, das seine Karriere vorübergehend unterbrach und das beide Eheleute sozial und emotional zutiefst erschütterte. Herr A. war angewiesen worden, dem Personal seiner Dienststelle für den Nachmittag freizugeben, damit es der Beisetzung eines SA -Führers beiwohnen konnte, der Selbstmord begangen hatte. Er behielt jedoch eine Anzahl von Beschäftigten zurück, um einen Notbetrieb aufrechtzuerhalten. Die Folgen dieser Handlungsweise waren ebenso hart wie unerwartet. Augenblicklich beurlaubt zu werden, nach Hause geschickt mit der Anschuldigung, ein Feind der nationalen Erhebung zu sein, war ein Schlag, den er laut Frau A. niemals vergessen konnte. Sie selbst war zutiefst erschrocken über diese unerwartete Entwicklung, die die Existenz der Familie bedrohte und den stetigen harmonischen Aufstieg unterbrach. In diesem Vorfall und der darauffolgenden – von Frau A. sehr eingehend beschriebenen – quälenden Phase der Ächtung und materiellen Unsicherheit, zu der noch der drohende Parteiausschluss kam, liegt ein weiterer Schlüssel zu Herrn A.’s Verhalten in seiner politischen und privaten Weiterentwicklung. Seine intensiven Bemühungen um Rehabilitation hatten jedoch Erfolg: Er wurde nicht aus der Partei ausgeschlossen (ein Umstand, den er später noch bedauerte, sagt Frau A.), und er erhielt die Chance für einen beruflichen Neuanfang – eine Position, die ihm einen neuerlichen Aufstieg ermöglichte. Er war entschlossen, von nun an kein Risiko mehr einzugehen – die Partei sollte auf ihn zählen dürfen. In diesem Sinne wirkte er auch auf seine Frau ein, die er nach anfänglichem Widerstreben dazu brachte, sich ebenfalls für bestimmte Sonderaufgaben, die die Partei immer für die Frauen der Parteigenossen bereithielt, zur Verfügung zu stellen. (»Wir müssen beweisen, dass wir gute Nationalsozialisten sind.«) Schließlich gelang es ihm sogar, eine Funktion innerhalb der Partei zu übernehmen. Damit war die Scharte wieder ausgewetzt, das Misstrauen gegen ihn hatte sich aufgelöst. Die Familie allerdings bekam ihn kaum mehr zu Gesicht. Die Beschreibung, die Frau A. über diese Zeit gibt, scheint typisch zu sein für den Familienalltag subalterner NS -Funktionäre: Herr A. arbeitete bis 17 Uhr, eilte nach Hause, wo das Essen schon auf dem Tisch stand, zog seine braune SA -Uniform an und ging wieder fort, um gegen 18 Uhr in seiner Ortsgruppe zu sein. Dort erfüllte er seine 196
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Parteipflichten (welche Frau A. für immer unklar blieben) und suchte dann mit seinen Parteigenossen die nahe gelegene Stammkneipe auf, wo er bis zur Sperrstunde blieb. Zunächst kam es Frau A. nicht in den Sinn, sich darüber zu beschweren, dazu saß der Schock über seinen beinahe erfolgten Parteiausschluss noch zu tief. Gleichzeitig begann ihr eigenes Leben jedoch, immer eintöniger zu werden: Nachdem sie nachts wach gelegen hatte, bis ihr Mann nach Hause kam (gewöhnlich leicht angetrunken, wie sie sich erinnert), musste sie früh aufstehen, um die Öfen zu heizen und das Frühstück zuzubereiten. Während des Tages hatte sie mit den Kindern und der Wohnung genug zu tun. Es blieb ihr wenig Zeit und Gelegenheit, nachbarliche und freundschaftliche Kontakte zu pflegen wie in der ersten Zeit ihrer Ehe: Zum einen waren sie die einzige Familie mit Kindern im Vorderhaus, sodass diese Möglichkeit der Kontaktanknüpfung entfiel. Dies kann jedoch nicht der einzige Grund gewesen sein für ihre relative Isoliertheit, betrachtet man ihre regen früheren gesellschaftlichen Aktivitäten. Hinzu kam, dass zur gleichen Zeit ihr Vater starb, und dies bedeutete für sie – zusammen mit ihrer relativen Isolation und dem Verlust ihrer eigenen Interessensphäre – einen engeren Anschluss an ihre Mutter und ihre unverheirateten Schwestern. So schloss sich der Kreis der Familie um Frau A., zu deren Umkreis auch die bereits erwähnte Schwester ihres Ehemannes gehörte. Dieser Rückzug in den Kreis der weiblichen Familienmitglieder hatte seinen Grund, so unsere Hypothese, in der ungesicherten Position, die sie in ihrer neuen Umgebung innehatte: Ihr Mann hatte eine vielversprechende Beamtenkarriere gemacht, und er war Parteimitglied. Das bedeutete, dass Nicht-Parteimitglieder von gleichem sozialen Status innerhalb der Nachbarschaft eine höfliche Distanz zu ihr wahrten. Gleichzeitig war seine Stellung innerhalb der Partei jedoch noch nicht wieder gefestigt, was den Kontakt zu den Frauen anderer Parteimitglieder erschwert haben mag. Zur selben Zeit reduzierte sich der Kontakt zu ihrem Mann immer mehr auf das Abendessen. Auch die Wochenenden brachten für sie wenig Abwechslung: Sonnabends arbeitete Herr A., und sonntags gab es Aufmärsche auf dem Reichssportfeld, bei denen er nicht fehlen durfte. Ihr ältester Sohn, inzwischen Mitglied der Hitlerjugend, begann ihr ebenfalls zu entgleiten: Einmal in der Woche nahm er am »Heimatabend« der HJ teil, sonntags musste auch er auf dem Reichssportfeld aufmarschieren und während der Woche Geld für Parteizwecke sammeln. Frau A. grollt heute noch, wenn sie davon spricht. An diesem Punkt, da der Zugriff der Partei auf ihre Familie und ihre eingespielte Haushaltsroutine dermaßen stark wird, setzt auch ihre Kritik am Nationalsozialismus ein. Der Erwerb und die Pflege der Uniformen von Mann und Sohn bedeuten zusätzliche Belastungen, sowohl für das Familienbudget als auch für ihre Arbeitskraft. Auch andere Dinge beginnen ihr lästig zu werden: das Flaggen am Fenster, die ständigen Sammlungen an der Haustür, der schnüffelnde Blockwart im Treppenhaus, der spionierte, ob der Eintopfsonntag überall eingehalten wurde. Ganz sicher gab es ein Gebiet, in dem – um die Reichsfrauenführerin zu zitieren – Ehefrauen wie Frau A. nicht bereit waren, »ihren kleinen SA -Männern« 197
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in ihren »revolutionären Gedanken« zu folgen: Wie Frau A. berichtet, gab es eine Reihe von NS -Funktionären, welche die offizielle Aufforderung zu verstärkter Kinderproduktion in dem Sinne deuteten, dass sie außerhalb ihrer Ehe illegitime Kinder zeugten. Der damalige Ortsgruppenleiter ging hier beispielgebend voran. Frau A. spricht heute eher ironisch darüber, es ist aber anzunehmen, dass sie so wie andere Frauen diese Vorgänge damals als bedrohlich für ihre Ehe empfand. Auch auf sie selbst wurde Druck ausgeübt, politisch aktiv zu werden: Während des Krieges, als die Partei versuchte, ihren durch den Verlust vieler Männer ausgedünnten Mitgliederbestand durch die Aufnahme von Frauen auszugleichen, weigerte sie sich standhaft, selbst der Partei beizutreten, weil es in ihren Augen genügte, wenn ihr Mann völlig darin aufging. Ihr Mann bestärkte sie – zumindest unter vier Augen – in ihrer Weigerung, da auch sein eigener Enthusiasmus nachzulassen begann. Wir sehen, dass Frau A.’s privates Leben sich unter dem Einfluss der Partei in der Mitte der dreißiger Jahre, als das Wanken nationalsozialistischer Ehen die Reichsfrauenführerin veranlasste, öffentlich darüber zu reflektieren, bereits grundlegend verändert hatte. Sie hatte der Karriere ihres Mannes nicht nur ihr Familienleben sowie ihre eigene Interessensphäre zum Opfer gebracht, sondern sie hatte darüber hinaus zusätzliche Leistungen und Anstrengungen auf sich zu nehmen, um seine regimetreue Gesinnung unter Beweis zu stellen.
Juden im Kiez Der Anteil der Juden an der Charlottenburger Bevölkerung betrug 1933 7,93 .4 Innerhalb Berlins waren sie nur in den Bezirken Wilmersdorf und Mitte stärker vertreten. Im Unterschied zu Berlin-Mitte handelte es sich bei den Juden, die sich in Charlottenburg niedergelassen hatten, allerdings zum großen Teil um die gehobenen Schichten des jüdischen Bürgertums, das sich überwiegend außerhalb des von uns untersuchten Kiezgebietes ansiedelte, etwa in Westend oder der Kurfürstendammgegend. In Charlottenburg war auch der Anteil der Akademiker an der jüdischen Bevölkerung besonders hoch, in einigen Berufen (Zahnärzte, Journalisten, Ingenieure, Professoren, Künstler) sogar höher als im gesamten »Alt-Berlin«, jenem Gebiet, das bis zur Gemeindereform 1920 das eigentliche Berlin bildete.5 Auch diese Personengruppe wählte – wie aus den alten Adressbüchern hervorgeht – bevorzugt Wohngegenden ihrer eigenen Klasse, die also außerhalb oder allenfalls an der Peripherie des Kiezes gelegen waren, etwa am Kaiserdamm oder auch in der Schlossstraße, die als eine Art bürgerliche Schneise den Kiez teilt.
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Sellenthin: Geschichte der Juden in Berlin, zit. nach: Ribbe (Hrsg.): »Von der Residenz zur City« 1980, S. 179. Vgl. Sellenthin ebd., S. 181.
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Aus dieser scheinbar schwachen Repräsentanz im Kiez erschien es uns zunächst erklärlich, dass unsere Interviewpartner nie von sich aus auf jüdische Mitbürger im Kiez und damit verbundene Ereignisse während der Nazizeit zu sprechen kamen, und auch, dass auf unser Nachfragen der sonst oft frei fließende Strom der Erinnerungen nur spärlich sickerte. Je mehr Interviews gemacht wurden, desto stärker kristallisierte sich jedoch heraus, dass es sehr wohl eine Anzahl jüdischer Geschäfte, ein jüdisches Kaufhaus etc. gegeben haben muss, bei denen unsere Interviewpartner durchaus ihren Bedarf deckten. Der größte Teil der im Kiez niedergelassenen Ärzte waren ebenfalls Juden, bei denen natürlich die meisten unserer Interviewpartner Patienten waren. Ein jüdisches Kinderkrankenhaus, von dessen Existenz wir erst aus den alten Adressbüchern erfahren hatten, wurde nur in einem Interview erwähnt. Wir können aufgrund der Kiez-Interviews nicht endgültig sagen, ob diese »Erinnerungslücken« oder Vermeidungen auf eine Art Schuldsyndrom zurückzuführen sind oder ob die nationalsozialistische Politik der Aussonderung und Separierung von Juden so erfolgreich war (die gleichzeitig auf bereits vorhandenen sozialen und psychischen Strukturen der gegenseitigen Isolierung aufbauen konnte), dass sie zu einer eingeschränkten sozialen Wahrnehmung führte. Als Hypothese wäre zu fragen, inwieweit auch die Entnazifizierungsverfahren und die etwas unglücklich verlaufene Geschichtsaufarbeitung der fünfziger Jahre zu diesen Verdrängungen geführt haben. Die Reaktionen auf das Thema »Juden«, die wir durch die Interviews im Kiez gefunden haben, lassen sich wie folgt grob zusammenfassen: Unsere Nachfragen bezogen sich im Wesentlichen auf die sog. Machtübernahme, den Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933, auf die sogenannte Reichskristallnacht und die Deportationen bzw. den Niederschlag dieser Ereignisse im Kiez. Das Spektrum der Antworten reichte von der Beteuerung, überhaupt nichts gehört (gesehen) zu haben, bis zur detaillierten Schilderung von entsprechenden Vorfällen mit genauen Orts- und Zeitangaben. (Bei letzteren handelte es sich zumeist um bewusste und aktive Regimegegner.) Zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine große Gruppe von Interviewten, die sich sehr unpräzise äußern bzw. der Erinnerung nicht weiter nachgehen oder aber wortreich ausweichen. Bei weiterem Nachfragen – z. B. nach dem Verbleib jüdischer Nachbarn – tritt dann jene seltsame, oben charakterisierte Sperre ein, für die wir keine eindeutige Erklärung zu geben vermögen. Häufig trafen wir auf feste Sprachregelungen wie z. B.: die Juden »sind weggemacht« bzw. »waren nicht mehr da«, oder auf defensive Äußerungen wie: Durch unsere eigenen Angelegenheiten (Beruf / Haushalt / Kinder / Bombenkrieg) waren wir so beansprucht, dass wir nichts davon bemerkt haben, und: »man hätte ja sowieso nichts machen können«. Fast alle der von uns Interviewten redeten von Juden auf zwei Ebenen: einmal auf der Ebene von Vorurteilen (»Alle Kaufhäuser waren jüdisch«, oder »Der Mann / die Frau sah gar nicht jüdisch aus«), und zweitens auf der »menschlichen« Ebene, auf der auch eine gewisse Differenzierung möglich wird. So wurde z. B. 199
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bei bestimmten Juden die Verfolgung und Deportation als ungerecht empfunden, denn: »Denen ging es ja auch nicht besser als uns«, »Das waren ja ganz kleine Leute wie wir«. Gerade diese ambivalente Einstellung erlaubt es einigen Befragten, sich des von deportierten jüdischen Bekannten »in Verwahrung« genommenen Besitzes zu erfreuen, ihn als legitime Erbschaft zu empfinden – und damit gleichzeitig zu beweisen, dass sie gute Beziehungen zu Juden unterhielten.
Von der Kiez-Gesellschaft zur Kellergemeinschaft. Bombenkrieg 1943-45 Am 23. November 1943 wurde der Kiez zum ersten Male schwer bombardiert. Es ist ein Datum, das alle alten Kiezbewohner im Kopf haben, es markiert ihre Erinnerung an das Inferno. Spätere, z. T. noch grauenhaftere Bombardierungen treten vor der Wucht des Eindrucks dieser Nacht zurück. (Es war einer der 16 Großangriffe in der von der Royal Air Force geführten »Schlacht um Berlin«, die am 18. November 1943 begann und bis zum März 1944 dauerte.) Der 23. 11. 1943 markiert aber auch einen Einschnitt in der Kiezgeschichte. Schon am nächsten Tag begann der Massenexodus von Frauen mit Kindern und von anderen, die nicht dienstverpflichtet waren, aus dem von Frauen »beherrschten« Kiez. Frauen dürften zu diesem Zeitpunkt ungefähr / der Kiez-Bevölkerung ausgemacht haben. Im Folgenden soll in einer bis zur Banalität reduzierten Zusammenfassung die Entwicklung der »nachbarschaftlichen« Beziehungen im Kiez während des Krieges skizziert werden. Das erste Kriegsjahr ist gekennzeichnet von hektischen Aktivitäten, den Kiez »bombensicher« zu machen. Es ist bekannt, dass das NS -Regime so gut wie keinerlei Vorkehrungen für die Sicherung der Zivilbevölkerung im zu erwartenden Bombenkrieg getroffen hatte. Die Führung verließ sich auf ihre Flugabwehr, die schon 1940 zum Witz geworden war. Im Kiez gab es nur einen Bunker, den man als »bombensicher« hätte bezeichnen können. Der Ausbau ihrer Keller musste von den Hausgemeinschaften unter der »Leitung« des Luftschutzwarts selbst durchgeführt werden. Mit diesen Aktivitäten begann eine neue, seltsame Art von »Volksgemeinschaft« in den Mietshäusern. Ihr markantestes Zeichen war, dass die Gesprächsbarriere zwischen Vorder- und Hinterhäusern, d. h. zwischen Proletariat und – im Wesentlichen – Angestellten- und Beamtenschicht durchbrochen wurde. Einige Befragte hoben hervor, dass sie »im Keller« zum ersten Mal mit Personen gesprochen hätten, die im gleichen Haus, nur eben im Vorder- bzw. Hinterhaus, aufgewachsen seien. Aber auch in homogenen »kleinbürgerlichen« oder proletarischen Mietskasernen bemühte man sich z. T. bewusst durch Keller-Einweihungsfeiern oder durch aufwendige Versuche, die Keller gemütlicher zu machen, den »menschlichen« Kontakt zu den übrigen Mietern wiederherzustellen, den man in den vergangenen 200
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Jahren verloren, z. T. auch nie gehabt hatte. Diese neuen Kontakte spielen sich unter den Augen der hauseigenen Nazis ab, tragen also kaum den Keim politischer Opposition in sich. Allerdings sollte die freundlich-harmonische Erwähnung dieser frühen Kellergemeinschaften relativiert werden: Einige der befragten Kommunisten fühlten sich in ihrem Hauskeller ausgesprochen unwohl und versuchten, in Kellern, wo sie nicht bekannt waren, unterzukommen. Die schärfste Kritik am Mief und der internen gegenseitigen Kontrolle dieser Kellergemeinschaften findet sich in mündlichen und schriftlichen Zeugnissen von unverheirateten, damals zwischen 30 und 40 Jahre alten Frauen, die ihren in der Weimarer Republik entwickelten Lebensstil auch in der NS -Zeit durchzuhalten versuchten. Auch waren die jüdischen Mitbewohner schweigend und ohne große Schwierigkeiten aus den meisten Kellergemeinschaften »ausgegliedert« bzw. nie aufgenommen worden. Beide Gruppen, die eine freiwillig und die andere gezwungenermaßen, fanden sich in den »Splittergräben« wieder, die in den öffentlichen Anlagen ausgehoben worden waren. Erst ab Beginn des Jahres 1943 hatten die neuen Gemeinschaften harte Belastungen auszuhalten. (Ab Januar 1943 waren die Engländer zu einem Nervenkrieg aus der Luft übergegangen. Durch beständige kleine Angriffe (»Moskitoangriffe«) wurde die Berliner Bevölkerung praktisch jede zweite Nacht in die Keller getrieben, aus denen sie nach ein bis zwei Stunden wieder auftauchten. Nach der oben erwähnten »Schlacht um Berlin«, in der die übrigen Arbeiterviertel wie Wedding, Prenzlauer Berg etc. noch härter getroffen wurden als der im bürgerlichen Charlottenburg eingebettete Kiez, wurde Berlin von April 1944 bis zum April 1945 immer häufigeren und schwereren Angriffen unterworfen: Tags kamen die Amerikaner mit 600 bis 1100 Flugzeugen und warfen Sprengbomben, nachts weiterhin die Engländer mit Feuerbomben und Phosphor. Das Grauen dieses Jahres ist oft beschrieben worden, aber doch nicht zu beschreiben. Die Erinnerung der Befragten, die dieses Jahr in Berlin miterlebten, ist seltsam stumpf und blass: Geschichten zu sozialen Begebenheiten werden nicht mehr erzählt, außer Situationen der akuten Lebensbedrohung, aber auch die sind häufig in einem distanzierten Ton gehalten, als habe der Erzählende es selbst gar nicht miterlebt. Wie tragfähig war der Zusammenhalt der Kieznachbarschaft unter der Belastung des harten Bombenkrieges? Auch das war in sich widersprüchlich: Die selbsttätigen und im Wesentlichen selbstorganisierten Feuerwachen und das Löschen funktionierten wie in allen Arbeitervierteln ausgezeichnet. Es wird immer wieder von den verschiedensten Zeugen hervorgehoben, dass jedes Haus im Kiez mehrfach abgebrannt wäre, wenn es den von älteren Arbeitern organisierten und bemannten Brandschutz nicht gegeben hätte. Fragt man näher, so waren es allerdings nicht nur Männer: Waren die Feuerwachen während der Angriffe fast ausschließlich männlich, so konnten die eigentlichen Löscharbeiten, v. a. bei größeren Bränden, nur nach der Entwarnung mit Hilfe der Frauen gemacht werden, die die Löschketten bildeten. Bei den Löscharbeiten wurde nicht nach »meiner-deiner« Wohnung, nach »unserem-eurem« Haus gefragt, die 201
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Nachbarschaftshilfe funktionierte, denn jede / r war bedroht. Dass das jedoch keinesfalls selbstverständlich war, zeigen die bürgerlichen Viertel wie NeuWestend und Grunewald. Da »hockten« sie alle in den Kellern und warteten darauf, dass irgendjemand (wohl der Staat) ihre brennenden Wohnungen oder Villen löschte. Männer aus dem Kiez wurden, wohl wegen seiner Nähe, in diese Villenviertel zur Feuerbekämpfung beordert, sei es als bezahlte Hilfspolizisten oder – häufiger – als »freiwillige« Luftschutzhelfer. Die »Freiwilligen« verdrückten sich in den Kiez, sobald die ersten Bomben fielen, und der Dienstverpflichtete sah den niederrauschenden Villen nicht ohne klammheimliche Freude zu. Die notdürftigen Instandsetzungsarbeiten an den Häusern – nicht in den Wohnungen – wurden ebenfalls von den alten und den zurückgestellten Arbeitern durchgeführt, sie wussten auch noch am ehesten, das notwendige Material dafür zu »organisieren«. Ihr Ansehen im Kiez als soziale Kraft, das nach der »Niederlage« gegen die SA 1933 demontiert wurde, stieg wegen ihrer Tatkraft und ihres Einsatzes seit 1943 kontinuierlich – auch weil zu diesem Zeitpunkt niemand mehr so recht an den »Endsieg« glaubte. Die vorsichtige Umorientierung – immer mit doppelter Absicherung zu den noch Herrschenden – wird besonders deutlich in der Erzählung der selbstständigen Kleinbürger / innen, die ein »natürliches« seismographisches Gespür für lokale Machtveränderungen besitzen, und in der eines Polizisten. Später, als die Niederlage außer Zweifel stand, wurden sogar Zwangsarbeiter durch bessere Behandlung etc. in diese – meist individuellen – Netze politischer Absicherung einbezogen. (Eine solche »Tendenzwende« wird auch von den Lageberichten des Sicherheitsdienstes, SD, der SS für den Sommer 1943 konstatiert.) Gleichzeitig verschärfte sich der Terror der Gestapo und bezog sich dieses Mal nicht nur auf die Arbeiterklasse, sondern auch auf Angehörige der Mittelschichten. Diese Nachbarschaftssolidarität der Bombennächte hatte aber ihre harten Grenzen, auch in der Arbeiterklasse: an der Wohnungstür und bei den Nahrungsmitteln. Gerade die dankbare Erinnerung an Selbstverständlichkeiten, dass z. B. die Kinder von Nachbarn mit in den Keller genommen wurden, oder dass der Treppennachbar den Kinderwagen tragen half, zeigt diese Grenze sehr deutlich. Ausgebombte wurden nur aus der eigenen (erweiterten) Familie einigermaßen selbstverständlich und für längere Zeit aufgenommen, selbst Arbeitskollegen / innen wurden nur für Tage beherbergt und mussten dann weiterziehen. Evakuierte Arbeiterinnen zeigten sich ebenso empört wie Mittelschichtsfrauen, wenn ihre leer stehende Wohnung von Ausgebombten benutzt worden war, selbst wenn nichts fehlte. Die Demarkationslinie der Solidarität ist noch deutlicher bei der Nahrungsmittelbeschaffung. Lebensmittel wurden nicht »verschenkt«, sondern höchstens »getauscht«, aber auch ihre Bezugsquelle – irgendein entfernt liegendes Geschäft, das eine »Sonderzuteilung« verkaufte – wurde vor den Nachbarinnen geheim gehalten und nur innerhalb der Familie weitergegeben. Die praktische Solidarität fand also nur innerhalb der Familie statt. Wer keine Familie in Berlin hatte, war arm dran, wie Tausende von jungen Arbeiterinnen und Angestellten, die in der Weimarer Republik nach Berlin zugewandert waren. 202
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Ohne die Gloriole der Mutterschaft, die sich immerhin gegen den permanenten Zugriff von kleinen Naziamtsträgern einsetzen ließ, wurden sie für die schlimmsten Arbeiten verwendet, die es in dem zusammenbrechenden System gab. Ohne Verbindung zu einem familialen Tausch- und Informationsnetz waren sie auf ihre Lebensmittelmarken angewiesen, konnten sie z. T. noch nicht einmal ausschöpfen, und mussten bis zum physischen Zusammenbruch arbeiten. Einmal ausgebombt, wurden sie sehr bald aus dem Solidarnetz ihrer Klasse und ihrer Kollegen entlassen, verbrachten ihre Nächte in Schulkellern oder in Schuppen ihrer Betriebe. An ihrem Schicksal muss die postulierte proletarische Solidarität oder die hypostasierte »Solidargemeinschaft« überprüft werden und nicht an verheirateten männlichen Facharbeitern, die doppelt und dreifach abgesichert und eingebunden waren. Zur Veränderung der Beziehung zwischen den Klassen im Kiez können folgende vorsichtige Hypothesen aufgestellt werden: Es ist zu vermuten, dass die noch in der Weimarer Republik eklatanten Spannungen zwischen »Stehkragenproletariern« und Arbeiterklasse durch die gemeinsame Erfahrung des Bombenkrieges und durch die Kellergemeinschaft entschärft worden sind. (Ob zum Besseren oder Schlechteren für die weitere politische und soziale Entwicklung, sei dahingestellt. Andere und vielleicht wichtigere Faktoren in dieser allgemein feststellbaren Tendenz der Annäherung sind: Der Aufstieg von Arbeiterkindern in die Angestelltenschicht, der den traditionellen Aufstiegsweg zum selbstständigen Kleinbürger ersetzt; die Abschwächung der »Lagermentalität« in der Arbeiterklasse.) Dagegen wurden die Beziehungen zum eingesessenen Kleinbürgertum anscheinend nicht verbessert: Durch seine Anpassung an das Nazi-Regime, v. a. aber durch seine schamlose Ausbeutung der Notsituation der anderen während des Krieges und danach verlor es jeden persönlichen und moralischen Kredit. Mit dankesfeuchtem Auge akzeptierte es in den Bombennächten, wenn sein Hausbesitz bedroht war, zwar die Feuerpatschensolidarität der es umgebenden Arbeiterschicht, tagsüber aber verschob es die wenigen Sonderzuteilungen für ebendiese Menschen mit taktisch-kühlem Blick innerhalb der eigenen Klasse.
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Kommentar zu »Mündliche Geschichte« 1 Von den umfangreichen Arbeiten zum sogenannten Kiezprojekt, in dem Annemarie Tröger zwischen 1979 und 1981 eine Oral-History-Untersuchung durchführte, gibt es lediglich eine einzige von Tröger mitverantwortete Publikation, den hier vorangestellten Text, der als Anhang dem Protokoll einer Tagung zu Alltags- und Industriekultur beigefügt wurde. Es handelt sich um den Schlussbericht.2 Im Fokus des folgenden Kommentars steht weniger dieser Text als das Projekt, das als eines der ersten feministischen wissenschaftlichen Projekte an der Freien Universität Berlin (FU ) in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in den Seminaren von Tröger entstand. Schon als sich Tröger 1974 für eine Assistentenstelle am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung (ZI 6) interessierte, plante sie ein Oral-HistoryProjekt, wollte etwas »mit Frauen machen«, inhaltlich bezogen auf »Faschismus«, wie das damals noch hieß. Oral History hatte Tröger, wie sie Annette Leo 2008 erzählte, bei Larry Goodwyn in den USA kennengelernt.3 Goodwyn bemühte sich in den siebziger Jahren in Texas um die Zusammenarbeit unterschiedlicher ethnischer und politischer Gesellschaftsschichten. Vor allem wollte er den afroamerikanischen Unterschichten in den amerikanischen Südstaaten eine Stimme geben.4 Es war diese Perspektive, die Tröger interessierte, als sie im Herbst 1975 gemeinsam mit Tilla Siegel am ZI 6 der FU eingestellt wurde. Ihr erstes Seminar zu Frauen und Faschismus bot sie im Wintersemester 1976 /77 an, nachdem sich eine erste Arbeitsgruppe zu mündlicher Geschichte bereits im An-
1 Dieser Kommentar sollte ursprünglich von einer ehemaligen Mitarbeiterin des Kiezprojektes, Lore Kleiber, geschrieben werden. Leider ist sie im Dezember 2019 verstorben. Ihr ist dieser Text gewidmet. Ich danke meinen ehemaligen Kommilitoninnen Gabriele Czarnowski, Doris Kampmann-Hähnel und Susanna Dammer für ihre Ergänzungen meiner Erinnerungsarbeit sowie Ingrid Wittmann, ehemalige Mitarbeiterin im Kiezprojekt, für ihre Auskünfte, schließlich Tilman Fichter und Susanne zur Nieden für ihre Unterstützung. 2 An dem Bericht – er wurde in seinem ersten methodischen Teil geringfügig erweitert – waren neben Tröger zwei ihrer vier Mitarbeiterinnen beteiligt. Tröger verfasste Teil 1,2,7, Lore Kleiber Teil 3, Ingrid Wittmann Teil 4, 5, 6. Die beiden anderen Mitarbeiterinnen schrieben eigene Abschlussberichte. 3 Ich danke Annette Leo, dass sie uns die Erschließungstabelle für das Interview zur Verfügung gestellt hat, das sie am 29. 4. und 3. 5. 2008 mit Tröger führte. 4 Lawrence Goodwyn (1928-2013), Schriftsteller, Historiker, Professor an der Duke University, wo er den Bereich Oral History aufbaute. Zur Motivation von Oral Historians vgl. Maubach: Das freie Wort als Menschenrecht 2013, S. 240-272.
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Abb. 8: Treffen der Professoren William Chafe und Laurence Goodwyn mit Studenten des Oral-History-Programms. Duke University Archives, David M. Rubinstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University.
schluss an ihren Vortrag im Rahmen der ersten Berliner Sommeruniversität im Juli 1976 gebildet hatte.5 In einem Interview mit Louis Starr einige Monate später beschrieb sie ihre Beweggründe: »It’s hard to express: I don’t know how to make up my mind on my own country, I tell you seriously, and the oral history project certainly came out of this motivation.«6 Das galt vermutlich für die meisten der Teilnehmerinnen des Seminars. Anders als im akademischen Studium üblich, beschränkten wir – auch ich gehörte zu diesem Seminar dazu – uns bei der Wahl unseres Zugangs zum Nationalsozialismus nicht allein auf die Rezeption der Forschungsliteratur, sondern wählten als wichtigstes Mittel das Gespräch mit Zeitzeuginnen. Wir zwölf Teilnehmerinnen in diesem Seminar kamen aus unterschiedlichen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen.7 Wir waren ausschließlich Frauen – eine bewusste Selektion, die wir gerechtfertigt fanden – und kamen aus sozial, politisch und religiös unterschiedlichen Elternhäusern, darunter auch 5 Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin. Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 76 /77 1976, S. 96; Czarnowski / Dammer / Schwarz: Geschichte des Alltags 1978, S. 387. 6 Interview mit Louis Starr, 2. Sitzung, Teil 3, Min. 1. Privatarchiv Tröger. 7 Zwar war die Mehrzahl der Teilnehmerinnen Studentinnen, aber einige von uns hatten bereits einen ersten akademischen Abschluss. Wir begriffen uns als Team, das an einem Thema interessiert war, und scherten uns nicht um die universitären Formen.
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solchen, deren Familienmitglieder rassistisch verfolgt worden waren. Was uns einte, war die Zugehörigkeit zur Frauenbewegung. Manche von uns hatten 1975 das Seminar »Marxismus – Feminismus« von Ingrid-Schmidt-Harzbach am Otto-Suhr-Institut (OSI ) besucht, ein bahnbrechendes Ereignis, zu dem sich Hunderte von Frauen – Studentinnen wie Absolventinnen – einfanden, denen der größte Raum des Instituts überlassen werden musste. Das Harzbach-Seminar war zugleich die Veranstaltung, aus der heraus sich die Dozentinnengruppe der Freien Universität bildete, die die erste Sommeruniversität vorbereitete. In den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fachbereichen entstanden in der Folge Seminare, die von frauenbewegten Dozentinnen geleitet und auf frauenbezogene Themen ausgerichtet waren, wie sie auch den Interessen der Studentinnen entsprachen. Alle Veranstaltungen verstanden sich weniger als wissenschaftliche Seminare, sondern einschließlich der Dozentinnen als nicht-hierarchische, solidarische universitäre Kollektive. Persönliche Beziehungen waren erwünscht, Mitverantwortlichkeit wurde vorausgesetzt. Von Anfang an hatte Tröger ihr Oral-History-Projekt als empirische Studie in einem lokal begrenzten Teil Berlins geplant, dem Charlottenburger DanckelmannKiez. Es war ein überschaubarer Arbeiterkiez inmitten eines bürgerlichen Umfelds. Die Wahl entsprach unserer politisch vorgefassten Überzeugung von einem grundsätzlichen Gegensatz zwischen Arbeiterklasse und Nationalsozialismus. Die Beschäftigung mit Oral History begann – das war wichtig – bei uns selbst. Ein ganzes Wochenende saßen wir in den Räumen eines Kindergartens in einer Lichterfelder Villa und setzten uns mit den NS -Vergangenheiten unserer eigenen Familien auseinander.8 Erste Interviews entstanden im persönlichen Umfeld. Dann erst nahm das empirische Projekt Gestalt an. Wir suchten Kontakte zu den örtlichen Behörden, Kirchen und sozialen Einrichtungen, um Frauen kennenzulernen, die den Kiez noch aus der Zeit des Nationalsozialismus kannten. Die ersten Probeinterviews begannen, die wir auf Tonbandgeräten aufzeichneten und in kleinen Gruppen von drei oder vier Teilnehmerinnen abhörten und auswerteten. Wir machten neue Erfahrungen. Gudrun Schwarz hatte über ihre Arbeit zum Konzentrationslager Ravensbrück Erna Lugebiel kennengelernt, eine ehemalige Gefangene, zu der ein engerer persönlicher Kontakt entstand.9 Lugebiel, die zum Internationalen Ravensbrück-Komitee sowie zur Vereinigung der Verfolg8 Dass unsere Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus die Auseinandersetzung mit uns und der Geschichte unserer Familien während der NS -Zeit und der Erinnerung daran einschloss, erschien mir damals als grundlegend und befreiend. Das bleibt sie bis heute. Annemarie Tröger hat uns darin bestärkt und unterstützt. Laut Mitgliederdatei (Sammlung BDC ) im Bundesarchiv Berlin waren der Großvater Paul Tröger und Vater Lothar Tröger seit 1. 4. 1936 bzw. 1. 7. 1937 NSDAP-Mitglieder; von der Mutter AnnaTherese Knabe liegt ein NSDAP-Aufnahmeantrag vom 14. 10. 1937 vor. Vgl. zur Parteimitgliedschaft: Benz (Hrsg.): Wie wurde man Parteigenosse? 2008; Falter: Hitlers Parteigenossen 2020; Reese: Zum Stellenwert der Freiwilligkeit 2010. 9 Zu Erna Lugebiel vgl.: Szepansky: Die Kameradschaft war für mich das Höchste: Erna Lugebiel 1989.
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ten des Naziregimes (V VN ) gehörte, stellte zu der letzteren eine Verbindung her. Mit der V VN konnten die Seminarteilnehmerinnen im Oktober 1977 in die DDR einreisen und die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück besuchen, begleitet von Lugebiel und den beiden kommunistischen Widerstandskämpferinnen Anni Sindermann und Lore Diener. Im September 1977 trafen auf einer Berliner Konferenz das erste Mal Frauenverbände der alten mit denen der neuen autonomen Frauenbewegung zusammen. Frauen des Deutschen Staatsbürgerinnenverbandes e. V. ergriffen die Gelegenheit, einen Informationsabend zu organisieren, der »insbesondere junge Frauen über die NS -Zeit« informieren sollte.10 Eine von uns war dabei, stellte das Projekt vor und machte Kontakte. Erste Ergebnisse unserer Arbeit präsentierten wir auf der zweiten Sommeruniversität im Oktober 1977.11 1977 /78 begann die Gruppe auseinanderzufallen. Abschlussarbeiten mussten geschrieben werden, Examina standen an. Manche nahmen eine Berufstätigkeit auf, andere begannen in anderer Zusammensetzung mit der Organisation der ersten Historikerinnenkonferenz »Frauen in der Weimarer Republik und unter dem Nationalsozialismus«, die im Juni 1978 stattfand.12 Der klein gewordene Rest arbeitete mit Tröger an der Antragstellung für das Kiezprojekt. Über die Berlin-dienliche Forschung bot sich dem Projekt die Möglichkeit einer zweijähren bezahlten Forschungstätigkeit für die Mitarbeiterinnen. Das Forschungsprogramm wurde 1978 vom Berliner Wissenschaftssenator Peter Glotz und dem Bundesminister für Forschung und Technologie Volker Hauff initiiert und sollte Hochschulabsolventen und Studenten im Aufbaustudium die Möglichkeit bieten, erste wissenschaftliche Arbeitserfahrungen zu machen.13 In einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit gerade unter Akademiker / inne / n erhoffte man sich beschäftigungspolitische Effekte für Berlin. Zugleich sollte die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten und außeruniversitären Institutionen gefördert werden. Diese Schwerpunkte waren bei den Anträgen zu berücksichtigen. An der FU Berlin ergriff Peter Grottian – damals am ZI 6, später am OSI – bereits im Sommer 1978 die Initiative und stellte dem Universitäts10 Bericht über eine Diskussions- und Informationsveranstaltung des Deutschen Staatsbürgerinnenverbandes e. V. am 9. 11. 1977 mit dem Thema: Die Zeit des Nationalsozialismus. FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-62. 11 Vgl. dazu meinen Kommentar »Ich komme da mit den feministischen Gedanken nicht mit« in diesem Band. 12 Zur Vorbereitungsgruppe der Konferenz gehörten Gabriele Czarnowski, Atina Grossmann, Gerlind Lachenicht, Carola Sachse, Gudrun Schwarz, später Elisabeth MeyerRenschhausen. Im Rahmen der Antragstellung zur Finanzierung der Veranstaltung zeichneten als Veranstalterinnen drei Mitarbeiterinnen des Arbeitsbereichs »Vergleichende Faschismusforschung« des ZI 6 an der FU Berlin: Gisela Bock, Carola Sachse, Annemarie Tröger sowie Frauen der Projektgruppe »Mündliche Geschichte – Frauen in der Weimarer Republik und im Faschismus«: Gabriele Czarnowski, Atina Grossmann, Gerlind Lachenicht, Gudrun Schwarz. 13 Für dies und das Folgende vgl.: FU Berlin, Universitätsarchiv (UA ), 2011 /2 Berlindienliche Forschung 1978-80.
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präsidenten Eberhard Lämmert 88 Forschungsprojekte mit 200 Wissenschaftler / inne / n vor. Zwölf dieser Projekte kamen in die erste Auswahl. Für sie hatte die Universitätsverwaltung einen Finanzbedarf von 5,5 Mill. DM errechnet, wies gegenüber Glotz jedoch vorsorglich darauf hin, dass bei einer größeren Anzahl von Projekten auch höhere Mittel benötigt würden. An der FU Berlin wurde das Programm im Januar 1979 bekannt gemacht, Anträge konnten bis Ende Februar eingereicht werden, Beginn der Projektarbeit war der Juni 1979. 30 Projekte wurden ausgewählt, so viele wie niemals in späteren Jahren, aber nur zwei Millionen DM , also nicht einmal ein Viertel der vom Präsidialamt berechneten Kosten, wurden vom Land bereitgestellt.14 Davon mussten vor allem Personalkosten bestritten werden.15 Auch sollten die Projekte in der Regel von Hochschullehren geleitet wurden.16 Den Projekten, bei denen dies nicht der Fall war, wurden Beiräte zur fachwissenschaftlichen Beratung zugeordnet. Die regelmäßigen Beiratssitzungen dienten dem Erfahrungsaustausch der Mitarbeiter / inne / n aller Projekte. Beirat des Kiezprojekts wurde Reinhard Rürup, Historiker und Hochschullehrer an der Technischen Universität (TU ), der sich, anders als seine Kollegen an der FU zu dieser Zeit, offen zeigte gegenüber neuen Entwicklungen in seinem Fach. Im ersten Antragsentwurf des Kiezprojektes waren für die Stellenausstattung zwei Koordinatoren und zehn wissenschaftliche Mitarbeiterinnen mit jeweils einer ⅔-Stelle vorgesehen.17 Diese Ausstattung orientierte sich an Paul Thompsons Forschungsprojekt »Family Life and Work Experience before 1918«, das Anfang der siebziger Jahre durchgeführt wurde und dessen Ergebnisse 1975 unter dem Titel »The Edwardians. The Remaking of British Society« publiziert wurden. Zu Thompson, damals Lecturer an der University of Essex und einer der Mitbegründer der Oral History Society, hatte Tröger guten Kontakt, die »Edwardians« waren eine wichtige methodische Richtschnur des Projekts. Für seine Studie hatte Thompson seine damalige Frau, Thea Vigne, als co-investigator und fieldwork supervisor gewonnen. Gemeinsam engagierten sie eine Crew von Interviewern und befragten rund 500 Menschen.18 14 Die hohe Zahl der in dieser ersten Ausschreibung bewilligten Projekte resultierte aus der Vielzahl der eingegangenen Anträge, insgesamt 115. In den kommenden vier Jahren sank sowohl die Zahl der Anträge – um mindestens die Hälfte – als auch die Zahl der bewilligten Projekte bei gleichzeitig steigenden Förderungssummen. FU Berlin, UA , 2011 /2: Berlin-dienliche Forsch. Aussch. 81. 15 Obwohl für aufwendige empirische Arbeiten oder Kooperationen mit außeruniversitären Institutionen ⅔-Stellen vorgesehen waren, erhielten nur 41 der insgesamt 71 Mitarbeiter / inne / n solche Stellen. Das Kiezprojekt gehörte trotz des erheblichen Arbeitsaufwandes für die Interviews nicht dazu. 16 Ausschreibung eines Förderprogramms der Freien Universität für junge Wissenschaftler im Bereich Berlin-dienlicher Forschung, 8. 1. 1979. FU Berlin, UA , 2011 /2 Berlindienliche Forschung 1978-80. 17 Antrag für das Projekt: Mündliche Geschichte. FFBIZ , B Rep. 500, Acc. 800-69, S. 11. 18 Auf meine Nachfrage hin erklärte Paul Thompson in einer E-Mail, dass sich für die »Edwardians« vor Ort Menschen als Interviewer fanden, einige von ihnen
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Abb. 9: v. l. n. r.: Sam Tan, Ronald Grele, Annemarie Tröger, Paul Thompson. Oral History Association 1979, 1980
Anders als Thompson gelang es Tröger, ihren Studentinnen durch die Berlindienliche Forschung einen Berufseinstieg zu ermöglichen, der ihren wissenschaftlichen Qualifikationen ebenso entsprach wie Trögers politischer Forderung nach qualifizierten Arbeitsstellen für Frauen. Wie ihr britischer Kollege war sie an geteilter Verantwortung in einem Leitungsteam interessiert. Mit einer Gesamtzahl von nur 60 geplanten Interviewpartnern wirkt das Kiezprojekt zunächst bescheiden, doch dieser Eindruck täuscht. Denn jedes Interview war mit 5-10 Sitzungen à zweieinhalb Stunden angesetzt. Damit belief sich die reine Interviewzeit ohne Anhörung und Auswertung auf 750 bis 1500 Stunden.19 Ein Projekt dieses finanziellen Umfangs war mit den ohnehin unzureichenden Mitteln der Berlin-dienlichen Forschung nicht zu stemmen. Der Antrag wurde überarbeitet, die Stellenzahl auf sechs ⅔-Stellen reduziert und alles über Bord geworfen, was auf den ursprünglich politischen Charakter des Projektes verwies, wie die Beteiliung »breiter Bevölkerungskreise an der Aufarbeitung der Zeitschaftler, andere z. B. Ehefrauen von Politikern. Alle wurden von Thea Vigne in die Interviewtechnik eingeführt (E-Mail vom 3. 9. 2020 an Dagmar Reese). Thompson: The Edwardians 1977, S. XI ; vgl. auch das lebensgeschichtliche Interview mit Thea Vigne, in: Oral Historians. Oral History of Oral History: Thea Vigne (1-10). Projekt der British Library, https://sounds.bl.uk/Oral-history/Oral-historians/021M-C1149X0 005XX-0001V0 (abgerufen am 18. 5. 2020). 19 Die Interviews für die Edwardians waren nach Auskunft von Thompson im Durchschnitt 3 ½ Stunden lang und wurden vollständig transkribiert. E-Mail vom 3. 9. 2020 an Dagmar Reese.
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geschichte und der Verarbeitung historischer Erfahrungen« oder der Vorsatz, die Befragten nicht zu »Objekten« der Wissenschaft zu machen. Der Antrag – mitbeantragt von Alf Mintzel und Tilla Siegel20 – war schließlich so gewichtig, dass er kaum abgewiesen werden konnte.21 Er wurde auch angenommen, allerdings bei den Stellen um die Hälfte gekürzt. Damit war das Projekt gescheitert bevor es begonnen hatte. Von sechs ⅔-Stellen blieben vier halbe Stellen übrig sowie die Auflage, das Projekt in der »inhaltlichen Fragestellung und dem Umfang der Untersuchung zu reduzieren«.22 Die Möglichkeiten dazu wurden im Zwischenbericht ausführlich diskutiert mit dem Ergebnis, an den »im Antrag formulierten Zielvorstellungen festzuhalten« und um Aufstockung der halben auf ⅔-Stellen zu bitten.23 Dem wurde erst in der Schlussphase des Projektes 1981 entsprochen, was alle geförderten Projekte betraf und auf den letzten Metern wohl ein völliges Scheitern des Programms aufgrund der Unterfinanzierung und den Anlaufschwierigkeiten verhindern sollte. Zu diesem Zeitpunkt war das Kiezprojekt bereits von mehreren Seiten in Bedrängnis geraten. So hatte es die umfangreichen zusätzlichen Anforderungen der Berlin-dienlichen Forschung zu erfüllen: Beiratssitzungen mussten besucht und mitgestaltet, Forschungsergebnisse in die Praxis umgesetzt werden.24 Dazu kam, dass Trögers Stelle am ZI 6 auslief, aber keiner der Mitantragsteller – Mintzel und Siegel – an ihre Stelle treten konnte oder wollte. Erst das energische gutachterliche Eintreten für Tröger von Harold Hurwitz, Professor am ZI 6, und Reinhard Rürup führte dazu, dass der Institutsrat des ZI 6 die Verlängerung ihrer Stelle um 9 ½ Monate beschloss, um »ein positiv bewertetes Projekt nicht zu gefährden.«25 Dabei hob Hurwitz hervor, dass Tröger aufgrund der Nichtbesetzung der Professur im Arbeitsbereich Faschismusforschung während der ersten beiden Jahre einen großen Anteil an der Planung und Koordination getragen und sich gleichzeitig in eine neue Forschungsmethode, die Oral History, eingearbeitet hatte, während Rürup das Kiezprojekt als »Pionierstudie« bezeichnete, »von deren erfolgreicher Durchführung wichtige Anstöße für die historisch-sozialwissenschaftliche Forschung ausgehen können.«26
20 Anders als Tröger waren beide zu diesem Zeitpunkt promoviert, Mintzel seit 1978 auch habilitiert. 21 Die Fachgutachter waren Timothy Mason und Lawrence Goodwyn. 22 FFBIZ , B Rep. 500 Acc. 800-66, Einleitung, Zwischenbericht. 23 Ebd. 24 Mit diesen zusätzlichen Berlin-dienlichen Aufgaben kam das neue Förderprogramm einer Forderung der Studentenbewegung nach, einen Praxisbezug für die wissenschaftliche Arbeit herzustellen. Das Kiezprojekt gab an, die Methode Oral History in Bildungseinrichtungen vermitteln zu wollen bzw. Materialien für Schul- und Erwachsenenbildung zum Leben im Nationalsozialismus zu erstellen. FU Berlin, UA , 2011 /2 Berlin-dienliche Forschung 1978-80. 25 FU Berlin, UA , ZI 6, Institutsr. Anträge, Tröger 1979. 26 Brief Reinhard Rürup an Professor Dr. R. Ebbighausen vom 15. 5. 1980. FFBIZ , B. Rep. 500 Acc. 800-2.
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Eindeutig gehörte Tröger zu den Pionierinnen der Oral History in Deutschland. Von Anfang an hatte sie die internationalen Oral-History-Treffen besucht. Mit vielen ausländischen Kolleginnen und Kollegen stand sie in engem Kontakt. Nach Aussagen von Paul Thompson war sie die erste Deutsche, die einen Kontakt zu den britischen Oral Historians herstellte.27 In dem 1978 von Ronald Grele gegründeten »International Journal of Oral History« gehörte sie als einzige Deutsche zu den »correspondents«.28 Auf all dem ließ sich aber nicht ausruhen angesichts einer Vielzahl von ähnlich gelagerten Projekten, die Ende der 1970er und in den frühen 1980er Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. Einen wichtigen Anstoß dafür gab im Januar 1979 die in den dritten Programmen des deutschen Fernsehens ausgestrahlte amerikanische Holocaust-Serie. Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, ein Schülerwettbewerb der Körber-Stiftung, griff das große Interesse an der NS -Geschichte im Folgejahr auf und erreichte damit eine massive Erhöhung der Teilnehmerzahlen.29 Im gleichen Jahr startete der Museumspädagogische Dienst des Landes Berlin ein Projekt zu Borsig und Borsigwalde im Nationalsozialismus,30 und 1981 gründete sich im Berliner Mehringhof die Schöneberger Geschichtswerkstatt. Es war die erste in der BRD. Mit der Wucht dieser letzten Organisation mit ihren vielen Mitstreiter / inne / n und der Ausstrahlung auf die gesamte Bundesrepublik konnte Tröger als Leiterin eines kleinen Oral-History-Projektes kaum mithalten, auch wenn sie sich den Geschichtswerkstätten, ihrer Arbeit und Vorgehensweisen verbunden fühlte. Schließlich nahm 1980 im Ruhrgebiet das Projekt »Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960«, kurz LUSIR genannt, seine Arbeit auf, von dem es später hieß, es sei »das erste großangelegte Oral-History-Projekt in der Bundesrepublik Deutschland« gewesen.31 Zwischen dem LUSIR-Projekt und dem Kiezprojekt gibt es viele Gemeinsamkeiten, aber auch prägnante Unterschiede, die zuletzt für das Scheitern des Kiezprojektes verantwortlich waren. In beiden Projekten war die arbeitsaufwendige Oral History die maßgebliche Quelle der Studie. Beide nahmen die Kon27 E-Mail von Paul Thompson vom 3. 9. 2020 an Dagmar Reese. 28 Die übrigen waren Luisa Passerini, Daniel Bertaux und Paul Thompson. Leo / Maubach (Hrsg.): Den Unterdrückten eine Stimme geben? 2013, S. 178. 29 Mit 12 843 Teilnehmern hatte der Schülerwettbewerb 1980 /81 mehr als doppelt so viele Teilnehmer wie 1981 /82 und mehr als dreimal so viele wie 1985 /86, https://www.koer ber-stiftung.de/geschichtswettbewerb/portraet/1980-1985 (abgerufen am 23. 2. 2021). 30 Redebeitrag Drechsler: Alltagskultur / Industriekultur 1982, S. 29. 31 Über die Anzahl der Interviewten Im LUSIR-Projekt besteht Unklarheit. Niethammer spricht in der Einleitung des ersten Bandes von ca. 200 Interviewten, ein Bestand, der ausgeweitet werden sollte. Im Anhang des dritten Bandes des Projektes werden 167 Personen genannt, in anderen Veröffentlichungen 350. Lutz Niethammer, Einleitung des Herausgebers, in: ders. (Hrsg.): »Die Jahre weiß man nicht 1983, S. 7-29, hier S. 19; Jürgen Reulecke in seiner Laudatio für Lutz Niethammer aus Anlass der Verleihung des Historikerpreises der Stiftung „Geschichte des Ruhrgebiets« von 2002, http://www.isb. ruhr-uni-bochum.de/sbr/historikerpreis/laudatio_niethammer.html.de (abgerufen am 23. 2. 2021).
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tinuitäten deutscher Geschichte in den Blick, reichten vom Ende der Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik hinein. Unterschiede gab es in der Anlage der Studie und im methodischen Vorgehen. Das LUSIR-Projekt bezog sich auf das Ruhrgebiet, einen großen städtischen Ballungsraum, das Kiezprojekt auf ein kleinräumiges Berliner Gebiet, das eine dichte Beschreibung möglich machte. Leiter des LUSIR-Projektes war mit Lutz Niethammer ein habilitierter Historiker und Professor. Die meisten seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren Historiker, hatten Berufserfahrung, einzelne waren promoviert.32 Die Leiterin des Kiezprojektes dagegen war eine nicht-promovierte wissenschaftliche Assistentin auf einer befristeten Stelle, ihre Mitarbeiterinnen allesamt Berufsanfängerinnen, keine von ihnen Historikerin. Das LUSIR-Projekt war angelegt in Einzelstudien, die von den jeweiligen Bearbeiterinnen und Bearbeitern selbst verantwortet und durchgeführt wurden und schließlich als individuell verfasste Beiträge zu Sammelbänden erschienen. Diese Arbeitsteilung war im Kiezprojekt weder möglich noch intendiert. Obgleich nach innen Arbeitsteilung bestand, trat das Projekt nach außen geschlossen auf. Ziel war eine die Einzelergebnisse zusammenführende Monographie, was einen weiteren Arbeitsschritt erforderlich gemacht hätte. Während das LUSIR-Projekt ein System entwickelte, Auswertung und Verschriftlichung der Interviews zusammenzuführen, um Geld und Zeit zu sparen, hielt das Kiezprojekt die vollständige Transkription aller Interviews als Voraussetzung für die Auswertung für unumgänglich.33 Mit der Studienstiftung Volkswagenwerk, der Stadt Essen und der Fernuniversität Hagen verfügte das LUSIR-Projekt über mehrere Geldgeber, während das Kiezprojekt einerseits unterfinanziert war, andererseits neben der Forschung zusätzliche Arbeitsaufgaben bewältigen musste und strikt auf zwei Jahre beschränkt war. Zusammenfassend kann man sagen, dass das LUSIR-Projekt deutlich besser ausgestattet war, mit der Herausforderung der arbeitsintensiven Oral-History-Forschung pragmatischer und zielorientierter umging, durch die Delegation von Verantwortung Freiräume schaffte und – so sieht es zumindest aus – aus all diesen Gründen seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auch länger binden konnte. Das Kiezprojekt war stattdessen beflissen darum bemüht, den akademischen und methodischen Anforderungen zu entsprechen.34 Es konnte, auch aufgrund der formalen Qualifikation der Mitarbeiterinnen, selbst dann nicht nachdrücklich genug für eine sachgerechte Ausstattung eintreten, als der Erfolg bereits erkennbar gefährdet war, und es gelang ihm nicht, sich an die im gegebenen Finanzrahmen noch verbleibenden Möglichkeiten konzeptionell flexibel anzupassen. 32 Im dritten Sammelband des LUSIR-Projektes wurde der Kreis der Autoren und Autorinnen über die eigenen Mitarbeiter / inne / n hinaus geöffnet. 33 Die vollständige Transkription aller Interviews konnte, aufgrund der beschränkten Mittel, offenbar nicht bis zuletzt durchgehalten werden. Vgl. FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-78. 34 Tröger gab an, die Erfahrungen des Projektes für eine Dissertation über methodische und methodologische Probleme im Umgang mit der Oral History nutzen zu wollen. Brief »Der Präsident der Freien Universität Berlin« vom 8. 7. 1981, Anlage S. 2, Punkt 4, FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-78.
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Unter den Widersprüchen und dem Druck, unter dem es stand, brach das Kiezprojekt im zweiten Jahr auseinander. Zwei der Mitarbeiterinnen spalteten sich ab und nahmen das von ihnen erhobene umfangreiche Material an sich.35 Das konnte von Tröger schon deshalb nicht akzeptiert werden, weil sie für die Finanzabrechnung geradestehen musste und auch der Schlussbericht noch nicht erstellt worden war, dem selbstverständlich das gesamte im Rahmen des Projektes erhobene Material zugrunde liegen sollte. Nachdem eine Einigung gescheitert war, wandte sich Tröger an das Präsidialamt. Dort wurde nach einer einvernehmlichen Lösung gesucht, die darin bestand, das Material zunächst in einem Büro des ZI 6 zusammenzuführen, das allen Mitarbeiterinnen zugänglich war, um es nach Abschluss der Endberichte an ein Archiv zu übergeben, wo es für zwei Jahre allen Beteiligten unbeschränkt für Qualifikationsarbeiten zur Verfügung stehen sollte. Es sieht danach aus, als ob dennoch lediglich ein Teil des Materials abgegeben worden wäre.36 Und auch, was mit dem Rest – immerhin 120 Interviews – später, vor allem nach Auflösung des ZI 6, geschah, ist heute nicht mehr zu ermitteln.37 Das Material bleibt verschwunden. Das ist bedauerlich, weil der Quellenkorpus des Projektes von historischem Interesse ist: Er legt – wie jedes Oral-History-Projekt – in doppelter Weise die Wunden frei, die der Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte geschlagen hat, bei den Zeitgenossinnen und -genossen wie auch bei ihren Kindern, die mit den Traumata dieser Zeit zurechtkommen mussten. Seinem letzten Brief vom 29. 1. 1982 hatte der Präsidialamtsmitarbeiter denn auch eine »persönliche Bemerkung« hinzugefügt: »Ich habe als historisch interessierter Mensch, aber geschichtswissenschaftlicher Laie, in den vorliegenden Berichten gelesen und habe mir vorgestellt, was für ein schönes, auch für einen breiten Leserkreis geeignetes, möglichst auch mit einigen schönen Bildern ausgestattetes stadtgeschichtliches Buch aus diesem Projekt hervorgehen könnte. Ich fände es jammerschade, wenn dies aufgrund der in der Projektgruppe entstandenen Kontroversen nicht zustande kommen könnte.«38 Dem Kiezprojekt wurde am Ende ein ähnliches Schicksal zuteil wie der feministischen Berliner Zeitschrift Courage, die zuletzt daran scheiterte, dass es – unter dem äußerem Druck – in den Frauenstrukturen nicht gelang, »konstruktiv mit Konflikten umzugehen«.39 Konzeptionell allerdings konnte es das Kiezprojekt durchaus mit anderen Projekten aufnehmen. Wie der Schlussbericht zeigt, hatte es einen beachtlichen 35 Der Vorwurf stand im Raum, dass Tröger mit den anderen beiden Mitarbeiterinnen auf der Grundlage des gesamten Materials eine Folgeförderung beantragen wolle. Dafür gibt es keinerlei Hinweise. FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-78. 36 Jeweils 30 Interviews pro Mitarbeiterin wurden abgegeben, 75 standen offenbar noch aus. Brief »Der Präsident der Freien Universität Berlin« vom 29. 1. 1982, S. 2, FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-78. 37 Hartung: Das Erbe verschleudert, in: Die Zeit 45 /1997. 38 Brief »Der Präsident der Freien Universität Berlin« vom 29. 1. 1982, S. 4. FFBIZ B Rep. 500 Acc. 800-78. 39 Notz: Courage – Wie es begann, was daraus wurde und was geblieben ist 2007, S. 50.
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Abb. 10: v. l. n. r.: Ingrid Wittmann, Annemarie Tröger, Lore Kleiber, Oral History Conference Colchester 1979
Lernprozess durchlaufen. Und auch wenn das Projekt Stückwerk blieb und weder eine Monographie noch ein Sammelband dazu entstand, übte es über mehrere Semester hinweg eine Ausstrahlung auf einen größeren Kreis von Studentinnen und Interessierten aus. Auffallend ist nur, dass kaum eine von ihnen die Mündliche Geschichte weiter verfolgte.40 Das Projekt nahm eine wichtige Rolle ein bei der Suche nach einem Dialog zwischen den Generationen, der, ausgehend von der Studentenbewegung, der autonomen Frauenbewegung sowie politisch engagierten jungen Angestellten, Lehrlingen, Schülerinnen und Schülern in den siebziger Jahren initiiert wurde. Denn nach Jahren des Schweigens war es – ganz zentral – der Beginn des Sprechens über das im Nationalsozialismus Geschehene, aus dem zuletzt jene Erinnerungskultur hervorging, die Geoff Eley als »collectively persued and doggedly defended excercise in critital remembering« beschrieb.41 Ohne die Oral History und ohne Bemühungen wie die von Annemarie Tröger wäre dieser Umbruch nicht möglich gewesen.
40 Das galt für meine eigene Dissertation: Straff, aber nicht stramm – Herb, aber nicht derb 1989 sowie für Irmgard Weyrather, Mitarbeiterin im Kiezprojekt mit: »Ich bin noch aus dem, vorigen Jahrhundert.« 1985. 41 Geoff Eley: Mastering Which Past? 2020.
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Vorgeschichte der neuen Frauenbewegung: Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus
Annemarie Tröger
Die Dolchstoßlegende der Linken: »Frauen haben Hitler an die Macht gebracht«. Thesen zur Geschichte der Frauen am Vorabend des Dritten Reichs (1977)
Vorspann Das folgende Referat ist nicht das Ergebnis einer jahrelangen Forschungsarbeit, sondern basiert auf einer halbjährigen Vorstudie für ein größeres Forschungsprojekt zum Thema Frauen im Faschismus. Dieser Beitrag zur Sommeruniversität kann deshalb auch nicht beanspruchen, das teilweise Ergebnis einer feministischen Wissenschaft zu sein. Er ist vielmehr der Versuch, den Ring des Schweigens um die jüngste deutsche Vergangenheit – auch in der Frauenbewegung – zu durchbrechen. Gerade eine Frauenbewegung in Deutschland kann sich nicht an einer harten und realistischen Auseinandersetzung mit dem Entstehen und der Herrschaft des Nationalsozialismus vorbeimogeln – etwa mit dem Hinweis, der Faschismus sei eben der Ausdruck der schlimmsten Männerherrschaft –, wenn sie als politische Bewegung auch von unseren Müttern ernst genommen werden will. In einer solchen Auseinandersetzung genügt es nicht, die Leidensgeschichte von Frauen zu vervollständigen, sondern die aktive Komplizenschaft einiger Frauen und das passive Sichwegducken der Majorität der Frauen müssen diskutiert und die subjektiven und objektiven Beweggründe für ein solches Verhalten aufgedeckt werden. (Die evtl. männlichen Leser seien aber gewarnt: Selbst wenn im Folgenden fast ausschließlich von Frauen die Rede sein wird, so sind sie nicht »das Problem« in diesem Zusammenhang. Das Problem sind »Männer«: die Ideologie, die Verhaltensweisen und das Selbstverständnis dessen, was als männlich bis heute ungebrochen in der deutschen Gesellschaft und vom individuellen Mann akzeptiert wird. »Wenn man nicht von der Männlichkeitsideologie reden will, dann soll man über den Faschismus schweigen.«) Das allgemein verbreitete Bild über Frauen in der NS -Gesellschaft ist widersprüchlich, verschwommen und mehr von der traditionellen und damit faschistischen Ideologie über das »Wesen der Frau« geprägt als von der historischkonkreten Lebenssituation und der empirisch überprüften politischen Haltung der Masse der kleinbürgerlichen und proletarischen Frauen. Zwei ideologisierte Argumente werden uns immer wieder entgegengehalten, selbst in der linken Literatur: Frauen als getretene, unterdrückte, passive Masse, die, zum reinen Gebärvieh degradiert, im Nationalsozialismus ihre schlimmste Erniedrigung in 217
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der bisherigen Geschichte erfuhren. Oder das Gegenbild: die jubelnde, hysterisierte Masse von Weibern, die nicht nur durch ihr Wahlverhalten vor 1933 Hitler an die Macht gebracht haben, sondern auch danach massenweise in Ohnmacht fielen oder in Tränen ausbrachen, wenn sie den Führer in Massenaufmärschen zu Gesicht bekamen, die sich nichts sehnlicher wünschten, als dem Führer ein Kind zu gebären, die vor den Häusern des »Lebensborn« Schlange standen, um sich von den Zuchtbullen der SS »begatten« zu lassen. Nicht selten werden auch beide Züge verschmolzen: Das getretene Gebärvieh, das seine Erniedrigung und seine Ausbeutung freudig akzeptiert, weil es endlich wieder seinen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommt. Damit wären wir wieder beim alten Vorurteil: weiblich gleich masochistisch. Die Literatur über »Frauen im Nationalsozialismus« ist spärlich gesät. Abgesehen von einigen biographischen und autobiographischen Büchern, meist von oder über Gegnerinnen des NS -Regimes, abgesehen von Unterkapiteln in Büchern, in denen das Thema eher der Vollständigkeit halber mitbehandelt wird, und abgesehen von einigen Interpretationen, die nicht der Brillanz, aber umso mehr der historischen Daten ermangeln,1 bleiben nur sehr wenige Arbeiten übrig, die als empirisch fundierte Analysen dieses Themas betrachtet werden können: von Clifford Kirkpatrick, Jill Stephenson und Timothy Mason.2 Aber diese Arbeiten reichen nicht aus, sie sind in zu großen Zeitabständen veröffentlicht worden, und vor allem: Sie waren nicht begleitet von einer breiten politischen Auseinandersetzung unter Frauen, um die gröbsten Fehleinschätzungen in der wissenschaftlichen Literatur – soweit Frauen überhaupt darin vorkommen – zu berichtigen und die gängigsten Vorurteile in der Bevölkerung auszulöschen. Im Folgenden werde ich aus dem Wust von Vorurteilen über Frauen im Faschismus eines herausgreifen, das ich für besonders gefährlich halte, weil es vor allem in den Organisationen der Arbeiterbewegung, auch in ihren fortschrittlichen Teilen, bis heute virulent ist: »Frauen haben durch ihr Wahlverhalten Hitler an die Macht gebracht.«
Dolchstoßlegenden Es ist geradezu ein Charakteristikum der deutschen Männergesellschaft in der jüngeren Geschichte, die selbstverschuldeten nationalen Niederlagen den Frauen anzulasten, besonders wenn sich kein anderer, dem Ausmaß der Katastrophe an1 Reich: Massenpsychologie 1933; Bloch: Die Frau im Dritten Reich 1937; Macciocchi, Jungfrauen, Mütter und ein Führer 1976. 2 Kirkpatrick: Women in Nazi Germany 1939; Stephenson: Women in Nazi Society 1975; Mason: Zur Lage der Frauen in Deutschland 1976. Zu erwähnen sind weiterhin einige Bücher, deren zentrales Thema zwar nicht »Frauen im Nationalsozialismus« ist, die aber als »angelagerte« Literatur zu bezeichnen sind: Gersdorff: Frauen im Kriegsdienst 19141945, 1969; Bleuel: Das saubere Reich 1972.
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gemessener Sündenbock findet. So wurde die Niederlage des Ersten Weltkrieges vom deutschen Bürgertum damit erklärt, dass die Heimat der heldenhaften und im Felde unbesiegten Front in den Rücken gefallen sei. Diese »Dolchstoßlegende« wurde von der Heeresleitung ausgegeben, von weiten Kreisen der kleinbürgerlichen Männer enthusiastisch aufgenommen und selbst von einigen konservativ-bürgerlichen Frauen reuevoll akzeptiert. Es ist richtig, dass die »Soldaten an der Heimatfront« – also in der Majorität Arbeiterinnen und Hausfrauen – in den letzten beiden Kriegsjahren massiv gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen revoltiert haben. Es ist auch wahrscheinlich (und einige neuere Studien bestätigen es), dass Frauen dabei häufig militanter waren als die im Lande gebliebenen Männer. Aber deswegen verlor der deutsche Imperialismus nicht den Krieg, bestenfalls wurde die Leidenszeit verkürzt und ein paar Tausend Menschen vor dem Tode bewahrt. Der Sieg des Hitler-Faschismus 1933 ist die moralische Niederlage des ganzen deutschen Volkes. Es war ein Sieg des deutschen Bürgertums, das keine Moral hat, über die Arbeiterklasse; es war die selbstverschuldete Niederlage des deutschen Kleinbürgertums; und es war die blutigste Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung – nicht selbstverschuldet – aber auch nicht ganz unverschuldet. Mit dieser Niederlage kam eine neue Legende: »Die Frauen haben (Hitler) – vereinfacht ausgedrückt – entdeckt, gewählt, vergöttert.« (Joachim Fest)3 Niemals sind in der deutschen Geschichte gerade so viele Frauen einer politischen Partei zugeströmt wie der NSDAP – und nie hat eine Parteiideologie die Frauen so erniedrigt wie die NSDAP. Zunehmende »Unwissenheit« nennt Marx eine der Formen der Verelendung. (Jürgen Kuczynski)4 Es erstaunt uns nicht, dass die deutsche Bourgeoisie als zynischer Bankrotteur erneut eine »Umschuldung« betreibt, bei der sie die Schuld an ihren verbrecherischen Abenteuern genau den Gruppen und Schichten in die Schuhe zu schieben versucht, die sich am meisten dagegen gewehrt oder nur widerwillig mitgemacht haben. Waren es nach dem Ersten Weltkrieg die Arbeiterbewegung und die Frauen, so sind es dieses Mal nur die KPD, die angeblich zusammen mit den Nazis die Republik zerstört hat, und die Frauen, die Hitler entdeckt und gewählt haben sollen. Uns wundert auch nicht, dass die deutschen Kleinbürger weinerlich und voller Selbstmitleid einen Sündenbock suchen, nachdem sie sich großmäulig und breitbeinig auch dem Führer als Helden zur Verfügung gestellt und bei ihrem erneuten Versuch, das Vaterland zu retten, wieder eins auf die Schnauze bekommen haben. Dass sie den Sündenbock u. a. in »den Frauen« finden, ergibt sich fast zwingend aus dem antagonistischen Verhältnis der Geschlechter in dieser Klasse. 3 Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches 1963, S. 359. Fest, bürgerlicher Konservativer, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ ). 4 Kuczynski: Studien zur Geschichte der Lage der Arbeiter 1963, S. 255. Kuczynski, Mitglied der KPD in der Weimarer Republik, aktiver Antifaschist, Autor der wichtigsten deutschsprachigen Sozialgeschichte der Arbeiterklasse, Mitglied der SED.
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Schlimmer – und weitaus gefährlicher – ist, dass diese Legende auch von der Arbeiterbewegung transportiert wird, zwar nicht offen und direkt, sondern in Nebensätzen und Zwischenbemerkungen. Wer von uns hat noch nicht die – von einer müde-herablassenden Handbewegung begleitete – Bemerkung gehört: »Ach, die Weiber, die sind doch alle dem Adolf nachgelaufen.« Die Legendenbildung in der Arbeiterbewegung ist so gefährlich, weil die Arbeiterparteien vor 1933 die einzige und danach die wichtigste soziale Kraft waren, die gegen die Nazis gekämpft hat. Dadurch gewinnt die Legende an Glaubwürdigkeit und erhält einen perfiden Dreh: Als die (männliche) Arbeiterklasse mutig gegen den Faschismus kämpfte, fielen ihr »die Frauen« in den Rücken und brachten Hitler an die Macht. Das dümmliche und leicht zu entkräftende Sündenbockmärchen der Kleinbürger wird bei den Arbeitern zur Dolchstoßlegende. Deshalb ist es auch gerechtfertigt, von der »Dolchstoßlegende der Linken« zu sprechen.
Was ist nun wirklich los gewesen? Selbst aufgrund der dünnen Datenbasis für das geschlechtsspezifische Wahlverhalten in den kritischen Jahren vor 19335 und bei einer sehr groben Zusammenfassung der bisherigen Arbeiten über die politische Rolle der Frauen in der Weimarer Republik6 kann man sagen: Die Behauptung, die Frauen hätten Hitler an die Macht gebracht, ist eine böswillige Verleumdung. Sie haben die faschistische Bewegung weder durch ihre Mitgliedschaft in der Partei oder anderen NS -Organisationen zu einem politischen Machtfaktor gemacht, noch haben sie bei den verschiedenen Wahlen die Nazis besonders begünstigt. Bis 1930 haben Frauen wesentlich weniger als Männer die NSDAP gewählt. Wenn z. B. in der Reichstagswahl 1928 nur die Männer gewählt hätten, dann hätten die Nazis 16 Sitze erhalten. Aufgrund der Frauenstimmen erhielten sie aber nur zwölf Sitze. Seit 1930 verringerte sich die Differenz zwischen dem Stimmanteil von Männern und Frauen für die NSDAP. Aber selbst bei den beiden Wahlen des Reichspräsidenten am 13. März und 10. April 1932 blieb ein geringer aber konsistenter Unterschied von 2 weniger Frauen- als Männerstimmen für Hitler. Aber selbst wenn in den letzten Wahlen vor der Machtübernahme Hitlers die Frauen in den protestantischen Großstädten dem verhängnisvollen Trend der Männer zur NSDAP gefolgt sind – für die ländlichen protestantischen Gegen-
5 Zählten noch in den Reichstagswahlen im Mai 1924, Dezember 1924 und 1928 insgesamt 187 Wahlbezirke getrennt nach Geschlecht aus, so wurden nach 1930 nur noch neun Wahlkreise geschlechtsspezifisch ausgezählt, die meisten dieser neun Kreise waren Großstädte. Nicht zuletzt deshalb beschäftigten sich die meisten eingehenden Wahlanalysen mehr mit den Jahren vor der Wirtschaftskrise. 6 Bäumer: Die Frau im deutschen Staat 1932; Beyer: Die Frau in der politischen Entscheidung 1932; Duverger: The political Role of Women 1955; Bremme: Die politische Rolle der Frau in Deutschland 1956.
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den ist dies weiterhin fraglich –,7 so ist die bedeutend geringere Stimmabgabe für die Nazis von Frauen in den katholischen Gebieten Beweis genug, dass nicht die Frauen Hitler an die Macht gebracht haben. Es geht hier nicht darum, den Frauen nachträglich einen Persilschein zur Entnazifizierung auszustellen. Es kommt vielmehr darauf an, die immer wieder verdrehten Relationen richtig zu stellen. Die linke Dolchstoßlegende ist gefährlich, denn sie führt dazu, die Bedeutung der – leider nicht nur faschistischen, leider nicht nur kleinbürgerlichen und leider nicht überholten – Männlichkeitsideologie für das Entstehen und die Anziehungskraft der faschistischen Massenbewegung zu vertuschen. Wenn man die Legende akzeptiert, dass Frauen die Nazis an die Macht gebracht haben, dann wird der in allen Schichten Deutschlands fest verwurzelte Männlichkeitswahn zur unpolitischen Folklore verniedlicht und ist nicht mehr Leim für die faschistischen Mörder- und Schlägertrupps – in seiner latent homoerotischen und offen brutalistischen Variante –; dann muss man nicht erkennen, dass diese Ideologie Anerkennung und Belohnung für das Millionenheer von kleinen Nazi-Amtsträgern in ihrer paternalistisch-autoritären Variante ist. Wenn aber dieses »Deutsche Kulturgut« nur ungefährliche Folklore ist, dann braucht man es auch nicht bei sich, in den eigenen Organisationen zu bekämpfen. Wenn die Frauen den Dolch in den Rücken der Arbeiterbewegung gestoßen haben, dann brauchen die beiden großen Arbeiterparteien ihr eigenes historisches Versagen angesichts der faschistischen Gefahr nicht kritisch aufzuarbeiten. Dann muss die SPD nicht einsehen, dass ihre Reformpolitik in kapitalistischen Krisen in eine Sackgasse führt. Die KPD und ihre verschiedenen Nachfolgeorganisationen brauchen dann nicht einzusehen, dass verbale Radikalität eine realistische revolutionäre Politik nicht ersetzen kann. Und beide Arbeiterparteien brauchen nicht zuzugeben, dass ihr selbstmörderischer Parteienkrieg gegeneinander angesichts der unmittelbaren faschistischen Gefahr die Kampfkraft der Arbeiterklasse gelähmt und eine Abwehrfront gegen die Nazis verhindert hat. Globale und plakative Anschuldigungen gegen »die Frauen«, wie sie in dieser Dolchstoßlegende von links zum Ausdruck kommen, sind unpolitisch und ungerecht und verhindern eine selbstkritische Diskussion in der Arbeiterbewegung. Kein Linker hat je den männlichen Teil der deutschen Bevölkerung kollektiv und klassenunspezifisch für die Verbrechen des NS -Regimes verantwortlich gemacht. Was soll also dieser klassenunspezifische Vorwurf ? Natürlich haben Frauen die NSDAP und Hitler gewählt: In der oben erwähnten Reichspräsidentenwahl (1. Wahlgang) ein Viertel aller Wählerinnen – erschreckend viele für die explizit antifeministische Position dieser Partei. Wer waren diese Wählerinnen? Was waren ihre Gründe? Haben kleinbürgerliche Frauen ebenso zahlreich wie die Männer ihrer Klasse, die weiblichen Angestellten im selben Verhältnis wie ihre männlichen Kollegen, Akademikerinnen genauso häufig wie Akademiker die NSDAP gewählt? Besonders wichtig wäre für uns eine Antwort auf die Frage, ob Berufstätige oder sogenannte Nur7 Shively: Party Identification, Party Choice, and Voting Stability 1972.
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Hausfrauen eher zur NSDAP tendierten, ob es zwischen Frauen mit einem relativ gesicherten Beruf und solchen, die als ungelernte Arbeiterin oder untere Angestellte zur weiblichen Reservearmee gehörten, einen politischen Unterschied gab. All diese für die Frauenbewegung heute wichtigen politischen Fragen sind noch unbeantwortet. Ich werde im Folgenden versuchen, einen Erklärungsrahmen zu skizzieren, in dem, wie ich meine, zukünftige Untersuchungen angesiedelt werden müssten, um das widersprüchlich erscheinende politische Verhalten von Frauen in der Weimarer Republik und in der Nazizeit zu deuten. Wenn ich dabei hauptsächlich von ihrem Wahlverhalten ausgehe, so nicht deshalb, weil ich dies für den wichtigsten oder gar den einzig relevanten Ausdruck des politischen Verhaltens ansehe, sondern weil es für diesen Bereich die meisten empirischen Daten gibt und er in einzelnen Analysen am besten aufgearbeitet ist.8
Frauen, die ewig konservativen Wähler? Die Frauenstimmen für die Nationalsozialisten müssen im Zusammenhang mit dem konservativen Wahlverhalten der Frauen in der Weimarer Republik gesehen werden. Frauen stimmten weit mehr als Männer für konservative, bürgerliche Parteien, besonders für die katholische Zentrumspartei, die Bayerische Volkspartei (BVP) und die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP). Hätten z. B. in der oben erwähnten Reichstagswahl im Jahre 1928 die Frauen nicht gewählt, so hätten die Zentrumspartei zwölf Sitze und die Deutsch-Nationale Volkspartei neun Sitze weniger erhalten und die SPD hätte nicht vier und die KPD nicht acht Sitze eingebüßt. Die Enttäuschung, die Wut der Arbeiterparteien, besonders der KPD, über die Tatsache, dass die Frauenstimmen ihren Wahlerfolg im Verhältnis zu den bürgerlichen Parteien verminderten, ist eine weitere Ursache für die Legende, dass »Frauen Hitler an die Macht gebracht haben«. Dies muss vor dem Hintergrund der verhängnisvollen »Sozialfaschismustheorie« gesehen werden, mit der die KPD in Bausch und Bogen alle bürgerlichen Parteien und sogar die SPD mit den Nazis gleichsetzte. Wie lässt sich nun die offensichtlich konservative Grundeinstellung der Majorität der Frauen erklären? Bisher sind uns nur linke und rechte Varianten des üblichen Vorurteils »Frauen sind eben rückständig« geliefert worden. Der Bogen spannt sich vom linken Argument: »Wegen der isolierten Arbeit im Haushalt haben es Frauen schwerer, sich mit ihrer Klasse zu solidarisieren« bis zur rechten Ideologie: »Die Frau als Hüterin des neuen Lebens ist von Natur aus die Bewahrende«.
8 Siehe FN 6.
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Emanzipation ohne Basis Renate Bridenthal hat in einem Artikel die bisher plausibelste Erklärung gegeben.9 Sie weist nach, dass sich im Gegensatz zur allgemein akzeptierten Auffassung die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten für Frauen in der Weimarer Republik – verglichen mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – nicht oder nur in einem unbedeutenden Ausmaß vergrößert hatten. Zwar erweiterte sich der Arbeitsmarkt, ihm stand aber auch eine gewachsene arbeitsfähige Bevölkerung gegenüber. So gab es 1925, verglichen mit 1906, 4,3 Millionen mehr Frauen in der Bevölkerung. Aber nur 2,9 Millionen mehr Frauen waren erwerbstätig (einschließlich der »mithelfenden Familienangehörigen«); während sich im gleichen Zeitraum die männliche Bevölkerung nur um 3,0 Millionen vergrößerte, nahm die Anzahl der männlichen Beschäftigten um 3,8 Millionen zu. (Wer hat hier wohl wem die Arbeitsplätze weggenommen?) Bei der immer wieder zitierten epochalen Ausweitung der Frauenarbeit in den zwanziger Jahren scheint es sich eher um ein gigantisches Verschiebungsmanöver der weiblichen Arbeitskräfte gehandelt zu haben. Einerseits wurden Frauen mit der Rationalisierungswelle Mitte der zwanziger Jahre vom Land in die Städte gezogen, um dann im Dritten Reich als Landjahr- und Arbeitsdienstmädchen gewaltsam wieder zurücktransportiert zu werden. Andererseits wurden viele weibliche Arbeitsplätze in der Konsumgüterindustrie wegrationalisiert. Gleichzeitig vervielfachten sich die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen im staatlichen und privaten Angestelltenbereich, natürlich auf den unteren Ebenen. Aber auch in den neuen Produktionszweigen in der metallverarbeitenden Industrie, der Elektro- und der pharmazeutischen Industrie, eröffnete sich für viele Tausende von Frauen die Karriere der Fließbandarbeit. Außerdem expandierte der soziale Dienstleistungssektor im Erziehungs- und Gesundheitswesen, wo eine relativ große Zahl von Frauen eine zumindest halbwegs qualifizierte Arbeit fand. Die wenigen von Frauen besetzten Stellen im akademischen Bereich, z. B. in der Justiz und den Hochschulen, können kaum als weiblicher Arbeitsmarkt bezeichnet werden. Das Spektakel, das um die Akademikerinnen inszeniert wurde, überstieg bei Weitem ihre wirkliche Bedeutung: Von den Liberalen als Beispiel für die gelungene Emanzipation zitiert und von den Konservativen als Beweis des Sittenverfalls in der Republik und der bedrohenden Verdrängung von Männern durch Frauen denunziert, wurden die wenigen Akademikerinnen in das Rampenlicht der Öffentlichkeit gezerrt. Als zu Beginn der dreißiger Jahre Frauen sich immerhin fast 20 aller Studienplätze erkämpft hatten, in Mathematik und Physik sogar 25 , man also von einem potenziellen akademischen Arbeitsmarkt für Frauen hätte sprechen können, begannen die männlichen Studenten, meist in rechtsradikalen Korporationen organisiert, einen lautstarken
9 Bridenthal: Beyond Kinder, Küche, Kirche 1973.
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und brutalen Kampf gegen Frauen in den Universitäten, den sie nach der Machtübernahme der Nazis gewannen.10 So hatten sich also die an das allgemeine Wahlrecht und die bürgerliche Demokratie geknüpften Erwartungen vieler Frauen, unabhängig von Mann und Familie einen Lebensunterhalt verdienen zu können, insgesamt nicht erfüllt. Nur in wenigen kleinen Teilbereichen verbesserte sich die ökonomische Lage der Frau. Die in der Präambel der Weimarer Verfassung deklarierte »Gleichheit zwischen Mann und Frau« wurde nicht in konkrete Gesetze umgesetzt: Im Familien-, Arbeits- und Strafrecht (z. B. § 218) blieb alles beim Alten, wie im finstersten Kaiserreich. Bridenthal zieht aus diesen Tatsachen den Schluss: Selbst wenn Frauen in traditionell männliche Berufe eindrangen, wurden sie weder gleich bezahlt, noch gleich behandelt. Und eine politische Lösung dieses Problems war nicht in Sicht. Ohne eine entsprechende Alternative blieben Frauen dem althergebrachten Kinder-, Küche-, Kirche-Ethos verhaftet und sahen in der Emanzipation eher eine Bedrohung als einen Segen […]. Das Heim war für die deutsche Frau, was der Handwerksbetrieb oder der kleine Hof für den deutschen Mann war. Es bedeutete Status, Unabhängigkeit, Ansehen und Sicherheit. Es war, kurz gesagt, ein Territorium, das es zu verteidigen galt. Die Sorge der Frauen, ihre traditionelle Nische in der Gesellschaft zu verlieren, war vergleichbar der Furcht der Männer vor der Proletarisierung. […] So sollte es uns nicht überraschen, dass die Frauen der Weimarer Republik die Möglichkeit ihrer Emanzipation nicht beim Schopfe fassten und sogar politisch ablehnten. Konservative Politiker begriffen die Anziehungskraft der Tradition in Zeiten der Unsicherheit. Im Gegensatz zu den liberalen und linken Parteien konnten sie diese Angst in politische Propaganda ummünzen.11 Ich stimme mit Bridenthal darin überein, dass sich die Existenzmöglichkeiten für Frauen durch bezahlte Arbeit in der Weimarer Republik nicht vergrößert, dass sie sich während der großen Wirtschaftskrise sogar verringert hatten. Für zwei Drittel aller Frauen blieb die Hausarbeit in der eigenen Familie weiterhin die einzige Überlebensmöglichkeit und für den größten Teil der erwerbstätigen Frauen eine zusätzliche, aber notwendige Existenzsicherung. Nur der relativ geringe Anteil von Facharbeiterinnen und Frauen in anderen qualifizierten Berufen mit einem, den Männern vergleichbar gesicherten, Arbeitsverhältnis konnte sich erlauben, über die Genesung der deutschen Familie und die Verherrlichung der deutschen Hausfrau und Mutter als propagandistische Bauernfängerei konservativer und nationalsozialistischer Politiker hinwegzugehen. Bridenthal misst aber meines Erachtens der Emanzipationshoffnung und -frustration und der Angstreaktion der Frauen auf das Schreckensbild der eman10 Vgl. Stephenson: Women in Nazi Society 1975, Kap. 6 und 7. 11 Bridenthal: Beyond Kinder, Küche, Kirche 1973, übersetzt von der Verfasserin nach dem Ms., S. 44 und 45.
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zipierten Frau zu große Bedeutung bei. Ich glaube, dass das Gros der kleinbürgerlichen Frauen sehr viel gelassener auf das Zerrbild des Zigaretten rauchenden Blaustrumpfes reagierten als ihre männlichen Gegenstücke an den Stammtischen. Und proletarischen Frauen muss das Geschrei um die emanzipierte Frau wie das Getümmel aus einer anderen Welt vorgekommen sein. (Wir dürfen nicht vergessen, dass das, was uns als öffentliche Meinung entgegentritt, damals wie heute bestenfalls die Meinung der Männer aus dem Bürgertum und Kleinbürgertum darstellt.) Das konservative Wahlverhalten eines großen Teils der Frauen ist so nicht zu erklären. Tiefergreifende soziale Vorgänge müssen in die Interpretation einbezogen werden.
Die Familienrevolution Eine existenzielle Revolution für das Leben der Frauen und zugleich eine soziale und ökonomische Umwälzung von ungeheurer Tragweite für die gesamte Bevölkerung vollzog sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen: Die Umwandlung von der »Großfamilie« zur »Kleinfamilie«, genauer gesagt: vom »erweiterten« Haushalt mit einer, wenn auch nur kleinen, vom kapitalistischen Markt unabhängigen ökonomischen Basis zum subsistenzlosen Kleinhaushalt, der nur die Kernfamilie (Eltern und Kinder) umfasst. Von den Zeitgenossen sicher nicht unbemerkt, aber unbeachtet, blieb diese tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft den Sozialwissenschaftlern und Zeitgeschichtlern aller Schattierungen bisher verborgen. Wurden z. B. dem vergleichsweise begrenzten Phänomen der Proletarisierung der kleinbürgerlichen Männer und den politischen Auswirkungen dieses Prozesses viele Aufsätze und Bücher gewidmet, so blieb es meines Wissens Timothy Mason vorbehalten, auf diese »Familienrevolution« hinzuweisen: Die allgemeine Vorherrschaft der spezifisch-modernen städtischen bzw. vorstädtischen Kleinfamilie, in der die Frau entweder nur Haushaltsarbeit verrichtet oder aber regelmäßig als Lohn- bzw. Gehaltsempfängerin arbeitet, ist eine jüngere Erscheinung, als kritische Sozialwissenschaftler anzunehmen geneigt waren. Die Entwicklung und Verbreitung dieses Typus der Kleinfamilie kam als Trend vor allem während der Zwischenkriegsjahre zur Geltung, und die tatsächlichen – im Gegensatz zur demagogisch propagierten – »Errungenschaften« des Nationalsozialismus bestanden zunächst in der Beschleunigung dieses Trends.12 In der Bevölkerungsstatistik wird diese soziale Umwälzung in zwei gegensätzlichen Tendenzen sichtbar: der Zunahme der Anzahl der Haushalte bei gleichzeitiger Verringerung der Haushaltsgröße. Trotz der Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, des Massensterbens von Männern im heiratsfähigen Alter und des 12 Mason: Zur Lage der Frauen in Deutschland 1976, S. 120.
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»Frauenüberschusses« war 1925 die Anzahl der Haushalte 20 größer als in demselben Gebiet um 1910. Das bedeutete vor allem eine Zunahme der kleinen Haushalte: Die Anzahl der Haushalte mit drei Personen stieg in diesen 15 Jahren um 50 an, mit zwei Personen um 39 und mit vier Personen um 34 . Gleichzeitig sank die Anzahl der mittleren und großen Haushalte. Umfassten 1910 noch 27,6 aller Haushalte mehr als sechs Personen (inclusive Gesellen und Dienstboten), so waren es 1925 nur noch 19,7 13. Mason erwähnt nicht, dass das Schrumpfen der Haushalte selbst nur eine Folge der Veränderung der ökonomischen und ökologischen Basis der Familie war. Diese ökonomische Veränderung ist aber entscheidender für die Situation der proletarischen und kleinbürgerlichen Frauen in den Städten als das Schrumpfen des Familienverbandes an sich. Noch im 19. Jahrhundert besaß der größte Teil der lohnabhängigen Bevölkerung ein Haus und ein mehr oder weniger großes Stück Land. Mit der Konzentration des Kapitals und der Zentralisierung der industriellen Produktion in den Großstädten verlor die nachwandernde Bevölkerung diese, vom Lohn unabhängige, Subsistenzbasis: die Möglichkeit, Gemüse und Kartoffeln anzubauen, ein paar Hühner, Kaninchen, vielleicht sogar ein Schwein zu halten. Auf dieser Subsistenzbasis lebte meist eine Dreigenerationenfamilie und ein oder mehrere unverheiratete »Kostgänger«, die einen Teil ihres Lohnes an die Hausfrau ablieferten. Der Lebensstandard in diesem erweiterten Haushalt war nicht unbedingt besser, in vielen Fällen eher schlechter als in der modernen Kleinfamilie. Aber für die proletarischen Frauen bedeutete die erweiterte Familie und die minimale Subsistenzbasis eine gewisse existenzielle Unabhängigkeit, die Sicherheit, mit den Kindern irgendwie durchzukommen, selbst wenn der Ehemann auf Nimmerwiedersehen verschwand, arbeitslos wurde, starb oder den Wochenlohn in der Kneipe verprasste. In den zwei oder drei Kämmerchen im städtischen Mietshaus wurde die Lage der Frauen und Kinder äußerst prekär: Jeder durchgebrachte Wochenlohn beschwor die existenzielle Krise herauf, jeder durchgebrannte Ehemann bedeutete das Armenhaus. Sicher, die Wandlung zur Kleinfamilie hieß möglicherweise weniger Arbeit, weniger Schinderei.14 Aber wie relativ diese Erleichterung angesichts der existenziellen Verunsicherung war, beweist die Tatsache, dass die proletarischen Hausfrauen selbst unter den beengten Wohnverhältnissen der Großstädte zäh an ihren »Kostgängern« und »Schlafburschen« festhielten, bis ihnen in den 20er und 30er Jahren auch diese unabhängige Einkommensquelle durch die Vermehrung der Kleinfamilien, d. h. durch die geringer werdende Zahl von Ledigen abgeschnitten wurde. Schrebergärten, der meist nur handtuchgroße Ersatz für die verloren gegangene Subsistenzbasis, spielen bis heute in der städtischen deutschen Arbeiterklasse eine wesentliche wirtschaftliche und soziale Rolle, wie 13 Daten Mason: Zur Lage der Frauen in Deutschland 1976, S. 126. 14 Aber selbst das ist zweifelhaft: Man denke nur an den größeren Arbeitsaufwand für die Aufzucht eines Kindes unter beengten städtischen Lebensverhältnissen.
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Abb. 11: Obdachlosenasyl für Frauen: Überlebensmöglichkeit der Unverheirateten
wesentlich, das zeigen die patriarchalischen Zulassungsbedingungen: Bis heute können sich nur Familien mit einem männlichen Haushaltsvorstand um einen Berliner Schrebergarten bewerben. Die »Familienrevolution« wirkt sich für die verschiedenen sozialen Schichten von Frauen unterschiedlich aus. Für die proletarischen Frauen war der Wegfall einer vom Lohn des Mannes unabhängigen Subsistenz mit weniger Arbeit verbunden. Für die kleinbürgerlichen und bäuerlichen Frauen bedeutete diese Entwicklung mehr Arbeit, denn sie mussten die in die Industrie abgewanderten Arbeitskräfte ersetzen. Für eine große Gruppe von unverheirateten Frauen, die unter den alten Verhältnissen ihr ganzes Leben das ausgebeutete und miserable Los von Dienstbotinnen, Mägden, Waschfrauen, Weißnäherinnen usw. hatten ertragen müssen, die ihre außerehelich Neugeborenen weggeben oder auf Kirchenstufen hatten aussetzen müssen, bestand nun die Hoffnung, ihre Kinder in einer eigenen Familie großziehen zu können. Nur für wenige Frauen schuf die Familienrevolution »Bedingungen, unter denen die soziale und wirtschaftliche Emanzipation überhaupt erst mit Aussicht auf Erfolg diskutiert und vorangetrieben werden konnte«15 – für diejenigen Frauen nämlich, die eine qualifizierte und relativ stabile Berufsarbeit hatten. Die aber waren und blieben während der 20er Jahre meist unverheiratet.
15 Mason: Zur Lage der Frauen in Deutschland 1976, S. 127.
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Die Kryptofamilie in der Subökonomie Aber die Entwicklung zur subsistenzlosen Kleinfamilie vollzog sich in der krisengeschüttelten Zeit vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nicht geradlinig und für die Beteiligten einsehbar. Denn die Kleinfamilien wurden zwar zunehmend subsistenzloser, aber keinesfalls, wie die Sozialwissenschaftler bis heute annehmen, ökonomisch funktionslos. Die Krisen des Kapitalismus bringen spezifische Lebensverhältnisse hervor, in denen die Haushalte immer wieder eine lebenswichtige ökonomische Bedeutung bekommen. Durch die Arbeitslosigkeit und / oder Inflation werden die realen Familieneinkommen gesenkt. Selbst die lebenswichtigen Konsumgüter werden auf dem Markt unerschwinglich teuer, wie in der großen Inflation oder in der Weltwirtschaftskrise geschehen. Denselben Effekt für die Bevölkerung, besonders für die Frauen, hat aber auch eine Krisenbewältigung durch Kriegsproduktion, selbst wenn die Volkswirtschaft dabei einen Aufschwung erlebt. Wenn »Kanonen statt Butter« produziert werden, kommen zu wenige und zu teure Konsumgüter auf den Markt, obwohl es gleichzeitig eine Vollbeschäftigung, ja sogar eine Überbeschäftigung gibt, wie in den beiden Weltkriegen und eigentlich während der gesamten Periode des Dritten Reiches. Um das nackte Überleben der Familie zu sichern, muss die Frau dann die Haushaltsproduktion wieder ankurbeln, in einem Haushalt, der eigentlich gar nicht dafür eingerichtet ist: Zu dem üblichen Kleidernähen, Strümpfe stricken, Einkochen kommen dann noch Kaninchen in der Küche und Hühner auf dem Balkon, Ährenlesen und Kartoffelstoppeln usw. Der Schrebergarten gewinnt eine lebensnotwendige Bedeutung. Die, die wenig besitzen, können dann im Naturallohnsystem diejenigen ausbeuten, die gar nichts haben: Große Wäsche waschen gegen einen Beutel Erbsen. Das »Organisieren« verlangt eine ganze Arbeitskraft, deren Arbeit für die Familie oft »produktiver« ist als die Arbeitskraft, die ihre acht Stunden in einer Fabrik ableistet. Der hochentwickelte Kapitalismus schafft also durch seine Krisen eine primitive »Subökonomie« mit vorkapitalistischen Zügen, die nicht nur ungeheuer unproduktiv ist, sondern auch verkrüppelt, weil ihr – zumindest in den Großstädten – die minimalsten Produktionsmittel fehlen. Der Haushalt scheint zwar, wie in der alten, erweiterten Familie, »ein Betrieb« zu sein. Aber weil ihm nicht mehr wie früher die unabhängige Subsistenzbasis zugrunde liegt, kann die Frau jetzt auch nicht wieder ihre ehemalige ökonomische Selbstständigkeit, die Möglichkeit, allein zu überleben, zurückgewinnen. Für den noch beschäftigten Mann ist die Arbeit der Frau in der Subökonomie ein notwendiges Korrelat zu seinem Lohn, ohne diese Arbeit wäre sein Lohn nur einen Bruchteil wert. Für Frauen wird in Krisenzeiten die noch so kleine, zusammengepferchte und unerträgliche Kleinfamilie wieder zur einzigen Überlebensmöglichkeit. Sie reihen sich in die Subökonomie ein, weil sie auf dem offiziellen Arbeitsmarkt entweder keine Arbeit oder einen Lohn bekämen, von dem sie sich selbst unter eingeschränktesten Verhältnissen nicht ernähren könnten. Diese seltsame, verkrüppelte Zwitterform der Familie, die der krisenhafte Kapitalismus produziert, 228
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Abb. 12: Hungerjahre nach 1918: Hamsterer werden unterwegs kontrolliert. Das Organisieren verlangt eine ganze Arbeitskraft …
Abb. 13: … deren Arbeit für die Familie oft »produktiver« ist als die Arbeitskraft, die ihre acht Stunden in einer Fabrik ableistet. Holzsammeln in den Stadtrandgebieten.
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erklärt aber auch die seltsame »Familiengebundenheit« der Frauen zwischen den beiden Welkriegen und ihr traditionalistisches politisches Verhalten in der Weimarer Republik. Wenn sich die Frauen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges weigerten, sich wieder in die Kriegsproduktion einreihen zu lassen, wenn alle Drohungen und Zwangsmaßnahmen des Nazi-Regimes wenig nutzten, um sie wieder auf den offiziellen Arbeitsmarkt zurückzubringen, dann ist dies jedoch nicht einer verfestigten Hausfrauenmentalität oder Emanzipationsfeindlichkeit zuzuschreiben, sondern der überragenden Bedeutung der Subökonomie für das Überleben der ganzen Familie. Ohne diese Subökonomie wäre ein großer Teil der Bevölkerung während und nach den beiden Weltkriegen verhungert.
Die existenzielle Zange Es gab also in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, verstärkt während der 20er und 30er Jahre, zwei widersprüchliche Tendenzen, die in ihrem Zusammenspiel eine zunehmende ökonomische Abhängigkeit der Frau von der Arbeitskraft des Mannes und damit eine wachsende existenzielle Verunsicherung eines großen Teils der Frauen produzierten. Während sich einerseits die vom kapitalistischen Markt unabhängige Subsistenzbasis für die Masse der kleinbürgerlichen Familien verkleinerte und für die proletarischen Familien zunehmend wegfiel, blieb auf der anderen Seite der Zugang zum Arbeitsmarkt für Frauen blockiert: Der Anteil der Frauen an der lohnabhängigen Bevölkerung stagnierte – von Schwankungen abgesehen – bis heute. Die Unmöglichkeit, das eigene Leben durch eigene Arbeit, sei es durch den Verkauf der eigenen Arbeitskraft, sei es durch die Herstellung der Lebensmittel zu sichern – von einem Teil der Männer nur in tiefen ökonomischen Krisen erfahren –, wurde zur existenziellen Realität des größten Teils und zum Stigma aller weiblichen Menschen. Die Masse der Frauen regierte auf die zunehmende existenzielle Ausweglosigkeit mit dem Einzigen, was sie noch – wenn auch unter größten Gefahren – selbst beeinflussen konnten: Sie reduzierten die Zahl ihrer Geburten, im Klartext: Sie trieben ab. So kamen Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts auf 1000 verheiratete Frauen im gebärfähigen Altern 303 Geburten pro Jahr, 1932 nur noch 101. Einige reagierten politisch: Seit ihren Anfängen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts forderte die erste Frauenbewegung Arbeitsplätze und Ausbildung für Frauen.
Der weibliche Konservatismus im Kleinbürgertum Bei dem Versuch, das politische Verhalten von Frauen auf ökonomische und soziale Bedingungen zurückzuführen, gehe ich von folgender Hypothese aus: Die »existenzielle Zange« zwischen schrumpfender Subsistenzbasis der Familie und Stagnation des weiblichen Arbeitsmarktes und die dadurch produzierte 230
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zielle Unsicherheit von Frauen in den unteren und mittleren Klassen ist die direkte Determinante des politischen Verhaltens von Frauen. Die Klassenzugehörigkeit ist dagegen nur ein intermediärer, dazwischengeschobener und modifizierender Faktor. Es ist immer wieder festgestellt worden, dass die überwiegende Mehrheit der Frauen Parteien wählte, die eine lautstarke, wenn auch folgenlose, z. T. nostalgisch eingefärbte Familienpolitik propagierten. Und das waren die konservativen, nationalchauvinistischen Parteien im bürgerlichen Lager, die katholische Zentrumspartei im bäuerlichen und proletarischen Lager und die Nationalsozialisten. Die Frauen verteidigten nicht, wie Bridenthal meint, ein Territorium von Status, Ansehen und Unabhängigkeit, sondern sie klammerten sich eher an die Planke eines untergehenden Schiffes im verzweifelten Versuch zu überleben. Das ist keine Wortklauberei, sondern drückt, politisch gewendet, einen wesentlichen Unterschied aus: Die Masse der kleinbürgerlichen Frauen, die ab 1932 die NSDDAP wählten, dachten weniger faschistisch als vielmehr »konservativ«, aber auch ihre Unterstützung für konservative Parteien entsprach nicht wirklich konservativem, sondern »traditionalistischem« Bewusstsein. Dies ist eine weitere Hypothese von mir. Aggressiver Nationalismus und imperialistischer Chauvinismus sind immer ein integraler, nicht wegzudenkender Bestandteil des deutschen Konservatismus gewesen, der – leider – auch von der Masse seiner einfachen Parteigänger ideologisch transportiert wurde. Ich glaube aber, dass der Konservatismus eines großen Teils der Wählerinnen dieser Parteien anders aussah. Er war kaum nationalchauvinistisch und imperialistisch, sondern war von der angstvollen Hoffnung durchdrungen, dass es wieder werden möge wie in der »guten alten«, für viele kleinbürgerliche und bäuerliche Frauen tatsächlich besseren, Kaiserzeit, in der die Institution Familie noch geschützt und sicher schien. Wie dieser »weibliche Konservatismus« im Einzelnen aussah, darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Glich er eher dem Konservatismus der Zentrumspartei, die aber von protestantischen Frauen aus kulturellen und religiösen Traditionen nicht gewählt wurde? Ob der weibliche Konservatismus Tendenzen hätte entwickeln können, die sich vom Nationalkonservatismus entfremdet hätten, ist heute wieder eine brennende Frage, die sich besonders diejenigen stellen sollten, die über »antifaschistische Bündnisse mit den kleinbürgerlichen Zwischenschichten« spekulieren. Die Feministinnen und Frauenrechtlerinnen aller Richtungen, von den Sozialistinnen, den radikalen Feministinnen bis zu den liberalen und konservativen Gruppierungen, hatten, zum Teil mit guten Gründen, nach 1918 explizit darauf verzichtet, ihre eigenen Parteien zu gründen und sich stattdessen in die bürgerlichen und proletarischen Parteien integriert. Durch diese Aufsplitterung der bürgerlichen Frauenbewegung auf die verschiedenen Parteien wurde aber auch die Basis für eine überparteiliche Frauenbewegung zerrieben, die trotz aller ideologischen Differenzen zumindest in einigen Fragen eine gemeinsame Position 231
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hätte entwickeln und durchsetzen können. Das wirkte sich insbesondere im protestantischen Kleinbürgertum und in den abhängigen Mittelschichten verhängnisvoll aus: Der weibliche Konservatismus wurde, ohne sich jemals artikulieren, geschweige denn zu einem politischen Faktor werden zu können, vom imperialistischen Nationalkonservatismus geschluckt. Als während der Weltwirtschaftskrise die politisch bankrotten nationalkonservativen Parteien zum Steigbügelhalter der NSDAP verkamen, wurde auch ein großer Teil der protestantischen Bäuerinnen und Kleinbürgerinnen in das Wählerpotenzial der NSDAP transportiert. Das bereits angesprochene Hinterherhinken der Frauen in diesem Trend bis 1932 deutet auf die verdeckte Existenz eines spezifischen »weiblichen Konservatismus« hin.
Zwischen Wahlenthaltung und KPD Gut, so werden viele von Euch denken, von den bürgerlichen und bäuerlichen Frauen haben wir eh nichts anderes erwartet, aber warum haben sich so viele Frauen der Arbeiterklasse an das untergehende Familienboot geklammert und »konservativ« gewählt, warum haben sie nicht für das Recht der Frauen auf Lohnarbeit gekämpft und sind nicht an der Seite der Arbeiterparteien für bessere Arbeitsmöglichkeiten eingetreten? Auch hier müssen wir erst einmal die von den Legenden der Arbeiterbewegung verdrehten Relationen richtigstellen: Die Wahlbeteiligung der Frauen war seit der ersten Reichstagswahl, an der fast 80 der wahlberechtigten Frauen teilgenommen haben, wesentlich unter die der Männer gesunken. Die Wahlenthaltung dürfte unter den Frauen aus den unteren Schichten, besonders den Landarbeiterinnen, Dienstbotinnen und Arbeiterinnen am höchsten gewesen sein.16 Das heißt, sie waren sowohl im Verhältnis zu den bürgerlichen Frauen, aber auch zu den Männern ihrer eigenen Klasse bei den Wahlen unterrepräsentiert. Im katholischen Teil der Arbeiterklasse wählten Frauen dagegen beständiger und sehr viel häufiger als die Männer die katholische Zentrumspartei.17 Der Anteil der Frauenstimmen für die linken Arbeiterparteien ist immer geringer gewesen als der Anteil der Männerstimmen.18 Jedoch 16 Die Wahlbeteiligung von Arbeiterinnen hat anscheinend von Wahlbezirk zu Wahlbezirk stark variiert. Sie schien in den Wahlbezirken am höchsten gewesen zu sein, in denen eine der Arbeiterparteien, besonders aber die SPD, das soziale Leben stark beeinflusst haben. Vgl. dazu: Bremme, Die politische Rolle 1956, S. 50 ff. 17 Zum Teil haben bis zu 16 mehr Frauen als Männer das Zentrum gewählt. Es würde hier zu weit führen, auf die Gründe für die traditionelle Bindung an die Zentrumspartei einzugehen. Eine Untersuchung dieses Phänomens, das auch Aufschluss über die Bindung vieler Frauen an die CDU und CSU geben könnte, steht meines Wissens noch aus. 18 Der geschlechtsspezifische Unterschied im Stimmenanteil der SPD verringerte sich von ca. 5 (1920) auf 3 (1930) weniger Frauenstimmen. Gleichzeitig stieg der Anteil der weiblichen SPD -Mitglieder von 15,8 (1924) auf 23 (1930), während der Anteil der weiblichen SPD -Reichstagsabgeordneten sank. Laut Gabriele Bremme war die
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war diese Differenz so gering, dass sie mit den Wahlenthaltungen und dem überproportionalen Anteil von Frauenstimmen für das Zentrum erklärt werden kann. Auf keinen Fall darf man deshalb die Arbeiterinnen – genauso wenig wie die Arbeiter – im Lager der Nationalkonservativen suchen. In dieser Hinsicht unterschieden sie sich deutlich von kleinbürgerlichen Frauen, vor allem in rein protestantischen Gebieten. Die Anzahl von proletarischen Frauen, die die NSDAP gewählt haben, dürfte selbst 1932 noch äußerst gering gewesen sein: minimal im Vergleich zu den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Frauen, aber auch gering im Vergleich zu den Männern aus der Arbeiterklasse.19 Die politische Zersplitterung der proletarischen Frauen zwischen Zentrumspartei, Wahlenthaltung, SPD und KPD war Ausdruck ihrer zwiespältigen sozialen und ökonomischen Situation: zwischen Hausfrau als einziger Überlebensmöglichkeit, Reservistin auf dem Arbeitsmarkt und »integrierter« Proletarierin. Die politische Aufsplitterung und noch mehr die Wahlenthaltung waren aber Differenz zwischen männlichen und weiblichen Stimmen für die KPD erheblich größer »als bei allen anderen Parteien und betrug nicht selten mehr als 20 «. So hatten z. B. bei der Reichstagswahl 1920 von 100 Abstimmenden für die KPD nur 37 Frauen für diese Partei gestimmt. Bei der Reichstagswahl 1930 dagegen betrug der Frauenanteil an den KPD - Stimmen in Köln 38,8 , in Berlin 46,9 , in Frankfurt a. M. 43,4 und in Leipzig 45,3 . Siehe dazu Bremme, Die politische Rolle 1956, S. 73 ff. Im Vergleich zu 1920 hatte sich also der Anteil von Frauenstimmen für die KPD besonders in den industriellen Großstädten erhöht. 19 Laut Timothy Mason haben höchstwahrscheinlich unter den 13,77 Millionen NSDAPWählern bei der Reichstagswahl im Juli 1932 »mehrere Millionen Lohnarbeiter bzw. Familienangehörige« ihre Stimme für die NSDAP abgegeben. In einem Vortrag am 24. Juni 1976 zum Thema »Nationalsozialismus und Arbeiterklasse 1928-1934« versuchte Mason das Wählerverhalten der Arbeiterklasse ab Ende der Weimarer Republik zu analysieren. »Etwa 22 bis 25 Millionen Wahlberechtigte aus der Gesamtzahl von 42 bis 45 Millionen gehörten Haushalten an, deren Haupteinkommen in dem Wochenlohn von manuellen Arbeiten bestand. Seit 1930 ist die Stimmenzahl für SPD und KPD mit etwa 13 Millionen konstant geblieben. Da sich jedoch die wahlberechtigte Bevölkerung in diesem Zeittraum vergrößerte, verminderte sich der Anteil der beiden Arbeiterparteien von 40,4 aller abgegebenen Stimmen im Jahr 1928 auf 35,9 im Juli 1932. Masons Hypothese ist, dass ein „sehr großer Teil der lohnabhängigen Bevölkerung« niemals für eine Arbeiterpartei gestimmt hat und dass in den Wahlen zwischen 1930 und 1932 »höchstens die Hälfte aller Lohnarbeiter ihre Stimme den Arbeiterparteien« gegeben haben. Wie groß der Arbeiteranteil an den Zentrums- und NSDAPStimmen tatsächlich war, ist bis heute nicht empirisch untersucht worden. Die Lohnarbeiter, die für die NSDAP gestimmt haben, waren »wahrscheinlich eher jung als alt; unter ihnen waren wohl Männer stärker vertreten als Frauen«. Mason teilt diese »heterogene Gefolgschaft« in drei Gruppen auf: 1. Arbeitslose und bindungslose jugendliche Lumpenproletarier. 2. Ein »solider Typ«, er war vorwiegend im öffentlichen Dienst beschäftigt. (»Uniformierte Arbeiter«.) 3. Auf dem Lande haben offenbar zahlreiche Lohnarbeiter ihr Wahlverhalten am »politischen Beispiel der sozial Bessergestellten« orientiert. Mason vertrat diese Thesen innerhalb einer Vortragsreihe des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin im Sommersemester, zum gegenwärtigen Stand der Faschismusforschung. Vgl. Mason: Nationalsozialismus und Arbeiterklasse bis Mai 1933, in: ders.: Sozialpolitik im Deutschen Reich 1977.
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auch Ausdruck dafür, dass es im ganzen politischen Spektrum der Weimarer Republik keine einzige Partei gab, die das wichtigste ökonomische Interesse von Proletarierinnen, nämlich sich durch eigene Arbeit selbstständig ernähren zu können, aktiv vertreten und so einen Weg aus der »existenziellen Zange« gezeigt hätte.
»Schulter an Schulter mit den Männern ihrer Klasse« Für die Frauen aus der Arbeiterklasse gab es keine eindeutige soziale Perspektive und keinen unzweideutigen Bündnispartner. Zwar hatte die Hungersnot während des Ersten Weltkrieges den Arbeiterinnen in den Großstädten klargemacht, dass die Subsistenzbasis der Familie sie und ihre Kinder nicht mehr trug und nur die Lohnarbeit übrig blieb. Andererseits machten die Frauen nach Beendigung des Krieges durch die rigorose Entlassung von Millionen von Frauen zugunsten der demobilisierten Männer die kollektive Erfahrung, dass ihre Position auch auf dem Arbeitsmarkt unsicher war, sie sich im Zweifelsfall nicht von ihrer Lohnarbeit ernähren konnten. Die Arbeiterinnen standen in dieser Situation (so der ADGB) »dem gemeinsamen Vorgehen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände«20 gegenüber – einer wahrhaft soliden Front. Die Organisationen ihrer eigenen Klasse, die sie seit eh und je aufgefordert hatten, »Schulter an Schulter« mit den Arbeitern zu kämpfen, reichten ihnen beim Eintritt in die Republik mit der einen Hand den Wahlzettel und mit der anderen Hand das Entlassungsschreiben. Hatte die Sozialdemokratie, im Gegensatz zum bürgerlichen und zum konfessionell-konservativen Lager, schon sehr früh das Recht auf bezahlte Arbeit auch für Frauen anerkannt, so vertraten die Gewerkschaften und die Angestelltenorganisationen in konkreten Konkurrenzsituationen ausschließlich die Interessen der männlichen Arbeiter, so ausschließlich, dass man eher von Geschlechter- als von Klassenkampforganisationen sprechen könnte. Aber selbst dort, wo sich die Gewerkschaftsführung zu einer progressiven Forderung wie »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« durchgerungen hatte, putschte die männliche Basis der Gewerkschaften gegen die Integration der Arbeiterinnen in den Arbeitsmarkt. Aber sobald man irgend einen Ausweg findet, um die Frau aus dem Betrieb und aus der Organisation zu verdrängen, muss die Frau daran glauben […]. Wenn es vorkommen kann, dass in einem Betrieb der Unternehmer eine Erhöhung der Frauenlöhne bis auf den Stand der Männerlöhne (durchaus entsprechend der gewerkschaftlichen Forderung: gleicher Lohn für gleiche Leistung) vorschlägt und die in ihrer Mehrheit männliche Belegschaft dieses Angebot ablehnt, so kann man sich ein Bild davon machen, woher es kommt, dass die Frau als Lohndrückerin auftreten muss. Wenn gegen die beschäftig20 Protokoll der Verhandlungen des zehnten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands 1919, S. 175
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ten Frauen so lange gehetzt wird, bis die Direktion eine Herabsetzung der Entlohnung der weiblichen Arbeit anregt, so weiß man, warum der Frau nicht die Möglichkeit gegeben ist, ihre Lohnforderungen bis zum letzten zu vertreten.21 Das ist die Beschreibung eines Sozialdemokraten, der zum Ende der Weimarer Republik Bilanz zog. Wie sollten alle Proletarierinnen »ihr objektives Interesse als Lohnabhängige« erkennen, wo doch die Demobilisierungsverordnungen seit Kriegsende bis 1923 bestanden hatten, die erste Doppelverdienerkampagne gegen verheiratete Frauen im öffentlichen Dienst bereits in demselben Jahr, dem der großen Inflation, durchgeführt wurde, eine zweite, massivere knapp ein Jahrzehnt später?22 Es gab und gibt einen objektiven Interessenkonflikt zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt, der sich in ökonomischen Krisen ungeheuer verschärft und offen zutage tritt. Er wurde und wird der Arbeiterklasse und den abhängigen Zwischenschichten vom kapitalistischen Wirtschaftssystem aufgezwungen. Ihre Organisationen haben diese Zustände nicht herbeigeführt. Sie waren nicht schuld daran, sondern sie konnten sich nur dazu verhalten. Leider verhielten sie sich seit den Anfängen der Gewerkschaftsbewegung einseitig im Interesse des männlichen Teils der Arbeiterklasse, drängten damit über die Jahrzehnte die Frauen auf dem Arbeitsmarkt an die Wand. In dem erbitterten Kampf um Arbeit hatten die bürgerlichen und konfessionellen Parteien ein leichtes Spiel, sie konnten sich zurücklehnen, für Mutterschutz plädieren, die Gesundung der deutschen Familie fordern und den Wert der deutschen Mutter für die deutsche Nation preisen. Es ist den Führungsgruppen der linken Arbeiterparteien hoch anzurechnen, dass sie das billige Schmierentheater um die Familie nicht mitgemacht haben. Aber diese fortschrittliche Haltung hat sich niemals an der Basis, unter den Genossen durchgesetzt, mit denen die Proletarierinnen tagtäglich und nachtnächtlich zu tun hatten. Hier galt und gilt ein Kodex »die Frau gehört ins Haus« mit all den dazugehörigen – bis zum Überdruss als kleinbürgerlich bezeichneten – Vorstellungen und Normen, die mit sozialer Ächtung und physischer Bedrohung auch in der proletarischen Subkultur durchgesetzt wurden und werden. Für die proletarischen Frauen war diese ideologische und soziale Widersprüchlichkeit der Arbeiterbewegung keine Orientierungshilfe, um sich in der beängstigenden und konfusen Realität zurechtzufinden. Ihr Weg in der Klassengesellschaft ist dem Gang auf einem verdeckten Moor vergleichbar: Suchte die Frau Halt mit dem rechten Fuß – in der Familie – so gab der Boden unter ihr nach. Die ökonomische Basis der Familie trug sie nicht mehr. Suchte sie Halt mit dem linken Fuß, auf dem Arbeitsmarkt und in den Gewerkschaften, so versackte sie ebenfalls. 21 Gurland: Das Heute der protestantischen Aktion 1931, S. 150. 22 Diese Kampagne wurde von der Regierung Brüning, im Einverständnis mit den Gewerkschaften, begonnen und von den Nazis nach der Machtergreifung brutal durchgesetzt.
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Abb. 14: Arbeitslose Frauen demonstrieren für die entschädigungslose Enteignung des Fürstenbesitzes (März 1926).
Die Frauen der Arbeiterklasse haben sich in der Weimarer Republik politisch ausgezeichnet geschlagen. Sie hatten, genau wie die kleinbürgerlichen Frauen, keine eigene Interessenvertretung und keine vereinigende Organisation. Keine der existierenden Arbeiterparteien war willens oder in der Lage, diese Funktion zu erfüllen. Ich frage mich, ob es emanzipationsfeindlich ist, wenn sich unter den ausweglosen gesellschaftlichen Verhältnissen die Frauen, auch die proletarischen, an die Familie klammerten, die einzige Institution, die ihnen noch am ehesten eine Überlebenschance versprach. Und ich weiß nicht, ob es »konservativ« oder »reaktionär« zu nennen ist, wenn ein großer Teil der Frauen die Institutionen und Parteien unterstützten, die noch einen kulturellen und sozialen Boden für den Zusammenhalt der Familie zu garantieren schienen: die Kirchen und die katholische Zentrumspartei. Dass diese Kirchen, voran das katholische Imperium sehr schnell ihren Deal mit den Nazis gemacht haben, das kann man nicht dem weiblichen Fußvolk anlasten. Die Aufsplitterung der Proletarierinnen zwischen Zentrumspartei, Wahlenthaltung und linken Arbeiterparteien zeugt vielleicht nicht von massenhaftem revolutionären Elan, aber von einer unter diesen Umständen ziemlich realistischen Einschätzung der eigenen Situation und von einer, selbst in der Arbeiterklasse selten sicheren, antifaschistischen Haltung. Viel Verständnis ist für die relativ große Anzahl von jungen proletarischen Männern aufgebracht worden, die sich in den Schlägertrupps der SA organisierten, 236
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Abb. 15: Das weibliche Geschlecht bekommt wieder seinen natürlichen Platz in der Gesellschaft zugewiesen (1933).
um die Organisationen ihrer Klasse und ihre eigenen Wohnviertel zu überfallen, die Aktivisten der Arbeiterbewegung zu terrorisieren und viele ihrer ehemaligen Genossen zu ermorden.23 All das wird erklärt – wenn auch nicht gebilligt – mit ihrer verzweifelten Lebenssituation als Arbeitslose, mit dem berechtigten Wunsch nach sozialem Zusammenhalt, den sie angeblich in der Männerhorde fanden, nach Status und Anerkennung, die sie angeblich durch die Uniform bekamen, nach existenzieller Sicherung, die angeblich die Kasernierung bot. All die aufgeführten sozialen Gründe treffen jedoch mindestens genauso auf alle Frauen im Proletariat zu, und die Lage von jüngeren Frauen war sicherlich noch viel verzweifelter, noch aussichtsloser als die ihrer männlichen Altersgenossen. Hat man aber schon einmal von Banden von Frauen gehört, die auf Befehl des Klassenfeindes und unter Anleitung von Kleinbürgern brutal auf Frauen und Männer der eigenen Klasse eingeschlagen und Hunderte von ihnen getötet hätten? Wäre das auch nur ein einziges Mal geschehen, ein ungeheurer Aufschrei der Entrüstung, eine Serie von Fememorden an unbeteiligten Frauen und eine Hetzkampagne ohnegleichen gegen »Lesbierinnen« wäre die Folge gewesen. Wir selbst haben in der für kapitalistische Verhältnisse langen, für soziale Veränderungen aber kurzen Zeitspanne der ökonomischen Stabilität zwischen 23 Es wird geschätzt, dass die SA in den Großstädten 1933 zu ca. 50 aus jungen Proletariern bestand.
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1955 und 1970 erfahren, dass Frauen nicht naturwüchsig an der Institution Familie, an den Kirchen und den bürgerlichen Parteien kleben: Selbst in dieser kurzen Zeit zeigte sich, dass die Zahl der von Frauen gewünschten Scheidungen sich drastisch erhöhte, obwohl die gesetzlichen und ökonomischen Bedingungen weiterhin gegen geschiedene Frauen stehen. Wir haben gesehen, wie sich das Heiratsalter erhöhte und wie sich die Kirchenaustritte von Frauen vermehrten. Aber ich fürchte, dass sich dieser Prozess in den kommenden ökonomischen Krisen nicht fortsetzen wird und dass sich für Frauen wieder Verhältnisse wie in der Weimarer Republik durchsetzen könnten, denn der Fuß der Frauen auf dem Arbeitsmarkt steht auf keinem festeren Boden als vor einem Jahrhundert. Staat und Unternehmerschaft sind bereits wieder im Begriff, die langfristige Arbeitslosigkeit auf die Frauen abzuwälzen. Das Zurückdrängen der Frauen in die Familienabhängigkeit geschieht dieses Mal mit weniger ideologischem Geschrei, es ist aber deshalb nicht weniger effektiv als in der Weltwirtschaftskrise. Einsparungen im Staatshaushalt werden auf Kosten der staatlichen Dienst- und Sozialleistungen betrieben. Die Verminderung der Einkommen muss wieder mit vermehrter Produktion im Haushalt ausgeglichen werden, vorerst noch, »um den Wagen zu halten«. Beides bedeutet mehr unbezahlte Arbeit für die Frauen. Das heißt weder, dass daran unausweichlich dasselbe soziale und politische Verhalten wie am Ende der Weimarer Republik gekoppelt ist, noch dass die Verhältnisse nicht durch eine bewusste und zielsichere Frauenbewegung verändert werden können. Aber sowohl die Frauen- als auch die Arbeiterbewegung muss aus den Fehlern der damaligen Zeit lernen. Viel Zeit bleibt beiden nicht.
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Kommentar zu »Die Dolchstoßlegende der Linken« Es war eine Kampfschrift, mit der Annemarie Tröger ihren Einstieg in die historische Frauenforschung annoncierte, kein Ergebnis »jahrelanger Forschungsarbeit«, wie sie in ihrer Eröffnungsformel einräumte. Vorgetragen hatte sie ihre »Thesen zur Geschichte der Frauen am Vorabend des Dritten Reichs« auf der ersten »Berliner Sommeruniversität für Frauen«, die sie zusammen mit der »Dozentinnengruppe« im Juli 1976 an der Freien Universität veranstaltet hatte.1 Diese Sommeruniversitäten sollten bis 1983 noch einige Male stattfinden. Sie demonstrierten den Anspruch der zweiten Frauenbewegung auf eine neue gesellschaftsverändernde feministische Wissenschaft, die auch in den reformierten bundesdeutschen Universitäten der 1970er Jahre noch keinen Platz gefunden hatte. Zugleich waren sie das Forum, auf dem Frauen unter sich über die wissenschaftlichen Ansätze, die damit eng verknüpften politischen Strategien und zugleich darüber stritten, wie feministische Wissenschaft – eigentlich lieber außerhalb, vielleicht aber doch auch innerhalb – im etablierten akademischen Betrieb institutionalisiert werden könnte.2 Annemarie Tröger adressierte ihre Kampfschrift an viele tatsächliche oder vermeintliche Gegner und Gegnerinnen dieses Anliegens, die sie zugleich auf ihr endlich zu überwindendes historisches Erbe verpflichtete: Da ist zu allererst »die Linke«; damit gemeint – und von ihr in die direkte Nachfolge zur Arbeiterbewegung der Weimarer Republik gestellt – sind die SPD, die Gewerkschaften und die K-Gruppen, die sich seit der Auflösung des SDS , der ersten politischen Heimat Trögers, im März 1970 durch Spaltungen zugleich vermehrten und miniaturisierten, dafür untereinander umso intensiver beharkten. Da sind – von ihr ebenfalls in bruchloser Kontinuität angeklagt – die »deutsche Bourgeoisie«, die mit Hitler gesiegt, und das »deutsche Kleinbürgertum«, das ihm gegenüber versagt habe. Sie alle würden von ihrer je eigenen Verantwortung für den Aufstieg des »Hitler-Faschismus« ablenken, indem sie fälschlich behaupteten, Frauen hätten in besinnungslos jubelnder Selbstergebung ihr gerade erst 1918 zugestandenes Wahlrecht missbraucht, um Hitler an die Macht zu bringen. Damit spielte Tröger auf das schon im Kaiserreich strapazierte Argument an, es sei zu befürchten, dass Frauen, politisch unerfahren, wie sie nun mal seien, 1 Veröffentlicht wurde dieser Text ein Jahr später in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hrsg.): Frauen und Wissenschaft 1977, S. 324-355. Alle nachfolgenden, nicht anderweitig nachgewiesenen Zitate entstammen diesem Text. Ich danke Gerhard Botz für Hinweise und kritische Kommentare zu einer ersten Version. 2 Explizit Thema war dies auf der 4. Sommeruniversität 1979: Dokumentationsgruppe der Sommeruniversität der Frauen e. V. (Hrsg.): Autonomie oder Institution 1981.
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radikaler als Männer wählten. In den letzten Jahren der Weimarer Republik wurde es wieder hervorgeholt, um die Stimmenverluste der demokratischen Parteien zu erklären.3 Und kaum war der Krieg vorbei, eröffnete Benjamin, die eben erst zugelassene Zeitschrift für junge Menschen, seine Einführung ins »Leben in einer guten Verfassung« mit der Warnung vor den wahlberechtigten Frauen, ohne deren Stimmen Hitler nie »auf legalem Wege zur Macht« gekommen wäre. Es war die aufmerksame Leserin Martka Hommes, die 1947 in einem empörten Leserbrief klarstellte, »daß sich die Geschlechter gegenseitig nichts vorzuwerfen haben«.4 Zwar nur in einer Fußnote, aber immerhin schon 1955 widersprach auch der Autor der grundlegenden Studie zur »Auflösung der Weimarer Republik«, Karl Dietrich Bracher, mit Verweis auf die Reichspräsidentenwahl von 1932 den »Legenden vom Radikalismus der weiblichen Wähler«.5 Aber weder Leserinnenbriefe noch versteckte Fußnoten reichten, um die Schuldzuweisungen endgültig ins Reich der Mythen zu verbannen. Ost- und westdeutsche Großintellektuelle wie die von Tröger zitierten Jürgen Kuczynski und Joachim Fest wiederholten sie unverdrossen. Mitte der 1970er Jahre erfuhr die Legende eine linksfeministische Renaissance: Die von der Kommunistin zur Feministin gewandelte ehemalige ResistenzaKämpferin, Maria Antonietta Macciocchi, erregte 1976 mit ihrer pornographisch- psychologisierenden Beschreibung dessen, was sie aus faschistischen Propagandabildern und -texten herauslesen wollte, nämlich einen typisch weiblichen Masochismus, internationale Aufmerksamkeit; und einer der Berliner Hausverlage der Neuen Linken hatte nichts Besseres zu tun, als das ursprünglich auf Französisch erschienene Pamphlet noch im selben Jahr auf Deutsch zu publizieren.6 Tröger zitierte indessen nur das französische Original und vermied es, die Autorin im Text namentlich und die deutsche Ausgabe überhaupt zu erwähnen, um beiden nicht noch mehr Publizität zu verschaffen.7 Stattdessen berief sie sich auf immer wieder zu vernehmende »Nebensätze und Zwischenbemerkungen« seitens »der Arbeiterbewegung«. Damit würde »die Linke« – im Anschluss an die Oberste Heeresleitung, die die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg der aufständischen, streikenden »Heimatfront« angelastet hatte – eine 3 Vgl. die zahlreichen Quellenverweise von Falter: Hitlers Wähler 1991, S. 136-139, sowie Bloch: Die Frau im Dritten Reich 1937, S. 160-166. 4 Leserbrief »Kam Hitler durch die Frauen an die Macht?« von Martka Hommes, in: Benjamin. Zeitschrift für junge Menschen 1 (1947) 4, S. 24. 5 Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik 1960 /1955, S. 476 (FN 132). Bracher hatte seine Habilitationsarbeit am Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin (FU ) verfasst. Daraus sollte das Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ZI 6) der FU und später dessen Arbeitsbereich Vergleichende Faschismusforschung hervorgehen, an dem Tröger seit 1975 tätig war. 6 Macciochi: Les femmes et la traversée du fascisme 1976; dies., Jungfrauen, Mütter und ein Führer 1976. 7 1978 waren mit der dritten Auflage bereits 10.000 Exemplare auf den Markt gekommen, weitere Auflagen folgten. Keine der späteren frauen- und geschlechterhistorischen Studien zum Nationalsozialismus dürfte eine solche Verbreitung gefunden haben.
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noch hinterhältigere »Dolchstoßlegende« kreieren, die allein Frauen an den Pranger stellte. An dieser Stelle würde die Leserin eine Analyse der historischen Wahlergebnisse erwarten, die diese »böswillige Verleumdung« von Frauen fundiert widerlegt. Aber so einfach ging es nicht. Die Datenlage war kompliziert:8 Zwar wurden bei den Reichstagswahlen bis 1933 unterschiedliche Stimmzettel für Frauen und Männer ausgegeben, was mit den Vorstellungen vom Wahlgeheimnis nach 1945 und erst recht mit unserem heutigen Verständnis von Datenschutz und Geschlechtersensibilität schwerlich vereinbar ist. Aber die Stimmen wurden bis 1930 immer nur in einer – nicht etwa repräsentativ ausgewählten, sondern historisch kontingent zusammengewürfelten – Anzahl von Wahlkreisen nach Geschlecht ausgezählt. Daher beschränkte sich auch die erste fundierte Analyse des Wahlverhaltens von Frauen in der Weimarer Republik, die Gabriele Bremme 1956 für die UNESCO erarbeitet hatte und die Trögers wichtigste Quelle darstellte, auf den Zeitraum bis 1930.9 Für die frühen 1930er Jahre, in denen die NSDAP ihre höchsten Wahlergebnisse einfuhr, waren zunächst nur neun zumeist städtische Wahlkreise bekannt, deren Stimmen geschlechterdifferenzierend erfasst worden waren.10 Inzwischen haben einige Historikerinnen und Historiker in regionalen Archiven weitere solche Wahlstatistiken einzelner Kommunen und Regionen aufgetan: Sie bestätigen, dass sich der Anteil der NSDAPWählerinnen an allen Wählerinnen bis 1933 dem entsprechenden Anteil der Männer bis auf ein oder zwei Prozentpunkte anglich, ihn mancherorts sogar überstieg. Aufgrund der – demographisch bedingten – höheren Zahl von weiblichen Wahlberechtigten, die nach 1930 auch wieder in steigendem Maß ihr Recht ausübten, wählten – in absoluten Zahlen gemessen – zuletzt vielerorts deutlich mehr Frauen als Männer die NSDAP, wobei nicht geklärt werden kann, ob dies auch reichsweit zutraf.11 8 Tröger bezog sich auf Bäumer: Die Frau im deutschen Staat 1932; Beyer: Die Frau in der politischen Entscheidung 1933; Duverger: The Political Role of Women 1955; Shively: Party Identification, Party Choice, and Voting Stability 1972. Sie bezog sich nicht auf die beiden Artikel von Hartwig: Wie die Frauen 1928; Das Frauenwahlrecht 1931. Sie zitierte auch nicht Tingsten: Political Behaviour, 1975 /1937. Die von Hartwig und Tingsten publizierten Daten waren die Basis für die meisten nachfolgenden Studien. Vgl. Boak: »Our Last Hope«: Women’s Vote for Hitler 1989, S. 289-310, hier S. 289 f. 9 Bremme: Die politische Rolle der Frau 1956; Bremme nutzte v. a. die Daten von Hartwig: Wie die Frauen 1928, und Hartwig: Das Frauenwahlrecht 1931. 10 Tingsten: Political Behavior 1975 /1937, hatte Statistiken aus neun Wahlkreisen, darunter sieben Städte, entdeckt, auf die sich dann Shively: Party Identification, Party Choice, and Voting Stability 1972, und im Anschluss an ihn auch Tröger bezog. Nachfolgende Studien trafen auf dieser dürftigen Datenbasis mehr oder minder weitreichende Aussagen über das reichsweite NS -affine Wahlverhalten von Frauen; vgl. den Literaturüberblick bei Boak: »Our Last Hope«: Women’s Vote for Hitler 1989, S. 289 f. und FN 7-10. 11 Helen Boak hat im Abstand von 14 Jahren zwei präzise Auswertungen der je aktuellen Fachliteratur zum Wahlverhalten der deutschen Frauen bis 1933 vorgelegt, das bekannte
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In der Interpretation dieser Befunde tun sich auch die nachfolgenden Autorinnen und Autoren noch immer schwer. Denn sozial, regional, konfessionell, nach Geschlecht, Alter und Bildungsstand differenzierende Analysen des Wahlverhaltens und der Wähler/innenbewegungen, wie sie uns heute von den Meinungsforschungsinstituten auf Basis von repräsentativen Wahlnachfragen noch am Wahlabend auf dem Bildschirm geliefert werden, gab es in den 1920er und 1930er Jahren nicht. Stattdessen wird unter Zuhilfenahme amtlicher Bevölkerungs- und Sozialstatistiken unverdrossen korreliert und extrapoliert, unter Berufung auf zeitgenössische Wahlpropaganda, Berichte und Kommentare, spätere soziologische und historische Studien munter spekuliert, um am Ende historische Plausibilität für Aussagen zu beanspruchen, für deren Beweis die verfügbaren statistischen Daten nicht ausreichen. Komplexe, gelegentlich willkürlich anmutende Korrelationen und Hochrechnungen, gewagte Spekulationen und mehr oder minder wohlbegründete Plausibilitäten sind es also nicht, die Trögers Kampfschrift grundsätzlich von professionellen Studien der neueren historischen Wahlforschung unterscheiden. Es ist vielmehr ihre programmatische Zeitgeistigkeit, die den polemischen Stil des Agitprops aus sich heraustreibt, stringente Argumentation und historische Genauigkeit aber hinter sich lässt. Was machte das Lebensgefühl dieser mittleren 1970er Jahre aus, das westdeutsche Feministinnen, Studentinnen, junge Akademikerinnen und Nachwuchswissenschaftlerinnen bewegte? Es herrschte Aufbruchstimmung, »frau« verspürte Lust am neuen Denken, an der eben entdeckten Eigenständigkeit, Handlungsfähigkeit und Gestaltungskraft als Frauen. Aber die Grenzen des Möglichen waren spürbar und ihre Überwindbarkeit ungewiss. Der wirtschaftliche Boom der langen 1960er Jahre war vorbei. Der von der neuen sozialliberalen Bundesregierung forcierte Aus-, Um- und Neubau der Universitäten und Hochschulen, der vielen der damals noch jungen ’68er (gendersensible Zeichensymbolik wäre hier ein euphemistischer Anachronismus) einen raschen Einstieg in die akademische Karriere ermöglicht hatte, ging nicht mehr voran.12 Junge Frauen, die den Aufforderungen der Bildungsreformer der 1960er und frühen 1970er Jahre gefolgt und immer zahlreicher erst in die weiterführenden Schulen und dann in die Universitäten geströmt waren, sahen statt sicher geglaubter Berufslaufbahnen plötzlich die Erwerbslosigkeit vor sich. 1975 traf es in Westberlin zuerst die Lehramtskandidatinnen und -kandidaten aus den geisteswissenschaftlichen Fächern, die jahrelang auf einen Referendariatsplatz warten mussDatenmaterial reevaluiert und durch eigene Archivrecherchen ergänzt: Boak: »Our Last Hope«: Women’s Vote for Hitler 1989; dies.: Mobilizing Women for Hitler 2003. Falter: Hitlers Wähler, S. 139-140 beurteilt die Repräsentativität der zeitgenössischen Sonderzählungen nach Geschlecht eher positiv und sieht ein sich reichsweit angleichendes Wahlverhalten zugunsten der NSDAP. 12 Allein 1971 wurden 46 Hochschulen gegründet, 1972 waren es weitere zehn; bis zum Ende des Jahrzehnts erfolgten dann noch 15, also im Schnitt zwei pro Jahr, in den 1980er Jahren aber überhaupt nur mehr elf Neugründungen: https://de.wikipedia.org/ wiki/Liste_der_Hochschulen_in_Deutschland (abgerufen am 18. 4. 2020).
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ten.13 Aber auch für die Absolventinnen und Absolventen aus den sozial- und humanwissenschaftlichen Fächern wurde es immer enger auf dem Arbeitsmarkt. Just zu diesem Zeitpunkt plante Annemarie Tröger, sich aus den »ideologischen ›struggles‹«, in die sie im New Yorker Büro der Vietnam Veterans Against War / Winter Soldier Organization (V VAW / WSO) verwickelt war, nach Berlin zurückzuziehen.14 Anders als manche ihrer früheren SDS -Genossen hatte sie nicht beizeiten den akademischen Karrierepfad eingeschlagen. Nicht promoviert und in einem Alter von inzwischen Mitte dreißig, entsprach sie insofern kaum dem Bewerberprofil für eine universitäre Nachwuchsstelle. Aber die alten Netzwerke funktionierten noch. Am Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ZI 6) der Freien Universität war eine der inzwischen rar gewordenen Assistentenstellen nachzubesetzen, und Tröger meldete aus New York über einen Freund und Genossen aus dem akademischen Mittelbau des Instituts ihre Präferenzen nach Berlin: bloß keine Parteienforschung, da würde sie »eher vor langer weile sterben«, »lieber was uber frauen […] entweder in richtung faschismus oder im 4. reich«, womit die Bundesrepublik gemeint war; das sei der »kommende trend« und stünde dem ZI 6 mit seiner »avantgardefunktion« gut zu Gesicht. Dem dort geplanten Arbeitsbereich Vergleichende Faschismusforschung wollte sie sich aber lieber nicht zuordnen, sondern machen, »was ich will, und nicht auf den politischen oder wissenschaftlichen ruf eines ganzen projektes rucksicht nehmen« müssen.15 Nicht alle ihre Wünsche wurden erfüllt: Die Stelle wurde zwar mit dem Schwerpunkt »Theorie und Empirie sozialer Bewegungen, insbesondere der Jugend- und Frauenbewegung« ausgeschrieben und das Qualifikationsprofil mit Erfahrungen in »politischer Psychologie« und »empirischer Sozialforschung« exakt auf Trögers Portfolio zugeschnitten; aber sie wurde dann doch dem mit nur knappen Ressourcen neu aufzubauenden Arbeitsbereich zugeschlagen.16 So kam die studierte Psychologin und empirisch erprobte Aktivistin 1975 zur vergleichenden Faschismusforschung. 13 Ich gehörte dazu und habe irgendwann den dicken Ordner mit den halbjährlich zu erneuernden Bewerbungen beim Berliner Schulsenat entsorgt. 14 Privatnachlass Tröger: Brief Tröger an NN (Adressat/in hier anonymisiert) 19. 6. 1974. Unter http://www.vvaw.org/veteran/article/?id=1176 (abgerufen am 18. 4. 2020) findet sich eine Selbstbeschreibung der V VAW / WSO sowie das wenige Wochen vor dem zitierten Brief erschienene Mai-Heft ihrer Verbandszeitschrift Winter Soldier 4 (1974) 5. Zu Trögers Aktivitäten in diesem Zusammenhang vgl. den Beitrag von Regine Othmer in diesem Band. 15 Privatnachlass Tröger: Brief Tröger 19. 6. 1974 (Minuskel und fehlende Umlaute i. O.). 16 Sozialwissenschaftliche Forschungen. Arbeitsbericht des Zentralinstituts 6 der Freien Universität Berlin 1972-1975, 1975, S. 252. Der kleine Arbeitsbereich Vergleichende Faschismusforschung mit seinen fünf Qualifikationsstellen, von denen ich dann 1977 – nicht zuletzt dank Annemarie Tröger – auch eine erhielt, war das, was im Zuge der Sparmaßnahmen von den weit umfangreicheren Plänen des Regierenden Bürgermeisters von Berlin zur »Errichtung eines Zentralinstituts zur Erforschung des Faschismus« aus der wissenschafts- und bildungspolitischen Aufbruchszeit der frühen 1970er Jahre übrig geblieben war. Zur Vorgeschichte vgl. Freie Universität Berlin,
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Mit ihrem ein Jahr später vorgetragenen Manifest gegen die »Dolchstoßlegende der Linken« brachte die frischgebackene Dozentin, Frauen- und Faschismusforscherin alle ihre Rollen gleichzeitig zum Einsatz. Da sollte einmal mithilfe der lückenhaften Wahldaten nachgewiesen werden, dass es eben nicht die Frauen waren, die Hitler an die Macht gebracht hatten, weil sie zumindest bis 1930 überwiegend konservativ und vor allem die in katholischen Milieus verankerte Zentrumspartei wählten. Den nationalkonservativen Parteien kamen freilich nach 1930, als es tatsächlich um die Macht ging, Wähler und Wählerinnen gleichermaßen abhanden, und selbst in Wahlkreisen mit mehrheitlich katholischer Bevölkerung wählten am Ende zwar nicht die Mehrheit der Frauen, aber ebenso viele oder gar mehr Frauen als Männer die NSDAP.17 Wenn selbst auf die Parteitreue der Katholikinnen kein Verlass mehr war, blieben noch die »proletarischen Frauen«, die, da glaubte Tröger sich sicher zu sein, kaum zur NSDAP überliefen. Wer immer sie waren – vielleicht Fabrikarbeiterinnen, Dienstmädchen, Arbeiterfrauen, -mütter oder -töchter, Bürogehilfinnen oder Landarbeiterinnen – und was immer sie wählten – selten jedenfalls die KPD, vermutlich eher Zentrum oder die SPD – statistisch und sozialanalytisch waren sie genauso wenig zu fassen wie die »bürgerlichen und kleinbürgerlichen Frauen«. Überhaupt die Klassenbegrifflichkeit: Da steht das von Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte als konterrevolutionär gebrandmarkte »Kleinbürgertum« aus dem Frankreich von 1851 neben Kategorien, die wie die »Unterschichten« eher in der gerade entstehenden »historischen Sozialwissenschaft« gebräuchlich waren. Zugleich verschmelzen das »Proletariat« der kommunistischen Kampfrhetorik und die »Arbeiterbewegung« der 1920er Jahre begrifflich ununterscheidbar mit der Neuen Linken der 1960er und 1970er Jahre, der Tröger auch als inzwischen bittere Kritikerin verbunden blieb. Als Leserin fühlt man sich in eine außer Kontrolle geratene Zeitmaschine versetzt, die einen immer wieder rätseln lässt, auf welcher Zeitebene man gerade ausgesetzt wird. archiv, ZI 6, Projekt Faschismus-Forschung, Kiez Projekt, Frauenforschung: Memorandum Margherita v. Brentano 13. 7. 1970 mit Anlagen. Der Arbeitsbereich Vergleichende Faschismusforschung wurde über Jahre »provisorisch«, aber engagiert vom Direktor des ZI 6, Theo Pirker, geleitet, bevor die zugehörige Professur nach vielen gescheiterten Berufungsverhandlungen und dem Auslaufen aller fünf Qualifikationsstellen schließlich 1983 (und mit Blick auf Trögers Polemik ironischerweise) mit dem Wahlforscher Jürgen W. Falter besetzt wurde. Er legte später das historiographisch staubtrockene, aber methodisch anspruchsvolle und von der Kritik durchweg anerkannte Grundlagenwerk einschließlich eines Unterkapitels zum Wahlverhalten nach Geschlecht vor: Falter: Hitlers Wähler 1991, 136-146. 17 Für das 1932 immer noch ebenso rote wie katholische Wien zeigt dies Gerhard Botz: Wahlverhalten 2016; in Österreich wurden die Stimmzettel während der gesamten Zeit der Ersten Republik geschlechterdifferenziert ausgezählt und erfasst. Für Bayern 19301933 zeigt Boak: »Our Last Hope«: Women’s Vote for Hitler 1989, S. 298 ähnlich deutliche Daten. Für kleine deutsche Gemeinden mit überwiegend katholischer Bevölkerung errechnet Falter: Hitlers Wähler, S. 143-145, auch noch für das Jahr 1933 größere Resistenzen der Frauen als der Männer gegenüber der NSDAP.
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Ähnlich ergeht es einem mit den sozialhistorisch beschreibenden Passagen, die die größeren Teile des Textes einnehmen. Sie stützen sich zwar auf die ersten, damals bahnbrechenden, ausschließlich angelsächsischen Studien von Renate Bridenthal (1973), Jill Stephenson (1975) und Timothy Mason (1976) zur Sozialgeschichte von Frauen im Deutschland der Zwischenkriegszeit.18 Aber Tröger setzte deren quellen- und datenbasierten Interpretationen immer wieder eigene »Hypothesen« entgegen, die sie freilich mit der politischen Gewissheit der Aktivistin postulierte, der weitere Recherchen allenfalls die Fußnoten würden nachliefern können. Stattdessen bebilderte sie die Druckversion ihres Textes reichlich mit Fotos, die das Leben vor allem von Frauen in den Hinterhofwohnungen und Obdachlosenasylen, ihre Präsenz auf Schwarzmärkten und bei Straßendemonstrationen in – soweit erkennbar – den Berliner Arbeiterbezirken der 1920er und frühen 1930er Jahre zeigten. Auf Quellenangaben verzichtete sie, nicht aber auf interpretierende Bildunterschriften, mit denen sie die Fotos zur visuellen Evidenz ihrer Thesen erklärte.19 Bildlich anschaulich und rhetorisch kämpferisch versuchte Tröger auf diese Weise zu erklären, warum die Frauen in den 1920er Jahren so wählten, wie sie wählten, nämlich überwiegend konservativ, aber nicht, wie Tröger marxistisch geübt aus ihrer sozialen Lage ableitete, »nationalchauvinistisch«, sondern »traditionalistisch«; ihr Sein bestimmte ihr Bewusstsein. Demnach waren Frauen nach dem Ersten Weltkrieg in eine »existenzielle Zange« geraten: Im Krieg und verstärkt noch durch die Verarmung der Mittelschichten im Zuge der Hyperinflation der Nachkriegsjahre waren die größeren Familienhaushalte von Geschäftsleuten, Handwerkern oder bessergestellten Angestellten erodiert, die bis dahin oft noch ledige weibliche Verwandte beherbergt, mehrere meist weibliche Dienstboten beschäftigt und manche Dinge des täglichen Bedarfs noch selbst hergestellt hatten. Immer mehr Frauen fanden sich im Zuge der »Familienrevolution« in Haushalten wieder, die auf die Kernfamilie geschrumpft, aber zugleich räumlich und finanziell so beengt waren, dass die Versprechungen der entstehenden Konsumgesellschaft ihnen nur den alltäglichen Mangel vor Augen führten, dem sie mit umso mehr Hausarbeit unter verschlechterten Bedingungen begegnen mussten. Alleinstehende Frauen und die zahlreichen Kriegswitwen mussten überhaupt sehen, wie sie durchkamen. Der zunehmend industrialisierte und rationalisierte Arbeitsmarkt bot Frauen zwar neue Arbeitsplätze an den Fließbändern, in den Büros und Dienstleistungsbereichen; aber sie reichten nicht, waren schlecht bezahlt und blieben prekär vom Kriegsende mit den Massenentlassungen der kriegsverpflichteten Frauen 18 Bridenthal: Beyond Kinder, Küche, Kirche 1973; Stephenson: Women in Nazi Germany 1975; Mason: Zur Lage der Frauen in Deutschland 1976. 19 Als Nachweis für die 15 Fotos, von denen hier nur 5 abgedruckt werden, gab sie die Landesbildstelle Berlin an, die ihrerseits bis heute nur gelegentlich Hinweise zu Ort und Zeit des Dargestellten, aber weder zu den möglichen Fotograf / inn / en noch zur Provenienz oder zu den etwaigen Publikationsorten der Fotos angibt.
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zugunsten der demobilisierten Soldaten über die Inflationsjahre bis zur Weltwirtschaftskrise mit ihren Anti-Doppelverdiener-Kampagnen. Dieser geschlechtersegregierte Arbeitsmarkt mit missgünstigen Kollegen versprach, zumal SPD und KPD dem nicht entgegentraten, Frauen keine bessere Zukunft, sondern trieb sie zurück in die Arme derjenigen, von denen sie sich die Wiederkehr besserer Zeiten erhofften: Tradition statt Revolution. Warum allzu viele von ihnen dann am Ende doch eine Partei wählten, die nichts anderes als eine weitere, diesmal nationalrassistische antisemitische Revolution propagierte, erklärte Tröger wiederum marxistisch: Mangels beruflicher Integration hinkten sie mit ihrem »spezifischen ›weiblichen Konservativismus‹« hinterher und konnten die Zeichen der Zeit nicht verstehen. Das Menetekel des weiblichen Konservatismus, der die Frauen nolens volens in die nationalsozialistische Katastrophe hineinschliddern ließ, malte Tröger in der Schlusspassage ihres Manifests der Neuen Linken und der neuen Frauenbewegung der 1970er Jahre an die Wand. Beide sollten aus den Fehlern ihrer Vorgängerbewegungen lernen, und für die feministische Aktivistin war die Lektion klar: Nicht noch einmal durften eine ökonomische Krise, wie sie seit dem Ölpreisschock von 1973 herrschte, und die Arbeitslosigkeit, die erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wieder stieg und die sich gerade auch auf dem akademischen, genauer dem geistes- und sozialwissenschaftlichen Arbeitsmarkt bemerkbar machte, auf die Frauen abgeschoben werden. Diese, die mit drastisch gestiegenen Scheidungsbegehren, Kirchenaustritten und Eheverweigerungen gerade dabei waren, sich ihres spezifisch weiblichen Konservatismus zu entledigen, durften, um der Gefahr einer neuerlichen politischen Katastrophe zu begegnen, nicht in die Familienabhängigkeit zurückgedrängt werden. Dieses eher polemisch historisierende als historiographisch entwickelte Narrativ zu gegenwärtigen Zwecken mag heute befremdlich erscheinen. Auf mich und manch andere aus verschiedenen Disziplinen kommende Nachwuchswissenschaftlerinnen, die in den späten 1970er damit begannen, was schon bald historische Frauen- und Geschlechterforschung genannt, aber von der historischen »Zunft« noch lange nicht als legitime Forschungsrichtung anerkannt und erst Jahre später in (Teil-)Denominationen von Professuren institutionalisiert wurde, wirkte dieses Narrativ faszinierend. Es holte uns dort ab, wo wir waren, nämlich in, wenn überhaupt, höchst prekären Arbeitsverhältnissen mit völlig unwahrscheinlichen akademischen Karriereaussichten. Hin und her gerissen zwischen Bewegung und Profession, verlieh es dem heroischen Trotzdem unserer jahrelangen Dissertationsmühen, wenn schon keinen beruflich zweckrationalen, so doch einen frauenpolitisch aktuellen und zugleich vergangenheitspolitisch aufklärerischen Sinn. Schließlich ging es um die nach wie vor treibende Frage, wie der Nationalsozialismus und seine Verbrechen möglich wurden, was das NS Regime über zwölf Jahre zusammengehalten und welche Anteile welche Frauen daran hatten. Aus den apodiktischen Behauptungen und argumentativen Widersprüchen dieser Kampfschrift ließen sich produktive Fragestellungen generieren, die oft nur mit neuen Methoden und bis dahin ungewöhnlichen Quellen zu 246
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beantworten waren.20 Unsere Ergebnisse mochten die von Annemarie Tröger so selbstgewiss postulierten Hypothesen modifizieren und differenzieren, sie widerlegen oder einfach beiseitelassen. Ihrem programmatischen Impuls verdankten sie sich allemal, auch wenn sie sich selten für gegenwärtige Zwecke nutzen ließen.
20 Zur Entwicklung der frauen- und geschlechterhistorischen NS -Forschung vgl. Reese / Sachse: Frauenforschung zum Nationalsozialismus. Eine Bilanz, in: Gravenhorst/Tatschmurat (Hrsg.): Töchter-Fragen 1990; Sachse: Frauenforschung zum Nationalsozialismus 1997; Heinsohn / Vogel / Weckel: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Zwischen Karriere und Verfolgung 1997; Lanwerd / Stoehr: Frauen- und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren, in: Hauch / Gehmacher (Hrsg.): Frauenund Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus 2007.
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Die Frau im wesensgemäßen Einsatz (1981) 1 Es hat sich in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion herumgesprochen, dass die Nationalsozialisten doch nicht alle Frauen aus der Erwerbstätigkeit vertrieben und nicht alle »arischen« Frauen zu »Nur-Hausfrauen« und zu Müttern gemacht haben. Konnten sie nicht? Wollten sie gar nicht? Wussten sie überhaupt, was sie wollten? Eines ist sicher: Sie wollten den Krieg, die Erweiterung des Lebensraums oder, besser gesagt: die Erweiterung des Wirtschafts- und Ausbeutungsraums, da Deutschland angeblich vom »Volkstod« bedroht war und das Volk für den Großraum erst in der »Gebärschlacht« erzeugt werden musste. Diesem Ziel wurde alles untergeordnet, selbst wenn es ihrer Ideologie widersprach. Zweitens konnten und wollten die Nationalsozialisten nicht gegen die Interessen der »deutschen Wirtschaft« – wie das kapitalistische System mit seinem politischen Zentrum, der Großindustrie, so beruhigend genannt wurde – handeln, und das nicht nur, weil sie die deutsche Wirtschaft zu ihrer Kriegführung brauchten, sondern auch, weil sie mit deren Zustimmung die Macht ergriffen hatten, um Bedingungen herzustellen, die dem deutschen Kapital halfen, aus seiner tiefen ökonomischen, sozialen und politischen Krise herauszukommen.2 1935 äußerte bereits der Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley, dass die Bedeutung der Beschäftigung weiblicher Arbeitskräfte zunächst überschätzt worden sei und es tatsächlich manche Arbeiten gäbe, die der Mann nicht so schnell und so gut wie eine Frau machen könne, ein Ersetzen also gar nicht nötig sei.3 1936 forderte ein hoher Beamter des Reichskriegsministeriums: Die Frau wird im Ernstfalle im großen Umfange die Arbeit in den Fabriken leisten müssen. … Auch hier müssen sich die sozialen Bestrebungen [d. h. die der NSDAP ; A. T.], die Frau aus dem Betriebe zu lösen, den militärischen Notwendigkeiten unterordnen.4 1 Ergänzungen oder Erläuterungen im Text stehen in runden Klammern, Auslassungen wurden mit drei Punkten markiert. 2 Zur Koalition von verschiedenen Machtgruppen in der deutschen Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus gibt es eine breite Literatur. Ich möchte hier nur auf eines der ersten Bücher hinweisen: Neumann: Behemoth 1977 [Anm. d. Hrsg: zuerst 1942 /1944 auf Englisch]. 3 Ley: Durchbruch 1935, S. 244. 4 Oberst Thomas, Leiter des Wehrwirtschaftsstabes im Wehrmachtsamt des Reichskriegsministeriums anlässlich einer Tagung der Reichsarbeitskammer am 24. 11. 1936 in Berlin. Zit. nach Mason: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft 1975, S. 185.
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die fr au im w esensgem ä ssen einsatz
1936 meldete das Institut für Konjunkturforschung in Berlin bereits ein Defizit von einer halben Million Arbeitskräften; deshalb sei es notwendig, stärker als bisher kleine Selbständige, mithelfende Familienangehörige und Frauen wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren.5 1941 – lange vor Stalingrad – gab das Reichspropagandaministerium die folgende »geheime« Information an die Schriftleiter von Zeitschriften: Das Statistische Reichsamt hat jetzt die Entwicklung der Zahl der erwerbsfähigen und der erwerbstätigen Frauen bis zum Jahre 1952 vorausberechnet. … Als Gesamtergebnis dieser Untersuchung ist festzustellen: In den Jahren 1942 bis 1952 wird … der Anteil der verheirateten Frauen im Erwerbsleben … zunehmen, der der unverheirateten Frau wird auf Grund des Geburtenausfalls nach dem Weltkrieg ständig sinken, besonders die Jahrgänge unter 40 Jahren werden von dieser Minderung betroffen; sie werden sich in der Zeit von 1942 bis 1952 um rund dreiviertel Millionen verringern. Gleichzeitig wird der Anteil der älteren Frauenjahrgänge erheblich zunehmen. Die Folge wird erstens ein verstärkter Einsatz der verheirateten Frau und zweitens verstärkte Berufstätigkeit in älteren Jahrgängen sein (Hervorhebung: A. T). Selbstverständlich eignen sich die vorgenannten Zahlen nicht zur Veröffentlichung, vor allem dann nicht, wenn Vermutungen über die zukünftige Gestaltung des Familienlebens und über die bevölkerungspolitischen Auswirkungen daran geknüpft werden.6 Dieser Rückkehr zur kapitalistischen Rationalität entsprach auch die konkrete Entwicklung: Die Anzahl der weiblichen Erwerbspersonen wuchs von 11,5 Millionen in den Jahren 1925 und 1933 auf 12,7 Millionen im Jahre 1939, das bedeutete eine Steigerung um 10 . Frauen machten damit 37 aller Erwerbstätigen des Jahres 1939 aus.7 Ein Teil dieses Wachstums geht auf die besseren Erfassungsmethoden, aber auch auf eine echte Vergrößerung der Gruppe der »mithelfenden Familienangehörigen« zurück. Bei den abhängig Beschäftigten, also im Wesentlichen den Arbeiterinnen und Angestellten, verlief die Entwicklung etwas langsamer: Der Höhepunkt von 1928 mit 7,2 Millionen abhängiger weiblicher Beschäftigter wurde erst 1941 wieder erreicht und wurde 1943 mit acht Millionen überschritten. Wenn man sich die Prozentsätze der beschäftigten Arbeiterinnen und Angestellten ansieht, wird die Politik des Nationalsozialismus deutlich, zuerst einmal alle Männer in Lohn und Brot zu bringen und dann die weibliche Reservearmee einzusetzen. Der weibliche Anteil an den 5 Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, 11. Jg., 1936 /37, H. 2. 6 Zeitschriften-Dienst des Reichspropagandaministeriums, 129. Ausgabe, 17. 10. 1941, Nr. 5517. Diese Berechnung ist der Hintergrund für die von mehreren Autoren verzeichnete »ideologische Neuorientierung« der Nationalsozialisten in der Frage der weiblichen Erwerbstätigkeit. 7 Erwerbspersonen heißt alle Beschäftigten und Arbeitslosen; darin eingeschlossen sind auch die mithelfenden Familienangehörigen. Nach den Berufszählungen 1925, 1933 und 1935, Statistisches Handbuch von Deutschland 1949, S. 32 f. (im Folgenden: Stat. H.).
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abhängig Beschäftigten hatte 1928 37 betragen, dieser Anteil wurde in der Vorkriegszeit nicht mehr erreicht. Selbst 1933 waren noch 35 aller Arbeiter und Angestellten weiblich. Nach der Machtergreifung sank dieser Anteil auf 31 in den Jahren von 1936 bis 1938. Er stieg aber dann nach Kriegsbeginn sehr schnell auf 38 an (1941), hauptsächlich aufgrund der Mobilisierung der wehrpflichtigen Männer. Die Literatur über die weibliche Erwerbstätigkeit in der Zeit des Nationalsozialismus ist seit 1975 so angewachsen, dass ein Diskurs möglich wäre, wenn mir mehr Seiten zur Verfügung stehen würden.8 Auf die Frage nach der Bedeutung der NS -Zeit für die langfristige Entwicklung der Frauenarbeit geben auch die auf einem intensiven Quellenstudium basierenden Arbeiten nur eine unzureichende Antwort. Jill Stephenson kommt aufgrund der oben angedeuteten erweiterten Erwerbstätigkeit von Frauen zu folgendem Ergebnis: Die ideologisch motivierten Barrieren gegen Frauen in gehobenen Verwaltungsberufen und in der Justiz seien sicherlich bezeichnend für das Nazi-Ideal und für ihre Ziele im »Tausendjährigen Reich«. Aber diese Beispiele seien die Ausnahme gewesen. Im Endergebnis habe die Entwicklung in den 30er Jahren so ausgesehen, dass die Stellung der Frau im Erwerbsleben, auch in gehobenen Berufen, konsolidiert und nicht unterhöhlt worden sei, und außerdem sei der Status der Hausfrau und Mutter verbessert worden. Stephenson schließt sich damit der geschichtsphilosophischen Interpretation der »Modernisierungstheorie«, besonders der von David Schoenbaum an: Um ihre rückwärtsgewandten Ziele, z. B. die »arische« Besiedlung des »Ostraums« durchzusetzen, mussten die Nationalsozialisten sich der modernen Industrie bedienen. Mit dem Ausbau modernster Großindustrie förderten sie aber auch – ungewollt – die Entwicklung moderner Sozialstrukturen, wie z. B. die Erwerbstätigkeit von Frauen.9 Dörte Winkler lehnt in ihrer materialreichen 8 Die wichtigsten Arbeiten zur Frauenerwerbstätigkeit im Nationalsozialismus: Stephenson: Women in Nazi Society 1975; besonders ausführlich behandelt Stephenson die Frauen in gehobenen Berufen, v. a. Akademikerinnen. Die Position der alten Frauenbewegung wird zu einzelnen Fragen genauer referiert. Mason: Zur Lage der Frauen in Deutschland 1976; Mason geht auf die Frage nach dem Einfluss der NS -Familienpolitik auf die Erwerbstätigkeit von Frauen ein. Winkler: Frauenarbeit im »Dritten Reich« 1977; bisher ausführlichste Arbeit über dieses Thema, in deren Zentrum die Gruppe der Industriearbeiterinnen steht. Bajohr: Die Hälfte der Fabrik 1979; Schwerpunkt der Arbeit: Industrie- und Landarbeiterinnen. Bajohr bringt einige Quellen, die bei Winkler nicht zu finden sind, teilweise andere Einschätzungen, z. B. in der Frage der Dienstverpflichtung im 2. Weltkrieg. Zimmermann-Eisel: Die soziale Stellung der Frau 1976; gute statistische Auswertung. Die Arbeit ist wegen ihrer klaren Gliederung und ihrer Konzentration auf die wichtigsten Entwicklungen sehr gut als Einführungslektüre geeignet. Rupp: Mobilizing Women for War 1978; Vergleich der deutschen und amerikanischen Propaganda, mit der die Frauen in die Rüstungsproduktion gezogen werden sollten. 9 Schoenbaum: Die braune Revolution 1968.
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Studie die Modernisierungsthese zu Recht ab. Sie verstrickt sich aber in ihrer Schlussbetrachtung in eine Argumentation, die sich wie eine unfreiwillige Ehrenrettung des »Führers« ausnimmt: Aus der mehrfachen Entscheidung Hitlers gegen eine Dienstverpflichtung von Frauen im Zweiten Weltkrieg, der er wegen seines kleinbürgerlichen Frauenideals nicht zugestimmt habe, sowie aus seiner Stellungnahme gegen eine Erhöhung der Frauenlöhne 1944 (!)10, die beide gegen die Interessen der Industrie gefasst worden seien, konstruiert Winkler ein »Primat der Politik« in der Behandlung der Frauenerwerbstätigkeit im NS . Stefan Bajohr macht nach einer detaillierten, ja akribischen Dokumentation der Ausbeutung und des Leidens von Arbeiterinnen zwischen 1914 und 1945 noch nicht einmal den Versuch einer zusammenfassenden Interpretation, wodurch der Eindruck einer bleiernen Unabänderlichkeit entsteht, der gerade nicht in seinem Sinne sein dürfte. Die bisher leider unveröffentlichte Magisterarbeit von Renate Zimmermann-Eisel, die im Wesentlichen auf der Auswertung des statistischen Materials und der relevanten Gesetze und Verordnungen beruht, interpretiert die Bedeutung der nationalsozialistischen Arbeitsmarktpolitik für die gesellschaftliche Situation der Frauen folgendermaßen: Es muss … betont werden, dass es dem Nationalsozialismus nicht darum ging, Frauenerwerbstätigkeit als solche vollkommen auszumerzen. … Die Frauen sollten im Dritten Reich grundsätzlich die Ehe als Beruf anstreben und ausüben. Wenn so die verheirateten Frauen dem allgemeinen Arbeitsmarkt fernblieben, musste es für die ledigen genügend Möglichkeiten geben, in »artgemäßer« Tätigkeit den Lebensunterhalt zu finden; auf diese Weise konnte eine Trennung des weiblichen vom männlichen Lebensbereich realisiert werden. An dem Prinzip der frauenspezifischen Berufstätigkeit hielten die Nationalsozialisten sehr viel entschiedner fest als an dem Dogma der Ablehnung weiblicher Berufstätigkeit, … sie wollten sicherstellen, dass der nationalsozialistische Glaubenssatz von der Überlegenheit des männlichen Geschlechtes durch die Frau nicht bedroht wurde. Hier liegt der Grund dafür, dass der Nationalsozialismus Frauenarbeit in Haus und Hof bejahte, in der Fabrik uneinheitlich behandelte, aber in gehobenen Berufen bekämpfte.11 Meine eigenen Überlegungen, die ich in den folgenden Thesen zusammengefasst habe, gehen in eine ähnliche Richtung.
10 Es ist zu vermuten, dass dieser großartige Vorstoß von Robert Ley, dem Führer der Deutschen Arbeitsfront, für das Prinzip »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« aus parteiinternen Querelen geschah. Selbst wenn sich Hitler für eine Lohnangleichung entschieden hätte, so hätte sich zu diesem Zeitpunkt, in dem sich alles in Auflösung befand, doch kein Unternehmer daran gehalten und »der Führer« noch ein Stück seiner ramponierten Aura verloren. Auch bei den betroffenen Frauen hätte er wohl eher Hohn als Dankbarkeit geerntet: Sie waren froh, überhaupt etwas für ihre »Marken« zu bekommen und nach der Arbeit ihre Wohnung wiederzufinden. 11 Zimmermann-Eisel: Die soziale Stellung der Frau 1976, S. 142.
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Thesen zur Bedeutung des Nationalsozialismus für die Entwicklung der Erwerbstätigkeit von Frauen 1. Die Zeit des Nationalsozialismus stellt eine wichtige Phase in der Entwicklung der »modernen« geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung dar. Das betrifft sowohl die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen dem Produktionsbereich und dem sogenannten Reproduktionsbereich als auch die Arbeitsteilung im Produktionsbereich selbst. ln dieser Zeit sollte (erneut) ein weiblicher Arbeitsmarkt mit relativ festen Grenzen etabliert werden. 2. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist gekennzeichnet durch immer wiederkehrende staatliche Eingriffe zur Regulierung und Eindämmung der weiblichen Arbeitskräfte. Sie erwiesen sich als notwendig, da die normalen Mechanismen des kapitalistischen Arbeitsmarktes nicht mehr – und noch nicht wieder – ausreichten, um eine »geordnete« geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aus sich selbst heraus zu reproduzieren. Es sei hier kurz, ohne sie genauer auszuführen, an bekannte historische Tatsachen erinnert: Im Ersten Weltkrieg wurden Frauen in einem vorher nie gekannten Ausmaß in »männlichen« Arbeitsgebieten und Industrien eingesetzt. Außerdem wurde in Deutschland zum ersten Mal in größerem Ausmaß die zerlegte, »rationalisierte« Massenproduktion eingeführt, und zwar in den Rüstungsindustrien. Beide Vorgänge hatten die seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts geltende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Industrie und im Handwerk aus den Fugen gehoben: Die traditionellen Qualifikationshierarchien in der männlichen Arbeiterschaft und zwischen Männer und Frauen wurden unterhöhlt. Die Demobilisierungskampagne 1918 /19 stellte den ersten massiven staatlichen Eingriff zur Reorganisation der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung dar. Allerdings sollte diese Ordnung nicht lange Bestand haben, denn durch die Rationalisierungswelle in der zweiten Hälfte der 20er Jahre wurde die Grenzmarkierung zwischen den Arbeitsbereichen von Männern und Frauen noch gründlicher und vor allem langfristiger durcheinandergebracht, als es der Erste Weltkrieg schon vermocht hatte. Die Anziehungskraft der faschistischen Gedankenkonstruktion von einer separaten Männer- und Frauenwelt, die uns heute eher komisch anmutet, wird aus den tiefgreifenden Veränderungen im Produktionsapparat und der daraus resultierenden Verunsicherung besonders der Männer, aber auch der Frauen, verständlicher. Die große Anzahl der unverheirateten, geschiedenen, verwitweten Frauen, besonders der Kriegerwitwen, die nun auf eine permanente Berufstätigkeit angewiesen waren; die eher stagnierende Zahl von Arbeitsplätzen und die Masse der Arbeitslosen, die in der Zwischenkriegszeit permanent mindestens eine Million betrug, all das produzierte einen Druck, der die Geschlechterlinien auch in anderen als den industriellen Bereichen durcheinanderbrachte. 3. Dem NS -Regime kommt in dieser Hinsicht eine besondere historische Bedeutung zu: Zum ersten Mal in der neueren Geschichte übernimmt m. W. eine Regierung die Macht, in deren Herrschaftsideologie die Neuordnung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ein integraler Bestandteil ist und die diese 252
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Arbeitsteilung zu einem zentralen Punkt ihres Regierungsprogramms macht. Sie greift nicht, wie viele Regierungen vor ihr, sporadisch zur Wiederherstellung des alten »Gleichgewichts« auf rechtliche Maßnahmen zurück, sondern benutzt ein ganzes Arsenal von Instrumenten: ‒ direkte Eingriffe in die Größe und Struktur des Arbeitsmarktes: die Doppelverdienerkampagne,12 die Ehestandsdarlehen,13 der erzwungene Arbeitseinsatz zu Anfang des Zweiten Weltkrieges; ‒ die Jugendarbeitsmarktlenkung: Neben der stark ausgebauten und ab 1936 obligatorischen »Berufsberatung« ist vor allem die Vielzahl der verschiedenen »Dienste« zu nennen: Arbeitsdienst, Landjahr, Pflichtjahr, hauswirtschaftliches Jahr, usw.;14 ‒ den Einsatz von unbezahlten Arbeitskräften in gewöhnlich bereits entlohnten Bereichen, das betrifft vor allem sozialfürsorgerische Aufgaben;15 ‒ Propaganda der »Andersartigkeit der Frau« und der »wesensgemäßen Arbeit«. 4. Fast alle Maßnahmen hatten eine mehrfache Funktion, ihre arbeitsmarktpolitische Wirkung war dementsprechend diffus. Abgesehen von der Doppelverdienerkampagne hatte aber keine das Ziel, Frauen endgültig aus der Erwerbsarbeit zu eliminieren. Die generelle Marschrichtung hieß vielmehr: Dequalifizieren! In ihr trafen sich die z. T. konkurrierenden, z. T. widersprechenden Interessen der verschiedensten Gesellschaftsgruppen: 12 Entlassung von verheirateten Frauen, deren Männer erwerbstätig waren, und von unverheirateten Frauen, die von ihren Eltern ernährt werden konnten. Diese Doppelverdienerkampagne wurde besonders im öffentlichen Dienst durchgeführt. Vgl. dazu die Beiträge von Claudia Hahn, Erika Said und Doris Kampmann in »Mutterkreuz und Arbeitsbuch«. 13 Das Gesetz über Förderung der Eheschließungen ist Teil des Gesetzes zur Verminderung der Arbeitslosigkeit vom Juli 1933. Danach konnten Darlehen bis zur Höhe von 1000 R M an junge Ehepaare mit einwandfreier nationaler Gesinnung vergeben werden. Für jedes in der Ehe geborene Kind wurde ein Viertel des Darlehensbetrages erlassen. Bedingung für die Bewilligung war, dass die (zukünftige) Ehefrau in einem Arbeitsverhältnis gestanden und es bis zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung gelöst hatte. Von August 1933 bis Juli 1936 wurden 617 390 Ehestandsdarlehen vergeben. Stat. Jahrbuch, 57. Jg., 1938, S. 48. 14 Die verschiedenen »Dienste« und »Jahre« waren der eigentlichen Berufsausbildung vorgeschaltet und hatten für Mädchen sehr viel mehr als für Jungen einen – dequalifizierenden – »Berufslenkungs«-Effekt: Konnten sich Eltern schon immer schwer dazu durchringen, ihren Töchtern, die »ja sowieso heiraten«, eine Berufsausbildung zu bezahlen, so mag ein zusätzliches Jahr ohne Verdienst in vielen Fällen den Ausschlag gegen eine Ausbildung gegeben haben. Zu den verschiedenen Formen der Dienste vgl. die Beiträge von Lore Kleiber und Dagmar Reese in »Mutterkreuz und Arbeitsbuch«. 15 Unbezahlte oder unterbezahlte sozialfürsorgerische Programme, die besonders darauf zielten, die Arbeitskraft von »Nur-Hausfrauen« zu mobilisieren, wurden v. a. von der NS -Frauenschaft organisiert. Vgl. den Beitrag von Susanna Dammer in »Mutterkreuz und Arbeitsbuch«.
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‒ das der Industrie an einem billigen und disziplinierten Arbeitskräftereservoir, das nicht mehr wollte (zu wollen hatte) als Fließbandarbeit und Maschineschreiben; ‒ das der Männer des Mittelstands, die weibliche Konkurrenz um die mittleren und höheren Stellen loszuwerden; ‒ das von mittelständischen Hausfrauen an Dienstboten; ‒ das der Landwirtschaft an Arbeitskräften, denen »nichts anderes übrig blieb«; ‒ und last not least das des Regimes an einer weiblichen Bevölkerung, deren einziges Ziel, Kinder zu produzieren, sich problemlos mit all den verschiedenen Aufgaben verbinden lassen sollte, bei denen »Not am Mann« war. 5. Aus dem Wirrwarr von Maßnahmen und Gruppeninteressen lassen sich zwei Richtungen oder »Modelle« für die Frauenarbeit erkennen: Mit dem »Blut-undBoden-Modell« waren die Nazis angetreten, um die »liberalistisch-bolschewistischen und frauenrechtlerischen Auswüchse der Systemzeit«16 auszumerzen und die deutschen Frauen ihren wesensgemäßen Aufgaben zuzuführen. Dieses Modell, ein Konglomerat von Ressentiments und Frauenhass, trägt den Stempel der »Kampfzeit der Bewegung«. Der harte Kern dieser Arbeitsmarktbereinigung, mit der auch die Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise beseitigt werden sollte, war die Eliminierung von Frauen aus allen qualifizierten Arbeitsplätzen und Berufen, worunter bis ca. 1935 auch die Fabrikarbeit gerechnet wurde. Dagegen sollten Frauen permanent und in genügend großer Zahl in die minderbezahlte Arbeit in der Landwirtschaft und im Haushalt »zurückgeführt« werden (s. Beiträge von Ingrid Wittmann und Dagmar Reese in diesem Band). (Weiter unten wird auf den Erfolg dieses Modells kurz eingegangen, s. »Naturwüchsige Durchsetzung«.) 6. Das »sozialtechnische Modell« ist im Gegensatz zum »Blut-und-BodenModell« kein originäres Gewächs der NS -Ideologie, sondern eine Weiterentwicklung betriebssoziologischer Ansätze aus der Weimarer Republik durch nationalsozialistische Arbeitswissenschaftler. Es wurde erst sehr viel später, im Rüstungsboom, und weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit als Lenkungskonzept für die Frauenarbeit in Industrie und Handel ausgearbeitet. Diesen Wirtschaftszweigen sollten die weiblichen Arbeitskräfte in einer »flüssigen« Form zur Verfügung stehen: Als jugendliche Angestellte und Arbeiterinnen sollten sie, nachdem sie ihren »eigentlichen« Beruf als Hausfrau und Mutter erlernt hatten, für einige Jahre in Industrie und Handel arbeiten, um nach ihrer Heirat im Haushalt zu verschwinden. Aber das wiederum nicht für immer, sondern sie sollten je nach Konjunktur wieder einsetzbar sein. Neu ist das Einplanen von verheirateten Frauen, deren Erwerbstätigkeit bis dahin immer als ein Übel betrachtet worden war, das zu beseitigen sich die Nazis als vordringliche Aufgabe gestellt hatten. Diese uns heute nur allzu vertraute Form des weiblichen Arbeitsmarktes bildete sich im Wesentlichen erst in der Zwischenkriegszeit heraus und – 16 Als »Systemzeit« wurde im Nazi-Jargon die Weimarer Republik bezeichnet.
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so meine These – wurde erst im und durch den Nationalsozialismus ideologisch endgültig fixiert. 7. Der wirtschaftliche und soziale Hintergrund für das zweite Modell ist die Zunahme von Fließ- und Bandarbeit in fast allen Industrien und die Zunahme der unteren Arbeitsplätze im Angestelltenbereich. Schon in der Weimarer Republik waren sich die zuständigen Stellen der Wirtschaft und des Staates darüber einig, dass die wenigen einigermaßen qualifizierten Arbeitsplätze den männlichen deutschen Arbeitskräften überlassen werden sollten, da ihnen eine lebenslange sinnentleerte Arbeit nicht zuzumuten sei. Dies implizierte zweierlei für die Berufslenkung von Mädchen: erstens, Mädchen und Frauen an die Fließbänder zu ziehen, und zweitens, zu verhindern, dass diese Frauen mehr wollten als Fließbandarbeit und Maschineschreiben. Der erste Punkt war so lange kein Problem, solange es, wie in der Zeit der Weimarer Republik, besonders während der Weltwirtschaftskrise und in den Jahren bis 1937, genügend erwerbslose Frauen gab, die schon aus ökonomischen Gründen gezwungen waren, jeden Arbeitsplatz anzunehmen. Der zweite Punkt aber war bereits in der Weimarer Republik zum Problem geworden: Größere Gruppen von Frauen, die sich in dauerhaften und einigermaßen qualifizierten Berufen etabliert hatten, wie die Akademikerinnen und die höheren und mittleren Beamtinnen der Weimarer Republik, störten das ohnehin labile System der Arbeitsverteilung in zweierlei Hinsicht: Sie nahmen den Männern diese privilegierten Plätze weg. (Gegen diese Frauen war auch die Doppelverdienerkampagne gerichtet.) Mit zunehmender Vollbeschäftigung stellten diese privilegierten weiblichen Berufsgruppen wieder ein Modell für den Berufswunsch vieler junger Frauen dar. Während eine Hanna Reitsch (Testpilotin) oder eine Leni Riefenstahl (Filmregisseurin) ein nützlicher Traumstoff waren, an dem sich unbefriedigte Wünsche abarbeiten durften, stellten ein paar Tausend mittlere Beamtinnen jedoch eine Gefahr für die Berufslenkung dar. 8. Die diversen verordneten Haushaltsjahre, -dienste und -schulungen hatten in dieser Hinsicht die Funktion, ein Ersatz-Berufsethos zu schaffen, um zu verhindern, dass Mädchen auf die Idee kommen könnten, einen qualifizierten Berufswunsch zu entwickeln. Allerdings muss hier zwischen Arbeiterinnen und Angestellten deutlich unterschieden werden: Das Ersatz-Berufsethos zielte primär auf die jungen Frauen, die aus mittelständischen und Facharbeiterfamilien kamen und einem Angestelltenberuf zustrebten. Die Ausbildung zur Hausfrau und Mutter sollte hier die Qualifizierung im Beruf verhindern und Aufstiegswünsche im Keim ersticken; sie war dazu da, die Ablösung vom Beruf von vornherein einzuplanen.17 Die von der alten Frauenbewegung geschaffene und 17 Was hier geschieht, ist nichts anderes als ein »Eindeutschen« des jugendlichen Sexstereotyps, das die Privatwirtschaft in der Weimarer Republik aus dem gleichen Grund für die weiblichen Angestellten geschaffen hatte: Nur blut- und bodenständiger sollten sie sein und mehr Kinder sollten sie bringen. Zur Weimarer Republik vgl. Frevert: Die erste biographische Spur in: Kuhn / Schneider (Hrsg.): Frauen in der Geschichte 1979.
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gelebte Rolle der selbstständigen, in ihrem Beruf aufgehenden, unverheirateten Frau durfte keinesfalls von größeren Teilen der weiblichen Angestellten übernommen werden.18 Timothy Mason scheint anzunehmen, dass die Familienbindungsstrategie bei den Angestellten erfolgreich war, wenn er schreibt: Die Angestellten bildeten in den 30er Jahren mit Abstand die am schnellsten wachsende Gruppe unter den weiblichen Erwerbstätigen; aber dieselben Frauen wurden gesamtwirtschaftlich gesehen sehr viel früher unproduktiv als irgendeine andere Beschäftigungsgruppe. Sie bildeten den neuen Typ der haus- bzw. wohnungsgebundenen Hausfrau und Mutter. Hierin bestand die Form der Häuslichkeit, die die nationalsozialistische Herrschaft wirklich förderte.19 Für die jungen und älteren Arbeiterinnen dagegen war die Haushaltsschulung primär ein »Training zur Doppelbelastung«, sie sollten Hausarbeit und Erwerbstätigkeit gleichzeitig bewältigen können.20 Bei ihnen war die Motivation, eine Arbeit aufzunehmen, klar: ökonomischer Zwang. (Auf den Versuch, Hausfrauenund Mutterrolle als Motivationsersatz für sinnentleerte Fließbandarbeit zu benutzen, werde ich im zweiten Teil dieses Beitrags eingehen.) Die klassenspezifische Arbeitsmarktstrategie deckte sich durchaus mit der »differenzierten« Bevölkerungspolitik des Regimes, deren Hauptziel es war, die mittelständischen Frauen vom »Zwei-Kinder-System« abzubringen und der »VierKinder-Familie« zuzuführen. Denn von ihnen war gemäß der sozialdarwinistischen Ideologie »erbgesünderer« und »rassisch wertvollerer« Nachwuchs zu erwarten als von Arbeiterinnen.21
Die naturwüchsige Durchsetzung Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist keine Erfindung des Nationalsozialismus, doch bekommt ihre (erneute) Durchsetzung durch das Zusammenspiel von einer Vielzahl staatlicher Maßnahmen und der offiziellen Ideologisierung der »Andersartigkeit« weiblicher Arbeitskraft einen Zwangscharakter, den es selbst in den schlimmsten Zeiten des zünftlerischen oder gewerkschaftlichen Kampfes gegen Frauenerwerbstätigkeit nicht gegeben hatte. Andererseits wäre es aber falsch, hinter der Propagierung des »wesensgemäßen« Einsatzes der Frau eine monolithische und zentral gelenkte Politik der Nationalsozialisten gegenüber den weiblichen Arbeitskräften insgesamt zu vermuten. Die Funktion dieser Arbeitsmarktpolitik war es vielmehr, mit großer Geste und Drohgebärde einer reaktionären Tendenz, die es schon vorher unter anderen Tendenzen gegeben 18 19 20 21
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Siehe Claudia Hahn: Der öffentliche Dienst 1981. Mason: Zur Lage der Frauen 1976, S. 165. Sachse: Hausarbeit im Betrieb 1982. Zur Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus vgl. Czarnowski, Gabriele: Nationalsozialistische Frauen- und Familienpolitik 1975; Nebig: Die Bedeutung der Frau 1976; Bock: Frauen und ihre Arbeit im Nationalsozialismus 1979.
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hatte, das Siegel des Offiziellen und staatlich Sanktionierten aufzudrücken, um dann den Hunden freien Lauf zu lassen. So wurde die geschlechtsspezifische Segmentierung der bezahlten Arbeit auf den verschiedenen Teilarbeitsmärkten unterschiedlich, ja widersprüchlich vorangetrieben. Verdrängung, Entlassung und Herunterstufung waren denn auch in den Bereichen am größten, in denen die Berufstätigkeit der Frauen auf die Konkurrenzangst einer reaktionären männlichen Mehrheit stieß: in praktisch allen akademischen Berufen und im öffentlichen Dienst. Die Verdrängung der berufstätigen Frauen aus dem öffentlichen Dienst ging weit über die gesetzlich vorgeschriebene Entlassung von Verheirateten hinaus, denn das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 bot auch eine Handhabe zur Verfolgung politisch missliebiger und frauenrechtlerisch angehauchter Frauen. Die Kollegen gingen gegen ihre Kolleginnen derart drastisch vor, dass selbst die NS -Regierung schon im Herbst 1933 um Mäßigung bitten musste: Ich halte es grundsätzlich für richtig, dass bei gleicher Eignung männlicher und weiblicher Kräfte für eine Verwendung im öffentlichen Dienste dem männlichen Bewerber der Vorzug gegeben wird. Andererseits muss ich jedoch darauf hinweisen, dass auf bestimmten Gebieten, namentlich im Bereiche der Jugendfürsorge und Jugendpflege, zum Teil auch in dem des Unterrichts, das dienstliche Bedürfnis die Verwendung weiblicher Kräfte in Beamten- und Angestelltenstellen erfordert.22 Der »grundsätzliche Vorzug« hatte bis 1939 dazu geführt, dass sich die Anzahl der Beamtinnen um 5,5 vermindert und die der Beamten um 23,8 erhöht hatte.23 Im Bereich der privaten Wirtschaft, besonders in der Großindustrie, wurde der »wesensgemäße Einsatz« der Frauen nur so weit angewendet, wie er den Interessen der Unternehmer entsprach – und das konnte der Ideologie der Nationalsozialisten auch diametral entgegenlaufen. Die Reichsregierung hatte in ihrem »Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit« (vom 1. Juni 1933) eine »möglichst weitgehende Beschäftigung der Fabrikarbeiterinnen in Haushaltungen, um in ihren bisherigen Stellen in den Fabriken männliche Arbeitskräfte unterbringen zu können«, angeordnet. Damit, so hoffte Staatssekretär Reinhardt in seinem »Generalplan gegen die Arbeitslosigkeit«, würde »eine dauernde arbeitsmarktpolitische und bevölkerungspolitische Umschichtung unserer deutschen Frau« bewirkt werden, und es würde durch diese Umschichtung zu einem »gewaltigen Aufschwung in allen Zweigen der deutschen Wirtschaft« 22 Schreiben von Reichsinnenminister Frick an die Obersten Reichsbehörden, die Landesregierungen, die Reichsstatthalter vom 5. 10. 1933, zit. nach Gersdorff: Frauen im Kriegsdienst 1969, S. 279 f. 23 Winkler: Frauenarbeit 1977, S. 64. Vgl. zu diesem Thema besonders die Aufsätze von Erika Hahn, Doris Kampmann und Irmgard Weyrather in »Mutterkreuz und Arbeitsbuch«.
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kommen.24 Aber weder die Peitsche des »Überführungsgesetzes« noch das Zuckerbrot der Ehestandsdarlehen vermochten die noch beschäftigten Industriearbeiterinnen den bevölkerungspolitisch wichtigen Aufgabengebieten zuzuführen. Das Interesse der Arbeitgeber an ihren eingearbeiteten und billigen Arbeitskräften und das der Fabrikarbeiterinnen an einem Lohn, der immerhin doppelt so hoch war wie der einer Landarbeiterin,25 schuf eine Koalition, gegen die Partei und Bürokratie wenig ausrichten konnten.26 Es gab nur wenige, dafür aber mit umso größerer Propaganda veröffentlichte Fälle, in denen Frauen durch Männer ersetzt wurden, bei denen aber dann der Rest der Kollegen zur Kasse gebeten werden musste, um die früheren Frauenlöhne für die neuen Kollegen anzugleichen. Die Erfolglosigkeit der »Umschichtung unserer deutschen Frau« demonstriert nur die Naivität der NS -Experten hinsichtlich der eingefahrenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Industrie und ihrer fundamentalen Bedeutung für das Lohngefüge. Sie beweist aber noch nicht, dass die Maßnahmen ohne Wirkung geblieben wären. Der Reinhardt-Plan (d. h. Ablösung von Industriearbeiterinnen) bewirkte im Zusammenhang mit den Ehestandsdarlehen eine »Verflüssigung« des weiblichen Arbeitskräftepotenzials: einen schnelleren Umschlag von Arbeiterinnen und Angestellten, ohne dass die Erwerbslosen als »stehende« Reservearmee den Arbeitsmarkt verstopften und die Arbeitslosenversicherung belasteten. An einer größeren Fluktuation der im Akkord verbrauchten Arbeitskräfte waren besonders die monopolisierten Großindustrien interessiert. Hier ein Beispiel für die Form, in der man die weiblichen Arbeitskräfte haben wollte: In der elektrotechnischen Industrie betrug der Anteil der Arbeiterinnen an allen Arbeiten 1925: 24 , 1933 war er auf 12 gesunken und 1938 auf 29 angestiegen.27 Eine jüngere Arbeitskraft ist in jedem Falle billiger, das gilt besonders für die Angestellten. Eine größere Fluktuation ist also ein beständiger Dequalifizierungsprozess im Sinne und zum Zwecke einer Lohnminderung. Das Zusammenspiel von der Arbeitsmarktstrukturierung der Großkonzerne mit staatlichen Auffang- bzw. Abschiebemaßnahmen war nicht neu. Es wurde aber im Vergleich zur Demobilisierung ab 1918, in der es zu »unnötigen Härten« und 1920 zu »Hungerkrawallen« gekommen war, wesentlich verfeinert – eine Entwicklung, die besonders für uns heute wieder von Bedeutung ist. 24 Reinhardt, Fritz: Generalplan gegen die Arbeitslosigkeit 1933. 25 Durchschnittlicher Wochenlohn einer Facharbeiterin in der Textilindustrie (1936): 22,48 R M und einer Landarbeiterfrau (1937): ca. 13,- R M . 26 Vgl. dazu Winkler: Frauenarbeit 1977, S. 42 ff.; Zimmermann-Eisel: Die soziale Stellung der Frau 1976, S. 36 ff. 27 Siehe Fußnote 33. Dieses Beispiel ist auch ein Hinweis auf die Unsinnigkeit der These, dass Frauen in der Weltwirtschaftskrise weniger betroffen gewesen seien bzw. den Männern die Arbeitsplätze weggenommen hätten. Dieser Unsinn wird aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik abgeleitet, von der inzwischen bekannt sein sollte, dass sie bestenfalls die Hälfte der erwerbslosen Frauen erfasste (erfassen wollte), und wird bis heute selbst in der linken und feministischen Literatur weitertransportiert. Einen detaillierten Gegenbeweis führt Zimmermann-Eisel: Die soziale Stellung der Frau 1976.
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Kurzfristig dringlicher war damals die Bereinigung der Arbeitslosenkassen selbst. 1933 gab es noch 941.000 erwerbslose Frauen, die offiziell gemeldet waren.28 Außerdem steuerte die Krise in den Konsumgüterindustrien, die immerhin zwei Drittel aller Arbeiterinnen beschäftigten, erst ihrem Tiefpunkt zu, sie dauerte bis ca. 1936 an. Aus ihnen kamen aber gerade die angelernten und gelernten Arbeiterinnen, die sich erfahrungsgemäß nicht so leicht von den Arbeitsämtern um ihre Unterstützungsansprüche prellen oder in marginale Bereiche abschieben ließen. Da es nun aber nicht genügend eheliche und belastungsfähige elterliche Haushalte gab, in die die betroffenen Frauen hätten verschwinden können, und da besonders Industriearbeiterinnen absolut nicht von der ihnen »wesensgemäßen« Beschäftigung als Dienstbotinnen zu überzeugen waren, griff man zu dem Mittel staatlicher Ehestiftung. Zwischen 1933 und 1936 wurden mehr als 617.000 Ehestandsdarlehen vergeben. Sie waren an die Bedingung geknüpft, dass die Frau ihren Arbeitsplatz aufzugeben habe oder ihn seit 1931 verloren hatte.29 Zwischen 1933 und 1934 geht die Zahl der »offiziellen« weiblichen Erwerbslosen um 445.000 zurück, im gleichen Zeitraum steigt die Zahl der abhängig beschäftigten Frauen um nur 300.000.30 Es ist zu vermuten, dass ein Teil der 145.000 »bereinigten« Fälle auf die Vergabe von Ehestandsdarlehen zurückzuführen ist.
Der Widerstand der Frauen Der massive, unorganisierte Widerstand der erwerbstätigen und arbeitslosen Frauen gegen die propagierte Arbeitsteilung der Geschlechter – und damit gegen das nationalsozialistische Frauenbild – machte die Ideologie der »artgemäßen Beschäftigung« schon bald zur Farce. Ihr jahrelanger, erbitterter Grabenkrieg gegen die Beamten auf den Arbeitsämtern, die sich nur zu oft als begeisterte »Vollzugsorgane« zur »Rückführung« der Frauen in den »wesensgemäßen Einsatz« verstanden, wäre eine eigene Studie wert. Selbst aus einem ärmlichen Arbeitsamtsbezirk wie Jena,31 in dem die Frauen wohl kaum durch den »Flitter und Talmi« der Großstadt verführt worden waren noch jemals eine Auswahl an attraktiven Jobs gehabt hatten, kam schon 1934 die Klage eines erbitterten Arbeitsamtsexperten: 28 Stat. H., S. 484. 29 Zimmermann-Eisel: Die soziale Stellung der Frau 1976, S. 42. Zwischenzeitlich wurde der Zeitraum bis zum 1. 6. 1928 ausgedehnt. Damit wurden alle unverheirateten Frauen, die durch die Krise ihre Arbeit verloren hatten, mögliche Kandidatinnen für das Ehestandsdarlehen. Siehe auch Fußnote 12. 30 Vergleich der Beschäftigung nach Krankenkassenstatistik und der Arbeitslosen nach Meldung der Arbeitsämter, Stat. H. 1949, S. 474 u. 484. 31 Außer Zeiss und Schott, die grundsätzlich Frauen nur als Hilfsarbeiterinnen einstellten, gab es ein paar Porzellan- und Papierfabriken. Das Gros der Arbeitsmöglichkeiten blieben Hausangestellte und Landarbeiterinnen.
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Die Um- bzw. Rückbildung der weiblichen Erwerbstätigkeit auf die dem Wesen und der Veranlagung der Frau entsprechenden Erwerbszweige, das Grundziel der vom Staate angestrebten Wandlung des weiblichen Arbeitsmarktes, stößt aber […] auf Widerstände, die mehr in der persönlichen Einstellung der heute lebenden Frauengeneration als in sachlichen oder wirtschaftlichen Ursachen begründet sind. Wenn selbst Mitglieder der nationalsozialistischen Frauenorganisation, von denen man zuerst erwarten sollte, dass sie den Forderungen des Staates nachkommen, ihnen zugewiesene Betätigungsmöglichkeiten in Haus- und Landwirtschaft trotz körperlicher Eignung zu solchen Arbeiten ablehnen, dann ist das erstens ein Beweis dafür, dass die Wandlung der persönlichen Abneigung gegen die Betätigung in wirklichen »Frauenberufen« bei der lebenden Generation kaum möglich ist, und zweitens, dass die angestrebte Wandlung nur unter Anwendung staatlichen Zwanges möglich sein wird.32 Die Anwendung staatlichen Zwangs half jedoch nur bedingt: Trotz der sich verschärfenden Gesetze gegen die Abwanderung aus der Landwirtschaft gelang es zwischen 1933 und 1939 noch 61.000 Landarbeiterinnen, in die Städte zu gehen. Aber auch die junge Generation von Frauen, die bereits im »Dritten Reich« sozialisiert und durch seine Berufslenkungsmaschine geschleust worden war, entwickelte sich nicht so recht zum bodenständigen Idealbild der »deutschen Frau«. Viele Wahlmöglichkeiten hatte diese Generation nun wahrhaftig nicht, aber unter ihnen blieb das urbane und relativ unabhängige »Bürofräulein« der Hit – wie in der Weimarer Republik. Zwischen 1933 und 1939 vergrößerte sich die Zahl der weiblichen Angestellten um fast 19 (von 1,6 auf 1,9 Millionen). Die Verteilung der Lehrlinge im Jahre 1940 signalisiert eine noch deutlichere Absage an den NS -Frauentyp: 72 machten eine Lehre in kaufmännischen, Büround Verwaltungsberufen; das restliche Viertel teilte sich auf in: 14 Schneiderinnen, 5 Friseusen, 3 Hausgehilfinnen, und – hier konnten sich auch die Beamten des Reichsarbeitsministeriums eine gewisse Ironie nicht versagen – »mehr als 1 v. H. machen erfreulicherweise immerhin die weiblichen Lehrlinge in der Berufsgruppe ›landwirtschaftliche Berufe‹ aus«.33
Veränderung der Frauenarbeit in Industrie und Handwerk zwischen Machtübernahme und Kriegsbeginn In der Wirtschaftsabteilung »Industrie und Handwerk« erhöhte sich die Anzahl der weiblichen Erwerbspersonen von 2,76 Millionen im Jahre 1933 auf 3,3 Millionen im Jahre 1939; ihr Anteil wuchs damit von 21 auf 23 .34 Im Folgenden 32 Junghans: Der weibliche Arbeitsmarkt 1934, S. 78. 33 Arbeitsbucherhebung vom 5. Juli 1940, 1941, S. 86. 34 Stat. H. 1949, S. 32 f. Dem widerspricht die oben gemachte Angabe nicht, dass in den Jahren 1936-39 der Anteil der weiblichen Angestellten und Arbeiterinnen aller Wirtschaftsabteilungen auf 31 sank.
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möchte ich die Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten in Industrie und Handwerk zwischen 1933 und 1938 darstellen.35 Dieser Zeitraum ist insofern günstig, als 1938 die Beschäftigungsverhältnisse noch nicht durch die Mobilisierung von Männern und durch die forcierte Einstellung von Frauen verzerrt sind, also noch von einer relativ »normalen« Entwicklung gesprochen werden kann. Dennoch wird der Einfluss der Rüstungsproduktion auf den ersten Blick deutlich: Die Zahl der Beschäftigten in den Konsumgüterindustrien nimmt in diesem Zeitraum sichtbar ab, während sie in den Industrien, die direkt mit der Rüstungsproduktion zusammenhängen, überproportional zunimmt: am stärksten in der Maschinen-, Kessel-, Apparateund Fahrzeugbau-Industrie und in der elektrotechnischen Industrie. Die Anzahl der Arbeiterinnen in Industrie und Handwerk hatte in diesen fünf Jahren nur um 157.000 zugenommen, ihr Anteil an der Arbeiterschaft blieb mit 19 konstant. Die im folgenden dargestellten Veränderungen basieren deshalb zu ungefähr gleichen Teilen auf einer absoluten Zunahme und auf einer internen Wanderung innerhalb der Wirtschaftsabteilung. In den Konsumgüterindustrien vergrößert sich der Anteil der weiblichen Beschäftigten hauptsächlich deshalb, weil die Männer zu einem sehr viel größeren Ausmaß als die Frauen in die Investitionsgüterindustrien abwandern. So steigt der Anteil der Arbeiterinnen im Bekleidungsgewerbe von 58 auf 65 , obwohl ihre absolute Anzahl um mehr als 100.000 sinkt. In der Textilindustrie und in der Kunststoff- und Lederwarenindustrie stagniert ihre absolute Zahl. Zwar hatte man in der Textilindustrie noch 1933 /34 versucht, Männer auf Facharbeiterinnenplätze zu setzen, aber angesichts des großen Lohngefälles zwischen Konsum- und Investitionsgüterindustrien hatte das wenig Erfolg. In einigen Investitionsgüterindustrien erhöhte sich sowohl die absolute Zahl als auch der Anteil von Arbeiterinnen beträchtlich, so in der Eisen-, Stahl- und Metallwarenherstellung (von 13 auf 19 ), was einen beachtlichen Anstieg gegenüber 1925 mit 15 bedeutet; in der elektrotechnischen Industrie (von 12 auf 29 ). In der zuletzt genannten hatte allerdings der Anteil der Arbeiterinnen im Jahre 1925 schon 24 betragen. Der Anteil der Arbeiterinnen erhöhte sich im Druck- und Vervielfältigungsgewerbe (von 24 auf 37 ), in der chemischen Industrie (von 23 auf 26 ) und in der feinmechanischen und optischen 35 Ich beziehe mich hierbei hauptsächlich auf eine Studie einer Fachbearbeiterin der Deutschen Arbeitsfront in der Abteilung Berufskunde und Berufsforschung: Schnelle: Die Entwicklung der gewerblichen Frauenarbeit 1941. Obwohl diese Studie auf zwei unterschiedlichen Erhebungen basiert, für 1933 auf der Berufszählung und für 1938 auf der Arbeitsbucherhebung, ist der Vergleich für Arbeiter / Angestellte vertretbar. Die Ergebnisse der Berufszählung von 1939 erbringen generell höhere Zuwachsraten zwischen 1933 und 1939 als die hier genannten, die sich auf die Zeit von 1933 und 1938 beziehen. Das liegt z. T. daran, dass zwischen 1938 und 1939 die Erwerbstätigkeit noch einmal unverhältnismäßig ansteigt, ein »Kriegseffekt«, den ich ausschalten möchte. Es handelt sich also im Folgenden um eher konservative Berechnungen. Die Vergleichsdaten von 1925 stammen aus der Berufszählung von 1925, Statistisches Jahrbuch 1928, S. 21 ff.
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Industrie (von 18 auf 25 ). Die feinmechanische und optische Industrie, in der der Prozentsatz 1925 ca. 17 betragen hatte, erfuhr Anfang der 30er Jahre eine Rationalisierung in der Uhren- und Brillenherstellung;36 die Verdoppelung der Anzahl von Arbeiterinnen von 17.000 auf 35.000 ist darauf zurückzuführen. In der Maschinenbau-Industrie, die den stärksten absoluten Zugang an Arbeitskräften zu verzeichnen hatte, veränderte sich der Anteil der Arbeiterinnen dagegen kaum (von 4 auf 5 ). Bei den weiblichen Angestellten erhöhte sich in der gesamten Wirtschaftsabteilung sowohl die absolute Zahl (um ca. 60.000) als auch ihr Anteil (von 25 auf 27 ). Ihr Anteil an der Angestelltenschaft wuchs relativ gleichmäßig in allen Industrien, ausgenommen die Maschinenbau-Industrie; hier erzielten sie einen ähnlichen Einbruch (von 30.000 auf 55.000) wie die Arbeiterinnen in der feinmechanischen und optischen Industrie. Diese kurze Aufstellung mag genügen, um zu zeigen, dass sich in der Zeit zwischen 1933 und 1938 die Rationalisierung in den meisten Industrien, besonders im Investitionsgüterbereich, konsolidiert und sogar, wie im Falle der optischen und feinmechanischen Industrie, erweitert hatte. Anders ist die absolute und vor allem die relative Zunahme von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten in den sogenannten männlichen Industrien nicht zu erklären, denn es ist kaum anzunehmen, dass sie auf der Ausbildung von Facharbeiterinnen oder angelernten Arbeiterinnen beruhte. Gewachsen war das weibliche Rationalisierungsproletariat.
Die Suche nach einem Fließbandproletariat Die NSDAP hatte zugleich mit der Macht auch bestimmte Kernprobleme mit übernommen, die sie wahrscheinlich selbst am wenigsten durchschaute. Die Rationalisierung war eines dieser Probleme.37 Hatten die Freien Gewerkschaften, allen voran der Deutsche Metallarbeiterverband (DMV ), während der 20er Jahre die Rationalisierung fast euphorisch akzeptiert, so schließt eine 1933 fertiggestellte (aber kaum noch verbreitete) Studie des DMV mit dem Satz: »Die Maschine ist zu einem Fluch geworden, dessen Unsegen nur durch völligen Umbau der Wirtschaft behoben werden kann.«38 Es ist zu vermuten, dass die deutsche Industrie ohne die terroristische Unterdrückung der Arbeiterbewegung durch 36 Die Rationalisierung in der Metallindustrie 1933, S. 153 ff. 37 Im Folgenden werde ich »Rationalisierung« als Sammelbegriff benutzen, wie er heute üblich ist: für das Zerlegen von Arbeitsvorgängen, die technischen Umstellungen, Fließ- und Bandarbeit etc. und alle damit verbundenen Ausrichtungen der Arbeitskraft: psychotechnische Eignungsprüfungen usw. In der Weimarer Republik wurde Rationalisierung eher als ökonomischer Begriff verwandt zur Bezeichnung der verschiedenen Vorgänge, die mit der Konzentration des Kapitals verbunden sind. 38 Die Haltung der Freien Gewerkschaften zur Rationalisierung war tatsächlich sehr viel komplexer und änderte sich mit den Wirtschaftszyklen. Zum Beispiel war die Haltung zum »Fordismus« (serielle Massenproduktion und Fließbandarbeit) sehr positiv, da man sich davon einen höheren Lebensstandard auch für Arbeiter erhoffte. Dagegen
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das Nazi-Regime große Schwierigkeiten gehabt hätte, den Rationalisierungsprozess weiterzuführen. Denn die Rationalisierungsbewegung in Deutschland war alles andere als ein »systematisches, planvolles Handeln« gewesen, es war ein kopfloses Durchpreschen zu erhöhter Produktion mit ungeheuer gefährlichen und unabsehbaren Folgen: Das Problem der Arbeitskraft ist ähnlich behandelt worden wie die Probleme der Mechanisierung und technischen Reorganisation: bruchstückhaft und planlos, ohne Rücksicht oder Verständnis für die vielfältigen Kosten und technischen und menschlichen Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, und ohne Begriff dafür, dass die Veränderung in einem Teilbereich Auswirkungen auf die Industrie als Ganzes hat.39 Der Modernisierungsschock weiter Kreise der Bevölkerung hat Anfang der 30er Jahre nicht unwesentlich zum Wahlerfolg der NSDAP beigetragen, die damals mit einer diffusen Antimodernitätspropaganda auf der Welle mitschwamm. Einmal an der Macht, wurde sie jedoch von der Industrie und vom Wirtschaftsamt des Reichskriegsministeriums deutlich darauf hingewiesen, dass zur Kriegführung nun einmal eine rationalisierte Rüstungsproduktion gehöre. Obwohl Teile der Parteispitze die alte Ideologie weiterhin transportierten, waren Untergliederungen des Parteiapparates, z. B. das Arbeitswissenschaftliche Institut der Deutschen Arbeitsfront (im Folgenden: AWI ) inzwischen darauf spezialisiert, der Industrie bei der Durchsetzung weiterer Rationalisierungsmaßnahmen gegenüber der »Gefolgschaft« zu helfen, denn: Die Gefolgschaft, gleichgültig ob sie nationalsozialistisch gesinnt ist oder nicht, steht oft noch … auf der marxistisch-gewerkschaftlichen Grundlage der Ablehnung des Leistungsprinzips. … Kontrolle der eigenen Leistung wird verweigert. Alle Versuche, Zeitaufnahmen durchzuführen, werden demnach abgelehnt.40 war die Kritik am wissenschaftlichen Management (Taylorismus) und psychotechnischen Ausleseverfahren anfänglich sehr heftig, v. a. an der Basis. 39 Brady: The Rationalization Movement 1933, S. 101. 40 Jahrbuch 1937, hrsg. vom Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront, S. 206. Deutsche Arbeitsfront (DAF ): Zwangsgewerkschaft im Nationalsozialismus, siehe dazu Mason: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft 1975. Das Arbeitswissenschaftliche Institut (AWI ) der DAF war offiziell ein rein beratendes Gremium für die Reichsleitung der DAF, inoffiziell sind seine Funktionen weit darüber hinaus gegangen. Es dürfte wohl die einflussreichste Untergliederung der DAF gewesen sein. Im Folgenden werde ich von den Vorstellungen des AWI ausgehen und nicht von irgendwelchen »Führerreden« oder Ad-hoc-Bemerkungen Goebbels’ oder Görings. Das AWI markiert in gewisser Weise den modernen Flügel innerhalb der NSDAP. Seine Hauptmission war es, die Rationalisierung der deutschen Wirtschaft voranzutreiben und Akkordlöhne, Fließbandarbeit, Arbeitsintensivierung unter der jungen technischen Intelligenz und den Funktionären der eigenen Partei durchzusetzen, damit diese es wiederum gegenüber den Arbeitern durchsetzen konnten. Der skrupellose Opportunismus der AWI -Wissenschaftler kommt besonders darin zum Ausdruck, wie sie ihre
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Bereits 1936 erschien eine AWl -Schrift zur Rehabilitierung der »echten Rationalisierung«, die als Argumentationsleitfaden für Funktionäre der Deutschen Arbeitsfront (DAF ) in der für Nazis doch sehr trickreichen Materie gelten sollte.41 In der überstürzten Rationalisierungswelle der 20er Jahre waren für das Kapital eine Reihe von ungelösten gesellschaftspolitischen Problemen liegengeblieben. Dazu gehörte die Strukturierung und Hierarchisierung der Arbeitskräfte, die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und die Lohnhierarchie.42 Die Lösungsvorschläge des AWI zu zwei der in unserem Zusammenhang wichtigsten Probleme sollen hier kurz vorgestellt werden: 1. Schon in den 20er Jahren war sich die internationale arbeitswissenschaftliche Intelligenz darüber klar, dass »der unmittelbare Anreiz einer fröhlichen Arbeit, die infolge der gegenwärtigen Entwicklung der Industrie immer seltener vorkommt, durch einen mittelbaren Anreiz ersetzt werden (muss)«.43 Eine solche externe Motivation herzustellen, ohne den Lohn wesentlich zu erhöhen – Lohneinsparungen waren schließlich der Sinn der Rationalisierung –, stellt bis heute ein ungelöstes Problem dar. 2. Es war in der Weimarer Republik populäres und arbeitswissenschaftliches Allgemeinwissen, dass monotoner Stress Schwerstarbeit ist und zu Krankheiten führt. (Ohne neueren Studien, deren Ergebnisse wie wahre Erleuchtungen gefeiert werden, den wissenschaftlichen Wert absprechen zu wollen, es drängt sich aber die Frage auf: Wie konnte dieses Wissen so lange verloren gehen? Und warum wurde es genau in dem Moment entdeckt, als durch Verlagerung ins Ausland und durch Automatisierung selbst diese Erwerbsmöglichkeiten für Frauen wegzufallen begannen?) Der schnellere Verschleiß menschlicher Arbeitskraft in der rationalisierten Produktion wurde als Pausen- und Urlaubsproblem international diskutiert, als lebenszeitliches Problem tauchte es hauptsächlich in der deutschen Arbeitswissenschaft auf. Deutschland, so hieß es, müsse mit seinen Arbeitskräften mehr haushalten als die USA , deshalb könne die von
technokratischen Effizienzvorstellungen mit dem völkischen, rassistischen, »altdeutschen« und sexistischen Ideologiefetzen des Nationalsozialismus verpacken und diese Mischung dem DAF-Fußvolk dann als »Deutsche Rationalisierung« verkaufen. Der Einfluss dieses Instituts auf die junge technische Intelligenz, der in den sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Dissertationen ab 1938 deutlich zum Ausdruck kommt, ist nicht erstaunlich: waren es doch die einzigen einigermaßen kohärenten Äußerungen von autorisierter NS -Seite. Die Schriften des Instituts waren meist für den »internen Gebrauch« gedacht, waren also nicht von Rücksichtnahmen auf die Öffentlichkeit bestimmt. 41 Jahrbuch 1936, hrsg. vom Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront, S. 189 ff. 42 Zur Lohnproblematik vgl. Mason: Arbeiterklasse 1975; Siegel: Lohnpolitik im nationalsozialistischen Deutschland 1982. 43 Die sozialen Auswirkungen der Rationalisierung 1932, S. 355.
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Taylor entwickelte Arbeitsorganisation nicht unverändert auf die deutschen Verhältnisse übertragen werden.44 Aber es war m. E. wohl weniger der Mangel an potenziellen Arbeitskräften in Deutschland – die Arbeitslosenzahl der Weimarer Republik bezeugt es –, die zu diesem umsichtigen Verhalten gegenüber der Arbeitskraft führte, sondern die Existenz des Sozialversicherungssystems. Zu früh verschlissene Fließbandarbeiter und Frühinvaliden sind unter deutschen Umständen eine sehr teure Angelegenheit, während sie in Amerika »weggeworfen« werden können. Die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit der Sozialversicherungen hatten sich schmerzhaft deutlich in der Weltwirtschaftskrise gezeigt. Die deutsche Industrie hatte langfristig drei Möglichkeiten: erstens das Bismarck’sche Sozialversicherungswerk abzuschaffen, was weder die Nationalsozialisten noch eine andere Regierung gewagt hätten. Die zweite Möglichkeit wäre gewesen, eine »deutsche Rationalisierung« durchzuführen, wie sie das AWI und die DAF – verbal – propagierten: geringere Zerlegung der Arbeitsplätze und größere individuelle Variabilität der Geschwindigkeit; es ist anzunehmen, dass die deutsche Industrie damals genauso reagiert hat wie auf heutige Humanisierungsversuche: mit dem Hinweis der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Und drittens die sozialtechnische Lösung: Der Staat muss bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern zur Verfügung stellen, die keinen oder nur teilweisen Zugang zum Sozialversicherungssystem haben und die deshalb ohne zu große langfristige Kosten die schlimmsten der rationalisierten Arbeitsplätze übernehmen. Das NS -Regime hat wesentlich dazu beigetragen, dass bestimmte soziale Gruppen durch ökonomische und soziale Mechanismen – oder durch »einfache« Gewalt – dazu prädestiniert wurden und blieben, diese Arbeiten zu übernehmen. Der Nationalsozialismus hat Frauen, proletarische Frauen, Fremd- und Zwangsarbeiter/innen durch biologische Fixierung, die noch dazu ziemlich ähnlich lautete, verfügbar gemacht. Wie diese biologische Fixierung jedoch in soziale Mechanismen umgesetzt wurde, ist durchaus unterschiedlich für die verschiedenen Gruppen.45 44 Diese Kritik an Taylor hatte in Deutschland vor allem Anfang der zwanziger Jahre zu einer durchaus eigenständigen »deutschen Schule« der Arbeitswissenschaft geführt. Die deutsche Schule ging im Gegensatz zu Taylor nicht von einer permanenten Höchstleistung aus, sondern von einem mittleren Leistungsniveau. Außerdem war in Deutschland die »differenzielle« Arbeitswissenschaft verbreitet, in der es um qualitative Leistungsunterschiede ging, die sich besonders in den Berufseignungstests niederschlugen. 45 Eine biologische Fixierung, sei es aufgrund von Geschlecht, Rasse, Alter, physischen oder sozialen Kennzeichen, ist erst einmal nichts anderes als ein Anknüpfen an bereits vorhandene ideologische Muster und soziale Verhaltensweisen. Der Herrschaftsapparat (oder eine Herrschaftsgruppe) kalkuliert diese Mechanismen zynisch ein, denn sie ersparen ihm den beständigen Eingriff. Die ideologischen Muster und sozialen Mechanismen aber sind unterschiedlich gegenüber Frauen, Juden, polnischen Zwangsarbeitern etc. Meist reichen die vorherberechneten Mechanismen jedoch nicht, um eine gewünschte Arbeitsleistung zu erzwingen. Es müssen zusätzliche Mittel eingesetzt werden, und die sind wiederum auch unterschiedlich für die verschiedenen
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Die biologische Qualifizierung zur Fließbandarbeit Aussagen zur »Eignung« von Frauen für bestimmte Arbeiten, sind (bis heute) so in patriarchal-ideologischen Nebel eingehüllt, dass dahinter kaum die Struktur festgestellt werden kann. Sehen wir uns deshalb an, was zu den männlichen deutschen Hilfsarbeitern, einer Gruppe, die ebenfalls zur extrem taylorisierten Arbeit prädestiniert zu sein scheint, gesagt wird. … (es) liegt nahe, die Ungelernten als eine Gruppe von Volksgenossen anzusehen, denen das Schicksal den Segen einer Ausbildung verwehrt hat. … Eine solche Betrachtungsweise ist aber schon im Ansatz verfehlt, ist materialistisch gedacht. Sie unterschätzt die im Menschen selbst liegenden Antriebe … die Umstände, (die) in seiner biologischen Qualifizierung liegen. Deshalb könne auch die »biologische Minderqualifizierung der Ungelernten … nicht beseitigt werden durch eine übertriebene Steigerung der Ausbildungsgüte. Sie ist gebunden an das Rasseproblem und an die Frage der Gattenwahl.«46 Bei der Frau ist die biologische Minderqualifizierung weniger allgemein, sondern schon auf bestimmte Arbeiten ausgerichtet: … Einige äußere Eignungsverschiedenheiten der Frau hängen von ihrer körperlichen Konstitution ab, so beispielsweise … die höhere Empfindlichkeit des Tast- und Temperatursinnes sowie das Bewegungsfeingeschick der Hand; … wobei die Frau sogar einen Bewegungsgrad und eine Geschicklichkeit erreicht, die beim Manne niemals zu finden wäre. Aber auch die weibliche Intelligenz ist anders gelagert als die männliche. Dies ist der Grund dafür, dass die meisten Frauen im technischen Denken versagen und im abstrakten Denken und Beobachten, … hinter dem Mann zurückstehen. Es eignen sich deshalb Frauen auch seltener für alle Arbeiten, die weitgehend technisches Verständnis oder Sinn für Arbeitsplanung erfordern.47 In einem Gutachten des AWI zur »Einsatzfähigkeit von Arbeitskräften für Fließbandarbeiten« erfolgt die praktische Umsetzung. Die Mehrzahl der Ungelernten, so heißt es, seien nicht monotonieempfindlich, sondern sie »stört sogar dauernder Wechsel und verringert ihre Leistungsfähigkeit. Insbesondere genen Gruppen: Bei den Zwangsarbeitern/innen war es direkte physische Gewalt, bei deutschen Frauen meist jedoch eine Reihe von sozialen Kontrollmechanismen (Drohungen, sozialer Druck) bis hin zum ökonomischen Zwang. Wenn zum Schluss die Deutsche und die Polin – beide unfreiwillig – am selben Fließband stehen, dann haben sie nicht dieselben Zwänge dahingebracht, und es sind auch nicht dieselben Mechanismen, die sie dort gehalten haben. 46 Zur Frage der Ungelernten, in: Jahrbuch 1940 /41, S. 334 u. 341. 47 Zum Arbeitseinsatz der Frau in Industrie und Handwerk, in: Jahrbuch 1940 /41, Teilband I , S. 383.
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winnt diese Erkenntnis Bedeutung beim Arbeitseinsatz der Frau«. Denn es habe sich gezeigt, »dass weibliche Arbeiterinnen (!) gleichförmige Tätigkeiten besser vertragen sollen, also für monotone Tätigkeiten, mithin für Fließbandarbeit, gut bzw. besser geeignet sind als der Durchschnitt der männlichen Schaffenden«.48 Allerdings wird die Monotoniefreudigkeit der Frau – im Gegensatz zur Fingerfertigkeit – nur noch aus der praktischen Erfahrung begründet, denn es hatten sich in der Ideologieproduktion der 20er und 30er Jahre kleine Unstimmigkeiten ergeben: Die Arbeitswissenschaften der 20er Jahre hatten sich in ihrem Bemühen, Eignungsunterschiede zwischen deutschen Männern festzustellen, hauptsächlich an den »Typenlehren«, wie z. B. der von Kretschmer, orientiert.49 Wenn es überhaupt ein experimentell »abgesichertes« Ergebnis der Arbeitswissenschaften der 20er Jahre gab, dann das, dass introvertierte Menschen (oder Leptosome nach Kretschmer) Monotonie leicht vertragen, während extravertierte (oder Pykniker) stark monotonieempfindlich seien.50 Nun gehören nach Kretschmer Frauen zu einem sehr großen Teil eher zum pyknischen Typ, wären demnach extrem monotonieempfindlich. Ähnlich große Schwierigkeiten ergaben sich mit der Beziehung zwischen Rasse und Fließarbeit: Einerseits wurde von den Experten bestätigt, dass der »ostische oder ostbaltische« Mensch in der Regel recht gut, der »nordische oder fälische« Mensch dagegen weniger für Fließ- und im besonderen Bandarbeit geeignet sei. Dem steht nun aber wieder die eigene Rasselehre entgegen, wonach der nordische Mensch introvertiert, der ostische aber extravertiert ist, woraus sich logischerweise ergibt, dass der »wertvolle« nordische Mensch (Mann) ans Fließband müsste.51 Die NS -Arbeitswissenschaftler machten sich noch nicht einmal die Mühe, diesen Widerspruch aufzulösen. Ebenso vermittelt der aus allen verfügbaren sexistischen Stehsätzen der damaligen Zeit zusammengeklaubte Hauptartikel des AWI zur Frauenarbeit den Eindruck, dass es nicht mehr darum ging, irgendjemanden zu überzeugen, ja, dass sie noch nicht einmal an ihren eigenen ideologischen Unsinn glaubten.52 Es ging nur noch um Durchsetzung. Und die war 48 Die Einsatzfähigkeit von Arbeitskräften für Fließbandarbeiten, Jahrbuch 1939, Teilband I , S. 447 u. 450. 49 Die Typenlehren erlebten – nach einer wechselvollen Geschichte seit den alten Griechen – in der Weimarer Republik eine neue Blüte. Sie versuchen generell die Affinität zwischen Körperbau und bestimmten Charaktereigenschaften zu systematisieren und theoretisch zu untermauern. (Ihre Attraktion für Rassentheoretiker ist offensichtlich.) Der Psychiater Ernst Kretschmer wurde mit seinem Buch »Körperbau und Charakter« (1921) einer der bekanntesten. Für Arbeitswissenschaftler, die eigentlich aus einer anderen Tradition, dem Behaviorismus, kamen, schien sich mit den Typenlehren eine Möglichkeit zu bieten, die diversen psychotechnischen Einzeldaten in einen sinnvollen und »praxisnahen« Zusammenhang zu stellen. 50 Vgl. Wunderlich: Die Einwirkung einförmiger zwangsläufiger Arbeit auf die Persönlichkeitsstruktur 1925; s. auch Göttinger Schule der damaligen Zeit. 51 Die Einsatzfähigkeit von Arbeitskräften für Fließbandarbeiten, Jahrbuch 1939, Teilband I , S. 447. 52 Zum Arbeitseinsatz der Frau, Jahrbuch 1941 /41, Teilband I , S. 373 ff.
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um so dringlicher, als – 1940 – wieder die Gefahr bestand, dass eine größere Anzahl von Fabrikarbeiterinnen auf (unveränderte) »männliche« Arbeitsplätze rutschen würde. Der Schock des Ersten Weltkrieges, den sie übrigens in Hinblick auf den Fraueneinsatz genau studiert hatten, steckte ihnen noch in den Knochen: eine Masse von aufmüpfigen Frauen, die am eigenen Leibe erfahren hatten, dass »Männerarbeiten« nicht nur nicht schwerer sind als ihre »leichten Frauenarbeiten«, sondern meist sogar interessanter, und die sich dieses Mal wahrscheinlich noch schwieriger an ihre Fließbänder »zurückgliedern« lassen würden. Schlimmer noch: Sie hatten damals Männerlöhne gefordert – und taten es schon wieder! Da die NS -Experten nach dem »Endsieg« nicht mit einer alles bereinigenden Arbeitslosigkeit rechneten, sondern im Gegenteil mit einem noch größeren Bedarf an weiblichen Arbeitskräften (s. o.), mussten sie befürchten, dass die seit Ende der Weimarer Republik mühsam gezimmerte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern mitsamt ihrer immer noch wackligen ideologischen Begründung überrollt werden würde. So ist die in jenem Artikel häufig wiederholte, dringliche Mahnung, die Arbeitsplätze »weiblich« zu gestalten (d. h. zu zerlegen) und Frauen um Gottes willen nicht in das Innere einer Maschine gucken zu lassen, nicht Ausdruck eines besonders krassen Paternalismus, wie Mason meint, sondern Teil ihrer Furcht vor einer neuen »Novemberrevolution« (1918). Eile tat not, und man hatte nicht die Zeit, eine ausgefeilte Ideologie zu erarbeiten. All das, was die AWI -Experten »wissenschaftlich« zu den spezifisch weiblichen Arbeitsfähigkeiten zu sagen hatten, war schon in der Weimarer Republik ideologisches Allgemeingut. Autoritäten wie der Psychologe Fritz Giese53 und der Wiener Mediziner Richard Hofstätter54 hatten eine ganze Generation auch der progressiven jungen Intelligenz beeinflusst. So war die Eignung der Frau zur Fließbandarbeit mit ihren dazugehörigen Qualifikationen: monotoniefreudig, fingerfertig, begrenztes Interesse und technische Dummheit bereits in der Weimarer Republik wissenschaftlich etabliert. Im Nationalsozialismus erfolgte eine zunehmende biologische Fixierung und damit eine Verlagerung von den »Erfordernissen des Arbeitsplatzes« zum »Wesensmerkmal der Frau«. Hatten doch Metallindustrielle vor dem Ersten Weltkrieg in einer Befragung des »Ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen« noch ziemlich deutlich gesagt, wohin die Entwicklung gehen wird und was sie brauchen: Die Tendenz geht dahin, die Intelligenz auszuschalten und durch maschinelle Einrichtungen, bestimmte Methoden usw. ungelernte Leute zu beschäftigen. Die Frauenarbeit wird auch in unserer Industrie (Elektrotechnik) … weitere Fortschritte machen. 53 Aus der ungeheuer breiten Literatur der Weimarer Zeit zur »Psychologie der Geschlechtsunterschiede« sei hier nur Fritz Giese genannt, weil er gleichzeitig als einer der Experten für Arbeitswissenschaften der damaligen Zeit galt: Giese: Psychologische Beiträge 1916; ders.: Körper Seele 1924; ders.: Die Frau als Atmosphärenwert 1926. 54 Hofstätter: Die arbeitende Frau 1929.
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Und: Wir nehmen am liebsten Mädchen ohne jede Vorbildung und bevorzugen jedenfalls solche, die noch nicht in einem anderen Betrieb unserer Branche tätig waren, damit wir sie den Anforderungen, die unser Spezialbetrieb stellt, möglichst genau anpassen können.55 In der Literatur der 20er Jahre werden diese Erfordernisse des Arbeitsplatzes immer mehr zur »Eignung« und »Fähigkeit« der Frau, wobei offen bleibt, ob sie durch Erziehung zustande gekommen sind oder auf Veranlagung beruhen, bis sich schließlich im Nationalsozialismus das Verhältnis umkehrt, die Einrichtung von Fließbandarbeit geradezu gefordert wird, wenn Frauen eingestellt werden, denn grundsätzlich sei dem weiblichen Denken und Fühlen bis ins Kleinste unterteilte Arbeit – und hier im Besonderen die Bandarbeit – am nächsten.56 Eine rasse- oder geschlechtsbiologische Festschreibung ist zunächst einmal nichts anderes als ein Mittel zur Durchsetzung der Arbeitsteilung, das, wenn es sich als sozialer Mechanismus eingespielt hat, auch die Angebotsseite des Arbeitsmarktes beeinflusst: Frauen kommen gar nicht mehr auf die Idee, etwas anderes zu wollen als die ihnen auf den Leib geschriebenen Arbeitsplätze. In dem vorangegangenen Abschnitt kam es mir darauf an, zu zeigen, dass die uns heute so vertrauten Muster der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Industrie erst in der Zwischenkriegszeit durchgesetzt wurden. Die biologische Festschreibung mag nun zwar ein ausgezeichnetes Mittel sein, bestimmte Menschengruppen an das Fließband zu zwingen, sie garantiert aber noch nicht, dass diese Menschen auch arbeiten, dass sie das Letzte aus sich herausholen. Damit kommen wir zu dem oben erwähnten Punkt der Arbeitsmotivation zurück.
Die Mutter am Fließband Sehr viel mehr als heute waren sich damals die »Sozialtechniker« und andere leitende Herren bewusst, was für eine unmenschliche Arbeitswelt sie da einrichteten. In den meisten arbeitswissenschaftlichen Studien der 20er Jahre ist zumindest noch ein Verwundern darüber zu spüren, dass Menschen unter den neuen Bedingungen überhaupt noch einen Finger rühren. Ihre Einsicht konnte sich zu sozialapokalyptischen Visionen steigern: Je näher der Arbeiter als Person seiner Arbeit steht, desto eher wird sie ihn auch bei niedrigem Lohn befriedigen. Je geringer die innere Bindung zwischen Arbeiter und Arbeit ist, desto mehr empfindet sie der Mensch als Zwang und Last, desto rascher ermüdet er, desto mehr wird er entseelt, desto mehr wird er von Erde und Heimat losgelöst, desto unzufriedener wird er, 55 Altmann-Gottheiner: Die Entwicklung der Frauenarbeit in der Metallindustrie 1916, S. 18 f. u. 8. 56 Zum Arbeitseinsatz der Frau, Jahrbuch 1941 /41, Teilband I, S. 399.
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desto gröber und hitziger wird sein Verlangen nach Zerstreuung und Lust in der Freizeit, desto größer werden seine Ausgaben für den inneren Ausgleich, desto größer seine Lohnansprüche; desto geringer sein Altruismus, desto größer sein Egoismus. Mächtiger Egoismus bei geringem Persönlichkeitswert und geringer Welteinsicht ist aber die Zerstörung.57 Da sich Geschichtenvorlesen und Hintergrundmusik, die schon damals erfunden worden waren, wohl doch nicht als adäquate Mittel zur Bekämpfung der »Entseelung« erwiesen hatten, kam man zu der Einsicht: »Nur wenn der Erwerbsarbeiter gleichzeitig starke nationale, politische, familiäre, religiöse Bindungen hat, hält er seine Tätigkeit gut aus.«58 Die nationalsozialistischen Arbeitswissenschaftler des AWI mochten sich nun nicht auf die nationalen und politischen Bindungen als Arbeitsmotivation verlassen. Sie lehnten auch das Konzept des »Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung« (DINTA ), das von der Schwerindustrie kontrolliert wurde, aus volksbiologischen Gründen ab. Dieses DINTA -Konzept sah eine Gliederung der Belegschaft in eine »Stammarbeiterschaft« von werksverbundenen Facharbeitern und einem »beruflich nicht verwurzelten Gros« vor.59 Die Vorstellungen der NS -Experten von einer »deutschen Rationalisierung« sahen dagegen, grob skizziert, folgendermaßen aus: Der Facharbeiter oder gelernte Arbeiter sollte weitgehend abgeschafft und nur noch zu Ausbildungszwecken eingesetzt werden. Stattdessen sollte die Gruppe der angelernten Arbeiter oder »Spezialarbeiter«, wie sie nun genannt wurden, die Hauptkategorie der deutschen Arbeitskräfte werden. Grundsätzlich befürworteten sie also eine Zerlegung der Arbeitsplätze und Berufe, ja wollten sie sogar noch weiter vorantreiben, als es die deutsche Industrie (bis dahin) getan hatte, aber nur bis zu dem Punkt, an dem die neu entstehenden Wirkungskreise noch Berufscharakter trugen. Die Bildung eines »Berufsethos« sollte jedem deutschen Manne auf seinem Arbeitsplatz möglich sein, auch dem Hilfsarbeiter, der sich entweder als »Spezialhilfsarbeiter«, z. B. zur Bedienung verschiedener Automaten, oder zum »Universalhilfsarbeiter« qualifizieren können sollte. Die Arbeitsmotivation beim deutschen Arbeiter sollte einmal durch dieses so erzeugte »Berufsethos« und zum anderen durch eine differenzierte Hierarchisierung, die durch die Aufsplitterung eines Facharbeiterberufes zu schaffen sei, garantiert werden. Dieser Vorschlag hatte 57 Hofstätter: Die arbeitende Frau 1929, S. 4. 58 Ebd., S. 5. 59 Das »Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung« (DINTA ) wurde hauptsächlich von deutschen Stahlkonzernen in den zwanziger Jahren ins Leben gerufen. Es war in seiner ideologischen Ausrichtung konservativer als ähnliche Institutionen. Sein Bemühen im »Kampf um die Seele des Arbeiters« konzentrierte sich hauptsächlich darauf, in den Betrieben einen Stamm von betriebstreuen und gewerkschaftsfeindlichen Elitearbeitern, natürlich Männer, zu bilden. Vgl. Brady: The Rationalization Movement in German Industry 1933, S. 82, 101, 120, 187 ff. Das DINTA bestand während des »Dritten Reiches« weiter und arbeitete eng mit dem arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront zusammen.
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aber auch einen ganz handfesten ökonomischen Hintergrund: durch die verfeinerte Hierarchisierung und Differenzierung sollte das Lohnniveau gehalten bzw. gedrückt werden. So schreibt das Reichsarbeitsministerium an die Reichstreuhänder der Arbeit im Jahre 1940: Bisher ist die Entlohnung nach den Kategorien: gelernt – angelernt – ungelernt ausgerichtet. Dieser Maßstab ist heute unzureichend. Mehr als bisher muss die Entlohnung in Zukunft von der Wertigkeit der Arbeit abhängig gemacht werden. In neuen Lohngruppen müssen alle Arbeitsvorgänge gleichen Wertes zusammengefasst werden, um so dem Arbeiter eine bessere Aufstiegsmöglichkeit zu bieten und damit den Anreiz zu weiterer Leistungssteigerung auszulösen. Außerdem lehrt die Erfahrung, dass nur bei weiterer Aufgliederung der Löhne der Lohnstand wirklich gehalten werden kann.60 Ab 1938 war das AWI in Verbindung mit dem Reichsarbeitsministerium und den entsprechenden Industriegruppen darangegangen, solche neuen Berufsgänge zu schaffen.61 Diese AWI -Konstruktion hatte aber den bedeutenden Nachteil, dass aus der Gruppe der männlichen deutschen Arbeiter fast niemand zur Fließbandproduktion verfügbar gewesen wäre. Dieses Fließbandproletariat musste also weitgehend aus den Frauen der Arbeiterklasse rekrutiert werden – Mutterschaft hin oder her. Wie dringend sich das Problem stellte, zeigt, dass z. B. bei den Opel-Werken sogar noch ältere Herzkranke »Fließbandarbeit wegen ihrer Leichtigkeit« ausführten, wodurch es möglich sei, die Arbeitskraft auch noch im höheren Lebensalter voll auszuwerten.62 Aber man solle den älteren Arbeiter mehr als nur einen Handgriff ausführen lassen, »damit […] er innerlich beteiligt sei und den Sinn seiner Arbeit nicht aus dem Bewusstsein verliert«.63 Wie einfach gestaltete sich dagegen doch die Sinngebung bei den Frauen. Schon Hofstätter hatte 1929 gefolgert: Die Frau verträgt die sie psychisch unberührt lassende Erwerbsarbeit sehr gut, wenn sie andere seelische Bindungen genügend starker Art außerhalb der Erwerbsarbeit hat. Die natürliche Bindung ist die Familie, die Liebe und Pflege des Mannes, der Kinder, der Eltern. In diesem Kreis ist für die richtige Frau alles »Beruf«, edelster Beruf.64 Dieser Ansatz wurde von den NS -Arbeitswissenschaftlern ausgebaut.65 Dies begann bereits bei den Richtlinien für die Anwerbung von weiblichen Arbeitskräften: 60 Reichsarbeitsminister an die Reichstreuhänder der Arbeit, 9. 2. 1940, Bundesarchiv Koblenz: R 41 /57, Blatt 4; zit. nach Siegel: Lohnpolitik im nationalsozialistischen Deutschland 1982, S. 60. 61 Schnelle: Die Entwicklung der gewerblichen 1941, S. 83 ff. 62 Berufsschicksal und Arbeitsbeanspruchung, Jahrbuch 1940 /41, Teilband II , S. 208 f. 63 Ebd., S. 208. 64 Hofstätter: Die arbeitende Frau 1929, S. 5. 65 Zum Arbeitseinsatz der Frau, Jahrbuch 1941 /41, Teilband I, S. 373 ff. Alle folgenden Zitate sind diesem Aufsatz entnommen. Die Zahlen in Klammern bezeichnen die
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Da die Erwerbsarbeit für die Frau nur ein Mittel zur Sicherstellung der typisch weiblichen ideellen Ziele in der Häuslichkeit und in der Familie darstelle, »hat die weibliche Werbung sich auf den Sinn für häusliche Ziele einzustellen«. (385) Die Arbeit selbst soll unkompliziert und leicht erlernbar sein und von der Frau möglichst wenig Umstellung verlangen. (387) Deshalb sei es auch erforderlich, neue Anlernmethoden zu entwickeln, »die weniger auf einer pädagogischen Durchführung des gesamten Arbeitsablaufes beruhen als auf einem richtigen Eindrillen ganz bestimmter Arbeitsgriffe«. (378) Auf keinen Fall dürfe sie durch die Arbeit aus ihrer Verwurzelung in der Häuslichkeit gelöst werden (386), vielmehr solle ihr der Arbeitsplatz die »Freiheit der Gedanken« lassen, womit auch das leidige Monotonieproblem aufgehoben wäre: »Lässt die Bandarbeit somit der Frau die Möglichkeit offen, persönliche Dinge ohne Beeinträchtigung der Leistung zu überdenken, so ist natürlich die dem männlichen Denken entsprechende Bindung an die Arbeit weitgehend gelöst.« (399) Da sie auch noch zu Hause eine erhebliche Arbeit mit voller Verantwortung zu leisten hat, werde sie bereits so stark belastet, dass man ihr im Betrieb nicht noch zusätzlich eine größere Verantwortung aufbürden wolle und könne. »Die Folgerungen für die Arbeitsgestaltung weisen daher eindeutig auf eine größtmögliche Vereinfachung der Arbeit und damit auf eine starke Arbeitsteilung hin.« (392) Man war sich natürlich damals darüber klar, dass der Drill und die Gewöhnung, die notwendig sind, um Menschen bei solch »größtmöglicher Vereinfachung der Arbeit« zu halten, »Schäden« verursacht. Soll diesen Schäden bei den »biologisch minderqualifizierten« Männern durch »geeignete Freizeitmaßnahmen« begegnet werden,66 so ist selbst das bei Frauen überflüssig: »Die Arbeit im ›angeborenen‹ Beruf ist der beste Ausgleich, die beste Erholung, wenn tatsächlich genügend Zeit dafür belassen wird.« (400) Auch auf bleibende Schäden braucht keine Rücksicht genommen zu werden, schützt doch der angeborene Beruf die Sozialversicherung vor unangenehmen Folgekosten. »Nach den Erfahrungen der Industrie können Frauen schon in jüngerem Alter, als das bei Männern zweckmäßig erscheint, zum Einsatz für Bandarbeit gebracht werden.« Seitenzahl. Dieser Aufsatz ist zwar als Anleitung zur Beschäftigung von »arbeitsungewohnten« Ehefrauen von Beamten, Angestellten und – z. T. – von Facharbeitern geschrieben worden, die man versuchte, in die Rüstungsproduktion zu ziehen. Trotzdem ist es m. E. möglich, ihn stellenweise auf »normale« Fabrikarbeiterinnen anzuwenden, denn ein Teil der Ausführungen beansprucht generelle Gültigkeit (z. B. die lange Einleitung über die biologisch mindere Arbeitsfähigkeit der Frau). Andererseits ist der Artikel in sich selbst uneinheitlich: So beziehen sich z. B. die Warnungen, die Frauen ja nicht aus ihrer Häuslichkeit herauszulösen, explizit auf »normale« Arbeiterinnen, denn es war kaum zu erwarten, dass es den Aushilfskräften so gut in den Fabriken gefallen würde, dass sie nicht wieder gehen würden. Vielmehr hatten es besonders Fabrikarbeiterinnen immer wieder an Sinn für Häuslichkeit mangeln lassen (vgl. Sachse: Hausarbeit im Betrieb 1982). Es wurden im Folgenden nur solche Zitate ausgewählt, die sich ihrer Tendenz nach mit anderen Artikeln, die sich eindeutig auf Arbeiter / innen beziehen, verifizieren lassen. 66 Zur Frage der Ungelernten, Jahrbuch 1941 /41, Teilband I , S. 346.
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die fr au im w esensgem ä ssen einsatz
Und: »… auch im Alter (ist die Frau) in der Regel noch leichter umstellbar und beruflich in gewissem Grad wendiger als der Mann und wird daher auch für Fließbandarbeit leichter anzulernen sein als Männer desselben Alters.«67
Von Hitlers Reservearmee zur psychotrainierten Mutter Es erübrigt sich fast, ein Fazit aus den Zitaten zu ziehen. Das zynische Einplanen von Mutterschaft als Arbeitsmarktregulativ, von Hausarbeit als Ausgleichssport für Fließbandarbeit, von Familienleben als Sinn für sinnentleerte Arbeit, kurz, die »Gestaltung« der Doppelbelastung ist offensichtlich. Mutterkreuz und Arbeitsbuch sollten im »Tausendjährigen Reich« zumindest für proletarische Frauen kein Gegensatz sein, sondern zusammengehören. Was hier von den NS -Technokraten in der Mischung von bereits vorgefundenen sozialen Tendenzen und Vorurteilen, ökonomischer Berechnung und von arbeitswissenschaftlichem und sozialplanerischem Kalkül der Großindustrie angedient wurde, sollte sich in der Realität erst nach 1945 voll auswirken. Wenn sozialwissenschaftliche Untersuchungen der 60er Jahre feststellen, dass, je geringer die Qualifikationen und Arbeitsplatzmöglichkeiten seien, desto mehr bei den Arbeiterinnen ein familienorientiertes Verhalten vorherrsche, und dass junge Hilfsarbeiterinnen sich von Jahr zu Jahr mehr mit der Ehe beschäftigen, je mehr sie die Hoffnung aufgeben müssen, an ihrer Berufssituation etwas zu verändern, dann bedeutet das nichts anderes, als dass die Rechnung aufgegangen ist: Von einer monotonen Arbeit in die Ehe getrieben; aus der Enge, Abhängigkeit und Langeweile der Kleinfamilie und durch den ökonomischen Zwang auf den Arbeitsmarkt zurückgetrieben, bilden sie genau das variable, »flüssige« Fließbandproletariat, das den vollen Schutz der Sozialversicherung nie erlangen kann.68 Auch das Rollenbild der Frau wurde so modernisiert, dass Beruf und Familienmutter in ihm enthalten sind, wobei nur je nach Arbeitsmarktlage das eine oder andere Element stärker betont werden muss: Von der hehren Heldenmutter in der Kriegsproduktion, die für Mann und Söhne Handgranaten dreht;69 über das Vielzweckmöbel der 50er Jahre – patente Aufbaukameradin und moderne Mutter – zur kessen Karrieristin der 60er und 70er Jahre; bis hin zur psychotrainierten Mutter von heute, die sich entsprechend der Arbeitsmarktlage und (eventuell) mit einer Familienunterstützung versehen zurückzieht, um sich dem leistungsgestressten Mann und den Kindern ganz zu widmen. Die Zeit des Nationalismus hat also durchaus einen »modernisierenden« Effekt auf die Frauenarbeit gehabt, wenn man darunter eine effektivere und reibungslosere Ausbeutung der Arbeitskraft versteht und Modernisierung nicht 67 Vgl. Die Einsatzfähigkeit von Arbeitskräften für Fließbandarbeiten, Jahrbuch 1939, Teilbnd I , S. 447 u. 450. 68 Vgl. Pfeil: Die Berufstätigkeit von Müttern 1961; Höhn: Das berufliche Fortkommen der Frau 1964; Kritik an diesen Arbeiten: Frauenarbeit und technischer Wandel 1973. 69 Rupp: Mobilizing Women 1978.
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als quasi automatisches Vehikel zum Reich der Freiheit und der Gleichheit, des Wohlstands und der Demokratie begreift, wie es die Modernisierungstheoretiker zumindest implizit tun. Zwar ist dem industriellen Kapitalismus eine schon von Marx festgestellte Tendenz zur Egalisierung bzw. Nivellierung der Arbeitskräfte immanent, die der Kapitalismus aber eher als Widerspruch mit sich herumschleppt und nicht als bewusste oder auch nur geduldete Entwicklungstendenz vorantreibt. Vielmehr braucht er überlebensnotwendig eine Differenzierung und Hierarchisierung des Arbeitskräftepotenzials zur Sicherung seines ökonomischen und politischen Systems. Die unvermittelte Ökonomie ist jedoch unfähig, aus sich selbst heraus geordnete, gesamtgesellschaftlich relevante – und nur so wirksame – Hierarchisierungen und konsistente Gruppen von besonders Ausbeutbaren, von Paria, hervorzubringen. Sie braucht traditionelle Muster, also Überreste früherer Hierarchien und / oder die helfende Hand des Staates, um eine Differenzierung in der arbeitenden Bevölkerung durchzusetzen. Das wird in der Entwicklung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung besonders deutlich.70 Um wie vieles dringlicher war die ordnende Hand des Staates in der Zwischenkriegszeit! Die revolutionären Veränderungen im Produktionsapparat hatten nicht nur die alten Muster der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern aufgebrochen, sondern brachten auch eine Umwertung aller Werte. Wenn plötzlich fünf ungelernte Arbeiterinnen an einem Tag das produzieren, was vorher fünfzehn Facharbeiter in einer Woche hergestellt hatten, wenn der Wert der Arbeitskraft auch nicht am Wert des fertigen Produktes gemessen werden kann, weil Mann wie Frau nur ein paar Schrauben anziehen, dann kann man sich vorstellen, dass es nicht genügte, ein paar Ideologiefetzen aus dem 19. Jahrhundert hervorzuziehen, um den niedrigen Wert der Frauenarbeit und den höheren der Männerarbeit zu begründen. Da musste man schon in die graue, unkontrollierbare Vorzeit, zu den alten Germanen zurückgehen und besser noch in die noch fundamentalere, noch irrationalere Biologie. Die atavistischen und irrationalen Züge des NS -Regimes stehen durchaus nicht im Gegensatz zu dem modernen Wirtschaftssystem, sondern sie sind, wie ich an der Durchsetzung des Fließbandproletariats zu zeigen versuchte, Grundlage der jüngsten und modernsten Form der Arbeitsteilung.
70 Vgl. Gerhard: Verhältnisse und Verhinderungen 1978, S. 52. So stellt Ute Gerhard für das 19. Jahrhundert fest, dass die Differenzierung bürgerlicher Berufschancen für Männer und Frauen nur dann hinlänglich erklärbar sei, wenn man sie im Zusammenhang mit einem Knäuel aus rechtlicher Disziplinierung und familiärer Ideologie sehe.
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Commentary on »Die Frau im wesensgemäßen Einsatz« »Die Frau im wesensgemäßen Einsatz« offers an ambitious and original analysis of the ideological attitudes and state policies toward women’s waged work under National Socialism as well as of the material and experiential reality of that work. Tröger reconstructs the many factors and actors that cooperated and competed to construct working-class women as a flexible »rationalization proletariat.« They were an essential part of Nazi Germany’s rearmament and war economies, even as the regime insisted that their true vocation was marriage and motherhood. Tröger’s essay was written in the late 1970s, as part of the outcome of her seminars at the Otto Suhr Institut of the Freie Universität Berlin on Frauen und Faschismus as well as well as the preparation of her Kiezprojekt with Women in her work in the Frauenfaschismusforschung project at the Freie Universität. It responded to and provocatively challenged several major contributions on the theme of women, work, and family under National Socialism by Jill Stephenson, Dörte Winkler, Tim Mason, and Stefan Bajohr.1 Rejecting arguments about the primacy of politics or economics, she explored competing interests and intentions both within the party, state, and capital and between them, and she highlighted the resulting policies and practices that were implemented. She insisted on analyzing Nazi policies toward women, work, and motherhood in an expanded time frame that assessed gendered economic developments both before 1933 and after 1945, and put these within the context of 20th-century German capitalism. She carefully disaggregated the category of women, insisting that the state and party did not view women as a homogeneous group. Nor did women of different classes respond in similar ways to the ideological overtures and economic pressures of the regime. Finally, Tröger offered a nuanced answer to the much-debated question of whether National Socialism was modern and/ or had modernizing effects whether intentional or not. Let me elaborate on each of these contributions. Tröger offers not a long theoretical exegesis of the relationship of capitalism and patriarchy, but rather a most suggestive exposition of their interaction in a crucial historical period and the lasting effects of that. While »Die Frau im wesensgemässen Einsatz« by no means ignores Nazi ideology or the very prominent place of gender in it, Tröger insists that feminist scholars should not focus exclusively or even primarily on Nazi visions of the ideal woman as wife and mother, devoted to home, husband, and family, and withdrawing from both waged work and politics. Nor should they view deviations from this ideal as 1 Stephenson: Women in Nazi Society 1975; Winkler: Frauenarbeit im »Dritten Reich« 1975; Bajohr: Die Hälfte der Fabrik 1979. Mason: Women in Germany 1976.
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reluctant concessions to the regime’s desire for rearmament and war. She suggests four determinants of when, where, and how working-class women were employed. The first was Nazi gender ideology, for the party propagated an ostensibly traditional and properly »Aryan« vision of women as wives and mothers and the state intervened massively to shape marriage, fertility, women’s work, and their political roles or lack thereof. But ideology alone did not determine women’s labor force participation, the gendered character of labor markets, and the sexual division of labor on the factory floor. The needs of rearmament and then war were enormously influential in not only increasing the demand for labor but also for the kind of rationalized, Taylorized assembly line work so central to munitions and other related war industries. A third factor at play was capital’s desire for cheap labor, regardless of whether it was female or male. Industry’s cooperation with the Nazi regime had to be purchased with concessions to its profit concerns. The fourth factor was working-class women’s need to earn a wage and their preference for factory work over agricultural labor or domestic service. Tröger deftly traces the contestation and negotiation among these factors as working-class women’s labor force participation was constantly recalibrated when the German economy moved from the relative prosperity of the mid-late 1920s into the depression and then onto rearmament and full employment and eventually to the war economy. The percentage of women in particular industries and the labor force as a whole at first ebbed and then recovered and remained high. The resulting policies, employment patterns, and sexual division of labor were, she insists, less unintended outcomes or grudging concessions to economic necessity or capital’s power. Rather they were negotiated compromises based on a pervasive recognition within the Nazi movement and state as well as industry that working-class women could not and should not be banned from the labor force. The employed working-class woman, whether young and single or older and married, was not see as violating Nazi gender ideology; rather, she represented an accepted subcategory of that complex worldview. The Third Reich did not mark a sharp break with the development of German capitalism, nor was its gendered division of labor exceptional. To understand how Nazism influenced women’s waged work, Tröger argues, one must go back to World War I . The war economy challenged the sexual division of labor in the economy, and on the shop floor, it altered working-class women’s expectations, working-class men’s anxieties, and capital’s ideas about how to secure cheap and pliable labor. If women were pushed out of the labor force temporarily during demobilization, they were drawn back in massively by the mid and late 1920s rationalization movement. This movement not only greatly increased the demand for inexpensive – read female – assembly line work, but also welcomed such women moving in and out of waged work over their life cycle. One of Tröger’s key contributions is show how the Nazis built on the very modern Weimar rationalization movement to develop a particular »social-technical model« of women’s fluid movement into paid labor in their teenage years and early 276
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ties, then out when they married and raised young children, and then back in as family demands lessened. And this model was to continue in expanded and accepted form after 1945. While acknowledging how traditional many elements of Nazi gender ideology were, Tröger reconstructs how the Arbeitswissenschaftliches Institut, one of the most modern Nazi organizations, developed a distinctly modern approach to working-class women’s labor force participation. She was one of the first to explore the modern and rationalizing ideas and policies of the Nazi regime. Women, according to the AWI , were to be the »rationalization proletariat,« a group ostensibly suited by nature for the expanding number of monotonous, deskilled assembly line jobs. They were also to be a reserve army, who could be drawn in and spewed out according to the needs of capital and the state. As Tröger suggests, creating such a rationalization proletariat and reserve army was no easy task and required the work of both capital and the state. First, the factory floor and labor markets had to be restructured to create more complex hierarchies and differentiation between women’s and men’s work. Second, ideological and pseudo-scientific justifications for women’s innate suitability for monotonous, deskilled work needed to be elaborated. We often tend to think that arguments about women’s nimble fingers, tolerance for repetition, and desire to daydream or think about home and family rather than acquire skills or be challenged by work tasks have been around forever, but Tröger shows that Weimar scientists of work were divided about whether women were, in fact, most or least suited for such work. The Nazis pushed biological arguments for women’s suitability for such deskilled, monotonous jobs and applauded industry’s creation of them. But the Nazi party and state also had to try to persuade working-class women that they should aspire to nothing more than such menial jobs, for their true vocation was to be marriage and motherhood even as they were expected to move in and out of paid labor throughout their lives. Unlike scholars who viewed women in the Third Reich as a homogeneous group or assumed the party and state did so or who generalized from the employment and reproductive history of middle-class women, Tröger insisted that women’s experiences varied by class, occupation, and residence as well as by age. So too did the regime’s policies toward women. Her focus was neither on the more studied middle-class women who were pushed out of employment after 1933 nor on rural women, trapped in agricultural labor that was ideologically valorized but underpaid, exhausting, and undesired. Rather, it is the urban working-class woman whom she persuasively shows was considered economically essential to recovery and rearmament and whose ongoing presence in waged labor was presumed and promoted. She argues that this large category, like its middle-class counterpart, was subject to the movement’s housework and motherhood training, but the aim was to help working-class women manage the double burden rather than devote themselves to family full time. And unlike many middle-class women, who accepted or even embraced their assigned role, working-class women needed to work and in many cases wished to do so. Class, 277
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like gender, remained a structuring principle of the ostensibly classless Volksgemeinschaft. But did working-class women resign themselves to the unskilled, monotonous, and exploitative jobs into which they were shunted and view home and family as the center of their lives despite ongoing employment? In the short run it is not clear, but Tröger suggests that, as women’s employment options narrowed and their fluid movement in and out of the labor force became widely accepted, first by fascism and then by the post-war democratic order, working-class women came to align their self-understanding with the needs of capital and the remarkably similar normative gender order before and after 1945. The attention Tröger paid to the intersection of class and gender was not matched by a similar investigation of the intersection of race, class, and sex. This regrettable neglect was all too typical of 1970s scholarship on women and gender in National Socialism, on the one hand, and of scholarship on Jewish women, which looked primarily at middle-class experience, on the other hand. Nor was the issue of race and forced labor explored; this lacuna reflected the focus of Tröger and others at the time on the years between 1933 and 1939. By paying nuanced and balanced attention to gender ideology and policy, to the logics and needs of capital, and to the political and expansionist aims of the Nazi regime, Tröger is able to show that the Nazi economic system was one stage in and one possible form of modern German capitalism. The traditional and atavistic elements of its ideology and of policies like removing middle-class women from government employment and offering marriage loans were combined with distinctly modern forms of working-class women’s employment and a new, sexual division of labor on the factory floor. The coexistence and complementarity of tradition and modernity was intentional and not, as Schoenbaum,2 Stephenson, and others have argued, an unintended byproduct of an attempted return to an imagined past. During the »Third Reich«, capital and the party state cooperated in forging a modern gender order that reshaped employment patterns, job hierarchies, and the relationship of production and reproduction in class specific ways. To do so, they drew on and partially reshaped earlier gender ideologies in ways that, Tröger suggests, have persisted to the present. Her remarkably sweeping and provocative arguments, delivered in her distinctive direct and forceful style, gave feminists scholars much to think about in the 1980s. Unfortunately, »Die Frau im wesensgemäßen Einsatz« did not receive the attention it merited for several reasons. It was attacked for neglecting race, especially by Gisela Bock. Instead of being encouraged to reconstruct the complex entanglements of race, class, and sex, feminist scholars were urged to choose either race and gender or class and gender as their analytical focus. As scholarly attention turned increasingly away from the Nazi economy to the racial state, works on capitalism and labor were marginalized. That was doubly true for those like Tröger who wrote on working-class women. Neither when she wrote nor in subsequent decades has scholarship on women and gender received 2 Schoenbaum: Hitler’s Social Revolution 1966.
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the attention it merits from male scholars of National Socialism. This is all the more reason to revisit Tröger’s essay, whose analysis of class and gender illuminates some of the central dynamics of Nazi ideology, the Nazi economy, and the continuities of German history.
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Annemarie Tröger
Between Rape and Prostitution. Survival Strategies and Chances of Emancipation for Berlin Women After World War II (1986) In this article I analyze the relations between the sexes in postwar Berlin, in a period when the German people lived under extreme economic, social, and political conditions. As the Hitler regime collapsed and Germany fell into the hands of the Allied armed forces, many suffered from hunger, cold, compulsory emigration, and flight. The time covered begins in the spring of 1945 and continues for 2 years. The article considers postwar Berlin largely through the autobiographical reflections of two women who lived there. These women tell how rape and prostitution became »normal« sexual relations for them and how they thought and felt about what they did. Rape and prostitution have always been regarded as quasi »natural« occurrences during times of want, war, and social unrest. Yet, by isolating them as characteristic of difficult social periods and of fringe groups, we cover up their affinity with »normal« sexual relations. The following stories have the virtue of revealing the connection which exists between rape and prostitution on the one hand and socially legitimate kinds of sexual relations on the other, a connection which is usually hidden during stable periods by morality and state sanctions. It is no longer necessary to prove empirically that there is a relationship between marriage and rape and prostitution, for others have done so already, but it is important to examine concrete examples which let us see this relationship clearly. The »case of Berlin in 1945« is significant for two reasons: (1) rape and prostitution were very widespread; (2) women from the petty bourgeoisie as well as the educated middle class were equally affected and participated in these forms of sexual relations. Given the extreme circumstances, this »historical experiment« raises a number of questions. What happens, for example, to the concepts of bourgeois morality and marriage when great numbers of »decent« women realize from their own experience that prostitution and marriage are not worlds apart, but rather resemble each other closely in their social and economic structure? How does the concept of love and marriage change for women when they come to see the sex »act,« supposedly the highest expression of love, eros, and sentimentality, as the gravest form of humiliation and national submission? Does this expose the cultural horror which is inherent in the double function of the »act«? How do women from educated classes understand this, 280
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those who belong to a tradition, centuries old, which has trained them to believe that masculine drives have been domesticated and heterosexuality sublimated to love? Both women and men remember the first years after the Second World War as a period in which the German woman experienced a certain sexual and social emancipation. While nobody has yet done a serious social-historical investigation of the phenomenon, there are tangible indications of this emancipation in many autobiographical recollections, like the two stories which follow. We also have supporting evidence in literary descriptions, in polls conducted by social scientists during the occupation, and finally in the endless complaints of German men in the newspapers of the late 1940s. Thus it is even more astonishing, and from a feminist point of view more disheartening, that in the 1950s women returned quickly and without noteworthy resistance to very traditional sexual and family relations. Most explanations for this rapid return suggest that the sexual liberation after the war did not reflect the choices of women, that it was dictated to a great extent by economic necessity, by having to support a family. According to this line of argument, the women themselves fled back into the security of traditional sexual relations as soon as possible. Economic conditions after the war even played a significant part in encouraging women to accept traditional roles, for in the redistribution of jobs and incomes, men were shamefully favored after the Second World War in Germany, more than they were after the First. But then why did women fail to resist this »redistribution«? Did the women remain silent because they wanted their men to support the family? This can hardly be so, for the turn toward a new German conservatism did not occur only among women whose husbands came back from the war, or who had the good fortune to hook one of the few single men eligible for marriage. It is significant that the trend also included those women who could never hope to be »provided for« or »protected« by a man: the millions of war widows, divorcées, and unmarrieds. The social and psychological conditions of their lives in the conservative society of the »economic miracle« were brutal. Defined solely by what they lacked, by not having a man, they were treated – even by other women – as second-class citizens and felt themselves to be such. Although by the mid 1950s most of these women no longer lived in bitter economic circumstances, they never gained such a sense of a positive social identity as did the widows of the First World War in their mothers’ generation. And although having a profession was taken for granted by the generation of young women after the Second World War, they never achieved the self-confidence of unmarried working women of the Weimar Republic. Was the phase of women’s emancipation in the 1940s, therefore, only a blossom of chaos, a short, insignificant episode between two patriarchal orders: fascism and bourgeois democracy? Or can we see signs and indications in the process of emancipation itself, which in nuce reveal the trend toward a return to old values? How far could the process of becoming conscious of self-emancipation go at all, even in the most favorable cases, given the contemporary conditions 281
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of want, hunger, and danger to life and limb? Where did the historical situation itself impose limits? To examine these issues, I have chosen two personal testimonies which are to a certain extent extraordinary. They cannot be considered »typical« of the way Berlin women speak about that period today: Both A. in her journal from 1945 and B. in her recollections from 1981 wrote and spoke in a more open manner and in more detail than did their contemporaries about the rape and prostitution which they themselves experienced. They reported more honestly and at the same time in a more self-critical manner about what they thought and did. It is especially noteworthy that both conceived of themselves as actively functioning, decisive, and thinking persons, and not merely as victims of the contemporary situation. But while their testimonies are extraordinary, the experiences of these two women are in no way unusual: Thousands of Berlin women were raped at the end of the war (the numbers given by serious sources vary between 20,000 and 500,000), and thousands prostituted themselves for shorter or longer periods, in order to survive.
A.’s Journal The fate of the book Eine Frau in Berlin1 (A Woman in Berlin) embodies a piece of postwar history in itself. The author, who has remained anonymous until today and who will be designated below as »A.,« released her journal for publication in die early 1950s. It first appeared abroad in 1954. ln the United States alone some 300,000 copies were sold, since its content, if not its intention, was well suited to the atmosphere of the McCarthy Era. Not until 1959 did the book appear in a German edition. We know little about the author. She characterizes herself thus: »A pale blond, always dressed in the same winter coat rescued by chance, employed by a publisher, until he closed his store last week and released the employees til further notice.«2 Since she was 30 years old in 1945, she must have been born in 1915. Unmarried, A. had a »fiancé« at the front, for whom she wrote the journal. She probably came from an educated middle-class family. We can deduce this from her linguistic style and her manner of observation. She is a woman from the army of female white-collar employees, of which there were thousands in Berlin, whose degree of education varied somewhat and who came from a more or less 1 Eine Frau in Berlin 1959. 2 Anonymous: A Woman in Berlin 1954. The original English version by James Stern is the basis for the translations here. On the whole, Stern’s language is much more literary than A.’s journal form would indicate, so that A. loses some of her spontaneity in translation. I have made changes in sections where A.’s meaning was distorted by upgrading her style. [Joan Reutershan].
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»good« home. She corresponded to the type of New Woman of the 1920s: independent but economically insecure, curious and critical, without party affiliation and without an established philosophy, but with a mind of her own. She was ironic to the point of self-irony. Her type was representative of the women who participated in Berlin’s cultural life, the ferment, »the heady feeling« of the city during the »golden twenties.« Although they were repressed and condemned by a male mass culture during the Nazi period, these women, as we will see in the case of A., were not destroyed by it. A. lived in a middle-class quarter. The social composition of the apartment house consisted of mid- to high-level white-collar employees and civil servants, and independent petty bourgeois. There were also some »proletarian implants,« a Belgian forced laborer, the doorman’s wife with two daughters, and the baker’s two women assistants. The proportion of women to men and young (under 40) to old might be considered »typical« for the Berlin population of those days: 12 older women, 12 younger women, 5 older and 3 younger men (including the Belgian), 3 children. An unknown man, who later turned out to be a high-ranking Nazi, and his girlfriend, as well as a German deserter, joined this group. ln this community A. lived out the end of the war; it was here that she recorded in her journal the disintegration of bourgeois morality, scenes of plunder, the proximity of the petit bourgeois rituals and threats to life and limb, the risk of one’s own life for another. The »cellar community« became the most important social group for Berliners in the last 2 years of the war. People spent almost every other night, in the last months every night, and in the last weeks day and night in this community. During the days of the battle of Berlin, it became the most important conveyor of news as well as a cell where opinion was formed. After her attic apartment became uninhabitable because of a bomb attack, A. moved in with a druggist’s widow on the second floor. The latter became A.’s closest confidant in the days of rape. Even the last barrier fell between these two women, who had known each other for only three months in the cellar community: namely the food barrier. Any food that one managed to plunder or otherwise get hold of – including that which she gained through sex – belonged to the other. In short, they formed one of the many »war families.« On April 27 the Russian troops entered A.’s neighborhood and discovered the cellar on the very first day. (Some cellars in Berlin remained undiscovered in the labyrinth of underground passageways beneath Berlin apartment houses.) ln the course of the next 10 days A. was »defiled« five times. On every occasion she was subjected to brutal physical abuse. A. did not count the many times she had more or less compulsory relations with her Russian »protectors« and »providers.« On May 8 – 10 days later – she wrote in her journal that she had just spent the first night without a strange man in her bed. That was not, however, the average »score« for a Berlin woman in those days. Several things made A. a preferred victim. She was young, blond, not pregnant, and had no small children (such women were generally taboo for the Russians). Furthermore, on the basis of her 283
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minimal knowledge of Russian, she became an interpreter for her neighbors, and through this she attracted attention to herself. After the second rape on the first evening, A. noted in her journal: What does defilement mean? When I said this word out loud for the first time in the cellar on Friday evening, an icy shudder ran down my spine. Now I can already think it, already write it down with a calm hand. I say it aloud in order to accustom myself to its sound. It sounds like the absolute worst, like the end of the world, but it isn’t.3 The author of the journal used the old-fashioned, biblical word defilement throughout, although rape was the more common word in the 1940s. Whatever her reason may have been, by repeating »defilement« over and over again, the idea lost its threatening religious overtones and began to seem ridiculous. On the second day during the third rape, A. had one of her worst experiences: When I got up I felt dizzy and wanted to vomit. My ruined underclothes fell round my feet. I staggered along the passage, past the sobbing widow, to the bathroom. There I vomited. In the mirror I saw my green face, in the basin what I had vomited. I didn’t dare rinse it as I kept on retching and we had so little water left in the bucket. Then I said aloud to myself: Damn it! – And made a decision. It suddenly came to me: I must get hold of a wolf – to protect me from the wolves. An officer. As high a one as possible, Commandant, General – whatever I can get. What’s my brain for – and my little knowledge of the enemy’s language? I felt much better now that I was once more planning and wanting something, instead of being nothing but a silent victim.4 Only an hour later, still green in the face, she made a date with a First Lieutenant, Anatole, who visited her that very same evening. She spent this night and the following with him. On the third »Russian day,« April 29, she wrote: By now the situation is clear: In the daytime open house for the friends of the family (if that’s what one can call them) and for any member of Anatole’s gang. At night, however, only for the chieftain, Anatole. At the moment I really seem to be taboo to anyone but him – at least for today. What will happen tomorrow? No one knows.5 Although relatively protected now against brutal attacks, her body reacted to the »voluntary« rapes:
3 Ibid., p. 85. 4 Ibid., pp. 87-88. 5 Ibid., p. 110.
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I felt wretched and sore and crept around like a lame duck … What makes me so wretched at this moment is not the too-much, it’s the abused body taken against its will, which reacts with pain … I remember a married school friend confessing to me once at the beginning of the war that since her husband had been drafted she felt physically better, because sexual relations with him had always been painful and unpleasant for her – a fact she had done her best to conceal from him. This is probably what’s known as frigidity, her body had not been aroused. And frigid is what I have remained during all these copulations. It cannot, it must not be different: I want to remain dead and without feeling, as long as I am prey.6 Meanwhile, A.’s »war family« gained a new member: Mr. Pauli, approximately 50 years old, the tenant of the druggist’s widow, who returned from the Volkssturm on the second day after the arrival of the Russians. This unit was the last defense force of the »Third Reich,« which consisted of old men and children without weapons or ammunition. Mr. Pauli’s detachment had dissolved itself. The widow’s hope of finding a protector in him was, of course, in vain. From the day he returned, he put himself to bed with a »neuralgia,« allowing himself to be cared for, fed, and protected by the two women. Only after the Russians withdrew did he get out of bed, healthy and fully recovered. The »official« struggle went on. While A.’s neighborhood no longer suffered from bombardments by the Allies after April 27, it now had to withstand German artillery attack. And over and over women were raped. Bruised and defiled, they returned to the female community to be consoled. Reminiscent of a ritual, these victims were received into the circle of »normal« women. By the sixth day there was female resistance in the quarter against the hordes of armed soldiers. Yes, the girls are becoming scarce. The hours at which the Russians go on their hunt for women are now common knowledge; the girls are locked up, hidden in lofts or herded together in the »safe« apartments. In the water queue word went around that a woman doctor had established in the air-raid shelter a hospital for contagious diseases, with huge signs in German and Russian announcing that the place was devoted exclusively to cases of typhoid. The patients, however, consisted only of very young girls from the neighborhood, whose virginity the doctor had rescued with her typhoid trick.7 We have opportunity enough to practice it. This morning, for instance the woman with the eczema on her cheek had, contrary to all my prophecies, to succumb … A short while afterward she came staggering into our apartment where some time elapsed before she was able to speak. We comforted her with a cupful of Burgundy. She finally recovered herself and grinned: »And 6 Ibid., pp. 120-121. 7 Ibid., p. 25.
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for this I waited for 7 years!« (This is how long she has been separated from her husband.) All in all, we are slowly beginning to look upon the whole business of defilement with a certain humor, albeit of the grimmer kind.8 First Lieutenant Anatole, A.’s »protector,« was suddenly transferred, and, without her knowledge, A. was »handed on« to a major. The major was a career officer who came from a middle-class family. His manners, developed to perfection, made his all too obvious »interest« in her embarrassing, even to him. A. was perplexed: This is a new state of affairs. I can in no way claim that the major rapes me. I’m pretty sure that one word from me would be enough for him lo leave and never come back. Thus I’m voluntarily at his service. Can I be doing this out of sympathy, out of need for love? God forbid! At the moment I’m sick to death of all men and all their male desires. I cannot even imagine that I could ever long for such things again. Am I then doing it for bacon, butter, sugar, canned meat? To some extent, yes. It has worried me that I have been living off the widow’s stores and am pleased that now, with the major’s help, I can repay her. I feel freer this way, eat with a better conscience. On the other hand, I do like the major, like him all the more as a human being the fewer claims he makes on me as a man. And he will never make great claims, I feel that. His face is pale and he’s bothered by the wound in his knee. I’m sure he’s looking for more human, feminine sympathy than for mere sexual satisfaction. And this I’m willing to offer him, even with pleasure … All of which fails to answer the question whether I should now consider myself a whore, living as I do off my body, acquiring by its surrender the food we need.9 The major remained A.’s protector/provider till May 8, when the Russian troops pulled out of the quarter. When he left, she felt »somewhat pained, somewhat empty«; and »I have to tell the widow of his departure carefully.« Since the major’s supply of food came to an end, her situation in the »war family« became more difficult. A. tried one more time – and this time without caring about her relationship to prostitution – to make a date with a Russian officer, but nothing came of it. She continued to tend to almost all the necessities of daily life (fetching water, combustibles, etc.) together with the widow. That meant that the relationship among the women »held up« despite the difficult food situation. However, her relationship to Mr. Pauli became more and more tense: »I felt that he had simply had it with me. Before the widow was there for him alone, took care of him day and night. I get in the way.« She also sensed how important a masculine »protector« was to the widow at her age – no matter how 8 Ibid., pp. 157-518. 9 Ibid., pp. 150-151.
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little one could expect of him. So, A. moved back to her attic apartment, but the friendly relationship with the widow remained: This collective form of mass rape will also be collectively overcome. Each woman helps the other by speaking about it, by airing her experience and giving the other the opportunity to air her experience, to rid herself of her sufferings.10 With this A.’s story of rape comes to a close. One might want to add something, however, about the social relationship between German men and women, as it is reflected in A.’s journal. German men could be excluded from the episodes just depicted because they were marginal; that is, they had marginalized themselves. The most positive thing one could say about them was that they didn’t add to the problem. The story about the tenant Mr. Pauli was no exception, rather the rule; and this is confirmed by other sources. The myth of masculinity had already been dismantled to such an extent that neither collective protection nor individual heroic deeds were expected from men. Nonetheless, most women, like A. herself, hoped that in a specific situation the individual human being (man) would act in an »honorable way«: take care of himself without becoming a wolf for others; share in the care of the sick, the elderly, and the children in the difficult living conditions amid the ruins without food, water, gas, or electricity; and protect himself without adding to the danger of the women. And perhaps these women hoped for a little solidarity. With few exceptions, nothing of the sort happened. On the contrary, the men had their »excuses to hide«: The bookseller has Party membership, the deserter his desertion, and several others their Nazi pasts for which they fear punishment by deportation, and behind which they barricade themselves when it comes to water-fetching or other activities. The women themselves do their best to hide their husbands and protect them from the enemy. For what, after all, can the Russians do to us women now? They’ve already done their worst. So we women put our shoulders to the wheel, which is logical. Nevertheless, a strange feeling remains.11 Men had lost the means of their power: weapons, privileges, hierarchies, and masculine alliances, all of which had gained them collectively and individually their dominance over women and children. With this loss of power, they revealed themselves as parasites and let themselves be cared for and protected by those they formerly oppressed. Many women understood – at least at the time – that they fell victim not only to the »armed, blinded primordial swine from Caucasia,« against whom any defense would have been hopeless and suicidal. They also suspected that they 10 Ibid., p. 189. 11 Ibid., p. 191.
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were doing time in Berlin for the crimes committed by German men in Russia. They began to ask the guilty question, and as one response A. translated a Russian soldier’s story for a group of younger women: how German military men had stabbed children to death in his hometown, grabbed the children by their feet, and shattered their skulls on the wall. But what did the German men feel? Did they learn from the war? Did their self-image change their concept of masculinity? It appears that the overwhelming majority refused as individuals to give any thought to it at all. A. noted in her journal on May 8, the day the Russians pulled out: This is the first time in weeks that l’ve heard German men talking in loud voices, seen them move with any sign of energy. They were acting in a practically masculine way – or in the way that used to be called masculine. Now we’re going to be on the lookout for a better word, one that can still be used even in bad conditions.12
B.’s Story 13 B. was born in 1926. Her father was a musical entertainer. In order to build up his own group, he taught his wife and daughter how to play musical instruments. In 1942, B. participated with her father and mother in the »Hawaii-Trio« and entertained groups at the German front. In the fall of 1944, all tours were stopped. Her father was drafted, even though he was 52 years of age. Her mother and brother were evacuated from Berlin. She herself was required that winter to work in a munition’s factory in the Sudetenland. Pregnant by then, she collapsed on the job and returned to Berlin a few weeks before the Russian army arrived. In the meantime, her mother, brother, and an aunt had returned to Berlin and gathered in their old apartment, which was still intact. For 3 weeks they lived day and night with other occupants of the house in the cellar. On April 20, the »Führer’s Birthday,« Russian troops entered their quarter. She herself was not raped, protected as she was by her pregnancy. What feelings did I have when the Russians arrived? – I don’t know – I wasn’t even really frightened, I only knew in that moment the war was over, thank God. But that stinks, I thought, that the Russians are here now. Why couldn’t the Americans have gotten to Berlin sooner? I had actually prayed: »Dear God, let the Americans arrive in Berlin first, not the Russians.« Because everybody knew already, everyone had already heard, that the Russians raped
12 Ibid., pp. 197-198. 13 B.’s story, together with two others, was recorded for a broadcast by North German Radio in 1981. The transcription was made by the author. [Editors’ note: Unfortunately, we were unable to determine the title and exact date of this radio program.]
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a lot of women, etc., and that the Americans, they would hand out chocolate. With her fervent prayer, B. expressed quite precisely the somewhat simplistic ideas and hopes of Berlin’s petty bourgeoisie in those days. Her dreams too were representative: »I always have the same dream … I arrive in America. I’ve had that dream over and over again, every year a few times, always the same dream, I get on a big ship and sail to America.« Similar fantasies of escape, wanting to leave all the German misery behind, are found in many of the stories by women in B.’s generation. At the end of June 1945, »the Americans actually do arrive.« B. gave birth to her daughter in a clinic around then. In October she went for the first time with two young women from her street to the fashionable Kurfürstendamm section of Berlin to see what they could »round up.« They took along their father’s war medals and other things they thought the Americans might be interested in. lt was not only hunger that drove these young women: During such excursions they could forget the gray misery of their daily lives for a few hours. Her first boyfriend was a cook in the Army. After their first date he prepared a large package in the barracks with milk powder, chocolate powder, and coffee – royal morning gifts for that time – and went home with her. To the remark that these gifts couldn’t have been for free, B. answered: Oh, well, of course, what can you get in life for free – um – that he of course – let’s just be blunt about it – wanted to go to bed with me, well, of course. And so I was with him for a while, and he even rented me a room (near his barracks) in the house of a very nice old couple. And well, he practically saved my daughter’s life. We did have milk rations and such things, but we didn’t get anything with our ration cards. It really was that bad. So I just said to my family: »Listen, I’m young, it doesn’t bother me,« and just did it. Why not? The cook left her, but soon afterwards she met the next boyfriend and fell »head over heels« in love with him. She stayed on in the same room. One day before Christmas 1945, this boyfriend suddenly had to return to America. She tried to commit suicide but failed. At first, she never wanted to meet another man and returned to her family. »But I couldn’t stand it there for very long. Now I wanted to meet an American, somehow, I was determined: I wanted to go to America.« In the Spring of 1946, B. already had another room near the McNair Barracks in Zehlendorf, a good middle-class district. It was a »wonderful room decorated in Rococo style, with a balcony.« The room cost two packs of cigarettes a month, which an American gave her so she would take care of his dog. And for that he practically supported me, well, not exactly supported, but he brought me lots of things, milk powder and whatever there was; he smuggled the ration tins out of the barracks. And now since I had everything again and a very nice room, 1 took my baby back. 289
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B. tried to maintain her brief, constantly disrupted friendships with American soldiers through letters, in the hope she would still somehow get married. (According to a decree of the military government, American soldiers could only marry German women after they had returned to the United States.) But she landed in military prison, rather than at the marriage bureau, because she had tried to send her letters through the military mail. Much to her regret she was released two days later: »There was such good food there, oh, did I have a feast.« She very quickly understood that in 1945 it was practically impossible to marry an American. In the meantime, another girlfriend had joined her and her two friends, so that they were now a group of four. Having already learned a lot, the four women became somewhat more »professional.« In the summer of 1946 they rented two rooms in a pension near the Kurfürstendamm – two to a room – »in order to be more on top of things.« At this same time their work became more dangerous. They tried to protect themselves by never going out alone, but rather always in a group of two, three, or even all four. B. witnessed rape attempts by American soldiers twice: one ended with the death of an unknown woman; in the other, a friend of hers was attacked but saved by the clique. Both cases were covered up by the American military government. Early in 1947, B.’s father got work in a band playing at an American club. The pay, however, was poor: »They practically worked for a sandwich.« She was hired as a singer; that is, occasionally she sang a song, and the rest of the time she made new acquaintances – under her father’s nose – and collected cigarette butts. B. thinks her parents were always very generous with regard to her work; they let her do what she wanted. (After all she supported the family to a large extent.) However, she must have perceived a certain double standard on the part of her parents, even then. Later on, when B. was no longer in Berlin, a former German boyfriend came to her parents’ place to ask about her. He was an officer whom she had met during her entertainment tours at the front, the one German she cared about at all. And my mother said to him that there was absolutely no use, I had become a G . I . whore … But she never said that to me. If she had honestly said that to me, then maybe I would have been different … Those very words she said [to the German man], I was only a G. I. whore. The »terms of trade« in B.’s relationship to the Americans were always clear: I mean, I can’t simply ask for something without giving something myself, and what did I have to give? I only had myself to give. And when they were so nice: They took me out to the club, gave me food, gave me cigarettes and chocolate – then I couldn’t say »Watch out, you’ve given me everything – but from me – excuse me, I’m a lady, get it!« [Berlin dialect]. Still, she never entirely gave up the hope of getting married, for she didn’t understand the criteria used for choosing a bride until much later.
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I thought, somehow I will find one who’s going to take me back to America, who will marry me. I was very naive at the time to believe that a woman who had had contacts with so many Americans would still be married. They usually want someone quite »untouched«. In the summer of 1947, B. got pregnant for the second time, and her social decline began. Because she didn’t want her parents to find out about it, she decided to leave Berlin. A girlfriend from her group came along. For a while they lived as the girlfriends of British pilots in Celle, a small town in North Germany. The pilots were transferred. Then her girlfriend returned to Berlin. »She left me in the lurch all of a sudden, and there I was.« Without »relationships,« without the group, and visibly pregnant, she had no other choice but to seek refuge as a »pregnant resident«14 in a hospital. During this time B. met her next American boyfriend. »Another great love of mine. I’ve remembered all my great loves by name.« Released from the clinic with an infant and no means of support, she found shelter with a woman where she contracted childbed fever. Then, one day on a streetcar she met a German man who wanted to adopt her child. On Christmas Day in 1947, she dropped the infant off at this man’s house. »Well, so I was practically free again.« Then she went to live with her new American boyfriend, who soon left to return to America, and she went to Munich, also a zone occupied by Americans. So somehow I always managed to muddle through … of course it was very hard … always this uncertainty: what’s going to happen tomorrow, where will you sleep tomorrow? It was really cruel somehow. But I was young. I thought: Oh God, if you manage to get through the day tomorrow, you’ll also manage to get through the day after. I was in a situation in which nothing made much difference. Despite that I have pleasant memories … When I think back today, the Americans were always so sweet and nice to me … The only thing is that I never got to marry a G. I. [laughs], although I always wanted to go over there.
Only »One Summer of Freedom«? In 1945, the ideological fetters of traditional femininity were undone. Or so it appears after reading autobiographical accounts from this period. According to these texts, the young women of the postwar era began their sexual emancipation in several significant areas, including the demystification of both heterosexuality 14 »A pregnant resident« (Hausschwangere) is a participant in a social program for poor pregnant women at German university clinics. The women are permitted to deliver their babies for free in the clinic in exchange for their work there as cleaning women and kitchen aides.
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and the (German) man. Moreover, they practiced »new« forms of life and work beyond traditional women’s roles: »Women’s households,« families headed by women, and a women’s public sphere emerged. Some 25 years later we, the generation of their daughters, had to reclaim precisely these elements of consciousness in order to commence with our own liberation. In contrast to our experience, however, not only the conscious perceptions of the postwar women, but also their real lives and their concrete actions departed entirely front traditional women’s roles. Nevertheless, they did not arrive at a consciousness which was articulated politically, not to mention one which was shared by all women – that is, they did not achieve consciousness as a »historical subject.« Many different reasons can be given to explain the repression of their progressive social tendencies and emancipatory impulses, for example, the traditional sexual politics of the occupying powers and the extraordinarily heavy burdens placed on women then. But none of these reasons explain why the majority of women themselves did not resist the return to old values. To find an answer to this question, we must look to the issue of the collective identity of women during this period. Referring to the two texts quoted at length above, I will address the issue of whether the postwar situation itself – especially the sexual enlightenment brought about for these women through their experience with prostitution and rape – contributed to, or blocked, the creation of a collective identity. As I proceed, a bizarre dialectic of sexual enlightenment will emerge. This dialectic arises when sexual enlightenment is not accompanied by concrete changes in the economic and social situation of women. The problem, it seems to me, is not only of historical interest, but of concern to the women’s movement today.
»And for this I waited for 7 years!« This statement, made by A.’s neighbor after she had been raped, expresses succinctly the disillusionment Berlin women felt with regard to sexual »love.« In A.’s journal we can clearly observe two phases of what I would call the »demystification of sexuality«: First, she overcame her »virginity complex«; second, she consciously decided to become a prostitute. The second step was unthinkable without the first. »It [the rape] sounds like the absolute worst, like the end of the world, but it isn’t.« While this observation may appear to reveal an icy coolness, which came from growing accustomed to rape, it is not the case. A. continued to suffer when she was abused. What this statement signals is the consciously effected separation between her woman’s body as an object of masculine dominance and her sense of self. Expressed in another way, »I am not what is inflicted upon my body, but rather I am what I want and what I do.« This division of the person is a step toward emancipation, because it allows the preservation, or the development, of an identity as a human being, even though an identity as a woman is negated by the circumstances. Though A. still suffered 292
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when she was subjected to rape, the suffering stemmed less from the »stain« inflicted upon her body and the »shame« which stigmatized her as a woman; rather, she was full of anger that her body was taken against her will. Her will and her anger were the foundation from which she could both struggle for her right to determine what happened to her own body and begin to formulate her own understanding of a uniquely female sexuality.
»May I offer you a little abuse?« The conscious separation between the female body and the sense of self is also necessary if women want to try to deal with the reality of rape in a collective manner. Only if a woman no longer views herself as »soiled« and »dishonored« will she be in a position to speak about rape with others. Such central and intimate »spheres« as sexuality are included in the »women’s public sphere,« the emergence of which was vividly described by A. This space was the practical prerequisite for the development of these women into a historical subject. In addition to facilitating practical functions like mutual psychological and material aid, barter, and exchange of information, it was a social space, in which – at least in their rudimentary form – women’s own standards and norms, a morality independent of men, in brief their own »language« was able to develop. Women created this space, which they referred to as the »women’s public sphere,« but they never understood it politically. They never defined it. And that which is not conceptualized cannot be defended. The women’s public sphere existed for only a short period – more briefly than the »war families.« As soon as German men crawled out of their beds and hiding places, or returned from prisoner-of-war camps, as soon as they again dared to speak loudly and to move energetically »like men,« they attacked and destroyed the space women had created with the instinct of the formerly powerful fighting for their last bit of power. Women were »without language.« The basis of their community was still too fragile and the old bourgeois ideology still too powerful in their minds. In A.’s journal there is a brief scene which described this process precisely: Her fiancé Gerd had »returned from the war« several weeks after the Battle of Berlin. A few days later their first fight occurred: »You’ve turned into shameless bitches – everyone of you in this house!« And he grimaced. »I can’t bear to listen to these stories. You’ve lost all your standards, the whole lot of you!« What could I say? I crept into a corner and sulked. I couldn’t cry. All this seemed so silly, so hopeless.15 After a male public sphere had been reestablished, a much more dangerous phenomenon emerged: German men wanted to enjoy the so-called »loose morals« of German women. Taking advantage of a situation that had come about for 15 Anonymous 1954, S. 316.
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very specific reasons, German men claimed their share of the booty and further destroyed the taboo, which traditionally protected the woman’s body, with such vulgar invitations as »May I offer you a little abuse?«– a compliment »meant in fun« and heard frequently at the time. Such a joke was characteristic of the boorish, sexist tone of the language of the late 1940s. By holding fast to the coattails of Russian and American uniforms, German men demanded access for themselves to the bodies of German women, which, thanks to the Allied forces, were supposedly free now from moral sanctions. The more German men succeeded in regaining control of the economic resources by, among other things, monopolizing the job market, the more concrete and threatening became their demands for sex. Considered from this point of view, we can understand the conservative turn at the beginning of the 1950s. Women flew into the arms of the Christianbourgeois block which promised them security and protection within traditional norms. But the renewed Christian-bourgeois taboo surrounding the female body existed primarily in the minds of the women themselves and changed little in the attitudes of men or in the social power relations. It led women to fear their own sexuality. Many of them today are our mothers, and many of them support most aspects of the contemporary women’s movement. But when it comes to the sexually libertine ideas of feminism, they react with panic (»You’re the ones pulling women into the dirt«). Not only does their response reveal a fear of their own sexuality, it also expresses a sense of guilt which still has not worked itself out. Finally, it contains as well a serious allegation against us, namely, that we are partially responsible for the new wave of brutal pornography that has gained popularity in the last few years.
The Step into Prostitution The second step of the demystification of heterosexuality can be seen in A.’s decision to use her body as an instrument (object) in order to secure her survival, that is, in her conscious entry into prostitution. What then is the emancipatory element in this? The affront to bourgeois morality? A. observed with some amusement that bourgeois morals were dropped by her bourgeois surroundings like an old hat: Already on the fifth »Russian« day, all the women who could not otherwise protect and provide for themselves were in »secure hands.« A. and her neighbors were no exception. The speed and relative scrupulousness with which many Berlin women could »surrender« themselves to total strangers, who were moreover men described to them for years as »subhuman,« animalistic monsters, shows that at least the older women were little influenced by fascist race hysteria. Instead, the effects of the »sexual reform« movement of the 1920s appear to have continued into the postwar period among those women who were between 20 and 30 years old. To the »daughters of Vandervelde,« the »act,« the result of a series of sexual techniques, 294
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was no longer a mystery, nor an expression of a transcendental communion between the sexes. If sexuality was technically producible for marriage and love, then it was reproducible without marriage and love. The original goal of the sex reformists, to »free« female sexuality for love, had already transformed itself during the Weimar Republic to sexuality freed from love. This »dialectic of enlightenment,« which Horkheimer and Adorno warned us about, made it easier for many women to enter into prostitution in order to survive because the prostitution of one’s own body demanded – in pain of psychic destruction – the separation of (hetero) sexuality from one’s own sexual and »higher« sensibilities. Fot these women, this would – theoretically – signify their complete disjunction from heterosexuality. In reality their path to another, self-determined sexuality was blocked by just as many obstacles as before.
The Negation of Identity The conditions under which prostitution becomes necessary at all dictate a dangerous contradiction: to avoid being the unwilling prey of many men; or in order to survive, I offer my body »of my own free will« to one man as a sexual object. In doing so I recognize his claim to possess my body because only then does the man function as protector and provider. Toward the outside world, in the social sphere, I support and strengthen the old power relationships: the man possesses and holds power of disposition over my female body. Because I »freely« agree to this, he also possesses and disposes of me, the woman as person, because »I« and that which I want and which I do. As a result of this process, I reverse the positive step I had taken toward an identity as a woman. I lose what I had won when I overcame the virginity complex and could say: I am not what is done to my body, but rather what I want and do. Now I have become precisely what I do not want and what I do not do. Now I am something totally different. I am what I think, feel, and wish. My identity as person is pushed into the imiginary and is no longer recognized by the outside world; it is no longer socially manifest. Toward the inside realm, on the subjective level, I must – in order to hold up my identity, at least for myself – declare my seemingly free action as a conscious maneuver of deception vis-à-vis »dumb men.« The case histories of A. and B. both show how difficult it is to balance deceit and a true sense of self, to separate the sexual act from one’s feelings. Deceit, we see becomes self-deception. Even A., an enlightened and self-critical woman, who could find her identity in her intellectual profession and for whom the phase of prostitution was very short, had to assure herself: »It cannot, it must not be different; I want to remain dead and without feeling, as long as I am prey.« Despite that, she feels a »bit of pain, a bit empty inside« after the major’s departure. In the case of the much younger B., who was not able to construct an identity beyond the traditional feminine role, recidivism was unavoidable. She fell in love over and over again, and so made herself more than 295
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just economically dependent upon the American soldiers. She became vulnerable to the point of attempting suicide. She surrendered again and again to the illusions of a marriage, and this prevented her from realistically evaluating her situation.
The Myth of Marriage The myth of bourgeois marriage survived intact despite everything the Berlin women had undergone in 1945. In fact, it was elevated to an even higher status. This happened even though the myth of the German man was totally destroyed and the number of divorces in the initial postwar years skyrocketed, that is, even though reality made a mockery of myth. Individual women activists sought changes in the bourgeois/fascist marriage and family law, as well as in the abortion regulations. They also sought official recognition for »women’s families«, especially in conjunction with the tax law, etc. But these initiatives had no support among the masses of German women. On the contrary, as the theoretical considerations about identity presented suggest, women’s experiences with prostitution in no way threatened the myth of bourgeois marriage. The myth could not be destroyed: marriage was the necessary »other,« the imaginary identity which women needed in order to hold up under prostitution and not be shattered by it. This is especially clear in B.’s case: For her, »marriage« merged with the dream of the other country, with another life, with another self. The actual man was secondary to this; he was only the vehicle. This was not very different for the majority of women, who were spared prostitution. Sustaining the myth of marriage as the warm and secure refuge in difficult and unsafe times, the women themselves reconstructed the image of the German man. Ironically, this was easiest for the war widows and the single women. The idealized figure of a man who has died almost always appears in their interviews and life stories: the fallen husband, fiancé, or brother. They tried then –and still do now – to justify to themselves their marriageless state, for which they suffered much discrimination. They have done this by placing the institution of marriage on such an ideal plane that finding an adequate partner was out of the question. During the years of the economic miracle, the woman »with a man« harnessed herself to the cart she supposedly shared. She pulled, pushed, and worked herself to the bone for his economic rise, so that »he« became »something« again and »stood for something.« And all of this so that in her sixties she could be »let go« and exchanged for a younger woman, more appropriate to his new social status. Under such conditions, the German woman did not consider her own economic or social interests. German men – with the physical and spiritual aid of their »reconstruction companions« – succeeded in forcing single women into economic marginality. As people returned to old values during the postwar period, the numerous »women’s families« were pushed more and more into ideological and social 296
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waters. They were increasingly tagged as communities of the »needy,« the last resort for economic and social losers. The following generation of young women and girls saw a communal lifestyle among women more as a vision of horror than as concrete utopia. They would never make it a realistic alternative the way women did during the Weimar Republic. Instead, in the 1950s and early 1960s, the postwar generation of women tended to marry early.
The Limits of Sexual Enlightenment This »historical experiment« in Berlin shows us the limits of sexual enlightenment as an instrument for social change, and it is instructive for the contemporary women’s movement, which prides itself on having successfully demystified heterosexuality. We have achieved this goal easily because the seemingly impenetrable wall of bourgeois morals, which we initially struggled to break down, has proved to be nothing more than a paper wall of »repressive tolerance.« With the world economic crisis the »dialectic of enlightenment« confronts us once again, as we can see most clearly in the United States. Until now the women’s movement has only been able to respond with further sexual enlightenment because it has not developed goals for the transformation of society in the economic sphere. There are hardly any concrete utopias, »designs for living« to replace the institutions of marriage and the family. The lesbian movement has, it is true, made women’s communities possible again on the ideological level, but the question of whether they can become a realistic alternative for the masses of women is an economic as well as a sexual problem. There are very few strategic plans in the contemporary women’s movement which connect sexual enlightenment with the economic question. Some of them are dangerously simple, like those which would free women from their economic, social, and psychological dependence on men through universal prostitution, or by carrying elements of prostitution into marriage and the family (remuneration for sex, love, and housework). They ignore the fact that collective and individual identities are not created by prostitution but, rather, destroyed by it. Here the women dreamers of the turn of the century were more realistic – that small, international group of great women, who designed the image of the New Woman. They wanted to release female eros from the fetters of marriage by directing it to broad goals of transformation in art, science, and society. For them sexual love was a revolutionary power and not a commodity for trade, a commodity with which one could buy the emancipation of women. According to them, only when the individual woman had her own identity and women had become a »subject of history« – only then could women enjoy sexuality »like a glass of water,« without suffering. The Berlin »historical experiment« proves they were right.
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Commentary on »Between Rape and Prostitution« Annemarie Tröger was, as this volume documents, a scholar and activist ahead of her time or perhaps more accurately, an always hard to categorize heterodox thinker, working against the conventional grain, both in academia and within German feminism. Some of the provocative questions she posed about women’s relationship to National Socialism and its aftermath were immediately controversial (such as her insistence that women were not the primary villains in Hitler’s ascent to power) and later became common sense, even as historians delved more deeply into women’s complicity and active participation. Others, such as her claim that Berlin women’s response to sexual violence and recourse to prostitution should be examined as »Survival Strategies and Chances for Emancipation after World War II ,« that is, as examples of a certain kind of agency, shaped by the »New Woman« experiments of the Weimar Republic, rather than as instances of victimization, were so bold that they seemed to barely register. Her remarkable, short, and almost forgotten 1986 essay positing rape and prostitution as dual inter-related »survival strategies« was never published in German and seemed not to reach into the burgeoning field of German Frauenforschung which had in the previous decade embarked on its fraught, conflicted, and ultimately powerfully productive confrontation with German women’s place within the »Third Reich«. That work owed a great deal to innovative oral history projects which Annemarie had been quick to embrace, most notably with the young female historians and sociologists gathered in the »Gruppe Mündliche Geschichte«1 she initiated at the Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Fragen (ZI6, Social Science Research Institute) of the Freie Universität Berlin. These second-wave feminist researchers were just finding their way through an emotionally and intellectually challenging recent encounter (starting with the summer universities in the mid 1970s) with their mothers’ generation. They were bent first on discovering a hidden history of female opposition to the Nazis. When that mostly failed – thanks in no small part to the embarrassing results of interviews which often recalled happy memories of youth in the BdM or Nazi women’s organizations rather than acts of resistance – they turned to documenting women’s fate as victims of fascist patriarchy and, eventually, as expressed in the group volume, Mutterkreuz und Arbeitsbuch, their role as mothers and workers in maintaining the regime and its war.2 So the story that accompanies this 1 See contribution of Dagmar Reese. 2 On my own involvement as an American (German) Jewish graduate student, in that group and other German feminist research projects, see Grossmann: Historikerin der »zweiten Generation« 2012 and: Forum: When Biology Became Destiny 2004.
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essay is really yet another example of ongoing forgetting and recalling, the fits and starts by which feminist scholarship attempted to come to terms with National Socialism and the Holocaust. Annemarie’s article was published in 1986, tellingly not in German but in a wide-ranging English-language volume produced by a multinational group of feminist historians who had gathered at a picturesque Moulin in Normandy (1979, 1980) and then in an equally bucolic setting at Shaker Mill Inn in upstate New York (1982) to push forward »new theoretical perspectives and methodological approaches« in the emerging field of women’s studies, in the U. S ., the UK , and on the continent.3 By then, the ZI6 group had disbanded. Many of its graduate student members were finding their way through a German history landscape that was very slowly becoming less impervious to feminist interventions. Two detailed articles about rape at war’s end, by Erika M. Hoerning and Ingrid Schmidt-Harzbach, had been published in German in the two years just before Annemarie’s piece appeared. Curiously, despite their explicit reliance on oral testimonies, they neither appeared in Annemarie’s notes nor, as far as I can recall, did they attract much attention by feminist scholars focused on inserting women into the historiography of Weimar and Nazi Germany.4 Only several years later did arguments such as Annemarie’s, about Berlin women’s resourceful response to the terror of mass rape by Red Army soldiers, become the subject of fierce debate and dissension among feminists. By then the Berlin wall had fallen, archives in the GDR had opened, and many of the projects that had been nurtured by Annemarie at the ZI6 and then by Karin Hausen in her Women’s History Colloquium at the Technical University of Berlin had been published, their authors embarked on more or less successful careers. Annemarie, characteristically restless, had already moved on to other projects. Others, notably the feminist filmmaker Helke Sander, who barely referenced her work, (re)discovered the topic as a way of presenting German women as essentially innocent booty. Paying the price for Hitler’s crimes at the hands of a savage marauding »Red Beast,« they appeared as universal victims of timeless male violence. Annemarie in the mid 1980s had decidedly other ideas. Re-reading her text today after decades of scholarly and political work on sexual violence, both in wartime and everyday life, is jarring, a shock to the feminist system. She opens with the laconic – a term that also applies to the women’s narratives she presents – observation that »these women tell how rape and prostitution became ›normal‹ sexual relations for them and how they thought and felt about what 3 Between Rape and Prostitution 1986. An earlier version of the collection, which did not include Tröger’s piece, was published in French: Stratégies des Femmes (Actes des rencontres internationals des Moulins d’Andé et de Shaker Mill Farm, 1978, 1979, 1981), Paris: Editions Tierce, 1984. 4 See (discussed further below) Hoerning: Frauen als Kriegsbeute 1985; Schmidt-Harzbach: Eine Woche in Berlin 1984.
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they did«.5 Moreover, she makes these claims about what two Berlin women – and by extension thousands or even tens of thousands of their compatriots who lived through the brutal final collapse of the Nazi regime – »thought and felt« by paying close attention to their actual words, that is to the ways – however selective and constructed – they chose to present their experiences. And that style turned out to be, much like Annemarie herself, burschikos, direct, unsentimental, and unimpressed by any romantic notions of normal or ordinary sexuality. She was after something radical that made sense in the angry context of German second-wave feminism and its rebellion against heterosexual culture but is perhaps more suspect as a tactic today: namely, to use the extreme case of sexual violence in 1945 Berlin as a way of critiquing everyday sexuality. That she paired the two experiences of »rape« and »prostitution« on a continuum was an equally radical move. One can hear the Marxist feminist invocation of Engels in The Family, Private Property, and the State in her reminder that, in the crisis of Nazi Germany’s defeat, »great numbers of ›decent‹ women realized that prostitution and marriage are not worlds apart but rather resemble each other closely in their social and economic structure.« Moreover, Annemarie goes further. Citing A.’s invocation of a friend’s confession that since her husband had been drafted »she felt physically better because sexual relations had always been painful and unpleasant« she linked the dead[ness] with which A. endured »voluntary rape« and »normal« unsatisfying marital relations. Using the language of Weimar Sex Reform, A. muses, »This is probably what’s known as frigidity … And frigid is what I have remained during all these copulations.« Today I am struck by her invocation of decent in scare quotes; Annemarie presumably wanted to alert us to the moral hypocrisy of the term, but we are reminded of one of the glaring – and entirely typical for the place and time of publication – blind spots in her article, namely the evasion of decent and ordinary Germans’ complicity in the crimes for which they were ostensibly being punished.6 Tröger, however, was more concerned with reclaiming a moment of women’s »emancipation,« shaped by the social experimentation of Weimar Republic new women7 and acted out in the wreckage of the Third Reich, that was then lost in the 1950s return to normalcy. The rape diary which caught Annemarie’s attention had been available for years in various obscure editions but only achieved notoriety when Helke Sander deployed Eine Frau in Berlin in her controversial 1993 film, BeFreier und Befreite.8 That Annemarie Tröger had just a few years earlier used the same text for quite different purposes was quite forgotten in the hectic transatlantic polemics that 5 Unless otherwise stated, all quotations are taken from the text printed above. 6 The obvious example is Browning: Ordinary Men: Reserve Police Battalion 101 1992. 7 See, in the same volume, my own reflections on Weimar: Girlkultur or Thoroughly Rationalized Female 1986. 8 See Sander / Johr (Eds.): BeFreier und Befreite 1992. The book was published by FischerTaschenbuch in 1995 and in a new edition by the same editors in 2005.
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followed and eventually culminated in the now legendary (or infamous) Historikerinnenstreit. She herself did not participate in the acrimonious debates that erupted six years after her article was published. Annemarie was quite uninterested in victimization; she was trying to rescue from the proverbial dustbin of history the hard won »emancipation« that women had experienced even during the war and the harsh months that followed defeat. For her, the anonymous author whom she named »A.« – once the »diary« was widely distributed and discussed, she became »Anonyma« – »corresponded to the type of New Woman of the 1920s: independent but economically insecure, curious and critical, without party affiliation, and without an established philosophy, but with a mind of her own …« who »… participated in Berlin’s cultural life, the ferment, ›the heady feeling‹ of the city during the ›golden twenties‹«. That A., born in 1915 and therefore only 18 in 1933, would thus have constructed her independent working life during (and with) the Nazi regime, was unmentioned. In a sense, the historical slippage underlined the contention that there was a continuity of New Woman independence from Weimar to the »Third Reich« – and, most provocatively, that it was precisely this »mind of her own« that shaped Berlin women’s ability to cope with the chaos and violence of war’s end. They had managed their way through the war, compliant enough to stay out of jail or camps, strong enough to endure bombings, flight, the loss of children and men, and mobilization into the war effort on the home as well as the Eastern front. Tröger did not address – as later scholars such as Elizabeth Heineman and Dagmar Herzog would do with greater sophistication – the ways in which the »emancipation« she discerns in women’s turn to instrumental sexuality, even under conditions of hardship and/or extreme coercion, was itself a product of their entanglement and mobilization in the Volksgemeinschaft and its racial program.9 Determined to push her own call for a revived West German women’s movement that truly dismantled male supremacy via radical and economic changes, Annemarie highlighted women’s short-lived resilience and independence as they confronted, in an immediately embodied way, the collapse of the Nazi regime within which they had all lived and whose propaganda they had imbibed since at least 1933. A pioneering practitioner of oral history, Annemarie only gestured toward the broken-life trajectories A. and B. faced; she did not foreground (or even footnote) Erika Hoerning’s article, published just a year earlier, on oral testimonies, collected decades later, which explicitly stressed the trauma that accompanied women’s »survival strategies« and their enduring toxic effects on heterosexual relationships and social participation.10 Nor, despite her position on the Editorial Board, did she reference the detailed study by Ingrid SchmidtHarzbach, published in 1984 in the influential journal Feministische Studien, (the subject was clearly not as »taboo« as Helke Sander claimed) which unambigu9 Herzog: Sex after Fascism 2005 (German: Die Politisierung der Lust 2009); Heineman: What Difference Does a Husband Make? 1999. 10 See Hoerning: Frauen als Kriegsbeute 1985.
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ously laid out the role of Nazi propaganda in shaping both women’s fear and unsentimental response. Schmidt-Harzbach even flagged the antisemitism embedded in Nazi warnings of sexual revenge by the Red Army, inflamed, it was said, by the Russian Jewish writer and war correspondent Ilya Ehrenburg. And unlike Sanders’ later emphasis on the universal suffering of women or Tröger’s agenda for a comprehensive socialist feminism, Schmidt-Harzbach was entirely clear about the sexual violence perpetrated by ordinary German soldiers against Polish, Jewish and Russian women: »so werden eigene Taten zugleich auf den Gegner projiziert.«11 In retrospect, I too did not sufficiently credit SchmidtHarzbach’s pioneering research on abortions in postwar Berlin, which became so central to my own research.12 Somehow amnesia hit quickly in those heady and often divisive early days of women’s history confrontation with National Socialism. Digging in my own archives for these comments, I am struck by how much historical labor was forgotten – over and over again – in the recurring arguments about German women’s victimization and complicity. I’m not even sure how consciously I was influenced by Annemarie’s article when, goaded by Sander’s polemical depiction of Soviet crimes against innocent German women (while – incredibly – insisting that Wehrmacht soldiers would never have perpetrated sexual violence), I wrote a furious critique of her film and book for a forum in the American visual culture journal, October. I used my own photocopied text of the original English publication of the (still) anonymous diarist’s reflection, also cited by Tröger that »defilement« (Schändung in the parlance of the time) »sounds like the absolute worst, but it isn’t« and indeed her pride at having pulled herself together to decide, »Damn it … I must get hold of a wolf – to protect me from the wolves. An officer. As high a one as possible, Commandant, general – whatever I can get. What’s my brain for – and my little knowledge of the enemy’s language« to challenge Sander’s presentation of the defiled German woman as a timeless ahistorical victim.13 For Annemarie, what mattered was not so much the defilement that had become a fact of life but A.’s relief in knowing »[t]hat I was once more planning and wanting something, instead of being nothing but a silent victim.« Women in the cellar communities formed during the apocalyptic last days of the Reich in Berlin banded together, without much regard to their previous affiliation with the regime, to 11 Schmidt-Harzbach: Eine Woche in Berlin 1984, S. 53; reprinted and slightly revised in Sander / Johr: BeFreier und Befreite 1992. 12 On the origins of liberalized abortion practice in post-April 1945 Berlin, see two pioneering volumes which were in turn shaped by Tröger’s collegue at the ZI6, Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus 1986; Czarnowski: Das kontrollierte Paar 1991. Czarnowski was part of Annemarie’s Oral History context at the ZI6. 13 Anonymous: A Woman in Berlin 1954. A German version was published in Switzerland in 1959. See Grossmann: A Question of Silence 1995, also in: Moeller (Ed.): West Germany Under Construction 1997; German version in: Frauen und Film 54 /55, 1994 which opened with a withering critique of Sander’s film by the German cinema scholar Gertrud Koch. For a later review of the topic and the controversies see Grossmann: The »Big Rape« 2011.
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organize what Annemarie termed »female resistance«. They comforted the damaged, conjured up stratagems to protect themselves or younger women, offered doses of liquor, and cultivated their proverbial Berliner Schnauze, »a certain humor, albeit of the grimmer kind«.14 In another sign of the continuum between rape, prostitution, and »normal« heterosexuality, A. wondered whether »I should now consider myself a whore, living as I do off my body, acquiring by its surrender the food we need.« At the same time, she establishes the utter humiliation of German males. The Teutonic heroes celebrated in Nazi iconography and propaganda were now exposed as honorless weaklings, hiding from the Soviets behind their womenfolk and deprived of the supremacist ideology that had justified their dominance. »With this loss of power they revealed themselves as parasites,« Annemarie wrote, using, consciously or not (?), a term suffused with Nazi racism, as was, my own work argued, the language with which Berlin women petitioned for abortions after rape by Red Army soldiers they described as barbarian and / or subhuman Mongols. For Annemarie, women emerged from the war less defeated than men; their losses – and complicity – were less intriguing than the short-lived emancipation that accompanied total defeat before men’s straggling return home reinstated a certain normalcy. I did follow Annemarie, albeit with a much sharper focus on the impact of Nazi racial discourse and practice, in positioning women’s stories »as part of the narrative of survival of ruined Germany« told with »a certain matter-of-factness (Sachlichkeit),« just one more (sometimes the worst, but sometimes not) in a series of horrible deprivations and humiliations of war and defeat. »In a peculiar way,« I wrote in the chapter on »Gendered Defeat« in my study of Jews, Germans, and Allies: Close Encounter in Occupied Germany (2007), women’s apparent sangfroid in the face of mass sexual assault became part of the story and myth of Berlin »kommt wieder,« of the city’s irrepressible spirit. Their self-preserving sexual cynicism can be attributed, at least in part, both to the modernist Sachlichkeit of Weimar culture with its »rationalization« of sexuality and to the loosened mores of the Nazis’ war including women’s experience of fraternization with foreign laborers either recruited or forced into the war economy. Indeed, I suggested, as Annemarie Tröger already argued in an important 1986 essay, the dissociative endurance with which women survived rape as well as their instrumental fraternizing affair bore an uncanny resemblance to the sachliche encounters in the Weimar »new woman« novels of an Irmgard Keun or Marieluise Fleisser. German women, Tröger contended, had been trained into sexual cynicism, »freed from love« which served them well during the war and its aftermath.15 14 Note that I am using the translations from Tröger’s 1986 article, as rendered by Joan Reutershan, based on, but not entirely identical to, James Stern’s original 1954 English language version of Anonymous, A Woman in Berlin. 15 Grossmann: Jews, Germans, and Allies 2007, 53-55, (German: Juden, Deutsche, Alliierte 2012) and Grossmann: The »Big Rape«, pp. 138-140. Citing Tröger, p. 113.
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Tröger moved briskly from A.’s diary to her next first person account, a story of a more clearly voluntary sexualized survival strategy commonly associated, not with the Red Army, but with the Amis.16 B. is also a Berliner Frau but considerably younger. Born in 1926 and without the resources the multilingual A. could muster, she dreamt of the Amis as the liberators not only from the war but from the Soviets – in fact, the latter seem the more immediate threat. For the Fräuleins, fraternization with the Amis could provide genuine pleasure and relief from material scarcity and the depression of defeat embodied most clearly perhaps in the now pathetic ragged Teutons »A.« had described with such contempt in her Diary. As the sociologist Hilde Thurnwald (another professional woman whose activity during the Nazi era invites scrutiny) surmised in her study of family life in postwar Berlin, »the Fräuleins were lured less by sexual interest than by a general ›yearning for life’s pleasures‹.«17 After the Americans arrived in July and the initial onslaught of mass rapes had subsided, the »milk powder, chocolate powder, and coffee« provided by B.’s first occupation lover, a U. S . Army cook, were more useful – and enticing – than the precarious protection a Red Army officer could offer A. B. embarked on a series of instrumental and at times genuinely romantic (if transient) relationships with American GI s which eventually became a makeshift sex-trade enterprise. Using similarly pragmatic (sachliche) language as A., B. was clear that even as she still was not safe from sexual assault her body was the only object she had to offer, »I only had myself to give.« In the process, conventional femininity and maternal morality were so demystified that in pursuit of her own impossible domestic dream B. hands over her infant to a German man she encountered on the tram. Free to pursue more boyfriends, her fantasy about actually marrying an Ami was never fulfilled. After her rather abbreviated renditions of the two texts, Annemarie returns to the opening question that so irritated her: why did women who survived by defying bourgeois mores and relying on each other so willingly relinquish that emancipation in hopes of recovering the normality of family and marriage? In a paragraph that I adorned with multiple question marks, she concludes, in appropriately materialist fashion, that the immediate postwar »sexual enlightenment« women gained could not gain traction because it was not accompanied by »concrete changes in the economic and social situation of women.« In the end, we return to Marx and Engels, without ever interrogating whether »sexual enlightenment« (Aufklärung), itself a term associated with Weimar sex reform rather than with the Nazi era, was the best way to capture A.’s and B.’s experiences.18 16 Miriam Gebhardt contests this division between the behavior of Red Army soldiers and particularly American GI s in her more recent book: Als die Soldaten kamen 2015 (English: When the Soldiers Came 2017), arguing with very selective evidence that the Americans were just as »guilty« as the Soviets. One wonders what Annemarie would have made of her claims. 17 Thurnwald: Gegenwartsprobleme Berliner Familien 1948, pp. 77, 211. Cited in Grossmann, Jews, Germans, And Allies, p. 76. 18 See Grossmann: Reforming Sex 1995.
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For a brief period before the »remasculinization« of German society19 sent women flying »into the arms of the Christian-bourgeois block which promised them security and protection within traditional norms« (112), the deployment of their bodies as survival tools was determined not according to conventional heterosexual norms but collectively in a kind of (once again provocatively) named »women’s public sphere« inhabited by the »daughters of [the sexologist] Vandervelde.« Perhaps Annemarie’s own investment in escaping the blockages to the emancipation that she strove for in her own life and presumably tried to work with in her later practice as a psychotherapist (her budding interest in psychoanalysis as well as Marxism is evident) limited her analysis. Annemarie grasped for liberation in the 1960s and 1970s counterculture and improbably seemed to yearn for a »sexuality freed from love,« experienced in Alexandra Kollontai’s terms »like a glass of water«. She remained permanently nostalgic for the lost promise of the Weimar new woman and disillusioned by the prospects for women’s emancipation, sexual and otherwise, in the absence of larger social transformation. Perhaps her frustration with the retreat of the previous wartime generation of mothers from necessary self-sufficiency to the idealization of marriages the war had denied them and their capitulation to unequal partnerships also blocked her from confronting the history that so many of us eventually came to grapple with: that emancipation as enacted during the Third Reich was reserved for the privileged »Aryan,« while the bodies of others were selectively exterminated. My references to the slippage in the text between the Weimar and Nazi »New Woman« are actually based on handwritten annotations in my now quite tattered 1986 volume. I seem to have entered into a dialogue with Annemarie about what was missing, marking points where I was prompted to think about the most glaring – and for that moment in German feminist studies entirely unremarkable – omission, namely, consideration of Jews or Jewish experience. In fact, I myself was then a long way from becoming a historian of Jews or the Holocaust. I was startled to find, upon re-reading, that »The Story of Ruth,« the one testimony by a survivor, which Renate Bridenthal, Marion Kaplan, and I slipped into our 1984 anthology When Biology Became Destiny: Women in Weimar and Nazi Germany, did clearly include the threat of rape by liberating Soviet troops as part of her Holocaust experience.20 It would take even longer for feminist historians of the Holocaust to confront instrumental sexuality or sexual barter or submission to a wide range of sexual coercion and violence by both perpetrators and rescuers as well as, at times, fellow Jews, as »survival strategies« rather than being consigned to the undifferentiated category of victimization or trauma.21 Arguably, the approach exemplified by Tröger’s analysis of women as 19 See Moeller: Protecting Motherhood 1993. 20 Nebel: The Story of Ruth As Told to Sylvia Kramer by Ruth Nebels, in: Bridental / Grossmann / Kaplan (Eds.): When Biology Became Destiny 1994, pp. 334-338. 21 See also Anna Hájková, Sexual Barter in Times of Genocide: Negotiating the Sexual Economy of the Theresienstadt Ghetto, Signs 38:3 (Spring 2013), pp. 503-533.
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active agents maneuvering their way through terrible conditions helped to clear the space – even though it took a long time – enabling feminist historians of the Holocaust to produce some of the currently most complex and searching works on sexuality and sexual violence during the European Second World War. When A.’s diary was rediscovered and reprinted in 2003 by the publicist Hans Magnus Enzensberger and Anonyma’s identity as a journalist and Kleinpropagandistin for Goebbels’ propaganda ministry outed in the German press, the agitated Feuilleton discussions among almost entirely male commentators seemed blissfully unaware that they were replaying debates that had been waged among feminists a decade earlier and introduced by women scholars marginal to academia and mainstream journalism in the mid-1980s.22 Even feminist scholars themselves, struggling to establish themselves and their field of inquiry in decidedly inhospitable German (and somewhat less so in the US) academia did not sufficiently acknowledge their most immediate interlocutors. In the end, my return to Annemarie’s text brings me to the same conclusion I scribbled at the bottom of the essay when I first read it in 1986: »all a bit problematic but great material.«
22 Anonyma: Eine Frau in Berlin 2003; English 2005 with a foreword by the British military historian Antony Beevor. See Bisky: Wenn Jungen Weltgeschichte spielen 2003 for »Anonyma’s« identification as Martha Hillers. On the controversies about the German republication, see Heineman: Gender, Sexuality, and Coming to Terms with the Nazi Past 2005, S. 53-56. In 2008 the bestselling book was turned into a popular movie, and finally in 2019, a critical examination by Yuliya von Saal, a historian at the Institut für Zeitgeschichte, concluded that Hillers herself (who died in Switzerland in 2017) had reworked the diary notes in the 1950s. Yuliya von Saal: Anonyma: »Eine Frau in Berlin« 2019, S. 343-377.
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German Women’s Memories of World War II (1987)1 The Second World War may be defined as a war against civilian populations. Although in earlier wars, including World War I, civilian populations suffered – a cost deplored as the natural byproduct of warfare or justified as necessary to destroy the supply bases of the adversary – in World War II the war against the civilian population became a strategie goal in itself: the bombings of Guernica, Warsaw, Kiev, London, Coventry, Berlin, Dresden, and Hiroshima allow no other interpretation. The introduction of new technology in warfare may help account for the long-term psychological impact of the Second World War on patterns of thinking; on social myths and meanings ascribed to political and historical facts beneath the level of established ideologies; on the concepts of individual and collective identity, values, and norms; and even on the fundamental Lebensgefühl (feeling for life). The impact on older Germans who lived through the war is apparent: the war dominates their memories and life histories. Even though individuals are compelled to talk about the war, one senses a painful lack of words adequate to describe the anthropological meaning of airborne warfare. The most valid expression even for articulate intellectuals appears to be nonverbal; Picasso’s Guernica is an example. It is often said that Germans will be unable to come to terms with their recent past – especially the horrors of the concentration camps – as long as they cannot come to grips with their experiences and defeat in the Second World War. (This may also be said of other nations in other wars.) The reverse is also true: as long as Germans refuse to face the concentration camps, they will not be able to understand their own suffering in the war. This inextricable knot is the real barrier to finding a symbolic, that is, a common language to discuss the last war. The problem is not linguistic but psychological: it is the »inability to mourn« attributable to deep, contradictory emotions.2 Because the Germans have not been able to work out collectively the experiences of the Second World War, individual memories assume more importance – and become a political force themselves. In Germany, as in many other countries, there are at present two different discourses on war: the official-political one, espoused by political parties, governments, bureaucracy, and institutions; and the discourse of the disarmament movement. They are discourses in the true sense that they have distinct basic 1 Copyright © 1987 by Yale University Press. Reproduced with permission of the Licensor through PLCclear. 2 To paraphrase the title of a book by Alexander and Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern 1967.
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assumptions and logics. The official discourse operates with the traditional concepts of two opposing sides, victory and defeat, balance of power, defense, and deterrence. The peace movement, on the other hand, starts with the assumption that there is one gigantic, uncontrollable war machine, which, once set into motion, resists interference; it assumes that in an emergency involving this machine, there would be nothing left to defend, neither a fatherland nor values like freedom or democracy. Thus, the concept of enemy itself becomes obsolete. It is too simplistic to categorize the official political discourse as masculine and that of the many-faceted peace movement as feminine. It is true, however, that the war narratives of men, especially veterans, tend to follow the official political discourse. And it is therefore striking to find in the war memories of German women of various political inclinations basic assumptions similar to those of the current peace movement. This surprising continuity between the apolitical narratives of women about World War II and the political discourse of the disarmament movement may have a historical explanation. Women’s memories of the inferno of burning cities under carpet bombing allow one to imagine nuclear war: destructive forces operating beyond interference, with no visible enemy or front. Perhaps women are better able to convey these images because the culture allows them to express their fears and anxieties and to admit their helplessness. Therefore, what postwar generations in Germany have learned about the impact of World War II has come primarily through the narratives of their mothers and grandmothers. Close examination of these narratives, however, reveals that their message is not one-dimensional or direct but contradictory and ambivalent. I analyze here some of the inconsistencies using two sets of oral history interviews with men and women who lived in Berlin and Hanover during World War II . The women in both these groups personally experienced the effects of the most advanced warfare technologv. Fifty percent of Berlin and close to 60 percent of Hanover were destroyed by bombs. The Berlin project, carried out in 1978-1980 in a working-class neighborhood, focused on the impact of fascism on social relations. The Hanover project, carried out in 1982, centered on gender relationships in the postwar years. The 35 respondents in the Berlin project were born before World War I; by 1945, most of them were between 35 and 40 years old. They grew up during the Weimar Republic and entered the period of National Socialism as young adults.3 The 18 interviewees in the Hanover project were much younger. Born between 1920 and 1925, they were part of the Hitler Youth generation; by 1945 they were between 20 and 25 years of age.4 About one3 The Berlin project method used largely self-directed interviews, life history approach, 3 to 5 sessions on the average. The study was financed by the Freie Universität Berlin in 1979-1981. See Tröger/Kleiber/Wittmann: Mündliche Geschichte: Ein Charlottenburger Kiez 1982. 4 The Hanover project was a graduate course conducted for two semesters at Hannover University in 1982-1983. The interviews used the life history method followed by a focused interview.
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third of the interviewees in both projects were men. Women’s accounts compare favorably to men’s for their seriousness and compassion. But comparison in depth is impossible because of space limitations. Neither investigation focused on the Second World War, yet the respondents made it into a central topic in these largely self-directed interviews. The place and time given to the war in their life histories is of methodological interest. The topic of war comes up quite early in the narrative. In the Hanover interviews with members of the younger generation, prewar life takes up only a few minutes in the normal narrative sequence. The older Berlin group, interrupting the chronological order, introduces the war the moment the topic of National Socialism comes up in the interview. In terms of »talking time« versus »time talked about,« the five war years take more talking time than any other period in the respondent’s life.5 The five years of war almost always take more time to recount than do the seven years of National Socialism prior to the war (19331939). The uneven ratio between talking time and time talked about is exacerbated in the shorter interviews. Longer interviews conducted over several sessions allow the interviewee psychological time to talk about everything of importance. This indicates that war is not necessarily a timespan of which more memories are conserved and about which more events or stories can be related. The number of incidents related from the period of the war is in most cases rather limited, but these incidents are often retold several times, particularly if the interview spans several sessions. Qualitative distinctions also make the war memories important for interpretation. It is not the drama and singularity of war that make it a prime issue for these life histories. On the contrary, the most dramatic and frightening period, from the winter of 1943 to April 1945, when heavy bombardments daily threatened life in the cities, is rather vague in the memories of survivors. Their recollections are gray, impersonal, and distant, as if they did not really live through that time or as if they had been in a trance. The descriptions of the bombardments and air-raid shelters are composite; people, incidents, and circumstances that may have been present in various similar situations are often put together in one dramatic story. In these new syntheses social-historical information is relegated to the background, and a higher-level, quasi-symbolic significance comes to the fore. Memories are constantly being recreated; there is no »original« and therefore accurate memory. Memories of 1945 described in 1946 are no more »true« than those described in 1978. We lack comparative oral history material – say from 1946 or 1960 – that would enable us to analyze the process by which the war has worked on the human mind. Through the community-study and life-history method, however, we can gain detailed factual knowledge of the social and historical circumstances in order to interpret memories. The relative distance from 5 Aside from the favorite topic – specific to every individual – that constitutes a major component of a person’s reconstructed »I« or identity.
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historical facts and their conscious or subconscious transformation in the narrative constitute the raw material for interpretation. War memories may, after careful scrutiny, say something about people’s actual behavior in the past. But the past (»what really happened«) is not the subject of this article. War works on the mind and is thus part of the psychosocial fabric of our society. Paradoxically, the dynamics through which the war worked on the mind may be traced by examining the ways memory has remade the war. Memories of the war interest us today both as keys to and as active agents in the present. Even our questions about war memories are a product of war memories. In symbolic terms, the war stories are both individual and collective. They are made of and told as personal experiences, but at the same time they carry collective patterns of meaning. These meanings, however, are not yet socially codified, and therefore I prefer to call them quasi-symbolic. It is difficult to say how willfully these stories are constructed and how consciously their symbolic meaning is conveyed: these factors differ from person to person and from one story to the next. Even within a single story there are breaks and shifts. For example, a story that sets out to convey a specific message may end with a different, even contradictory meaning. For purposes of analysis I distinguish three levels of meaning in these warrelated accounts. At the first, existential level, the individual attempts to describe the heretofore unexperienced – emotions and feelings for which there are no words, no collective language; experiences that have no precedents in one’s life. The second, psychological level concerns the complex formulation of both individual and collective identity. Then there is the third, historico-political level of relatively deliberate, generalized description, which is conveyed at times by metaphors such as »war as natural catastrophe.« These three levels, used as methodological constructs, allow one to deal with the complexities of oral memories. In the following section I examine interview passages, filling in historical or political details necessary to my interpretation. I concentrate here on several questions: How do women describe their experience of technological warfare and what metaphors do they create to do it? What psychological effects does this experience have? And how do women deal with the problem of recent German history, a history which they did not make but of which they are invariably a part? The following narrative was taken from interviews with a single woman, but the accounts of other women are quoted occasionally as supporting evidence. The decision to restrict the analysis to a single case has not been easy. But the symbolic meaning often appears in the metalanguage of a narration, and long quotations are required to capture them. Biographical background also informs the interpretation, so a sketch of the »whole person« must be drawn. In this narrative, all three levels outlined above are present even though Frau Werner speaks usually at the existential level. Her narrative is more complex and less controlled than others, hence more interpretation is required. Her rationale has to be closely followed to clarify the hidden logic of her discourse. 310
The Story of Frau Werner Frau Werner was born at the turn of the century, the only daughter of an overseer on an aristocratic estate in what is now Poland. She often fondly recalled her childhood and youth in this still semi-feudal world. In her memory, it became an idealized, warm, and protective world that contrasted with her later hard life. Orphaned at 18, she followed the usual path of an Eastern (German or Polish) migrant worker to the industrial West. After several jobs in smaller towns as a domestic servant, around 1926 she arrived in Berlin, where she had neither relatives nor friends. Shortly before the depression she became an assembly-line worker at the Siemens electrical plant, where she worked until the end of the war. In the last year or so of the war, she worked in an underground ammunition production site within the Siemens compound where she was locked up during the day with the foreign forced laborers. After the war she held several jobs, including that of Trümmerfrau, cleaning up the rubble of the war from the city. By then in her fifties, she was worn out and remained largely unemployed until she retired on a small pension. Frau Werner did not belong to any party or union; she is certainly not the prototype of a class-conscious worker. In her naive humanism, however, she was genuinely distrustful of National Socialism. Coming from a rural background of dependency and submissiveness, a single woman and an unskilled worker, she was vulnerable and easy to exploit, an Aryan underdog in a Nazi society. Frau Werner composed her experiences of various bombardments into the story of a single night.6 Her story presents primarily the existential level in my analysis as she endeavors to express the hitherto unexperienced, to name what she felt during a cataclysm.7 The apartment house was small; only eight people were living there. I used to go to the shelter in the house next door. It was larger and I felt more secure there. And when it became so crazy with the bombing [in 1944] – it was a catastrophe, no, really. I ran out of the house into the backyard. It was full of phosphor and my soles were burning. I thought, my God, what is happening to you? You are burning your feet. Where to go? I didn’t know; it was coming from the sky. I was completely out of my mind. Suddenly it came to me: you are going to need your quilt. So I ran back into the house and got my down quilt. Then there was the engineer from Siemens. Wait, how was it? Well, I ran into the house and found all the doors had blown open. I saw my landlord lying in his bed. He was blind, you know, and there he was lying 6 7
She told the story twice in slightly differing versions, but the main elements remained the same. The following passages are from the second interview. All of the following direct quotes from interviews have been slightly edited and translated by the author. Brackets contain completions or explanations. Ellipses […] indicate phrases or passages that have been omitted. All personal names have been changed. Frau Werner was interviewed by Karin Eickhoff for the Berlin project.
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on his bed, completely alone. So I ran into the room: »Where is your wife?« »I don’t know,« he said. He was already rather old, you know. I said, »My God, Herr Wein, get up and get out. The house is already on fire upstairs.« And he said, »Oh, let me burn!« and I said, »I can’t let you burn here, all alone. Where is your wife?« »I don’t know,« he answered, »she ran away.« And later I said to her, »Frau Wein, how could you do such a thing?« »I was completely distraught,« she said. »I just ran out of the house; I didn’t think of my husband.« »Well,« I said, »If I hadn’t come back he would have burned to death. Well, you are one nice wife.« … Anyway I just saved my down quilt. I wanted it – really wanted to save it. And there was a crashing all around, and a roaring in the air. I still remember. I stood in the street with my bundle – and I cried and cried. The crashing in the air; I could have been hit but I was so overwhelmed I didn’t know what to do next. And it just happened that somebody I knew came by, an engineer from Siemens. And he asked, »What are you doing here?« »I don’t know where to go,« I said. There I stood with my bundle and everything around me was in flames. Where to go? »Well,« he said, »come along.« And we went around the corner and there was a military hospital; it was not yet burning and everything was completely dark, because of the blackout. And there was a steep staircase down to the basement [of the hospital] and he said, »Throw your quilt down there!« »I can’t,« I said. »You have to jump down into the basement,« he said. So I threw my quilt down and he – he gave me a push. And I fell down backward onto my quilt. And because of the noise the doctors came out. You know there were a lot of wounded in the hospital and a lot of doctors. That I did not break any bones was really a wonder. And the doctors took me in and gave me an injection to calm me down. I had a real shock you know … and then I had to go to the big school building [in the neighborhood]. Well, in its basement I camped with a lot of other people [who had also lost their homes], I don’t know how long I lived down there. It was terrible. I had nothing but the clothes I wore. I could hang them up on one nail in the wall. That’s all I owned. And there, in the basement, we got a little to eat, because nobody had anything left. I had only the clothes I wore and my down quilt. Nevertheless I had to go to work every day … And then I had to live with people here and there. I had to get up rather early to get to work so I was disturbing the people I lived with. I went to the office of housing control and said, »Sir, I have become a real gypsy.« But I did not get my own room until a long time after the war [around 1947] … Perhaps they, the Americans, wanted to bomb Charlottenburg castle, but they hit us [instead]. It was terrible – I don’t like to think about it. I always say I don’t want to go through it again. Well no, I don’t think that I could bear it a second time.« There is a clear difference in style between Frau Werner’s description of the night of the bombing, which has a dreamlike quality, and her report on her daily life after the airraids. The dreamlike quality is produced by the scenarios, by 312
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rent metaphors (such as the down quilt), and, last but not least, by the way she collapses different stories into one. The composite character of her memory is most visible in her unfinished story concerning the blind man. If she saved him that night as she says (led him into a shelter and so forth), the following sequence of her standing alone and terrified in the street until her savior, an engineer, came by, does not make sense. The two incidents probably happened in separate, although similar, situations. The recomposition does make sense, however, for the symbolic meaning she really wants to convey. The anecdote of the handicapped, helpless old man functions as a metaphor and not as an actual story in the context of her narrative. It highlights her own feeling of vulnerability and »interprets« her sense of confusion and blindness. Her irrational behavior, standing out in the open during the bombardment clutching her down quilt, is also that of a blind person immobilized, because every step could conceivably lead to an abyss. The story of the blind man’s wife conveys the same message: the most simple and basic human solidarity did not function. Yet the wife cannot be blamed because the war also made her senseless. The symbolic meaning of Frau Werner’s story is that the bombings were such a new and threatening experience, so different from all previously conceived dangers, that normal, rational action became meaningless, and the established norms of perception, judgment, and behavior were rendered invalid. If Frau Werner had finished the story of the blind neighbor, she would have undercut her message by portraying herself as a rational and responsible actor (which she probably was in the actual situation). Then her story would have become that of a heroine instead of a helpless, confused, and frightened person. Its symbolic meaning would have been reversed: technological warfare is a dangerous yet manageable situation, if only one is cold-blooded or callous enough to deal with it, as most men would portray themselves. In addition to the bombing, the two other major themes of Frau Werner’s war memories were hunger and bad working conditions. These two themes came up in all the interview sessions and were closely connected to the issue of foreign forced labor.8 And, on top of everything [the airraids], nothing to eat, nothing to eat. I could not sleep at night because I was so hungry, and I paced up and down with hunger pangs. I got only the fewest ration cards … Then I lost so much weight: I became weaker and weaker. I even broke down on the street. Three times I fell, you know, where the old post office used to be. There I broke down and fainted, just in front of a young man who helped me up. I said, »Where am I?« »Well,« he said, »you know you are hungry.« He saw immediately what was going on. And I was so embarassed that I said well, yes. »You are just hungry, not sick,« he said, »come, let us go eat. I still have some ration cards.« So we went to eat and I was glad. I was totally run down. It was 8 The following passages have been pieced together by the author from different parts of the interviews.
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[because of ] the work. I worked on the assembly line at Siemens. You know what a conveyor belt is? It’s very hard on the line; the machines are running all the time, without interruption, and you have to move quickly … The assembly line ruined me. It was terrible. Nobody can bear it for a long time. I always said it made me kaputt. Nights we spent in the shelter, during the day we worked with nothing to eat. No human being is able to endure that. I kept thinking, perhaps you should have gone to America. You wouldn’t have gone through the war and many things [in my life] would have been better. Well, I don’t know what would have happened to me over there.«9 The notion of being a victim permeates Frau Werner’s description of the work more than her narration of the bombings. In her own way, Frau Werner makes it clear that she is a victim of class society (a term she would not have used); the war epitomizes her situation. Important to her self-perception as a victim is her social status as a single woman, ostracized by official ideology for not having children and by public attitude for not having a man, assigned few ration cards and dangerous jobs. Because of her marginal status, Frau Werner believed that any woman »with a man« was treated better than she was. In the interview she continued to harbor this impression: »And if they find out you’re single, well, just forget it, you have no chance.« It is significant, given the misogyny of the National Socialist era, that Frau Werner’s two »savior« figures in dramatic situations are both men. There are hints in her more factual accounts that she received more consistent help from women, but, given the symbolic valence of men over women, she would be unlikely to construct her dramatic stories around women. Her stories may incorrectly report social historical facts (who helped whom), but as metaphors for the social and political power structure between the sexes they are quite realistic. More important than the political symbolism is the psychological level in these savior-stories. Both saviors respond to her needs as a human being and not to her civil status, decide for her what she needs, and assume responsibility for her like a child. The need to be treated »like a child,« the need for warmth and security, may be particularly strong in the case of Frau Werner, but it is also present in the war narratives of most of the other women interviewed. A woman in the Hanover group from a secure upper-middle-class background related with pride how as a young apprentice she assumed the difficult management of a bookstore during the war and helped organize a community library in the postwar years. Yet she exclaims, »and there we [the female members of the family] were, sitting all alone, without my father or my brother, imagine we women all alone in the shelter!« Here we can trace an important psychological ambivalence in women, accentuated to the extreme in the war situation. On the one hand, women were – and had to be – strong, brave, and tough. All are acutely aware and proud of these qualities in themselves, even Frau Werner, who saved the 9 In the early 1920s Frau Werner had the vague possibility of going to the United States, but she never seriously pursued it.
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blind man. On the other hand, the difficult living conditions and fear created by the bombing must have unleashed a tide of regressive needs. The seemingly irrational importance Frau Werner attaches to her down quilt in a life-threatening situation, even to the point of putting herself in danger to save it, is a classic regressive symptom. But it was virtually impossible for most women to act out their regressive needs, since they had to be responsible for children, the elderly, and maimed men who had their own regressive tendencies. Adult women could only give expression to these needs in their fantasies, in which, presumably, the powerful and protective man played the leading role. These fantasy men could perform their role better the less they could be verified against actual men in daily life.10 That strange ideological hybrid of Nazi womanhood, the tough but submissive female, may have reinforced and maintained the contradiction lived by many women.11 Otherwise, women might have surrendered to their needs or they might have become self-consciously powerful as a people and as a gender. Instead, the contradiction has remained unresolved. With the defeat, the German masculine mystique fell apart both privately, for individual women, and publicly. This collapse seems to have occurred suddenly and not as a result of a slow erosion caused by women’s assumption of stronger roles in German society from 1942 on. Significantly, women clung to their protective fantasy men until they could no longer avoid facing reality. The awakening was no doubt very painful for some of them. A woman from the Hanover group who was 20 in 1945, with two young children and a husband who had become a war invalid in 1943, recounts the last days of the war: When the Americans came – I cried so terribly [sobbing]. At first our troops came through: [very emotional] beaten down, worn out, and they had nothing to eat. And four days later the Ami [American troops] came: beaming faces, the boys were rested, with gloves and not in rags like ours – it pierced me [tears in her eyes] and it still hurts after so many years. A short period of individual assertiveness and informal social power on the part of women followed (until the end of the 1940s), again under extreme conditions of hunger, social uprootedness, and scarcity. In the early 1950s a seemingly sudden reversal of women’s emancipation took place: the traditional familial roles and gender relationships were reestablished, and the majority of German women adapted without resistance. To explain this development, we must assume that, during the short »spring of liberation,« the fundamental contradiction between
10 The National-Socialist ideology of manhood may have helped to direct women’s fantasies, but it lacked any nurturing aspect. 11 For views on the double-faced ideology of women in German fascism, see Rupp: Mobilizing Women for War 1978. For the early formulation of this ideology, see Koonz: The Competition for Women’s Lebensraum; and for its later use in industrial psychology Tröger: The Creation of a Female Assembly-Line Proletariat, both in: Bridenthal / Grossmann / Kaplan (Eds.): When Biology Became Destiny 1984.
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self-assertion and feelings of weakness remained unresolved, while the regressive need to be protected continued to dominate.12 The third major topic in Frau Werner’s war account, foreign workers, clearly exposes the contradictory nature of her war experiences. The stories occur twice, with slight variations, but the sequence remains exactly the same. I never liked Hitler. [Interviewer: »Why not?«] No, I never could stand him. I had then a radio to listen for bombing alerts. When I heard his voice I turned it off. I could not stand him … Well, our foreman was also such a crazy [National Socialist], and the manager, he was also totally crazed. I scolded sometimes. I was not one [a National Socialist]. And once he said to me: »If you don’t shut up, then we will see where you will [have to] go.« Then I shut up; I was scared. And at the same time, there were a lot of foreign workers at Siemens. They had to work there and they had a camp near Spandau [a town on the outskirts of Berlin]. They all lived there. They were mostly Czechs. Some knew a little German, but we were not allowed to talk with them. Secretly we did anyway. I still have the shawl of one woman; her name was Vera. »Visit me in Prague!« [she said]; I never got there. [She] meant after the war. Her family owned a concert coffee house [a large, well-known coffee house]. [One day] she said, »I have to go,« and then she escaped. It did not take long [and she was back again]. I said, »Vera, where have you been?« And then she told me, »The German police searched for me at home, and I had to come back.« At Siemens, you know, that was forced labor! And she cried. And then I said, »Well, Vera, it’s not our fault that there is a war: we would rather not have it.« Oh well, I still keep her shawl that she gave me as a gift. One day I got a notification from the government [ordering me] to do war work, ammunition production, my goodness … We sat in the basement of the Siemens plant, we worked in the basement, and above us the airplanes were flying. And there was a little stove, and we cooked turnips there with water and salt, nothing else. And the Russians [prisoners of war] wondered what delicacies we were eating; and in the next room there was a pile of turnips. And then, I remember, we had a guard [for the Russians], an older man. Once he came in and laughed. And I said, we don’t feel like laughing. And then he told me that he had found a young Russian sitting on the pile of turnips in the next room. He had asked the Russian [trying to be funny]: »What are you doing here, looking for turnips in a pile of turnips?« And the Russian was so scared to death that he said: »Mercy, mercy, Russki so hungry. Mercy, mercy, don’t shoot.« But the old man didn’t even have a gun, you know. And he [the Russian] ran away and turned around shouting, »Mercy, mercy, Russki hungry.« Oh, I will never forget it. I will always remember. Isn’t it terrible that a human being is so hungry … that he doesn’t know what to 12 On the postwar »liberation« see Tröger: Between Rape and Prostitution 1986, in which I analyze the situational factors accompanying women’s liberation – which are insufficient to explain the conservative turn in the 1950s.
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do any more? Isn’t it frightening? We have gone through the worst; not only they, but we also. The last phrase epitomizes the vacillating and mostly unclear sense of »we.« Frau Werner clearly did not mean »we Germans.« She separates »them up there« – Hitler, Goebbels and the »gentlemen of Siemens« – from »us down here.« The threat of being sent to a concentration camp is the crucial link to the issue of forced labor, indicating how close her situation was to that of the foreign workers. In her narrative, she struggles between trying to show that »we« down here were all the same – victims of the war – and having to recognize the reality that there were major differences between »them« (the foreign workers) and »us.« The story of the turnips shows the ambiguity most clearly: in her long deliberations on food and foreign workers (not quoted), it sets out as an example that »we« had no better food than the Russian war prisoners. But then the narration turns against the initial intent of the narrator and takes an independent course, since the incident with the young Russian demonstrates that »they« did not even have turnips and risked their lives to steal them. As if to insist on the original message of her story, Frau Werner finishes somewhat abruptly with »we have gone through the worst; not only they, but we also.« In her peace declaration to Vera, the »we« approaches closest to the notion of »we German workers« – without, however, the more active implications of class solidarity, which would at least have meant sharing the relative privileges of German workers. Frau Werner is honest enough not to hide behind the indeed very heavy penalties for giving food to foreigners, as most respondents do; she talks instead about her fears of not having enough for herself. Since proletarian internationalism was too high a goal, identifying with the »internationalism of victims« seems to be the only way out of the moral dilemma; it does not require more than having been oppressed. Yet there is still an unresolved »remainder« in her identification with Vera. Vera’s shawl becomes important in this regard, for it symbolizes that Vera forgave her. (Personal gifts, especially from Jews, play an important role in many memories.)13 In all of Frau Werner’s war memories, there is no »our side,« no reference to national identity (in contrast to her childhood memories, in which her German nationality is important to distinguish her family from the Polish farmhands). Once she refers to »ours,« but in a rather negative way: seeing an American pilot who had been shot down accompanied by German soldiers, she asked what would happen to the »young man.« Upon hearing that he would have to testify or be beaten up, she reflects: »You think ours were so noble – you’d better not believe it.« She seems to have abdicated her national identity for the period of the war: »Perhaps I should have gone to America.« Correspondingly, there is no 13 Often, these gifts serve as crude proof that »we personally had nothing against the Jews.« But there are also the more subtle and serious cases like Frau Werner’s, where the gift seems to have the nearly religious function of alleviating guilt. These are often persons who helped Jews to survive but in the end could not prevent their deportation.
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»other side,« no enemy, in her war descriptions. The American bomber pilots who destroyed her homes are nearly exculpated; they wanted to bomb Charlottenburg castle, Frau Werner speculates; unwillingly, they hit us instead. The issue of forced foreign labor is still an unresolved problem in the memories of many working-class people, whereas for most middle-class respondents it does not even seem to be an issue. In contrast to Frau Werner, most Germans, except for old Communists, will not touch the sensitive topic unless asked directly. Yet, in her struggle with her collective identity, this sensitive if apolitical woman presents the objectively ambiguous position of the German working dass then and the resulting ambivalent and confused emotions of today more accurately than many of her more class-conscious colleagues.
Never Another War There is one clear and unmitigated message in all the interviews undertaken with German women: never another war – under no condition! The three levels of symbolic meaning introduced above permeate most of the other interviews in the Berlin and Hanover projects. The existential level is clearest in the descriptions of the city bombings. The many strikingly similar stories about putting one’s life in utmost danger for a pint of milk or an identification paper convey the message that daily life was a dangerous affair in which one had to be both mindless and brave. They also seem symbolically to express the senseless and nameless death resulting from depersonalized technological warfare in which human life – one’s own life – had no value, not even for oneself. The innumerable stories about bombed apartments and the endless and futile attempts to recuperate them do not simply convey the factual information that a home was essential to survival. Rather, they symbolize being thrown out in the open, having no protection against impersonal destructive forces, being delivered over to forces beyond one’s control. The soldier in the frontline trench, under fire and crying for his mama, became a famous metaphor for human inability to deal with the new technological quality of World War I. The woman standing in the full blast of saturation bombing, crying and clutching her quilt, is an equally powerful metaphor for World War II . The symbolic meaning of these war stories on the historico-political level manifests itself through the context and choice of vocabulary. War is offen seen as a natural disaster, a catastrophe. This common metaphor is ambiguous; it expresses, for lack of more appropriate language, the feeling of being completely delivered over to forces beyond one’s control. It is justified and »real« on the existential level, but it also conveys, implicitly, a political message: there is no collective or personal responsibility for war; it just »breaks out,« is not prepared for, and not declared. By the same token, the end of the war is often referred to – at least by the loser – as »the change« (Umschwung), as if it were merely a change in weather; rarely is it called »the defeat.« »War is something beyond 318
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itics,« one woman remarked. The concept of war as a natural catastrophe rather than the consequence of imperialist drives14 allows one to be against war – a sentiment deeply felt by the majority of German people since the end of World War I and even more strongly after World War II – but at the same time to uphold nationalistic values. It allows the contradiction of supporting armament expenditures to »reestablish national pride,« while at the same time »praying to God« that another war does not come. Such metaphors allow individuals and nations to shore up inconsistencies that might otherwise break apart. Naturalizing war allows people and nations to be proud of easy victories over small and helpless countries, to rejoice over the booty, be it French perfume or Polish servants, while feeling victimized if the price of death and destruction has to be paid. The subjective level of symbolic expression in the narratives concerns both the experience and the identity of the individual woman and women’s social selfimage. It involves nearly all facets of female subjectivity and provides a psychological base for political metaphors used in the public realm. The symbol of the victim may exemplify the complex relations. The notion of being a victim permeates nearly all the war accounts of the women interviewed. As a matter of fact, in the second part of the war, the majority of German women, as well as children and others on the homefront, were victims in the traditional sense of the word. They were subjected to and suffered under conditions that they did not want and could not change.15 Thus the image of the victim is an accurate description of the war experience, so powerful as to have a lasting impact on the discourse of today’s political movements. But the symbolism of the victim has a meaning beyond the actual circumstances that these women endured; it becomes ambiguous, like the metaphor of the natural disaster, yet it remains more compelling because of its religious roots. The religious and popular symbol of the victim absolves the victim of responsibility and guilt. A victim of the war cannot be responsible for it. In the postwar German understanding, this notion is carried even further: as a victim one cannot be held responsible for fascism. This is certainly one reason that interviewees brought up the war as soon as the uncomfortable issue of National Socialism was raised in the interview. Suffering shields Germans from the threatening and guilt-provoking questions surrounding the issues of fascism, concentration camps, and the Nazis’ treatment of Jews. Women have been victimized, as a group, throughout history. Religions have built female victimization into a positive ideology of self-sacrifice as the highest virtue of womanhood, and fascism thrived on a secularized version of female sacrifice. Thus, the image of the victim is an integral part of women’s cultural 14 Imperialist is used here as an analytical concept to designate specific political-economic relations between nations, not as a historical term referring to the German Empire. 15 At what point ordinary people could have prevented the war is a question beyond the realm of this essay; I offer the ironic remark made by Alexander Kluge in one of his films, which portrays a woman in an air-raid shelter about to collapse: »The last chance Mrs. X had to prevent her present uncomfortable position was in 1928.«
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and social identity. It is not surprising, therefore, that symbolic victimization is much more obvious in women’s interviews than in men’s. Pleading »not guilty« in all political matters is their favorite answer when they are confronted with their role in the rise of fascism. That victims are responsible too, even for their own victimization, is never allowed to enter their minds. They are dazzled and bewildered when held accountable. German women paid heavily for the deadly adventures of their male ruling elites. But this only strengthens their already deeply engraved identities as victims. The war, as these memories show, has not broken the vicious cycle.
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Dorothee Wierling
Kommentar zu »German Women’s Memories of World War II« Ich lernte Annemarie Tröger Anfang der 1980er Jahre kennen, als ich an der GHS Essen an meiner Dissertation zur Sozialgeschichte der Dienstmädchen im Kaiserreich arbeitete, während dort zeitgleich das LUSIR-Projekt unter Leitung von Lutz Niethammer durchgeführt wurde.1 Annemarie Tröger war eine eindrucksvolle Persönlichkeit, kluge Analytikerin und leidenschaftliche Feministin, allerdings kam es nie zu einer Zusammenarbeit oder persönlicher Nähe; ihre nachvollziehbare Verbitterung darüber, dass die Essener Gruppe über den Lehrstuhlinhaber Niethammer mit der Oral History reüssierte, während ihr die Ressourcen für großangelegte Forschung fehlten, bestimmte – so vermutete ich – auch das Verhältnis zu mir, und als eine Quereinsteigerin in die Wissenschaft, unvertraut mit der Berliner Szene und ihren Konflikten, hatte ich ein bisschen Angst vor ihr und hielt mich an die Historikerinnen um Karin Hausen, die auch meine Doktormutter war.2 So nahm ich Annemaries Arbeit überwiegend durch ihre Veröffentlichungen wahr, und hier vor allem jene zur Oral History. Insofern bin ich dankbar für die Chance, auf diesem Wege noch einmal zu ihr zurückzukehren und ihre Arbeit zu würdigen. Annemarie Tröger hatte die Methode der Oral History vermutlich in den USA kennengelernt.3 Als sie 1979 mit ihrem ersten Projekt, der Kiezgeschichte 1 1980 hatte Lutz Niethammer, nach einer längeren Studienreise durch die USA , einen Aufsatz veröffentlicht, in dem diese Methode erstmals systematisch dargestellt und auf ihr Potenzial für die Geschichtswissenschaft auch in der Bundesrepublik befragt wurde. Im selben Jahr begann das Projekt Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet mit einer Gruppe von fünf Historikern und zwei Historikerinnen. Zwischen 1983 und 1985 erschienen drei Bände, von denen der erste die Erfahrungsgeschichte des Nationalsozialismus im Ruhrgebiet, der zweite die Erfahrung der Nachkriegsgeschichte zum Thema hatte. Der dritte Band stellte die Ergebnisse von LUSIR in einen Vergleichszusammenhang mit anderen Oral-History-Projekten in Europa und den USA . Niethammer / von Plato (Hrsg.): Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet, 3 Bände, 1983-1985. 2 Annemarie Tröger nahm in der in den späten 1970er Jahren in Berlin erbittert geführten Kontroverse über »Lohn für Hausarbeit« eine exponiert kritische Position gegenüber dieser Forderung ein; während Barbara Duden und Gisela Bock in ihrem Aufsatz: »Arbeit aus Liebe, Liebe als Arbeit« für die Entlohnung von Hausarbeit plädierten, vertrat sie die Forderung, 50 Prozent aller qualifizierten Arbeitsplätze an Frauen zu vergeben. Zur historischen Debatte um Hausarbeit: Bock / Duden: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit 1977. Ich danke Carola Sachse, die damals auf Annemaries Seite stand, für ausführliche Hintergrundinformationen. 3 Wie übrigens auch Niethammer, der 1976 vier Monate in die USA reiste, um diese Methode zu studieren. Niethammer: Oral History in USA 1978.
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von Berlin-Charlottenburg, begann, war das eine Pionierstudie – das LUSIRProjekt folgte 1980 – und, zumindest in der historischen Zunft, akademisch nicht nur umstritten, sondern meist gar nicht satisfaktionsfähig. In einem 1982 veröffentlichten und wohl auch nach Abschluss der Charlottenburg-Studie verfassten »methodischen Bericht« erläutert sie das Vorgehen und verteidigt sich gegen tatsächliche oder vermutete Kritik.4 Sie begründet einleuchtend den lebensgeschichtlichen und narrativen Ansatz des Projekts und verteidigt sich ausführlich gegen den Vorwurf des »Psychologisierens«.5 Annemarie Tröger hatte Soziologie und Psychologie studiert und war also keine Historikerin; aber die biographische Methode und das narrative Interview waren ohnehin nicht das geistige Eigentum der Historiker, die damals vor allem auf soziologische Methodenangebote zurückgriffen. Bis heute bildet die von Historikern durchgeführte Oral History nur einen Teil der Forschung in diesem Feld ab, wobei Historiker / innen die Methode immer auch als Verweis auf die Vergangenheit nutzten. Glaubte Annemarie Tröger, sich wegen ihrer Ausbildung zur Diplompsychologin besonders gegen den Vorwurf des »Psychologismus« wehren zu müssen?6 Folgenreicher für ihr Vorgehen scheint mir allerdings ihr gespaltenes Verhältnis zur akademisch / universitären Wissenschaft: Während sie einerseits beklagt, dass dort die Methode der Oral History überwiegend nicht ernst genommen werde, beschwört sie gleich anschließend »die Gefahr, dass die […] ›Mündliche Geschichte‹ oder ›Biografische Methode‹ zu einer akademischen Methode wird.«7 Annemarie Tröger verstand sich nicht nur als Wissenschaftlerin, sondern ebenso als politische Aktivistin. Als radikale Linke und Feministin war sie an einer Geschichte interessiert, welche die systematische Benachteiligung, Unterdrückung und Ausbeutung sowohl der »Arbeiterklasse« als auch der Frauen in Geschichte und Gegenwart aufdeckte; die so gewonnenen Erkenntnisse sollten Menschen für die aktuellen politischen Kämpfe mobilisieren. Oral History, die Methode, welche diejenigen zum Sprechen brachte, deren Stimme in den konventionellen Überlieferungen fehlte, schien sowohl der wissenschaftlichen Erkenntnis als auch dem politischen Ziel zu dienen. Auch die akademisch verankerten Oral Historians der 1980er Jahre waren ganz überwiegend dem Projekt der Demokratisierung der Geschichtswissenschaft verpflichtet. Allerdings stellte sich bald heraus, dass beide Ziele oft im Gegensatz zueinander standen. Denn 4 Vgl. Tröger: Mündliche Geschichte 1982 in diesem Band, S. 177 ff. 5 Ebd. S. 175-185. In einem Interview mit Annette Leo hat A. T. erzählt, dass dieser Vorwurf u. a. von Lutz Niethammer gekommen sei. Ob er jedoch der Hauptadressat ihrer Ausführungen zu diesem Punkt ist, lässt sich nicht klären. Auch das LUSIR-Projekt und die Oral History im Allgemeinen sahen sich diesem Vorwurf ausgesetzt, Niethammer, von Plato und ich zuletzt bei unserem Oral-History-Projekt 1987 in der DDR . Niethammer / von Plato / Wierling: Die volkseigene Erfahrung 1991. 6 A. T. hatte ihr Psychologiestudium 1966 mit dem Diplom abgeschlossen. Eine psychoanalytische Ausbildung hatte sie begonnen, aber nicht zu Ende führen können. Vgl. den Beitrag von Regine Othmer in diesem Band. 7 Tröger: Mündliche Geschichte S. 177.
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die historischen Subjekte, die uns vor allem am Herzen lagen, entsprachen in der Regel weder dem Helden- noch dem Opferbild, mit dem man sich gern identifizieren wollte, sondern stellten sich als komplexe Personen mit widersprüchlichen Lebensgeschichten heraus. Wenn man das Interview als Zeugnis vergangener Erfahrung dem üblichen Procedere der Quellenkritik unterzog, also Fragen nach dem Entstehungszusammenhang, der Autorschaft, der Überlieferung, der Überprüfung der Quellenaussage mit Parallelquellen usw. stellte, dann verwiesen die Ergebnisse auf das Besondere der »mündlichen Quelle«, ihre radikale Subjektivität ebenso wie die Tatsache, das die Historikerin an der Quellenproduktion teilhatte und somit selbst Teil der Quelle war, die es zu analysieren galt. Ein solcher Umgang garantierte die notwendige Quellendistanz und -kritik; ernst genommen hieß das, die Quelle auch im Hinblick auf ihre Relevanz für das faktische Wissen über Vergangenheit zu überprüfen. Man konnte sie dann entweder als »unzuverlässig« zurückweisen oder als Quelle für subjektive Erfahrung von Geschichte gelten lassen und sogar schätzen. Letztere Variante stellte die Lösung für die Historiker / innen dar, die von einem starken Interesse an Alltagsgeschichte als Erfahrungsgeschichte getrieben waren. Zwar war es nicht unerheblich, ob und wie die Erzählungen unserer Interviewpartner / innen dem ursprünglichen Ereignis und Erleben entsprachen. Aber bedeutsamer als die faktische Wahrheit des Erzählten war die Wahrhaftigkeit der Erzähler / innen, mit der sie über ihre subjektive Erfahrung und Erinnerung sprachen. Die politische Agenda, das Projekt der Demokratisierung der Geschichtsschreibung oder der Ermächtigung der historischen Objekte zum selbstbewussten Subjektstatus war mit der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis also nicht immer vereinbar. Die Spaltung der Geschichtswerkstattbewegung Anfang der 1980er Jahre entlang der Grenze zwischen der eher akademischen und der eher lebensweltlich eingebetteten Alltagsgeschichte mit politischer Agenda war ein Ergebnis dieser Unvereinbarkeit.8 Es ist deshalb interessant, wie sich Annemarie Tröger in diesem Zwiespalt gegenüber ihren Quellen verhielt. Zunächst erwies sich die Tatsache, dass sie keine Historikerin war, als Vorteil, insofern die Frage, in welchem Verhältnis das aktuell Erzählte zum vergangenen Ereignis stand, für sie irrelevant war, denn »the past (›what really happened‹) is not the subject of this article. […] Memories of the war interest us today both as keys to and as active agents in the present.«9 Zwar würde ich argumentieren, dass die Interviewerzählung in der Gegenwart stattfindet und diese mitreflektiert, aber einen Bezug zu Erlebtem hat, der über die Interpretation zumindest ansatzweise freigelegt werden kann – und dass dies eine legitime und für Historiker / innen sogar notwendige Unternehmung darstellt. Als Trögers Leserin erkenne ich aber respektvoll an, dass sie sich mit der sozialen Konstruktion des Gedächtnisses schon frühzeitig, d. h. vor 8 Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg / Galerie Morgenland / Geschichtswerkstatt Eimsbüttel (Hrsg.), Geschichtswerkstätten gestern – heute – morgen 2004. 9 Tröger: German Women’s Memories 1987, S. 310.
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dem großen Memory-Boom, auseinandergesetzt und die komplexe Verarbeitungsgeschichte von Erlebtem zu einer gegenwärtigen Erzählung, für welche die Interviews ein Zeugnis sind, zum Ausgangspunkt ihrer Deutung gemacht hat, als viele Historiker noch vor allem an den alltagsgeschichtlichen Erkenntnissen interessiert waren, welche das Material ihnen anbot. Das Gleiche gilt für ihre Aufmerksamkeit auf die narrative Gestaltung der Erinnerung, etwa den konstruktiven Charakter einzelner Erzählungen und deren Funktion für die Bedeutung, welche die Erzählerin ihren Erinnerungen im Interview damit verleiht – sie erkannte, dass jede Geschichte neben den äußeren Abläufen auch eine symbolische Ebene enthält, auf der biographischer Sinn produziert wird. Und schließlich traute sie sich – als Psychologin –, auf die unbewussten Anteile am Erzählen und damit die untergründigen Textschichten zu verweisen, die sie selbstbewusst in ihre Interpretation einbaute. In anderen Worten: Annemarie Tröger hat frühzeitig die Impulse aufgegriffen, die aus Nachbarwissenschaften wie Literaturwissenschaft, Philosophie und Psychoanalyse angeboten wurden, und zwar bevor die postmodernen Theorieansätze auch in Deutschland ihren Siegeszug durch die Kulturwissenschaften antraten. In der Gruppe der Oral Historians um Lutz Niethammer war es anfangs vor allem dieser selbst, dem an einer systematischen Reflexion der Methode lag, um das Intuitive, etwas Handgestrickte unseres Vorgehens zu systematisieren und damit zu professionalisieren. Annemarie Tröger war ebenfalls von wissenschaftlicher Neugier und methodischer Schulung getrieben; aber auch von ihrem marxistisch gefärbten Feminismus, der die doppelte Befreiung – aus den Fesseln des Kapitalismus wie des Patriarchats – erstrebte. Diese Agenda stand gelegentlich im Widerspruch zu der analytischen Distanz, mit der die Erzählungen dieser Kollektivsubjekte auch von ihr gehört und gedeutet werden wollten. Das zeigt z. B. der Umgang mit der »mündlichen Quelle«, welche die empirische Basis für ihren Aufsatz »German Women’s Memories of Word War II« bildet. Frau Werner personifiziert äußerlich genau jene soziale Figur, die Annemarie Tröger am Herzen lag: eine damals junge, unverheiratete proletarische Frau, die im Krieg dienstverpflichtet wurde und vor allem in den letzten Kriegsjahren sowohl unter den Bombardierungen als auch der zunehmend harten Arbeit in einem Rüstungsbetrieb bei unzureichender Ernährung litt.10 Sie ist also sowohl als Frau wie auch als Proletarierin unterdrückt. Tröger definiert die drei Themen, welche die Kriegserzählung von Frau Werner dominieren: die Bombardierungen Berlins, ihre Arbeitsbedingungen und Ernährungslage bei Siemens sowie ihre Sicht auf die Zwangsarbeiter in diesem Betrieb.11 Trögers Interpretation der Geschichte einer Bombennacht ist sorgfäl10 Buchheim: Der Mythos vom »Wohlleben« 2010. 11 A. T. gibt an, dass sie die entsprechenden Interviewstellen für den Aufsatz kompiliert hat, aber wir erfahren nichts über die Gesamtlänge des Interviews oder die Position der zitierten Geschichten in der Gesamterzählung. Für meine eigene Analyse der Interviewauszüge bin ich auf die Übersetzung durch Annemarie Tröger angewiesen, da sie den Aufsatz selbst auf Englisch geschrieben hat und kein deutscher Originaltext vorliegt.
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tig, aber ihre Schlussfolgerungen sind eindeutiger, als der zitierte Text nahelegt. Denn die Szene mit dem blinden alten Mann im brennenden Haus repräsentiert nicht so eindeutig, wie Tröger vorschlägt, »her own feeling of vulnerability and interpretes her sense of confusion and blindness.«12 Vielmehr kann der Text auch so gelesen werden, dass Frau W. selbst, im Gegensatz zur Ehefrau des Alten, ihre Fähigkeit zur Empathie und ihren klaren Verstand behält; auch die Rettung des Federbetts ist keineswegs einfach »irrational«, sondern einerseits ein fester Bestandteil fast aller Fluchtgeschichten von Frauen, denen es offensichtlich eine Garantie für den Kern des alten und Erstausstattung eines neuen Zuhauses bedeutete; überdies »beweist« die Erzählung von Frau Werner, dass das Federbett ihr ermöglicht, in den tiefen Keller zu springen und so zu überleben. Frau Werner porträtiert sich also sowohl als tüchtige und geistesgegenwärtige Frau, die sogar einem alten Mann helfen kann, wie auch in der folgenden Erzählung als junge alleinstehende Frau, die Hilfe von einem anderen Mann erfährt. Insofern handelt es sich hier auch um eine Erzählung von der Volksgemeinschaft im Krieg – vielleicht mehr als um eine Geschichte über einen männlichen Retter. Ambivalenz und Komplexität bestimmen auch Frau Werners Erzählung über Arbeits- und Lebensbedingungen bei Siemens im Krieg. Als alleinstehende junge Frau ohne Kinder konnte sie sich gegen die Dienstverpflichtung kaum wehren; und gegen Ende des Krieges wurden die Arbeit schwerer, die Arbeitszeit länger und die Ernährung schlechter. Hinzu kam die Belastung durch Bombennächte und den Verlust ihrer Wohnung. Was Frau Werner beschreibt, konzentriert sich offensichtlich auf das letzte Kriegsjahr,13 auch wenn sie die Fließbandarbeit an sich ins Zentrum stellt. Die Unentschiedenheit zwischen ihrer Schwäche (als Opfer) und Stärke (im Überleben), die Annemarie Tröger zu Recht auch in dieser Erzählung feststellt, ist im Übrigen nicht nur ein Spezifikum für die Erzählungen von Frauen, sondern charakterisiert alle Geschichten, die vom Opferwerden bzw. Opfersein handeln. Fast immer versuchen solche Erzähler / innen, die vollständige Hilflosigkeit und Abhängigkeit, in der sie sich befunden haben mögen, narrativ abzuschwächen, um ihre persönliche Würde im Nachhinein zu retten. Das dritte Thema, Frau Werners Geschichten über die Zwangsarbeiter/innen, mit denen sie bei Siemens arbeitete, stellt eine erhebliche Herausforderung für Annemarie Tröger dar, für die Frau Werner das Beispiel einer doppelt ausgebeuteten Arbeiterin darstellt – also eine soziale Figur mit hohem Identifikationspotential. Die Geschichte von Vera, der tschechischen Fremdarbeiterin, ist Frau Werners vergeblicher Versuch, eine Freundschaft zu erzählen, für die der Schal steht, den Vera der Erzählerin schenkte. Während Frau W. dafür zunächst das persönliche »Ich« wählt, wechselt sie am Ende der Geschichte gegenüber der flüchtigen, wieder eingefangenen Tschechin in den Wir-Modus: »Well Vera, it’s 12 Tröger: German Women’s Memories 1987, S. 313. 13 Angaben über den Kontext der zitierten Erzählung fehlen mir, um das zweifelsfrei festzustellen.
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not our fault that there is a war; we would rather not have it.«14 Wie soll man dieses »Wir« verstehen? In seiner Unbestimmtheit liegt ja gerade die Ambivalenz der Erzählung, ebenso wie in der Geste der Gabe, die anscheinend ohne Gegengabe bleibt.15 In der Geschichte über die russischen Zwangsarbeiter ist das »wir« zunächst eindeutig: die deutschen Arbeiterinnen hatten Rüben zu essen, welche die »Russen« stehlen mussten; sie baten um ihr Leben, als sie dabei beobachtet wurden, und Frau Werner zeigt Mitleid, betont aber sofort ein anderes MitLeiden im Sinne des gleichen Schicksals, das beide teilen, das sie aber auch voneinander trennt: »[…] not only they, but we also.«16 Eines will Annemarie Tröger ausschließen: Das »wir« von Frau Werner bedeute nicht ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk. Aber so eindeutig ist die Sache nicht.17 Ebenso wenig lässt sich ohne Weiteres schließen, dass, »in her own way, Frau Werner makes it clear that she is a victim of class society«, auch wenn Tröger in Klammern hinzufügt: »a term she would not have used.«18 Denn selbst wenn Frau W. sich vage zu denjenigen zählt, die »da unten« leben, im Gegensatz zu denjenigen »da oben« (hier »zitiert« A. Tröger allerdings nicht Frau Werner, sondern eine allgemeine Floskel), so ist sie dennoch auf andere Weise »unten« als Vera oder die sowjetischen Zwangsarbeiter; und obwohl sie sich zu Beginn der Geschichte über ihren Hunger auf drastische Weise als fast verhungernd darstellt, ist der entscheidende Unterschied doch, dass eine dienstverpflichtete deutsche Frau 1944 eben nicht verhungerte, wohl aber zur gleichen Zeit sehr viele sowjetische Kriegsgefangene.19 Tröger leugnet diese grundlegenden Unterschiede nicht.20 Dass Frau W. sich den Opfern gleichstellt, die aus der Mehrheitsgesellschaft (aus der »Volksgemeinschaft«) ausgeschlossen waren, ist das Problematische, dem sie sich stellen muss. Sie will die Geschichte einer Frau deuten, die ihr Geschlecht allgemein mit einer Opferposition verbindet, die im Zweiten Weltkrieg real zum Opfer wurde, die sich aber darüber hinaus noch mit denjenigen gleichstellt, die als ausländische Zwangsarbeiter / innen eine unbestritten zentrale Opfergruppe des deutschen NS -Staats waren. Die dreifache Selbstbeschreibung als Opfer hat in der autobiographischen Erzählung eine entlastende Funktion: »A victim of the war cannot be responsible for it.«21 Jedoch, 14 Tröger: German Women’s Memories 1987, S. 316. 15 Die einseitige Geste spricht nicht für eine gleichberechtigte Beziehung. Die Interpretation dieser Geschichte muss unvollständig bleiben, da wir nicht wissen, wann und unter welchen Umständen Vera nach Siemens kam. Dass sie offensichtlich ohne besondere Bestrafung zurückgeholt wurde, überrascht und lässt fragen, ob sie sich u. U. ursprünglich »freiwillig« gemeldet hatte. Vgl. Herbert: Fremdarbeiter 1985. 16 Tröger: German Women’s Memories 1987, S. 317. 17 Tröger: »Frau Werner clearly did not mean ›We Germans‹«. Ebd., S. 317. 18 Tröger, German Women’s Memories 1987, S. 314. 19 Streit: Keine Kameraden 1978. 20 »The ›we‹ approaches closest to the notion of ›we German workers‹ – without, however, the more active implications of class solidarity …« Tröger: German Women’s Memories 1987, s. oben S. 317. 21 Ebd. S. 319.
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»as a matter of fact, in the second part of the war the majority of German women […] were victims in the traditional sense of the word« – denn: »German women paid heavily for the deadly adventures of their male ruling elites«, eine Erfahrung, welche »their deeply engraved identities as victims« nur verstärkt habe.22 Diese Konstruktion hat allerdings zwei entscheidende Auslassungen zur Voraussetzung: einmal die Tatsache, dass auch deutsche Männer, z. B. eingezogene Soldaten, einen hohen Preis, nämlich oft ihr Leben, für dieses »Abenteuer« des Krieges zahlten; und zweitens, dass die deutsche Arbeiterschaft, darunter auch Arbeiterinnen, durch die Anwesenheit der Zwangsarbeiter/innen eine sogenannte Unterschichtung erfuhren, indem sie plötzlich zu Vorarbeiter / innen werden konnten, also faktisch einen sozialen Aufstieg erlebten, selbst dann, wenn ihre eigenen Lebensbedingungen sich während des Krieges verschlechterten.23 Der Text reflektiert all die Widersprüche, in denen Annemarie Tröger sich – als Wissenschaftlerin und als Aktivistin – Mitte der 1980er Jahre befand, als sie es unternahm, die Deutung der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs durch eine – exemplarische – Proletarierin in all ihrer Komplexität zu untersuchen. Auch sie repräsentiert eine soziale und politische Gruppe in ihren konkreten historischen Kontexten. Sie hat sich diesen Widersprüchen ausgesetzt – und der Text bezeugt ihr Ringen damit und wird so selbst zu einer aufschlussreichen historischen Quelle.
22 Ebd. S. 319 f. 23 Das war eines der zentralen Ergebnisse des LUSIR-Projekts in Bezug auf Zwangsarbeit. Der entsprechende Band war 1983 erschienen: Herbert: Apartheid nebenan 1983.
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Rückblicke, Ausblicke
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Die Avantgarde der Angestelltenklasse: Die Studentenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1969 (1988) Die Geschichte der Neuen Linken in Deutschland beginnt mit einer Ironie: Genau in dem Moment, in dem die Arbeiterpartei SPD sich aufmacht, die »neuen Mittelschichten« von Angestellten und Beamten für sich zu gewinnen, wirft sie die Gruppierung, den SDS , aus ihren Reihen, die sich innerhalb weniger Jahre als die einzige gesellschaftliche Kraft erweisen sollte, die imstande war, kritisch politische Inhalte in diese Schichten hineinzutragen und große Teile ihrer jungen Generation – zumindest zeitweise – zu radikalisieren. Die Ironie geht weiter als Farce. Die strategische Kursänderung wurde der Mutterpartei von nicht mehr ganz so jungen, akademisch ausgebildeten Karrieristen eingeredet, die nicht nur aus jener Klasse, sondern zum großen Teil auch aus diesem SDS gekommen waren, wenn auch ein paar Jahre vorher. Diese Schichten, so hatten sie gesagt, würden über kurz oder lang die »Arbeiterschicht« zahlenmäßig übertreffen, auch sei die ganze Nation schon längst auf dem Wege in eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«, ein Trend, den die Partei keinesfalls verpassen dürfe. Wie diese Schichten nun langfristig, d. h. programmatisch an die alte Arbeiter- bzw. neue »Volkspartei« zu binden seien, wussten die Politakademiker auch nicht so genau. Man sollte sie selbst nur ins rechte Rampenlicht rücken, als »Werbeträger« sozusagen. Und auf jeden Fall sei jeder Geruch von Klasse und Klassenkampf zu tilgen, was durchaus den Geschmack der alten, konservativen Parteifunktionäre traf, denen »das ganze theoretische Gerede« schon längst viel zu »sowjetrussisch« klang. Ansonsten hielten sie sich an das alte, noch aus der Kaiserzeit stammende Klischee vom »Stehkragenproletarier«, und der sei eben durch und durch »kleinbürgerlich«. Das lieb gewonnene Vorurteil wurde 1968 durch den »wildgewordenen Kleinbürger« auf der Straße, den man ja schon aus der Weimarer Zeit kannte (oder von ihm gehört hatte), aufs Schönste bestätigt und komplettiert. Zunächst schien die Rechnung der Parteistrategen aufgegangen zu sein. Angestellte und Beamte wählten vermehrt SPD – aus Gründen, die sicher nicht zuletzt etwas mit der Studentenbewegung zu tun hatten. Aber seitdem die ökonomische Krise auch für sie spürbar geworden ist, orientierten sich die »neuen Mittelschichten« doch lieber wieder am alten bürgerlichen Lager, wie in anderen Ländern auch. Nun grübelten die Parteistrategen: sollen sie sich an den »Müslis« oder lieber an den »Yuppies« oder gar wieder am alten »Mittelstand« orientieren? 331
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Um diese deutsche Provinzgeschichte erst einmal abzuschließen: Innerhalb der Partei wäre der SDS nicht zum Kristallisationspunkt und Zentrum der Studentenbewegung in Westdeutschland geworden. Eine Studentenbewegung hätte es auf jeden Fall gegeben, ob mit oder ohne SDS . Damit scheine ich auf die Macht der Geschichte zu verweisen, an die man fast glauben könnte, wenn man einmal den Dunstkreis des heimatlichen Kirchturms verlässt. Es ist ein tatsächlich erstaunliches Phänomen, dass rund um den Erdball soziale Bewegungen entstanden in Ländern unterschiedlicher ökonomischer Entwicklungsstufen und Konsumniveaus, mit verschiedenartigsten Wirtschaftssystemen, staatlichen Verfassungen und politischen Regimen; und dass diese Bewegungen innerhalb eines halben Jahrzehnts in ähnlichen Verlaufsmustern eskalierten, kulminierten und auseinanderfielen.
Auf der Suche nach einer Interpretation Fast noch erstaunlicher ist, dass es trotz der genannten Unterschiede und trotz verschiedener kultureller und religiöser Traditionen gewisse gemeinsame Inhalte gegeben hat: Die Studentenbewegungen verstanden sich als antiautoritär bzw. antihierarchisch, sie wollten Selbstbefreiung bzw. Emanzipation, während ökonomische Forderungen eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielten, Wie auch immer diese Inhalte, besser Begriffe, die die Richtung des Protests bestimmt haben, im Einzelnen ausgedeutet wurden: ob als sexuelle Libertinage, nationale Befreiung oder als Freiheit von Leistungsnormen und Konsumzwang, gegen welche Autoritäten sich die Rebellion auch richtete – den Vater, den Polizei- oder Universitätspräsidenten, den Staat oder die imperialistische Supermacht (meist gegen alle zugleich) –, wichtig ist festzuhalten, dass dieselben »Richtungsbegriffe« überall auftauchten. Ebenso verwunderlich ist, dass eine Handvoll Autoren – Fanon, Marcuse, Reich, Sartre – (zu denen sich jeweils noch eine Reihe nationaler Bestseller gesellten) überall gelesen wurden. Ihnen ist ein sozialpsychologischer Interpretationsansatz, eine existenzialistische Grundhaltung und ein – wie auch immer verschiedenes – unabhängiges linkes Denken gemeinsam. Durch sie vermittelt, tauchten – ebenfalls international – gewisse Selbstverständnisvokabeln auf wie: Entfremdung, Repression, repressive Toleranz, Selbstverwirklichung u. a., die so esoterisch und in ihren theoretischen Ursprüngen so abstrakt sind, dass man sich fragt, ob überhaupt jemand damit etwas verbinden konnte, und trotzdem wurden sie zur »materiellen Kraft«, um einen Ausdruck von damals zu benutzen. Es gibt nur wenige Versuche, den internationalen Charakter der Studentenbewegung zu erklären. McLuhans medialer Ansatz: Durch die Massenmedien werden durch direkte Informationsübertragung, u. a. aber durch die mediale Konditionierung (»the medium is the message«) gleiche Wahrnehmungs- und schließlich auch Verhaltensmuster erzeugt. Diese Theorie erklärt einige erstaunliche und bedenkliche Erscheinungsweisen: z. B. die Übernahme von 332
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rellen Konsummustern und »Moden«, die wiederum zu einer international verstandenen Sprache wurden; oder die Kreation von nationalen Leitfiguren, die vorher bestenfalls Lokalmatadoren gewesen waren, oder die Synchronisierung von Ereignissen. Sie kann aber nicht das Entstehen der Bewegungen erklären. Außerdem bezweifle ich die massive Ausbreitung von TV weltweit vor 20 Jahren. Man könnte am anderen Ende, auf der Ebene des Individuums, d. h. der Sozialpsychologie, Erklärungen für den weltweiten Protest versuchen zu finden. Aber alle psychologischen Erklärungsmuster setzen gleiche oder vergleichbare Bedingungen für alle Individuen voraus. Eine solche, alle Individuen verbindende Ebene müsste erst gefunden werden, es sei denn, man geht bereits von einer weltweiten Massenkultur aus. Bei unserer internationalen Studie war jeder von uns bei der Erklärung des Entstehens der Bewegung und auf der Ebene der bewussten politischen Motivation der Aktivisten fast zwingend an die jeweiligen nationalen kulturellen und politischen Bedingungen gebunden, dass es fast unmöglich war, plausible und hinreichende Erklärungen für Einzelerscheinungen zu finden. So stehen wir heute noch ohne Erklärung vor dem Phänomen, dass um 1965 in fast allen von uns untersuchten Ländern kleine Gruppen von jungen Leuten auftauchen, die mit militanten, symbolischen und provokativen Aktionen eingreifen und sich nicht mehr mit dem traditionellen Gestus linker Aufklärung zufriedengeben, Gruppen also, die vergleichbar sind den von mir im Folgenden dargestellten »Antiautoritären« (das ist eine Selbstbezeichnung). Ich glaube, dass man die Internationalität des Phänomens noch am ehesten »begreifbar« machen kann, wenn man von einer alle Bewegungen verbindenden Zugehörigkeit zu derselben Schicht oder Klasse ausgeht und sich dann fragt, was könnte diese oder jene internationale Erscheinung mit der Klassenzugehörigkeit zu tun haben. Es ist also eine »mediating hypothesis«, auf deren Basis erst sinnvollerweise bestimmte Untersuchungsansätze und Fragestellungen (z. B. sozialpsychologische) gestellt werden können. Vor allem aber ist es eine Perspektive eher als eine Hypothese, die es erlaubt, bestimmte Zusammenhänge auf nationaler Ebene zu entdecken, die dann international, d. h. in anderen nationalen Bereichen überprüft werden können. Oder umgekehrt – und so werde ich in diesem Artikel verfahren – Phänomene, von deren Existenz im internationalen Bereich ich weiß, aber sie nicht genau einschätzen kann, erst einmal in einem nationalen und kulturellen Zusammenhang zu prüfen. Zuerst also meine Hypothese / Perspektive: Die sozialen Bewegungen, die 1968 /69 auf der ganzen Welt kulminierten, sind Bewegungen aus der »white collar class«, die u. a. die Angestellten und Beamten, aber auch die freien Berufe umfasst. Sie wurden von der Nachkriegsgeneration dieser Schicht getragen und von Studenten / innen inhaltlich formuliert und vorangetrieben. Die Tatsache, eine Klassenbewegung zu sein, gibt den Studentenbewegungen ihre historische Bedeutung, erklärt ihre internationale Erscheinung, bedingt aber auch die Grenzen ihrer Wirksamkeit und schließlich ihr Scheitern. Ökonomische Umwälzungen im internationalen Maßstab bereiteten den sozialen Boden für diese Bewegung, 333
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sie waren aber nicht ihre Auslöser. Das Ende der Rekonstruktionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg (»Ende der Wirtschaftswunder«) und der kolonialen Herrschaft ging über in eine Phase weltweiter imperialistischer Ausdehnung neuen Stils und neuer Qualität (Eroberung von Absatzmärkten und Rohstoffen durch Direktinvestitionen und Verlagerung von Konsumgüterindustrien in Länder der Dritten Welt, etc.). Kurz danach, Anfang der 60er Jahre, begann die dritte Industrielle Revolution der »Automatisierung« in den kapitalistischen Ländern. Beides, neuer Imperialismus und Beginn der Automation, hatte die Zunahme der Angestelltenklasse,1 besonders aber die Vergrößerung ihres akademisch ausgebildeten Teils zur Folge, auch in den Ländern der Dritten Welt, in denen allerdings die Massen der Un- und Unterbeschäftigten (»Marginados«) sehr viel sichtbarer anstieg. Eine ähnliche Vergrößerung der Angestelltenklasse hatte es in der Periode der Rationalisierung gegeben, allerdings nur in den industrialisierten Ländern und auch hier mit großen zeitlichen Abständen. Die Behauptung, eine Bewegung der abhängig beschäftigten Mittelklasse zu sein, minimiert keineswegs die – im jeweiligen nationalen Rahmen vielleicht wichtigere – Bedeutung als antiimperialistische, als Demokratisierungs- oder Modernisierungsbewegung. Eine Überdetermination ist bei der Komplexität von sozialen Bewegungen, besonders wenn sie globale Ausmaße annehmen, notwendig. Denn die Bewegungen aus der Angestelltenklasse wurden je nach Land und Region modifiziert oder überlagert von Bewegungen aus anderen sozialen Klassen oder Schichten, wie z. B. Bauern/Marginalisierten/ethnischen Minoritäten etc. … Am deutlichsten wird ihr Klassencharakter wahrscheinlich in den Industrieländern (wobei ich mir bei der »großen proletarischen Kulturrevolution« nicht sicher bin.) Die Bewegungen der 1960er Jahre wurden z. T. gefolgt von anderen Bewegungen, die wie die Studentenbewegung aus dieser Klasse entstanden, auf sie und z. T. gegen sie gerichtet sind, hauptsächlich auf sie zurückwirken und dadurch erst und vor allem über sie hinauswirken (z. B. die Frauen- und die Ökologiebewegung). Ich müsste jetzt, um dem akademischen Prozedere zu genügen, nachprüfen – theoretisch, versteht sich –, ob es überhaupt eine solche von mir postulierte Angestellten- und Beamtenklasse gibt, ob es sich nicht vielmehr um eine Schicht oder sogar mehrere oder vielleicht um sozioökonomische Gruppierungen, die sich im sozialen Raum bewegen, handelt. Ich werde es nicht tun. Vielmehr werde ich, da es mir hier um ein politisches Argument und um ein verantwortungsbewusstes und selbstverantwortliches Handeln geht, den Begriff der Klasse bewusst und im durchaus emphatischen Sinne auf die von mir grob umrissene soziale Schicht anwenden, so wie er noch in den 1920er bis 1950er Jahren auf die Arbeiterklasse angewendet wurde und das nicht nur von der Linken.
1 Zahl der Angestellten / Beamten größer als die der Arbeiter: in den USA Anfang der 1960er Jahre, in der BRD 1976.
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Der Sprung in die postindustrielle Gesellschaft ging mir zu schnell. Kaum war von einigen klugen Leuten erkannt, dass die Arbeiterklasse rein numerisch und auch ökonomisch-strategisch nicht mehr tun kann als ihren Platz bei der Verteilung ökonomischer Ressourcen zu halten, dass aber keine wesentlichen Kämpfe zur Reform, geschweige denn zur Revolutionierung der Gesellschaft mehr zu erwarten sind, wurde die postindustrielle Gesellschaft ausgerufen, die je nach politischem Geschmack als »bright new future« oder als Horrorvision zwischen Kafkas »Schloss« und Orwells »1984« eines gigantischen Systems der Manipulation zur Reproduktion des Immergleichen. Die Kulturkritiker der Frankfurter Schule – Marcuse eingeschlossen – sind nicht ganz unschuldig daran, wenn sie in ihrer dringlichen Warnung vor den realen Tendenzen und ihrem möglichen Resultat die schreckliche Zukunft ins Heute versetzten. In ihrem politischen Alltag waren sie sehr wohl und manchmal auch zu gut in der Lage, die Vision von der gescheckten (nicht ganz eindeutigen) Realität zu unterscheiden. Und als ihre jungen Anhänger dessen gewahr wurden, revoltierten sie gegen ihre intellektuellen Väter. Denn sie glaubten an die Vision. Etwas zu bereitwillig, wenn man bedenkt, dass zumindest die Führer, aber auch viele der Aktivisten in einem Alter waren – in der zweiten Hälfte ihrer 20er – in dem Arbeiter / innen gestandene Familienväter oder -mütter sind. Warum sie so bereitwillig glaubten, ist eine Frage dieses Artikels. Teilweise um sich in die Lage zu versetzen, etwas dagegen zu tun, den »existenzialistischen Sprung«, von dem immer wieder die Rede sein wird, zu wagen. Teilweise aber auch, um den tatsächlichen Möglichkeiten, die es in dieser gescheckten Realität gibt, aus dem Wege zu gehen: sich nicht mit einer kleinkarierten Zukunft als Lehrer oder Wissenschaftler auseinandersetzen zu müssen. Ein Charakteristikum des Postindustrialismus und seines kulturellen Korrelats, der Postmoderne, ist, er hat keine Klassen mehr, sie sind plötzlich wie vom Erdboden verschwunden oder existieren nur noch als Relikte. Nun wäre es doch logisch gewesen, wenn man schon feststellte, die Arbeiterklasse wird kleiner, vielleicht verschwindet sie mal ganz und die richtigen Kapitalisten werden auch immer weniger, sich nach der Klasse umzusehen, die nun der »Gewinner« des Ganzen ist: die Klasse der Dienstleistenden, Vermittelnden, Verwaltenden. Bisher wurde eine historische Epoche mit dem Namen der Klasse belegt, die sie prägte, bestimmte, kurz, welche die dominante Klasse war, auch wenn sie nicht notwendigerweise herrschte. Mit einem gewissen Recht, wie ich meine, werden dadurch auch gewisse kollektive Verantwortlichkeiten festgemacht. Nun sind wir also in der »post«-Epoche. Wenn auch mit fortschreitender Automation die Klassen tendenziell unter die große Kategorie Angestellte fallen werden, ohne dass sich dadurch die Klassenverhältnisse auflösen, wie die Neue Linke schon 1960 analysierte (s. u.), oder in eine Klasse von systemstabilisierenden »jobholders« und eine der »jobless« zerfallen wird, wie Marcuse 1964 sagte, und die Herrschaft und die Klassenverhältnisse durch ein gigantisches System von institutionellen Vermittlungen ausgeübt und aufrechterhalten wird, wie die Antiautoritären sagten, 335
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bleibt die Frage doch, ob wir nicht in einer Übergangsperiode leben, in der es nicht so ist. Ich habe den Verdacht, dass heute viele gesellschaftliche Phänomene, seien es kulturelle Formen, bestimmte Verhaltensweisen und alltagskulturelle Muster, die in Wahrheit Phänomene der Angestellten- und Beamtenklasse sind, unter postindustriell und postmodern abgebucht werden und dadurch den Anschein erwecken, als seien sie für die Gesamtgesellschaft gültig und würden von ihr allgemein akzeptiert, weshalb dagegen nichts zu tun sei. Ich schlage deshalb vor – und genau das meine ich mit »Perspektive« –, sich bei allem und jedem erst einmal zu fragen: Gehört es nicht zu dieser Klasse? Umgekehrt sind viele Charakteristika, mit der die Kulturkritiker und mit ihnen die Studentenbewegung die Endzeit ausgestattet haben, primär und vorerst Züge dieser Klasse. Das gilt besonders für gewisse psychische Konditionen und soziale Verhaltensweisen. Überblick über die Entwicklung der Studentenbewegung in der BRD Um einen Überblick zu behalten, ist es wichtig, zwischen drei Phasen der Studentenbewegung zu unterscheiden: 1. Die Phase der »Neuen Linken« zwischen 1958 und 1964. 2. Die antiautoritäre Phase 1965 bis 1968. 3. Die spontaneistische, später maoistische Phase, die 1969 beginnt und deren Ende schwer genau festzulegen ist. Ende der 1950er Jahre ist in der Bundesrepublik eine deutliche Aufweichung des Kalten Krieges und ein allmähliches Abbröckeln der Adenauer-Ära in vielen Bereichen des intellektuellen Lebens festzustellen: Mit der Bewegung gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr entstanden an zwanzig Universitäten studentische Aktionsgruppen gegen den »Atomtod«, die anfänglich von den Gewerkschaften unterstützt wurden. 1958 wählte der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), damals noch die Studentenorganisation der SPD, zum ersten Mal einen von der Partei unabhängigen linken Bundesvorstand. Er steuerte den Verband von etwa 1200 Mitgliedern in die Richtung einer parteiunabhängigen Organisation von Intellektuellen gegen eine rechte Mehrheit, die den SDS wie bisher als Karrierepool für zukünftige Parteifunktionäre behalten wollte (zahlreiche Minister der späteren sozialliberalen Koalition, einschließlich des Kanzlers Helmut Schmidt, waren in den 1940er und 1950er Jahren im SDS gewesen), und gegen eine kommunistische Minderheitenfraktion, mit der man sich zwar permanent rieb, der man aber aus Protest gegen die Kommunistenjagd und die Illegalisierung der KPD seit 1956 gewissermaßen Zuflucht in der Emigration gewährte. 1959 ist das Jahr des Godesberger Parteitags und des Programms, mit dem sich die SPD zur Volkspartei wandelte. Diese opportunistische, auf Wahlerfolge abzielende Anpassung wurde vom SDS als Verrat an der Demokratie und an 336
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den Interessen der Arbeiterklasse empfunden und veranlasste ihn, den Klassencharakter der westdeutschen Gesellschaft und die marxistische Tradition umso deutlicher zu betonen. Auf der anderen Seite wurde aber auch der »autoritäre Charakter des Staatssozialismus« von der neulinken Majorität kritisiert. Das war ein wesentliches Moment für die spätere Entwicklung. Um den neulinken SDS sammelte sich ein »Förderverein«, der hauptsächlich aus der alten Linken der Weimarer Zeit bestand. Dazu gehörten Linkssozialisten, Rätekommunisten, Anarchosyndikalisten, Luxemburgisten und Trotzkisten, die Konzentrationslager oder Exil überlebt hatten. 1960 war der Bruch mit der SPD perfekt. Die Jahre zwischen 1960 und 1964 waren für den SDS Jahre der »Selbstfindung« als »Neue Linke«, die Benennung hatte man schon 1958 von den englischen New Left Clubs übernommen und bezog sie nun als »junge kritische Intelligenz« ganz selbstverständlich fast ausschließlich auf sich selbst. Die intensive Arbeit in Studiengruppen an der »Rekonstruktion der Marxs’chen Theorie« und dem durch den Nationalsozialismus verschütteten sozialistischen Erbe war ein Versuch, zwischen reformistischem Sozialdemokratismus und MarxismusLeninismus einen theoretischen und politischen »Raum« zu schaffen, den es nach fast dreißigjähriger intellektueller Dürre und Zerstörung durch Faschismus und Kalten Krieg nicht mehr gab. Von den Antiautoritären wurde jedoch diese auf hohem Niveau und mit großem wissenschaftlichen Aufwand betriebene Diskussion nur als Versuch gewertet, den Marxismus – und damit sich selbst – an den Universitäten »hoffähig« zu machen. Nach außen war der SDS in jenen Jahren politisch kaum sichtbar. Vereinzelte Neuankömmlinge störten eher den intellektuellen Diskurs, so hatte man den Eindruck. Neben dem SDS gab es noch andere intellektuelle Zusammenhänge, die dazu beitrugen, eine unabhängige linke Subkultur zu schaffen. Dazu gehörten vor allen Dingen die Universitätsseminare der Frankfurter Schule, aber auch die von Ernst Bloch in Tübingen und Wolfgang Abendroth in Marburg, Hans Mayer in Hannover u. a., deren »Stammkundschaft« sich meist aus den jeweiligen SDS Gruppen rekrutierte. Von den sonstigen Gruppen ist u. a. der Kreis um die Zeitschrift Das Argument, die aus der Anti-Atom-Bewegung der späten 1950er Jahre hervorgegangen war, zu nennen. Die Zeitschrift veröffentlichte damals u. a. zum französischen Existenzialismus, zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und zur Geschichte und Vorgeschichte des Nationalsozialismus. Last but not least ist die süddeutsche Gruppe SPUR zu nennen, die hauptsächlich aus Malern und Literaten bestand und eine Zeitlang der Situationistischen Internationale angehörte. Aus dieser Gruppe spaltete sich in den frühen 1960er Jahren ein politischer Zweig, die »Subversive Aktion« ab, die, obwohl ihr nie mehr als ein Dutzend Mitglieder plus »Anhang« (Frauen hatten in all diesen Gruppen wenig zu melden) angehörten, von besonderer Bedeutung ist. Dort fanden sich nahezu alle Zutaten des Cocktails, der ab Mitte der 1960er Jahre die »studentischen Massen« so euphorisieren sollte. Es gab Anleihen bei verschiedenen intellektuellen Strömungen der 1920er und 1930er Jahre, aber auch bei einer jüngeren Tradition: Existenzialismus meist Sartre’scher Prägung, literarischer 337
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pressionismus, Dadaismus (Zerbrechen alter Wahrnehmungsmuster, um »sehen« zu lernen), Kritische Theorie, und durch sie vermittelt, auch Psychoanalyse und Marxismus. In der »Subversiven Aktion« wurde die symbolische Aktionsform der »provokativen Aktion« erdacht. Im Dezember 1964 traten drei subversive Aktionisten – Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Dieter Kunzelmann – mit einer Gruppe von jüngeren Leuten, die z. T. in anderen Zusammenhängen politisiert worden waren, gezielt in den Berliner SDS ein. Wegen seines eher traditionellen Marxismus mochten sie ihn eigentlich nicht, aber sie hielten ihn wohl für die einzige Organisation, durch die sich etwas in Bewegung bringen ließe. Innerhalb weniger Monate rebellierten sie mit einer Plakataktion gegen die »Alten« im SDS . In den meisten SDS -Gruppen geschah Ähnliches. Damit hatte eine neue aktionistische und rebellische Phase an den Universitäten begonnen, die im Wesentlichen durch den antiautoritären Flügel im SDS bestimmt wurde. Mit dem 2. Juni 1967 beginnt die Phase, in der man von einer wirklichen Massenbewegung in der BRD sprechen kann, und die bis 1969 dauert. Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg auf einer Demonstration gegen den Schah von Persien erschossen. Dieses Datum repräsentiert nicht nur eine neue Qualität staatlicher Gewalt, sondern auch eine neue Qualität der Politisierung und Mobilisierung. Ein Interviewter charakterisierte die Situation so: »Das Gefühl, man wacht morgens auf und plötzlich sind Tausende von Leuten, die du niemals vorher gesehen hast, auf deiner Seite.« Der politische Hintergrund für die plötzliche massenhafte Bereitschaft zu politischen Aktionen ist – neben der Eskalation des Vietnamkrieges – u. a. in der »Großen Koalition« zwischen der konservativen CDU und der SPD zu suchen, die unter jungen Angestellten (vor allem Lehrern) und Arbeitern zu einer breiten Desillusionierung über Parteien und die parlamentarische Demokratie führte. Dies bedeutete aber auch, dass die Politisierung nun nicht mehr – wie noch bei den Antiautoritären 1964-1966 – über intellektuelle Zusammenhänge erfolgte und dann erst zur Mobilisierung führte, sondern umgekehrt: Die Menschen wurden durch die Teilnahme an Aktionen / Demonstrationen politisiert und strömten in Massen in den SDS , der auf diese Situation nicht vorbereitet war. Nun wurde zwar die Theorie der Antiautoritären dadurch aufs Schönste bestätigt, aber es kam auch zu antiautoritären Rebellionen der Neuen gegen die älteren »Großkopfeten« und »intellektuellen Schwätzer«. Die SDS -Frauen machten dabei den Anfang. Das brachte den SDS ab Herbst 1968 in eine Zerreißprobe und führte 1969 zu seiner Selbstauflösung. Die Phase der Massenbewegung kulminierte in den »Osterunruhen« 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke mit fünf Tagen der schwersten Straßenkämpfe seit dem Ende der Weimarer Republik. Diese Phase, die politisch im Wesentlichen von den Antiautoritären bestimmt wurde, endete abrupt mit der Niederlage im Kampf gegen die Notstandsgesetze im Juli 1968. Es wurde überdeutlich, dass der Veränderung durch Aktionen und Demonstrationen Grenzen gesetzt sind. Der Versuch, die Gewerkschaften zu einer Aktionseinheit zu 338
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wegen, war gescheitert. Aber wie ein einmal in Gang gesetztes Schwungrad ging das Karussell mit Demonstrationen, Institutsbesetzungen und Aktionen bis weit in das Jahr 1969 weiter, innerhalb der Universitäten drehte es sich sogar schneller als zuvor. Für die »Jungen« hatte die Revolution erst angefangen. Es folgte um 1970 das »Parteigründungsfieber« oder der Marsch in den Untergrund. Eine Reihe von Antiautoritären, die in der Bewegung zu lokalen »Führern« geworden waren, wurden über Nacht zu strammen marxistischleninistischen »Parteivorsitzenden«. Die meisten Antiautoritären aber blieben ungebunden, sie rechneten sich dem Lager der »Spontis« zu oder schlossen sich der Frauenbewegung an. 1973 /1974 entstand etwas, das ich als »neue« Massenbewegung in den Universitäten bezeichnen würde. Sie richtete sich gegen die technokratisch-autoritäre Transformation der Hochschulreform. An ihr waren jetzt auch die technischen Hochschulen und Fachhochschulen beteiligt, an denen es während der antiautoritären Bewegung relativ ruhig geblieben war. Teil dieser Bewegung war der Kampf gegen die Berufsverbote. Eine klare Linie und eigene Qualität konnte diese Bewegung jedoch nicht erreichen, weil sie von den verschiedenen »Kaderparteien« permanent gegängelt und gespalten wurde. 1976 /1977 begann die ökologische Bewegung, die in ihren ersten Anfängen von Leuten aus der antiautoritären und der Sponti-Bewegung getragen wurde. In den Jahren 1979 /1980 und danach strömten die ML -Leute, deren Parteien desintegriert waren und sich auflösten, massiv in die Ökobewegung.
Die Neue Linke auf der Suche nach einer Identität Im Folgenden werde ich die interne Auseinandersetzung im SDS um sein politisches und soziales Selbstverständnis in den Jahren zwischen 1960 und 1965 – dem Jahr des antiautoritären Umschwungs – verfolgen. Dabei stütze ich mich hauptsächlich auf die Veröffentlichungen in der Zeitschrift neue kritik. Sie erschien zweimonatlich in Frankfurt als ein internes Diskussions- und Selbstverständnisforum und war anders als Das Argument nicht im Buchhandel erhältlich. Der größte Teil der Artikel und Rezensionen in der neuen kritik war theoretischer Natur und gehörte zu jener »Rekonstruktion der Marx’schen Theorie«, die der neulinke Verband sich zur Aufgabe gemacht hatte.2 Ich werde hier nicht darauf eingehen. Zwanzig bis dreißig Prozent der Artikel beschäftigten sich mit dem antikolonialen Kampf in den Ländern der Dritten Welt, u. a. mit dem algerischen Befreiungskampf, den Kämpfen in Südafrika, im Kongo und in Vietnam. Alle größeren SDS -Gruppen, z. B. in Berlin, Frankfurt, Göttingen, Tübingen, Marburg, unterhielten Dritte-Welt-Arbeitskreise, die auch praktische Unterstützungsarbeit leisteten. Dazu gehörte etwa das Geldsammeln für die 2 Bei diesen Angaben gehe ich von einem allgemeinen Durchschnitt über die fünf Jahre aus. Die Gewichtungen sind natürlich von Heft zu Heft und von Jahr zu Jahr verschieden.
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algerische FLN oder die Kampagne von 1963 zur Befreiung von Dr. Neville Alexander aus Kapstadt, der selbst Mitglied des SDS gewesen war. Der SDS war in den frühen 1960er Jahren die einzige politische Organisation, die sich systematisch mit Fragen der Dritten Welt beschäftigte. Ohne näher auf den Inhalt eingehen zu können, sei nur so viel zum Unterschied der Wahrnehmung und des Stellenwertes der Kämpfe in der Dritten Welt zu der späteren antiautoritären Phase gesagt: Im neulinken Verständnis gibt es eine klare Trennung zwischen den Befreiungskämpfen in der Dritten Welt, die man nur unterstützen, für die man aber nicht stellvertretend im eigenen Land kämpfen kann, und der Revolution in den Industrieländern. Sehr deutlich wird der Unterschied in den Geldsammelaktionen. Für die algerische FLN wurde im Geheimen und unter Freunden gesammelt, z. T. weil sich der französische Geheimdienst und Organisationen wie die OAS frei auf dem Territorium der BRD bewegten. Es war dabei selbstverständlich, dass das Geld (auch) für Waffenkämpfe gebraucht würde; wichtig war, dass es möglichst viel war. 1965 wurde von den Antiautoritären die Straßensammelaktion »Waffen für den Vietcong« durchgeführt und gegenüber den »Alten« im SDS als ungeheuer revolutionärer Schritt empfunden: Man bekannte sich offen zum bewaffneten Kampf und stand sozusagen stellvertretend für den Vietcong an den Straßenecken. Wieviel Geld dabei zusammenkam, war sekundär. Die Befreiungsbewegungen wurden vom neulinken SDS auch nicht wie von den Antiautoritären als Avantgarde eines weltweiten Kampfes und als Träger der neuen Gesellschaft gesehen. Man sah sie eher als Genossen an, denen man wünschte, dass sie trotz »noch nicht voll entwickelter Produktivkräfte und Klassenkämpfe« so etwas wie eine sozialistische Gesellschaft aufbauen könnten. Diese Haltung wurde von den Antiautoritären – z. T. zu Recht – als elitärer, engstirniger Eurozentrismus gebrandmarkt. Sie hatte allerdings den Vorteil, dass das eigene sozialistische Weltbild nicht wie ein Kartenhaus zusammenbrach, als diese Länder, wie etwa Vietnam, mit ihrer Mission scheiterten und die sozialistische Utopie nicht verwirklichten. Ein weiteres Drittel der Beiträge in der neuen kritik beschäftigt sich schließlich mit der innenpolitischen Situation, mit den Universitäten und Studenten. Und immer wieder beschäftigt der SDS sich mit sich selbst. Diese Entwicklung will ich etwas genauer verfolgen. Das Wort »autoritär« war bereits sehr verbreitet, es machte jedoch mit der Zeit einen Bedeutungswandel durch: In Anlehnung an Horkheimers »autoritärer Staat« bezeichnete man damit eine in den Nachkriegsjahren durchgesetzte Staatsform, die weder demokratisch noch faschistisch ist, in der aber die Klassenverhältnisse zementiert sind wie in einem Ständestaat. Faschistische Formen des offenen Terrors sind überflüssig, weil es subtilere Mittel der Lenkung und Überwachung der Bevölkerung gibt. Adenauers Staat, Ludwig Erhards »formierte Gesellschaft« oder auch de Gaulles präsidentielle Republik wurden als »autoritär« gesehen. Man glaubte, dass sich mit zunehmender ökonomischer Entwicklung, z. B. mit der Automation, die Tendenz zum autoritären Staat verstärken werde. Später wird unter den Antiautoritären »autoritär« hauptsächlich zur Bezeichnung von Hierarchien in Institutionen und 340
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zwischenmenschlichen Beziehungen und als Charakterisierung von Personen benutzt, also eher im Sinne der Studie »The Authoritarian Personality«.
Frühe Ängstlichkeit Die Bestimmung des eigenen »Standortes« ist bis Anfang 1963 sehr zurückhaltend, fast ängstlich und links konventionell. Der SDS ist »der Verband der jungen Intelligenz an den Hochschulen«, die »für die Sache der Arbeiterbewegung an den Universitäten« eintreten soll.3 Man versteht sich noch als Teil der Arbeiterbewegung, obwohl das Verbindungsglied zu ihr, die Partei, nun nicht mehr da ist. Deshalb ist auch schwer vorstellbar, wie »jenes Gespenst des Bündnisses von Arbeitern und Intelligenz, welches dem Besitzbürgertum Urängste einzuflößen geeignet ist«, erscheinen soll.4 Es klingen aber auch schon Töne an, die an die Marcuse’sche Verweigerung erinnern: »Wir können uns nicht mit der bestehenden Gesellschaft und ihrer Machthierarchie identifizieren und müssen uns gegen das Einbezogenwerden in dieses System unablässig zur Wehr setzen.«5 Ein Thema hält sich in jenen Jahren durchgängig: Studienzirkel oder Aktionen? Theorie oder Praxis? Aber da es kaum Praxis gab, konnte sie auch nur theoretisch diskutiert werden. Ein Editorial warnt: »Der Verband kann gleicherweise im emotional desparaten Aktionismus verheizt oder in Zirkelesoterik totgeschult werden.«6 Ein junger Genosse dagegen fordert: »In Aktivität überschäumen ist besser[,] als im Zaudern zu versauern.«7 Eine Genossin löst das Problem, indem sie kurzerhand die Theorie zur Praxis erklärt.8
Sind Studenten ein revolutionäres Potenzial? Allerdings sahen zu jener Zeit die Verhältnisse im Praxisfeld der Hochschule, auf das man sich nun einmal festgelegt hatte, nicht besonders rosig aus. Jürgen Habermas, damals ein aktiver SDS -Genosse, hatte im Rahmen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung eine empirische Untersuchung über das politische Bewusstsein von Studenten durchgeführt, deren Ergebnisse so deprimierend gewesen sein müssen, dass der damalige Leiter des Instituts Max Horkheimer sie nicht veröffentlichen ließ.9 Die neue kritik brachte in einer Sonderbeilage
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Waretzky: Solidarität, Widerstand, Perspektive 1961, S. 8. Großmann: Gleichschaltung spart Stipendien 1961. Schumann: Unsere Situation 1961. N. N.: Editorial 1961. von der Vring: Beitrag zu den Thesen zur Politik des SDS 1961. Lenk: Die sozialistische Theorie 1962. Information von Jürgen Seifert, Interview 1985.
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(»Vertraulich – internes Arbeitsmaterial des SDS !«) die wichtigsten Ergebnisse.10 Danach gab es Ende der 1950er Jahre nur neun Prozent »genuine Demokraten« unter den Studenten, 16 Prozent werden als »autoritär« und der Rest als »Mitläufer« eingestuft. Allerdings sind die Kriterien ziemlich scharf; der imaginäre Bezugspunkt ist: Wie hätte sich die Person 1933 verhalten?11 Wichtiger ist für meinen Zusammenhang die Einschätzung ihres eigenen (zukünftigen) sozialen Status. Durchgängig besteht bei allen Befragten Unsicherheit, den eigenen sozialen Standort auszumachen, und eine Rollenunsicherheit als Studenten. Das Studium wird als Durchgangsstadium betrachtet, das in sich schon ein auseinandertreibendes Moment trägt: Es gibt die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg in eine höhere Schicht, aber diese Zukunft selbst ist ungewiss. Das Fehlen eines durchgehenden Bewusstseins als Studenten und (zukünftige) Akademiker hat nach der Analyse zwei wesentliche Gründe: 1. Es fehlt eine studentische Tradition, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den »Burschenschaften« bestand, d. h. ein an die »Scholaren« des Mittelalters anknüpfendes Bewusstsein, ein eigener »Stand« zu sein und ein Recht auf eine selbstständige politische Position zu haben. 2. Es fehlt das Bewusstsein einer Schichtzugehörigkeit. Dieser wichtige Befund wird von den Autoren nur mit einem Marx-Zitat, das auf das traditionelle, selbstständige Kleinbürgertum gemünzt war, quittiert: »Mit dem Bürgertum teilt er [der Student bzw. der Kleinbürger, A. T.] die Unsicherheit der Existenz und die Ohnmacht des Vereinzelten gegenüber der Undurchsichtigkeit der Verhältnisse«. Jedoch mit dem Kleinbürgertum teilt er bestenfalls den Großvater, d. h. die soziale Herkunft der Eltern! Hier erweisen sich die SDS -Analytiker als ebenso hilf- und begriffslos wie die Analysierten. Begriffe wie »Bildungsbürger«, »bürgerlich« und »Akademiker« haben bei den Befragten zwar einen pejorativen Beiklang, werden aber im Grunde ohne kritische Distanz weiterverwendet. Es ist bemerkenswert, dass den Studenten das Bewusstsein einer Schichtzugehörigkeit fehlte, obwohl die Statistiken eine erstaunliche Homogenität ihrer sozialen Herkunft ausweisen. Danach kamen Ende der 1950er Jahre 60 Prozent der Studenten aus Beamten- und Angestelltenfamilien (nach dem Beruf des Vaters), zählte man die sogenannten freien Berufe hinzu, kamen drei Viertel aus der »white collar class«, während nur 16 Prozent aus dem traditionellen Kleinbürgertum stammten. Väter mit einer akademischen Bildung hatten 46 Prozent der Studenten.12 Vergleicht man das mit der Weimarer Republik, in der sich das 10 Gross / Märthesheimer: Zu einer Untersuchung über das politische Bewusstsein 1962. – Die Autoren beziehen sich auf ein von Jürgen Habermas auf dem 14. Deutschen Soziologentag gehaltenes Referat. Die Befragung fand Ende der 1950er Jahre statt. Eine Art Folgestudie ist: Habermas / Friedeburg / Oehler / Weltz: Student und Politik 1961. 11 Als »genuin demokratisch« wird eingestuft, wer konsistent durch alle Bereiche hindurch, also auch in Fragen der Wirtschaftspolitik, eine demokratische Haltung zeigt und politisch aktiv ist. 12 Vgl. N . N .: Das geistige Bild der Studenten 1961; Offe: Sozialökonomie des Studiums 1963.
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Universitätsstudium ebenfalls stark ausweitete, so ergibt sich ein in der Struktur ähnliches Herkunftsmuster der Studenten mit 58 Prozent aus Beamten- und Angestelltenfamilien (aber nur 66 Prozent aus der »white collar class« insgesamt), dafür kam noch ein Viertel der Studenten aus dem Kleinbürgertum, die aus ihrer sterbenden Klasse desertierten. Wichtig bleibt hier festzuhalten: Trotz einer über Jahrzehnte bestehenden Homogenität der Herkunft aus der Angestelltenund Beamtenklasse vermag sich kein Bewusstsein einer sozialen Zugehörigkeit, kein Gefühl der Gemeinsamkeit unter den Studenten herauszubilden. Der transitorische Charakter des Studiums ist m. E. sekundär. Denn er hat z. B. bei der Lehrlingsausbildung keinesfalls den Effekt einer Schwächung der sozialen Identität – eher im Gegenteil. Außerdem dürfte intelligenten jungen Menschen schon damals nicht entgangen sein, dass die akademische Ausbildung zurück in die eigene Klasse führte, vielleicht ein paar Gehaltsstufen höher. Die Unfähigkeit zur sozialen Identität liegt wohl eher im Charakter der Klasse selbst: in ihrer eigentümlichen Lagerung in der Mitte, oder besser: nicht oben, nicht unten, einem Platz, den man sucht, weil er politisch so bequem ist. Ökonomisch ist er es nicht unbedingt, mit der hierarchischen Struktur der Arbeitsplätze und Berufe dieser Klasse, in die das auseinandertreibende Moment – viel mehr als im Studium – eingebaut ist, in der Tätigkeit der ewigen Vermittlung, in der Abstraktheit ihrer »Produkte« etc. Es bedarf also eines transzendentalen, eher noch esoterischen Moments, um einen wirksamen sozialen Zusammenhalt zu stiften. Das wird für die Betrachtung der Antiautoritären von Bedeutung sein. Ende der 1950er Jahre versuchte die Hälfte der Studenten es noch mit dem Weltgeist: Sie knüpften an Bruchstücke der bildungshumanistischen Tradition an, um ihr Selbstverständnis als Akademiker zu definieren. Ein Viertel sah sich als »geistige Elite«, eine Selbsteinschätzung, die die SDS ler – nicht als Akademiker, sondern wegen des SDS – insgeheim mit ihnen teilten.
Hochschule in der Demokratie Der SDS versuchte zunächst in guter marxistischer Manier den Studenten politökonomisch ein Bewusstsein als soziale Gruppe zu vermitteln. 1961 legte er die Denkschrift Hochschule in der Demokratie vor.13 Es ist eine programmatische Schrift, wie man sie sich wünscht: eine fundierte wissenschaftliche Analyse, die auf die politischen Punkte hin argumentiert und konkrete Zielvorstellungen angibt. Der zentrale Angriffspunkt ist: Die herrschende Klasse hat kein Konzept für die zu erwartende ungeheure Ausweitung universitärer Ausbildung, weder 13 Hochschule in der Demokratie 1961. – Seit Anfang des Jahres 1960 hatte eine Autorengruppe unter der Leitung von Wolfgang Nitsch die Überlegungen und Vorarbeiten verschiedener Hochschulgruppen bearbeitet. Eine wesentlich erweiterte Studie veröffentlichten die Berliner Koautoren der Denkschrift als Buch: Nitsch / Gerhard / Offe / Preuß: Hochschule in der Demokratie 1965.
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organisatorisch, noch ideologisch. Es sei zu erwarten, dass technokratisch-autoritäre Notlösungen aufgepfropft, mit konservativen bis reaktionären Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts an die Studenten verkauft würden. Die Studenten über diese Entwicklungstendenzen aufzuklären, damit sie sich wehren könnten, war das Hauptziel der SDS -Denkschrift. Sie wurde jedoch – eine weitere Ironie der Geschichte der Studentenbewegung – eher zu einem Steinbruch der Ideen für Bildungsmanager und Wissenschaftsfunktionäre jeder Couleur, während die Studenten der Sponti- und Mao-Generation, die in den großen Streiks von 1973 /74 gegen die technokratisch-autoritären »Reformen« ankämpften, bestenfalls noch ihren Titel kannten.14 Politisch zielte die Denkschrift auf drei zentrale Themen: 1. Die Stellung von Studenten / Akademikern im Produktionsprozess. 2. Die inneruniversitäre Struktur. 3. Die Stellung der Universität in der Gesellschaft. Hier nur zu den Punkten, die die soziale Identität von Studenten berühren: Unter dem Slogan »das Studium ist Arbeit für die Gesellschaft« wurde eine allgemeine Entlohnung der Studenten unabhängig vom Einkommen der Eltern gefordert. Die zugrunde liegenden Annahmen: Universitäre Ausbildung ist nicht mehr »Bildung« des Menschen zu seiner geistigen und moralischen Vervollkommnung, sondern Ausbildung zur Ware Arbeitskraft, die auf dem Markt angeboten wird. Und: Wissenschaft ist eine Produktivkraft in der kapitalistischen Produktion und notwendiger Teil des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Das mag wie eine Version der »neuen Arbeiterklasse« erscheinen, basiert aber auf einer anderen theoretischen Konzeption der spätkapitalistischen Entwicklung. Die Theorien der »neuen Arbeiterklasse« zielen auf das in der unmittelbaren Produktion integrierte Stratum von Technikern, Ingenieuren etc., die deutlich vom »unproduktiven« Dienstleistungssektor getrennt werden. Politisch und strategisch haben sie die Funktion, die Reihen des durch die kapitalistische Entwicklung ausgedünnten und geschwächten Proletariats wieder zu füllen. Dagegen bezieht die SDS -Konzeption alle Studierenden bzw. Akademiker (und im Prinzip alle sogenannten Dienstleistenden) ein, gleichgültig, ob es Techniker, Mediziner oder Pfarrer sind, denn sie alle tragen zur Reproduktion des gesamtgesellschaftlichen Systems bei, und ihre Ausbildung kommt der Gesellschaft als 14 Das heißt nicht, dass man die SDS -Denkschrift für die in den 1970er Jahren durchgesetzten technokratischen Universitätsreformen verantwortlich machen könnte – weder der Intention noch dem Sinne nach. Es ist vielmehr ein Problem jeder intelligenten kritischen Analyse unter den gegebenen Machtverhältnissen. – Zu den »Streiksemestern« 1973 /74, in denen praktisch alle Hochschulen nördlich der Mainlinie – und auch einige südlich davon – im Aufstand waren: Sie wurden allgemein als bloße Folge der 1968er-Bewegung gesehen und deshalb von der historischen Aufarbeitung etwas stiefmütterlich behandelt. M. E. ist es aber im Kern eine andere, »neue« Studentenbewegung, eher den Vorgängen in Frankreich 1986 vergleichbar.
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ganzer zugute. Der theoretische Hintergrund ist in Hochschule in der Demokratie nur implizit vorhanden und nur verständlich, wenn man die Diskussion im Berliner SDS Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre und unter anderem den wesentlichen Einfluss von Michael Mauke und seiner Arbeit über die Angestelltenproblematik einbezieht. Die Arbeit konnte nicht abgeschlossen werden, weil Mauke schon früh (1966) starb. Aber das posthum veröffentlichte Einleitungskapitel, eine ausgezeichnete Darstellung der Klassentheorie von Marx und Engels, gibt ansatzweise einen Einblick in die theoretischen Überlegungen, die der Hochschulstrategie des SDS zugrunde lagen.15 An dem Entwicklungspunkt des kapitalistischen Produktionssystems, wo die Kapitalfunktionen mehr und mehr durch Angestellte wahrgenommen werden, scheint der Klassenbegriff eine Dimension sozialökonomischer Gegensätzlichkeit zu bezeichnen, die ihn wesentlich ausweitet und zu gleicher Zeit überschreitet. Mit dem Verschwinden des klassischen Kapitalisten tritt das Kapital den Lohntätigen (zu denen grundsätzlich auch die Angestellten und, wenigstens formell, die Manager gehören, wo also fast die gesamte Gesellschaft zum Lohnarbeiter geworden ist) als unmittelbare Macht der Dinge über die Menschen gegenüber, als ein System »technischer« Sachzwänge von dämonischer Funktionalität. Zwar kann man noch von einer Kapitalistenklasse sprechen; aber das kapitalistische Produktionssystem hat sich in seiner Gesamtheit auch ihnen gegenüber derart verselbstständigt, dass es der Gesellschaft als eine ungeheure und unheimliche Maschine gegenübertritt. […] Es ist dies der direkte, zugespitzte Gegensatz zwischen der toten (aufgehäuften, vergegenständlichten) und der lebendigen Arbeit als letzte Stufe des gesellschaftlichen Antagonismus. […] Mit dieser totalen Verdinglichung der Klassenkategorie wird sie jedoch als spezifisch soziologische Kategorie hinfällig. Andererseits erweitert sie sich mit der Internationalisierung des Klassenkampfes zu gesellschaftlicher Allgemeinheit. Das kapitalistische Lager würde in diesem Sinne auf nationaler wie internationaler Ebene alle besitzenden, privilegierten und überhaupt am Bestand der kapitalistischen Ordnung interessierten und engagierten »Klassen«, Gruppen und Individuen umfassen. Die ganze menschliche Gesellschaft ist durch höchste Entfremdung und Verdinglichung bedroht; das Bewusstsein dieser Entfremdung drängt zur Verallgemeinerung und droht unter dem Druck der Entfremdung wiederum verdrängt zu werden. Die Notwendigkeit subjektiver Entscheidung zwischen Funktionalisierung und gesellschaftlichem Engagement wird unter diesen Umständen selbst zu einer objektiven Realität.16
15 Mauke: Die Klassentheorie von Marx und Engels 1970. – Vgl. das Nachwort von Klaus Meschkat zu Maukes Einfluss auf die Autoren von »Hochschule in der Demokratie« in: ebd. [Anm. d. Hrsg.: Alle Auslassungen und Ergänzungen in diesem Text, die durch eckige Klammern markiert sind, stammen von der Autorin selbst.] 16 Mauke 1970, S. 103 f. und S. 173.
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Diese für 1960 sehr fortgeschrittenen Überlegungen nehmen ein wesentliches Element des antiautoritären Denkens vorweg: die gesellschaftliche Megamaschine, deren Widersprüche eben nicht zur Selbstüberwindung des Kapitalismus treiben, sondern die als blind selbsttätiges Funktionssystem endlos weitergeht, es sei denn, man »springt« durch eine subjektive Entscheidung heraus. Nur, bei Mauke wird es als Entwicklungstendenz verstanden, während die Antiautoritären es als Hier-und-Jetzt-Zustand begriffen. Genau dieser Punkt bezeichnet den fundamentalen Unterschied zu den etwas späteren Theorien der »neuen Arbeiterklasse« wie z. B. von Serge Mallet. Bei ihm treibt der Kapitalismus noch auf der Bahn des Fortschritts auf die klassenlose, von der Fron der Arbeit befreiten Gesellschaft zu. Ein Herausspringen wäre nicht nur unsinnig, sondern objektiv reaktionär. Im Unterschied zu den Sozialphilosophen der Frankfurter Schule, die ja die »Megamaschine« schon lange vorher entdeckt hatten und in deren Tradition sich die Antiautoritären dann stellen konnten, kommt Mauke allein auf der Basis der Weiterentwicklung der Marx’schen Klassen- und Gesellschaftsanalyse, und ohne psychoanalytische Erklärungen hinzuzunehmen, zu seinem oben zitierten Ergebnis. Der Unterschied scheint zunächst rein epistemologischer Natur zu sein, hat aber auf der Ebene politischer Strategie und Umsetzung eine enorme Bedeutung. Bei den Frankfurtern hat die Deformation der Triebstruktur und die psychische Zerstörung und damit die widerstandslose Manipulierbarkeit aller gesellschaftlichen Individuen den Rang der primären Begründung. Die Klassengesellschaft ist zwar eine notwendige Voraussetzung, aber diese ist sekundär. Springt das leidende Subjekt (als Individuum oder Gruppe) aus dem System, ist es im Prinzip isoliert und hat keine Bündnis- oder Ansprechpartner mehr im System, es steht gegen das Gesamtsystem und kann es nur als Totalität bekämpfen. Das hatte 1968 /69 nach der ersten verlorenen Konfrontation mit dem Staatsapparat verheerende Folgen. Während es bei Mauke immerhin noch möglich scheint, dass bestimmte Gruppen, Schichten oder »Klassen« durch Auf klärung zu gewinnen sind, dass das System der Sachzwänge auch partiell durchbrechbar und so ein – sehr viel später von Dutschke proklamierter, aber nicht inhaltlich gefüllter – »Marsch durch die Institutionen« politisch sinnvoll ist. Allerdings bleiben bei Mauke politisch wichtige Fragen offen. So hält er das Konstrukt einer oder mehrerer gesonderter »Klassen« von Angestellten und / oder Beamten für möglich und auch für vereinbar mit dem Marx’schen Denken, ob er es für sinnvoll oder gar notwendig hält, beantwortet er in seiner als Einleitung konzipierten Schrift nicht.
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Vom sozialistischen Intellektuellen zur kritischen Intelligenz Das Jahr 1963 markiert einen Durchbruch im Selbstverständnis des SDS . Waren die vorangegangenen zwei Jahre noch deutlich geprägt von der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratischen Partei und dem Zweifel an einer eigenen politischen Rolle ohne Anlehnung an die Arbeiterbewegung, so wird nun der Spieß geradezu umgedreht: Die Frage ist, ob denn die Arbeiterbewegung ohne kritische Intelligenz überhaupt noch Träger des geschichtlichen Wandels sein könne. Diese Frage war – im Sinne von Lenin und durch Georg Lukács vermittelt – durchaus berechtigt: Danach ist das Mittel der Kritik der Arbeiterklasse die Organisation (Partei), sie stellt die Einheit zwischen Arbeiterklasse und Intellektuellen, d. h. die Einheit von Theorie und Praxis her. Und nur in dieser Verbindung wird die Arbeiterklasse oder – nach Lenin – die Partei zum historischen Subjekt. In der bedeutsamen Rede eines bis dahin unbedeutenden Mannes, der Antrittsrede Manfred Liebels als Bundesvorsitzender des SDS im September 1963,17 wird mit C. Wright Mills weiter gefragt, ob nicht die junge Intelligenz die Rolle der »historical agency« übernommen habe.18 Das sind nun für Deutschland – aus den historischen Gründen, die ich oben angedeutet habe – neue und ungewohnte Töne. Entsprechend schwer tut sich das Autorenkollektiv des SDS zu definieren, was überhaupt ein Intellektueller sei und in welche Beziehung zur gesellschaftlichen Realität er nun treten solle. Es wurde als problematisch gesehen, in andere Institutionen und Organisation (z. B. Massenmedien, Gewerkschaften) einzutreten, da der Anpassungsdruck die Kritikfähigkeit einenge, und zudem sei man Mechanismen der Massenkommunikation unterworfen, die selbst kritische Inhalte zur Konsumware machten. Auf der anderen Seite werden auch die Gefahren des freischwebenden Intellektuellen gesehen. Der einzige Weg aus dem Dilemma sei die Organisation von Intellektuellen, die in diesem Zusammenhang plötzlich (und ich glaube, unbewusst) wieder zur »sozialistischen Intelligenz« avancieren: SDS als historischer Nachfolger der Arbeiterpartei! Das Korreferat von Dieter Rave zu der Rede des neuen Vorsitzenden war schärfer und präziser, es hat m. E. bis heute eine Bedeutung.19 Die Verbindung mit der Arbeiterklasse sei illusionär, weil dabei das Problem von Intellektuellen mit der gesellschaftlichen Realität nur auf die Arbeiter projiziert werde. Außerdem habe die Existenz als »sozialistische Intelligenz« in einer Arbeiterpartei immer wieder zum Verlust der kritischen Position geführt. Die historische Chance von kritischen Intellektuellen läge vielmehr in der Verbindung zur tech17 Liebel: Die Rolle der Intellektuellen 1963. – Im SDS herrschte eine eher großbürgerliche Form der Einflussnahme: die Herrschaft der grauen Eminenzen, während auf die repräsentativen Posten meist politisch unbedeutende und unerfahrene junge Männer gesetzt wurden. Ihre Antrittsreden und Rechenschaftsberichte wurden zumeist gemeinsam mit den grauen Eminenzen konzipiert und waren deshalb bedeutsam. 18 Mills: Power, Politics, and People 1963. 19 Rave: Die Rolle der Intelligenz in der kapitalistischen Gesellschaft 1963.
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nischen Intelligenz, zu der sie potenziell gehörten. Die Aufgabe sozialistischer Intellektueller sei es, die disparaten Rollen von technischer Intelligenz und distanzierten Intellektuellen (in einer Person) zu vereinigen, um so als kritische Intelligenz zu einer gesellschaftlich relevanten und zugleich praktischen Funktion zu gelangen. Damit wird der bis dahin locker und inflationär gebrauchte Begriff »kritische Intelligenz« präzise gefasst. Die Analyse der technischen Intelligenz macht deutlich, auf welche horrende Aufgabe sich die SDS ler einlassen würden und wie wenig schmeichelhaft die knallharte Feststellung war, man gehöre dazu. Sie zeigt aber auch, dass in der Neuen Linken unter dem Einfluss der Kritischen Theorie eine Konzeption von technischer Intelligenz entstand, die mit dem Begriff »neue Arbeiterklasse« sehr wenig gemein hat. Die technische Intelligenz umfasst im SDS -Verständnis in Universitäten und Fachschulen ausgebildete Funktionsträger in Produktion, Staat und Gesellschaft, die Parteibürokraten ebenso wie die Universitätsprofessoren. Die technische Intelligenz sei von der marginalen Rolle zu Marx’ Zeiten ins Zentrum der Produktion gerückt, deren Ausgestaltung ihr obliege. Sie sei damit weitgehend verantwortlich für die im Zuge der Automation zu erwartende Massenarbeitslosigkeit (Prognose von 1963!), gleichzeitig stabilisiere sie die kapitalistische Gesellschaft durch technische Perfektionierung des »human engineering« z. B. in der Kulturindustrie. Durch die Arbeitsteilung und Spezialisierung werde die kritische Einsicht in Sinn und gesellschaftliche Funktion wissenschaftlich-technischer Arbeit bei der technischen Intelligenz auf ein Minimum reduziert, der etwa an den Universitäten noch verbleibende Rest an Kritik werde unter dem Slogan einer »Wertfreiheit der Wissenschaft« ins Irrationale abgeschoben. Die psychologische Verfassung der technischen Intelligenz, insbesondere von Wissenschaftlern, wird mit einem Zitat charakterisiert: Diese Menschen kennen sich im Grunde nur in der Rolle der Funktion für einen anderen oder eine Gruppe. Ihr Ich-Ideal ist ganz und gar identisch mit den Erwartungen, die sie von anderer Seite auf sich gerichtet glauben. […] Absolute Auslieferung an die äußere Instanz vermag ohne Zweifel das moralische Empfinden und selbst elementare Denkfunktionen zutiefst zu beeinflussen. Eine affektive Blockade solcher Funktionen setzt bei solchen Individuen prompt dann ein, wenn ein eigenes Weiterdenken in eine kritische Stellungnahme gegenüber der herrschenden Instanz ausmünden würde. Diese Kritik wäre unerträglich, weil das gesamte Persönlichkeitsgleichgewicht auf der konfliktfreien Unterwerfung unter die dominierende Person, die Partei oder dergleichen fundiert ist.20 Dieses ursprünglich auf Verwaltungsbeamte des NS -Staates gemünzte Zitat heißt in unserem Zusammenhang nicht mehr und nicht weniger, als dass die techni-
20 Richter: Mörder aus Ordnungssinn 1963. Hier zitiert nach Rave: Die Rolle der Intelligenz in der kapitalistischen Gesellschaft 1963.
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sche Intelligenz nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv reaktionär und damit potenziell faschistisch ist. Trotzdem sei es möglich, Wissenschaft aus ihrer eingeschränkten Rationalität herauszuzwingen, ihre selbst gesetzten Beschränkungen aufzuheben und damit ihre gesellschaftliche Funktion zur Diskussion zu stellen. Das dürfe aber nicht nur von außen geschehen, sondern die Naturwissenschaften müssten in ihrer »objektiven Bedingtheit«, d. h. in ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen und in ihrer inneren Logik kritisiert werden. Wenn das gelänge, würde ein Aufklärungsprozess beginnen, in dem die technische Intelligenz zur »kritischen Macht« werde. Aus der »kritischen Macht« wurde erst einmal nichts. Vielleicht, weil die SDS -Genossen viel zu sehr bornierte Technokraten in ihrem eigenen Fachgebiet und kritische Intellektuelle nur in ihrer Freizeit waren, wie der Redner vermutete. Vielleicht auch, weil er vergessen hatte, dass er einen Haufen Soziologen und Philosophen vor sich hatte. Auf jeden Fall war die Resonanz auf diesen strategischen Vorschlag denkbar gering. Dagegen konnten sich die meisten mit dem »freischwebenden Intellektuellen« im »kämpferischen Verband« noch eher identifizieren. Ein Jahr nach der Rede meldete der nun scheidende junge Vorsitzende: Der SDS [ist] ein Verband, der die Möglichkeit in sich birgt, zu einem theoretischen Kristallisationskern der westdeutschen Linken zu werden. […] Die Unabhängigkeit, die wir in einem schmerzhaften Prozess errungen haben, wollen wir heute keinem, ich wiederhole: keinem gegenüber preisgeben.21 Das antiautoritäre Zeitalter im SDS wurde eingeleitet von Fritz Lamm, einem Altgenossen aus der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik.22 Und zwar schon in der folgenden Nummer der neuen kritik im Februar 1964, ein Jahr vor dem spektakulären Auftritt der Antiautoritären im SDS in der Öffentlichkeit. Der Protest gegen die Entmenschlichung wird nicht aus der Masse der Arbeitnehmer kommen, die sich nach mühseliger Berg- und Talwanderung ihren Platz in der kapitalistischen Gesellschaft erkämpft hat. […] Der Protest kommt von jener Intelligenz, deren Unbehagen mitten im Wohlstand wächst, die nach links strebt, weil sie geistig und psychisch leidet. Ich halte es für keinen Zufall, dass in unserem Lande […] nach grauenvollem, perversen 21 Liebel: VDS und Politik 1964. 22 Fritz Lamm (1911-1977), Jude, radikaler Sozialist in der Tradition Rosa Luxemburgs und Homosexueller, wurde 1934 als politischer Gegner des NS -Regimes zu einer Haftstrafe verurteilt und konnte sich 1936 einer zweiten Verhaftung durch die Flucht ins Ausland entziehen. Er hatte vor 1933 zusammen mit Otto Brenner, Willy Brandt und anderen die »Sozialistische Arbeiterpartei« (SAP) aufgebaut und versucht, eine Einheitsfront zwischen KPD und SPD gegen Hitler zu erzwingen. Für die Generation der Neuen Linken war Fritz Lamm einer der wichtigsten Lehrer, und während der antiautoritären Revolte war er einer der wenigen alten Genossen, die mit dem SDS in ständiger Diskussion standen.
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politischen Verfall […] der radikale Sozialismus nicht von Entrechteten und Ausgebeuteten getragen werden kann, sondern dass er z. T. bewahrt wird von Gruppen mit vielen hochintelligenten und verantwortungsvollen Neurotikern und Psychopathen. Wir sind gewissermaßen die rebellierende Vorhut des degenerierten Menschen von morgen.23
Das Denken der Antiautoritären Die folgenden Ausschnitte aus einem Interview mit Bernd Rabehl geben einen recht guten Eindruck von den vielfältigen Einflüssen und Teilstücken, aus denen die antiautoritäre Ideologie der Revolte, die sich die Subversive Aktion ausgedacht hatte, bestand. Da in einer mündlichen Erzählung theoretische Inhalte eher assoziativ wiedergegeben werden, möchte ich eine kurze Zusammenfassung der Ideologie der Revolte, wie sie sich um 1965 darstellte, voranstellen. Um die etwas unfaire Gegenüberstellung schriftlicher und mündlicher Quellen etwas abzumildern, werde ich Teile einer Rede von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl vor der Delegiertenkonferenz des SDS im Herbst 1967 an manchen Stellen »einblenden«. Diese Textpassagen sind deutlich gekennzeichnet und ermöglichen einen Eindruck vom Sprachduktus der Antiautoritären (so redeten sie tatsächlich!). Vor allem kann man an einigen Stellen eine Weiterentwicklung der Ideologie der Revolte verfolgen, besonders in Bezug auf die Kommunen: Sie avancieren von Unterstützungsgruppen für die mit der »Authentizität« (um ein Sartre’sches Wort zu benutzen) nicht ganz fertigwerdenden Intellektuellen zur »Stadtguerilla«. Das geschieht unter dem Eindruck der plötzlichen Massenbewegung nach dem 2. Juni 1967, wo sie, den Erfolg im Rücken, die »Traditionalisten« im SDS endgültig aus ihrer Vormachtstellung vertreiben. Zu den Personen: Rabehl und Dutschke kamen aus der DDR – wie übrigens viele SDS ler, vor allem in Berlin – kurz vor dem Bau der Berliner Mauer, da sie mit den bürokratischen Strukturen und dem rigiden Marxismus-Leninismus in Konflikt gekommen waren. Sie schlossen sich in den frühen 1960er Jahren der Subversiven Aktion an und traten 1964 /65 dem SDS bei, mit dem erklärten Ziel, ihn zu übernehmen. Sie waren – zusammen mit Wolfgang Lefèvre – die bekanntesten antiautoritären Leitfiguren in Berlin, wobei Dutschke sicherlich die wichtigere Rolle zukommt. Seit dieser durch die Medien zum Star und Führer der Studentenbewegung stilisiert wurde, bekam ihre jahrelange Freundschaft einen Riss. Hans-Jürgen Krahl, der 1965 dem SDS in Frankfurt beitrat, wurde dort zur dominanten Figur der Antiautoritären, wodurch sich der Einfluss der Kritischen Theorie im antiautoritären Denken verstärkte. Er war offensichtlich der brillanteste und produktivste unter den antiautoritären Führern. Krahl verunglückte am 13. Februar 1970 tödlich bei einem Autounfall, Dutschke starb am
23 Lamm: Der alte Marx 1964.
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24. Dezember 1979 an den Spätfolgen des am 11. April 1968 auf ihn begangenen Attentats. Nun zur Zusammenfassung der Ideologie der Revolte der Subversiven Aktion. Sie geht davon aus, dass die Entfremdung des Menschen in der postindustriellen Gesellschaft ein Ausmaß erreicht, das über Konsumorientierungen und politische Festlegungen die Klassengliederung einer Gesellschaft ebenso überdeckt wie die individuelle Selbstständigkeit. D. h. Klassen bestehen zwar weiter, können aber nicht mehr wahrgenommen werden. Um diese psychisch geschlossene Herrschaft aufzubrechen, müssen sich Intellektuelle zusammenschließen und durch gezielte Provokationen die Menschen ansprechen, die noch einen Rest von Individualität bewahrt haben. Die Theorien der Frankfurter Schule werden angereichert mit Überlegungen von Freud und Reich und mit den Kulturtheorien der Situationisten konfrontiert. Vor diesem Hintergrund wird der Sartre’sche Existenzialismus wahrgenommen, wird die Notwendigkeit von Provokationen und Aktionen behauptet, um nicht dem Mechanismus der Selbstzerstörung oder der Herrschaft ausgeliefert zu bleiben. Da keine soziale Kraft oder Klasse und kein Staat das Potential zur radikalen Veränderung hat, ist der Einzelne auf sich selbst angewiesen, er muss den existenzialistischen Sprung in eigener Entscheidung vollziehen. Um diesen Sprung psychisch durchzustehen und nicht in der Vereinzelung zu verzagen, sollen Gemeinschaften des Lebens und des Widerstandes gebildet werden, die »Kommunen« (ursprünglich »Kohorten«) genannt werden. Mit diesem ausweglosen geschlossenen System konnten sich die DDR ler Rudi Dutschke und Bernd Rabehl doch nicht abfinden und führten die »kämpfenden Völker der Dritten Welt« sozusagen als neue revolutionäre Klasse ein. Bernd Rabehl: Ich hatte noch meine Zweifel beim ersten Teach-in [1966], wo Dutschke das erste Mal auf einer Massenveranstaltung redete und in schnellen Worten unsere Zielsetzung brachte. […] Da hab’ ich gewartet auf das absolute Durchfallen. Du kennst sicherlich so eine Situation, wo du neben dir stehst und denkst: Menschenskinder, mit unseren Argumenten vom »neuen Menschen« und was wir uns sonst so ausgedacht hatten, da bricht ein schallendes Gelächter aus. Aber stattdessen waren alle begeistert und er fand einen riesigen Applaus. Plötzlich hast du gemerkt, dass das, was wir dachten, viele Studenten gedacht haben und das richtig fanden. Dieses Teach-in hat deutlich gemacht, dass wir eine allgemeine Stimmung [nur] artikulierten, dass eigentlich unser Denken ein Massendenken an der Universität war. Annemarie Tröger: Was war euer Denken zu der Zeit (1965 /66), was war mit dem »neuen Menschen«, wer war für euch das historische Subjekt? BR : Wir selbst. AT : Ihr selbst? Nicht an eine Klasse gebunden? BR: Nicht an eine Klasse gebunden, aber in der Vermittlung der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Das historische Subjekt ist [für uns] nicht mehr die Arbeiterbewegung, sie hat sich eingekämpft in das System und ist 351
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nun Bestandteil des Systems […]. Die Völker der Dritten Welt übernehmen die klassische Rolle des Proletariats im 19. Jahrhundert, weil sich da die Widersprüche des Imperialismus am stärksten äußern. […] Aber sie können nur siegreich sein, wenn die Aufgeklärten und Wissenden in den Metropolen sich mit ihnen solidarisieren, also auch andere »Outcasts« aufrufen, sich zu verweigern und das System zumindest zu paralysieren. Wir waren überzeugt, dass wir sozusagen die Übersetzer der Revolution der Dritten Welt in eine Veränderung der Ersten Welt sind. AT : Wie ist die Dritte Welt eigentlich in Dutschkes und deinen Blickwinkel gekommen? BR : In der Auseinandersetzung mit der Subversiven Aktion, über die Kulturkritik Horkheimers und Adornos und v. a. die Psychologie C. G. Jungs, wovon sie alle so überzeugt waren, also dass die politische Entwicklung zum autoritären Staat und zur Deformierung des Menschen hinführt, eine riesige Megamaschine der Reproduktion des Ewiggleichen sozusagen, in der man sich nur verweigern kann. Dutschke und Krahl (1967): »Wenn die Struktur des Integralen Etatismus durch alle seine institutionellen Vermittlungen hindurch ein gigantisches System von Manipulation darstellt, so stellt dieses eine neue Qualität von Leiden der Massen her, die nicht mehr aus sich heraus fähig sind, sich zu empören. Die Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche ist damit geschichtlich unmöglich geworden. Sie erfassen die soziale Wirklichkeit nur noch durch die von ihnen verinnerlichten Schemata des Herrschaftssystems selbst. Die Möglichkeit zu qualitativer politischer Erfahrung ist auf ein Minimum reduziert worden.« BR : Rudis [Dutschkes] Argument dagegen war, dass es die Befreiungsbewe-
gungen gibt, die die Idee der Veränderung und einen neuen Typ von Revolution hervorbringen, wo Rudi also sagte, nicht Kulturkritik, sondern [man müsse] sich engagieren im welthistorischen Prozess, der seinen Anfang nimmt in der Dritten Welt. Revolution so wird gedacht, dass ein Land nach dem anderen sich befreit und dass der Kapitalismus nicht lebensfähig ist ohne Rohstoffe. Da kommt die Luxemburgische Imperialismustheorie rein. Die imperialistischen Länder werden militärisch intervenieren, aber da keiner Lust hat, da zu krepieren, muss entweder eine neue faschistische Ideologie her oder die Kampfmaschine wird paralysiert. Da spielt dann die Intelligenz eine Rolle von der Propaganda und Aufklärung bis hin zu subversiven Aktionen und Sabotage. Dutschke hat immer schon das gedacht, was die R AF später gemacht hat. Es wurde auch diskutiert, nur sah man den Zeitpunkt noch längst nicht für gekommen. Dutschke und Krahl: »Die revolutionären Bewusstseinsgruppen, die auf der Grundlage ihrer spezifischen Stellung im Institutionswesen eine Ebene von aufklärerischen Gegensignalen durch sinnlich manifeste Aktion produzieren können, benutzen eine Methode politischen Kampfes, die sie von den traditionellen 352
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Formen politischer Auseinandersetzung prinzipiell unterscheidet. Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt bilden die mobilisierenden Faktoren in der Verbreiterung der radikalen Opposition und ermöglichen tendenziell einen Bewusstseinsprozess für agierende Minderheiten innerhalb der passiven und leidenden Massen, denen durch sichtbare irreguläre Aktionen die abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewissheit werden kann. Die ›Propaganda der Schüsse‹ (Che) in der ›Dritten Welt‹ muss durch die ›Propaganda der Tat‹ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der ständige Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen.« BR : Um das alles leisten zu können, müssen wir uns selbst verändern. Denn alle Revolutionen sind daran gescheitert, dass die Arbeiterführung autoritär war. Sozialdemokraten oder Bolschewiki konnten von ihrem eigenen theoretischen und moralischen Ansatz her immer nur das Gleiche wiederholen, weil sie nicht wirklich frei waren. Also kommt es darauf an, sich selbst zu befreien. Da tauchte dann sehr früh schon die Kommune-Idee auf. Sie ist schon enthalten in dem Konzept der »Kohorte« bei der Subversiven Aktion! Das klingt mussolinihaft und ist es auch: Die Kohorte als der Existenzialismus des Kämpfers, seine Kampfgemeinschaft und Kameraderie. Man könnte es heute als [Ernst] Jünger ironisieren, bloß den kannten wir damals noch nicht. Wir wussten nicht, dass es ähnliche Theorien schon bei der Rechten in der Weimarer Republik gegeben hat.
Dutschke und Krahl: »Wir wissen sehr genau, dass es viele Genossen und Genossinnen im Verband gibt, die nicht mehr bereit sind, abstrakten Sozialismus, der nichts mit der eigenen Lebenstätigkeit zu tun hat, als politische Haltung zu akzeptieren. Die persönlichen Voraussetzungen für eine andere organisatorische Gestalt der Zusammenarbeit in den SDS -Gruppen sind vorhanden. Das Sichverweigern in den eigenen Institutionsmilieus erfordert Guerilla-Mentalität, sollen nicht Integration und Zynismus die nächste Station sein. […] Demgegenüber stellt sich heute das Problem der Organisation als Problem der revolutionären Existenz.« AT : Und was ist diese neue Moral? BR : Letzten Endes eine Kampfmoral, aber so hart und eindeutig haben
wir es damals nicht gesehen. Wir haben damals den jungen Marx, die »Pariser Manuskripte« in der Marcuse-Interpretation darf man nicht vergessen, gelesen. Und Marcuse interpretiert Marx »heideggersch«, d. h. dass die Entfremdung einen Punkt erreicht, wo man es nicht mehr aushält. Und wir meinten, an diesen Punkt gekommen zu sein. […] Das ist wichtig für uns, weil in dieser Interpretation ein Existenzialismus drinsteckt, Entfremdung nicht nur eine theoretische Kategorie ist, sondern dass sie erlitten wird und 353
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die Menschen entweder in die Neurose oder zur Aktion treibt. Wir sehen sozusagen mit Marcuse, dass die Zeit der historischen Wende, bei Heidegger heißt es »Zeit der Entscheidung«, da ist. AT : Lass uns mal zu eurem Begriff von Intelligenz zurückkommen, die ja, wie du sagst, als historisches Subjekt klassenungebunden ist. War es eine »freischwebende Intelligenz« im Sinne von Karl Mannheim? BR : Nein, wir verglichen uns eher mit einem Typus rebellierender Intelligenz, die in Russland in den 1870er Jahren auftrat. Das sind Kinder von freigelassenen Bauern oder (illegitime) Kinder von Priestern. Eine Intelligenzija, die sozusagen herausgespült wird aus ihrer eigenen Klasse, die die Möglichkeit hat, über die Entfremdung und das Leiden der eigenen Herkunftsschicht nachzudenken, aber ohne deren Allüren noch zu haben. Und das [historische Beispiel] haben wir auf uns übertragen: So wie Rudi [Dutschke], Sohn eines Postbeamten, oder ich, Sohn einer Stenotypistin, in der normalen Gesellschaft gar nicht an die Universität kommen könnten, wenn man uns nicht in der DDR die Möglichkeit dazu gegeben hätte. Für uns war, sozusagen vorausahnend, was passieren würde – der aus dem Kleinbürgertum kommende Student der neue Intellektuellentyp, also wir selbst, die wir nicht die Entfremdung der westlichen Bourgeoisie und Großbourgeoisie erfahren hatten. Einflüsse aus der Arbeiterbewegung Um zu zeigen, dass die antiautoritäre Sicht auch aus anderen Wurzeln kam als den von Rabehl beschriebenen, möchte ich einen Ausschnitt aus der Erzählung von Mike Vester zitieren. Seit 1960 im (neulinken) SDS Frankfurt, repräsentiert er einen Strang antiautoritärer Aufmüpfigkeit von innen, der bis 1967 wohl genauso wichtig war wie die Zugewanderten aus der DDR . Vesters Abwendung von den Antiautoritären war nicht typisch, zeigt aber umso deutlicher die Unterschiede zwischen beiden Strömungen, die sich dann in den Köpfen der Studenten zu einem nicht mehr differenzierbaren Amalgam mischten. 1961 /62 hatte er in den USA studiert und war mit dem dortigen SDS in Kontakt gekommen. Er war mit dem Gefühl zurückgekehrt: »Wenn wir [im deutschen SDS] nur aus unserem theoretischen Objektivismus herauskämen, würde bei uns auch etwas in die Gänge kommen.« Im Frühjahr 1965 schrieb Vester in der Zeitschrift neue kritik einen Artikel zur »Strategie der direkten Aktion«, der, wegen der inzwischen veränderten politischen Strömungen, den SDS fast spaltete. Ich argumentierte für Protestformen, in denen die Menschen, die direkt betroffen waren, aus ihrer Betroffenheit und moralischen Entrüstung heraus handeln. Wir mussten von unserer »Politik der Podien« weg, wo wir die allgemeinen Entwicklungstendenzen analysierten und uns dann nach Leuten umsahen, die wir führen könnten. Stattdessen sollten die Menschen von selbst und aus sich heraus handeln, die richtige Richtung würde sich dann schon in einem Prozess kollektiven Lernens durch Aktionen herausstellen. […] Es war mir sehr wichtig, dass diese Aktionen moralische Handlungen 354
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waren, die durch ihre moralische Glaubwürdigkeit andere Menschen überzeugen würden und nicht durch Gewalt. Im Gegenteil, dass durch den Rückgriff auf Gewalt die Aktionen jede aufklärerische Kraft verlieren würden. Diese aus einer christlich protestantischen Tradition stammende und von der Civil-Rights-Bewegung wiederbelebte Aktionsform war eigentlich der vom anderen antiautoritären Flügel propagierten »provokativen Aktion« diametral entgegengesetzt. Um den Unterschied deutlich zu machen, soll hier Wolfgang Lefèvre, einer der führenden Antiautoritären an der FU Berlin, zitiert werden: Die [sozialdemokratischen Studenten] wollten immer »vermitteln«. Sie sagten immer: »Diese Aktion können wir der Öffentlichkeit nicht vermitteln.« Und immer wieder erklärte ich ihnen: »Das müsst ihr gar nicht vermitteln, ihr müsst ja bloß die Reaktion darauf, d. h. wie sich die andere Seite daraufhin blamiert, das müsst ihr vermitteln.« Ich glaube, sie haben es niemals geschnallt. Aber zunächst einmal ging es der jungen Garde um Aktion überhaupt. Mike Vesters Impuls, sich den Antiautoritären anzuschließen, kam vielmehr aus einer linken Tradition der Arbeiterbewegung: vom Rätesozialismus über die Spontaneitätstheorie Rosa Luxemburgs bis zur anarchistischen Tradition, die der SDS in den vorhergehenden fünf Jahren – auch in Gestalt durchaus lebendiger Personen – wiederentdeckt hatte. Vester: Als ich dann von den Münchner und Berliner Richtungen hörte, die aus einer etwas anderen Wurzel daran gekommen waren, gab das natürlich eine Möglichkeit zusammenzuarbeiten. Mich beeindruckte, dass sie die Formen konventioneller Politik und die Blockierung der öffentlichen Meinung durchbrachen mit ihrer Art von Aktionen, die durch das Symbolische wirken. Aber es gab nur ein kurzes Zusammengehen der aus dem Existenzialismus etc. kommenden intellektuellen antiautoritären Strömung und den Strömungen, die aus der alten Arbeiterbewegung herkamen. Zu einer Verschmelzung kam es nicht. Denn dieser neuen Generation im SDS war unsere Orientierung der Arbeiterbildung und Arbeiterbewegung fremd, und auch in den späteren 1960er Jahren hat sie sich den existierenden sozialen Bewegungen nur mythologisch angenähert, d. h. soziale Bewegungen idealisiert aufgefasst, sei es in Vietnam oder Cuba, und selbst der »Mai 68« in Frankreich, von dem sie vor den Mai-Ereignissen selbst überhaupt nicht Kenntnis nehmen wollte, obwohl schon Monate vorher ein unterirdisches Beben zu spüren war. Dieses mythologische Verhältnis zu und mehr geistesgeschichtliche Herangehen an die Dinge, das diese neuen antiautoritären Bewegungen, bzw. ihre oberen Etagen so an sich hatten, hat mich immer abgestoßen. Deshalb habe ich in den späteren 1960er Jahren auch nicht mitmachen können und lieber Arbeiterbildung weitergemacht. Aber als dann Ende der 1960er Jahre aus dieser Studenten- und Protestbewegung wieder eine basisnahe Bewegung wurde mit Kinderläden, Lehrlingsgruppen, der Schulreform und vielen anderen 355
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men, da habe ich mich sofort wieder anschließen können, zunächst noch in der Hoffnung, dass sich das auch wieder mit dem alten historischen Subjekt Arbeiterbewegung verbinden würde, sie wieder neu entstehen würde. Was mir aber [Anfang der 1970er Jahre] nicht klar sein konnte, war, dass die soziale Basis der Klassenstruktur [in Deutschland] sich durch die neuen ökonomisch technologischen Veränderungen so verschiebt, dass eine sozusagen unveränderte Wiedergeburt der klassischen Arbeiterbewegung unvorstellbar werden würde. […] Das heißt für mich nun gerade nicht, [wie es] im Sinne dieser modernen Wendephilosophen und -Theoretiker gesagt wird: »Na ja, wir sind enttäuscht, aber es war nichts mit dem Sozialismus und der Arbeiterbewegung.« Diese Auffassung, dass das alles nichts bedeutete und keinen Sinn hatte, liegt mir fern.24
24 Anm. der Hrsg.: Der hier abgedruckte Text erschien zuerst in einer französischen Übersetzung unter dem Titel »Les enfants du tertiaire: le mouvement étudiant en RFA de 1961 à 1969« in der Zeitschrift Le mouvement social. Herausgeberin des Schwerpunktheftes Nr.143 (Mémoires et histoires de 1968) war Luisa Passerini. In ihrem Kommentar bezieht sie sich darauf.
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Luisa Passerini
Commentary on »Die Avantgarde der Angestelltenklasse« We chose to put the title of the special issue »Mémoires et histoires de 1968« of Le Mouvement social in the plural because we wanted to stress the multiplicity of experiences in the international context of the history of 1968. »We« means some of us who were involved in a research project on the generation of 1968 in six countries: the USA , the Federal Republic of Germany, France, Italy, the United Kingdom, and Northern Ireland. The project was partially self-funded and partially financed by the publishers who later published the book, 1968. A Student Generation in Revolt (Chatto & Windus in London and Pantheon in New York). This book, based on the research done by Daniel Bertaux, Bret Eynon, Ronald Fraser, Ronald Grele, Béatrix Le Wita, Danièle Linhart, Luisa Passerini, Jochen Staadt, and Annemarie Tröger, was written by Fraser. We had various meetings during the research in order to discuss and decide on the approach, the questionnaire, and the first elements of interpretation that we had in mind or that emerged during the inquiry. I remember the very first meeting at a café en plein air in Aix-en-Provence, where the whole project started on the occasion of the Fourth Conference of the International Oral History Association in 1982. I also remember meetings in London (at Jane Mills’ house) and Barcelona (where we were guests of Mercedes Vilanova), which were passionately interesting and great fun as well, since they meant living together for several days. It was costly for us to travel, especially for the two members of the group coming from New York City, and some of us did not have any academic support for this sort of research. Actually, we ran out of money after having collected the material and could not complete our plan, which was to meet and work on the connections and disjunctures between the various countries and cases. We had great hopes for the novelty of our project, which mixed the perspectives of daily life, subjectivity and narration with a new type of politics and the subversion of the existing order of things as well as of knowledge. No wonder that our great expectations were partially disappointed by the result, which in our view was unfinished. Ronnie wrote a good book based on the research reports that each national team had sent him, but the theoretical and methodological exchange we had expected to fulfil could not take place because of dearth of time and money. Therefore, the book turned out to be a sort of preliminary basis for a debate still to be held and an interpretation to be developed. The special issue of Le Mouvement Social was a significant volume in its time. Some of the members of the »Comité de redaction« of the journal were very much in favor of oral history, which at the time was far from being academically recognized. Their offer to devote a special issue almost entirely to an oral history 357
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research project, still under way, was a sign of their engagement in a cultural politics for an innovative approach and methodology. The issue reflects some of our ambitions. It shows a tension among the theme of 1968 as »an explosion of subjectivity« (including a strong emphasis on individual subjectivity), which was my historical hypothesis in 1968. Autobiography of a Generation (1996);1 an approach to 1968 in terms of a political economy of classes (Tröger); and the insistence on the collective dimension of generational subjectivity (Bertaux, Le Wita, and Linhart). There was vibrant debate and amicable disagreement among us on the many possible interpretations of subjectivity. For me – as well as for others – »memory« meant »subjectivity,« while we did not like the term »identity,« as it conveyed the idea of a fixed belonging restricted to a group. My personal opinion, as expressed in the Editorial that I wrote as Editor of the special issue of Mouvement Social, was that in any case the destiny of subjectivity even when collective was to become individual, multiplying itself in single individuals, who are the only real subjects of social change.2 This was a Frankfurtian interpretation of the Marxian notion of a subjectivity divided between the vast automaton – the movement of capital itself, which is a subject in appearance only – and the individual workers, the only ones who can become subjects in a full sense, even if their subjectivity is fragmented and not completely brought to awareness. The implication was that the study of memory should include the perspective of psychoanalysis, not directly, but as a horizon of interpretation, on the understanding that memory presupposes semiconscious and unconscious levels – not to be analyzed by us oral historians, but always to be taken into account. This argument was essential in order to understand the multiple components of 1968 in a global dimension: the relationship between conscious subjectivity and subjectivity as a whole; the decision taken by ’68ers to privilege the principle of desire over the reality principle; and the role of imagination and shared emotions as well as of community and communication. This entanglement of ideas was also the basis for the main criticism I made in that editorial of Annemarie’s essay. My judgment of her article was very positive, as I appreciated her adoption of a widened (dilaté) notion of class within the context of non-deterministic Marxism. She posited the interpretation of the student movements as the vanguard of middle-class intellectual and white-collar workers (including functionaries and liberal professionals practitioners). I still think that her gesture of including »class« among the categories of difference, while at the time we were privileging gender, culture, color, and to a lesser extent age, was bold and farsighted. I also liked very much, as fine examples of the practice of the interview, the dialogues she inserted in the article between herself and her interviewees. There is an extraordinary passage from one of her interviews:
1 Passerini: Autobiography of a Generation 1996. 2 Passerini: Peut-on donner de 1968 une histoire à la première personne?
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Annemarie Tröger: Was war euer Denken zu der Zeit (1965 /66), was war mit dem »neuen Menschen«, wer war für euch das historische Subjekt? Bernd Rabehl: Wir selbst. AT: Ihr selbst? Nicht an eine Klasse gebunden? BR : Nicht an eine Klasse gebunden, aber in der Vermittlung der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. I can almost hear, in my mind, this dialogue as spoken by the two interlocutors. I can imagine the indignant exclamation and question by Annemarie: »Ihr selbst? Nicht an eine Klasse gebunden?« On the other hand, Bernd Rabehl’s reply evidences one of the main arguments of the article: the decisive link between 68 and the liberation movements of the so-called Third World. This is absolutely crucial and is still a forgotten or insufficiently developed question in the interpretations of 1968 – as the anniversary of 2018 has abundantly shown. There are two sore points in the flood of demonization and/or exaltation-canonization of the annus mirabilis: the lack of adequate attention to the connection on which Annemarie and Bernd insist; and the insufficient documentation on the interand transnational dimension of 68. The latter was one of the goals in our joint research project, and we failed it, but I now think that it is a failure shared by the general state of the art in the field of the history of 1968. More documentation, archival classification and comparative research are needed in order to proceed in this direction. Of the preparations for that 1988 special issue I remember some of the frank disagreements I had with Daniel Bertaux, on the argument about the priority between individual and collective subjectivity; with Annemarie, on my criticism that she ignored the psychoanalytic dimension of subjectivity. Daniel recently sent me a message, on the occasion of a conference in Paris in May 2018 (»The Imprints of 1968’s Student Movements in the world«, International Conference organized by GERME [Groupe d’études et de recherche sur les mouvements étudiants]; Cité des mémoires étudiantes; and Centre d’Histoire de Sciences Politiques). Neither Daniel nor I could be present in person, but we participated virtually through Skype. His message was that I was right in 1988 to stress individual subjectivity. I would like now to reply to him that, on the other hand, he was absolutely right in stressing the importance of the category of generation as a historical dimension of subjectivity – which I came to appreciate more and more through time. On the disagreement with Annemarie, I find it striking that her reply came so directly from her own life choices. I had originally met her in 1978 at the Second Oral History Conference at the University of Essex, Colchester, and afterwards we saw each other many times, in Berlin, New York, London, Barcelona, and other places. I remember my first visit to East Berlin, where Annemarie, who had invited me to give a talk on memory at the Freie Universität, took me in the early 1980s. Going through the border police controls, we were closely questioned, actually she much more than me, and her purse was searched. 359
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I was astonished to see how openly impatient and edgy she was, showing sharply her dissident attitude. Then, in the second half of the 1980s, we both left oral history for other engagements. I saw her again in Berlin in 1992-1993, when I was a Fellow at the Wissenschaftskolleg, and she was a practising psychotherapist. There could not be a better reply to my old criticism, although at the time we did not talk about that. I remember a wonderful time we had when she took me to the dilapidated building which was site to many art galleries and activities. My husband and I went to visit her and Burghard in their house in the countryside – I remember the conversation about the types of apples they were experimenting with. If I could now pick up our discussion on »Die Avantgarde der Angestelltenklasse,« I would tell Annemarie that she was right in stressing class and internationalism – and that I feel we should rediscover the meaning of these notions today, as interpretive categories for 1968 in historical perspective. Turin, Italy, January 2019
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Brief an eine französische Freundin: Die Intelligenz in der Wende – Gedanken zu den Veränderungen in der DDR (1990) Berlin, im Januar 1990 Mein liebes Clärchen, hab vielen Dank für Deine Neujahrswünsche. Deine Besorgnis und auch Dein »gewisses Bedauern« über den Zusammenbruch des Sozialismus nun auch in der DDR , »vor allem in den Köpfen der Menschen«, wie Du schreibst, hat mich überrascht und zugleich berührt. Dir als geschichts- und traditionsbewusster Anarchistin hätte ich eine gewisse klammheimliche Freude am wenigsten verübelt. Im Gegensatz zu unseren Westberliner Spontis und sonstigen Linken, die sich selbst bestätigen, in welch aufregenden Zeiten sie leben, und deren Sorgen sich darauf zu konzentrieren scheinen, dass ihr subkulturelles Ökogärtchen in der Mauernische vom Heer der Nadelgestreiften aus Bonn nun zertrampelt wird, begreift man aus der Pariser Distanz wohl eher, was der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme – so wenig sie je ein Modell für uns waren – für die Linke und die Frauenbewegungen in Westeuropa auf lange Sicht bedeuten wird. Du fragst mich nach meiner »Analyse« der Vorgänge; die kann ich Dir nicht geben, sondern nur meine Eindrücke von Gesprächen und zufälligen Begegnungen und meine Gedanken dazu. Du solltest also alles mit dem üblichen »m. E.« lesen. Von solch zufälligen Gesprächen, die ich vor fast zwei Jahren, d. h. eineinhalb Jahre vor den Umwälzungen im letzten Herbst, führte, wird im Folgenden vor allem die Rede sein, weil sie sich als eine Art Schlüsselerlebnis herausstellten. Wie Du vielleicht weißt, bin ich bis zu meinem 15. Lebensjahr auf Dörfern in Thüringen und Anhalt aufgewachsen und habe aus der Zeit noch verwandtschaftliche Kontakte. Ein neuer Bekanntenkreis entstand in den letzten zwei Jahren aus der Vorbereitung des DDR-Heftes der Feministischen Studien, von dem ich Dir erzählt habe. Er ist inzwischen um ein Vielfaches größer als der kleine Kreis von Autorinnen – ein Zeichen für die soziale Öffnung lange vor der »Wende«. Sie gehören alle zur »Intelligenz« (im DDR-Sprachgebrauch), also zur akademisch ausgebildeten Mittelschicht. So viel zu meinen »Quellen«. Ein so massiver Umbruch wie in den letzten Monaten in Osteuropa ist nicht mit den Segnungen des kapitalistischen Marktes, der Attraktion von Bananen und Videorekordern zu erklären. Auch die Zusammenbrüche von Partei- und Staatsapparaten, selbst die der Planwirtschaften, sind nur Epiphänomene von gesellschaftlichen Widersprüchen und Konflikten, die jahrzehntelang mit dem Verweis auf die Überwindung des »Hauptwiderspruchs« zurückgedrängt wurden. 361
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Im Falle der DDR manifestierte sich (nach außen) zuerst der Generationskonflikt in der »Ausreisewelle« des Sommers. Dann wurden die Widersprüche zwischen den Geschlechtern in Schlaglichtern deutlich – ironischerweise zuerst in den Oppositionsgruppen. Nach dem Ausbruch der Nationalitätenkriege in der Sowjetunion erhob auch der Deutschnationalismus in der DDR sein etwas käsiges Haupt. Je mehr die Partei zurückweichen musste, bis sie schließlich Anfang Dezember als Herrschaftsapparat ausfiel, umso sichtbarer wurde und wird der Widerspruch zwischen Intelligenz und dem Rest der Werktätigen. Natürlich überlappen und verzahnen sich die Konflikte (z. B. Nationalismus als Ausdruck von Geschlechter- und Generationskonflikten), aber ich werde mich hüten, schon wieder eine Hierarchisierung von Widersprüchen vorzunehmen. Im Mai 1988 besuchte ich Ingrid, wir hatten uns vielleicht zwei- oder dreimal zuvor gesehen. Zwischen uns war so etwas wie ein vertrautes Verhältnis entstanden, das man trotzdem nicht als Freundschaft bezeichnen würde: eine fast intime Atmosphäre des Gesprächs, ohne dass »Intimes« auch nur berührt worden wäre. Die seltsam schnelle Vertrautheit ist mit vielen meiner DDR-Bekannten aufgekommen. Ich schrieb es zunächst der generell etwas gemütlicheren Gangart im Umgang zwischen den Menschen zu: Die Gespräche sind weniger schnell auf ein Ziel hin orientiert, Berichte und Schilderungen des eigenen Befindens werden noch als richtige »Geschichten« und nicht in diesem schrecklichen quasianalytischen Stil gegeben, der sich bei uns bis in die Dörfer durchgesetzt hat. Bei meinen neuen Bekannten ist es aber vermutlich eher dem Zustand der »illegalen Meinungsfreiheit« zuzuschreiben, der sich in den beiden letzten Jahrzehnten in der DDR allmählich durchgesetzt hat Es war zwar im Gegensatz zu früher nicht mehr »verboten«, eine eigene, »private« Meinung zu haben, man guckt sich z. B. in einem Lokal nicht mehr verstohlen um; es war aber gefährlich, sie öffentlich, v. a. schriftlich zu äußern. Da sich eine eigene Meinung nur im privaten Gespräch herausbilden und nur da äußern konnte, wird unbewusst eine Haltung eingenommen, die das Gegenüber unausgesprochen »ins Vertrauen zieht«. Das manifestiert sich in winzigen mimetischen Zeichen, in der Sprachmodulation und in der Weise, wie Privates, Sachlich-Informatives und Politisches im Gespräch gemischt werden, was ich sehr angenehm finde im Vergleich zu Gesprächsverläufen in einem ähnlichen Bekanntenkreis bei uns, in denen erst das Berufliche, dann das Politische, dann das Private etc. »abgehakt« wird. Auch mit Männern ergibt sich schnell diese Art von vertraulichem Gespräch, aber es geschieht deutlich bewusster, v. a. muss es jedes Mal erneut hergestellt werden. Es irritiert mich immer wieder: Hast du das letzte Mal etwas Falsches gesagt, ihn gekränkt? Während bei Frauen die einmal erreichte Vertrautheit von einem zum nächsten Mal weiterbesteht, sie mit der Person verknüpft bleibt, wodurch eher das Gefühl einer – tatsächlichen oder eingebildeten – Freundschaft entsteht. Ingrid hatte auf mich gewartet, den Mann, mit dem sie zusammenlebt, auf die Datsche geschickt, zum Mittagessen eingekauft, nach dem auch ihr Sohn verschwand. Schon beim Kochen fing sie an zu erzählen, dass bei ihrer diesjährigen »Rundumerneuerung«, einem einwöchigen Schulungskurs für 362
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mitglieder ihrer staatlichen Dienststelle, ihnen von Ökonomen in Vorträgen, also »offiziell« mitgeteilt worden sei, dass auch die Wirtschaft der DDR »und nicht bloß in Polen« in einer tiefen Krise stecke und sogar ein völliger Zusammenbruch nicht auszuschließen sei. Ingrid war sichtlich erschüttert. Dass es im RGW (Rat für Gemeinsame Wirtschaft) hinten und vorne nicht klappe, sei ein offenes Geheimnis, dass es eine schleichende Inflation gäbe und die Versorgung in den letzten Jahren auch immer schlechter geworden sei, sähen sie ja auch. »Aber ein völliger Zusammenbruch! Wenn wir bisher überhaupt noch etwas geglaubt hatten, dann, dass so etwas wie eine Weltwirtschaftskrise in einer Planwirtschaft unmöglich ist. Dass bei uns alles langsamer geht, kleiner und ärmlicher ist als bei euch, das haben die Leute ertragen, weil sie keine Angst vor Arbeitslosigkeit haben müssen und die Renten sicher sind. Aber wenn das nun nicht mehr stimmt, weiß ich nicht, warum noch jemand hierbleiben soll.« Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich die volle Tragweite von Ingrids Bericht nicht an mich herankommen ließ. Ich überlegte mir stattdessen – hier kam die DDR-Bürgerin in mir wieder zum Vorschein – warum die Partei gerade jetzt ihre Kader mit einer solchen Nachricht konfrontierte. Sollten sie diszipliniert, zu mehr Arbeitseinsatz motiviert werden? Dafür schien mir das Geschütz zu groß. Sollte eine Kursänderung vorbereitet werden? Ich erzählte Ingrid von meiner dreimonatigen Chinareise und v. a. von dem Rückflug von Peking nach Berlin-Schönefeld im April 1988. Durch eine fast 20-stündige Verzögerung waren die Reisegruppen etwas aufgelockert worden. Neben einer großen Gruppe von rührend unzeitgemäßen Bildungsbürgern aus Zehlendorf, die einen »Kultur- und Sprachkurs«, wie sie immer wieder betonten, absolviert hatten, gab es noch zwei Expertengruppen aus der DDR , eine von Maschinenbau- und eine von Bierbrauingenieuren und ein paar Einzelreisende wie einen Leipziger Dirigenten und mich. Noch während der ersten sechs Stunden des Wartens im leeren und dunklen Pekinger Flughafen hatte sich eine mittellautstarke Debatte zwischen einem Bierbrauer und mir entwickelt: Über Dengs Politik der »Öffnung«, über deren soziale Kosten, um schließlich auf mein – aber anscheinend auch sein – Leib- und Magenthema zu kommen: das Herausdrängen und die Dequalifizierung von Frauen. Hier wurden die Genossen Bierbrauer, die sich inzwischen mitsamt ihren Büchsen um uns versammelt hatten, richtig wach und sich so einig, dass sie wie mit wechselnden Stimmen – selbst der Leipziger Symphoniker lieh die seine – eine Rolle sprachen: Nun sei man endlich in den sozialistischen Ländern – dank der Entwicklung der »Produktivkräfte« – auch so weit, dass man »die Frau« nicht mehr überall einsetzen müsse. Bei den knapper werdenden Studienplätzen sei es nur gerecht, wenn »unsere Jungens« bevorzugt würden, denn sie hätten die Last der nationalen Verteidigung zu tragen. Natürlich sollten die Mädchen auch etwas Ordentliches lernen (weiter als Kindergärtnerin, Krankenschwester, Frisöse und Lehrerin reichte ihr Sozialplan allerdings nicht), aber »die Muttis« müssten zu Hause bleiben dürfen, schon wegen der Kinder. Doch die waren eigentlich ihre geringere Sorge. Vielmehr ging es ihnen darum, dass 363
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endlich der »Schlendrian in unseren Betrieben mal aufhört«; denn ewig fehlten welche und man kriege keinen Ersatz, sechs Wochen bezahlten Urlaub, weil »angeblich« die Kinder krank seien (für Alleinerziehende mit zwei Kindern, vier bei einem Kind), dann seien sie selber krank, hätten Haushaltstag oder gingen einkaufen. Dann erst der Ärger mit den Babyjahren! Als letztes, schlagendes Argument: »Und im Übrigen wollen die Frauen selbst auch lieber zu Hause bleiben.« Mein Einwand, es sei verständlich, wenn sie die miesesten und am geringsten bezahlten Arbeiten machen müssten, stach nicht. Fast jeder zitierte jetzt seine Frau, die neulich noch gesagt habe, sie würde am liebsten zu Hause bleiben – und die sei »hochqualifiziert«! Genugtuung und Stolz schwangen bei den Schilderungen des Qualifikationsgrades ihrer Ehefrauen mit, was in seltsamem Kontrast zu ihren sonstigen Äußerungen stand. »Damit soll man nun Weltniveau erreichen!«, beendete einer das Gespräch und sprach aus, was die ganze Diskussion durchzogen hatte: Die Sozialleistungen v. a. für Frauen, wenn nicht sogar die Frauenarbeit an sich, sind schuld daran, dass ihre Ökonomie nicht funktioniert. Naja, ganz nüchtern waren sie auch nicht mehr. Entschuldige, Clärchen, wenn ich Dich mit dieser Ansammlung von männlichen Vorurteilen, die Du wahrscheinlich von jedem französischen Ingenieur genauso kennst, gelangweilt habe. Für mich war damals vor zwei Jahren interessant, wie die in ihren Grundlinien seit den 20er und 30er Jahren gängige Vorurteilsstruktur unvergoren durch 40 Jahre Sozialismus von diesen »Reisekadern«, also immerhin Mitgliedern der Partei, reproduziert wurde. Faszinierend war für mich auch ihre Sprachregelung: Diskutierte man über Dengs Öffnungspolitik, über Direktinvestitionen westlicher Firmen etc., sprachen die Experten strikt nur von China und für ihre Branche, denn im Frühjahr 1988 war selbst die chinesische Version von Perestroika ohne Glasnost für die DDR noch tabu. Nur bei der »Frauenfrage«, bei der ihre Position auch nicht gerade »der Linie« entsprach, gingen sie ohne Umschweife und Deckung auf die Verhältnisse in ihrem eigenen Land ein – ein Hinweis darauf, dass sie sich bei dieser Abweichung durch einen (männlichen) Konsens abgesichert fühlten. Wie gut, sagte ich damals zu Ingrid, dass die Frauen bei einer eventuellen Kursänderung in der DDR immerhin eine relativ fortschrittliche Gesetzgebung hinter sich hätten. »Wenn das mal hält«, meinte sie trocken. Die Diskussion war während des Fluges weitergegangen, mit wechselnder Besetzung, meist in Zweier- oder Dreiergesprächen. Diese zwei sozialistischen Ingenieursgruppen hatten begonnen, mich zu interessieren. Wären sie doch notwendigerweise die »Avantgarde der Perestroika«, falls es in der DDR dazu kommen sollte. So dachte ich damals. Ihre Ansicht zur chinesischen Wirtschaftspolitik war einhellig: Nur so geht’s. Obwohl, man könne vieles besser machen, bei den Chinesen sei es eben noch etwas vorsintflutlich. Mein ungutes Gefühl, in dieser Gesellschaft wie auf einem Moor gegangen zu sein, dass mir alles zu schnell ginge, sich etwas zusammenbraue (ich glaube, ich habe Dir im Sommer 1988 davon erzählt), teilten meine Gesprächspartner nicht. Im Gegenteil, sie fanden, dass in China alles viel zu langsam und halbherzig angegangen würde, 364
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»da muss man richtig durchstarten«, sagte einer, um aufs »Weltniveau« zu kommen. Schließlich war das für sie der Sinn des ganzen Unternehmens. Der »Betrieb« war Inhalt und auch so ziemlich Grenze ihres Weltbildes. Ihn endlich vom ganzen sozialen Ballast befreien und nach »Weltmaßstäben« durchrationalisieren zu dürfen, war ihr vordringlichster Wunsch, erst dann kam die »Freiheit in der Wirtschaftsführung« für sie, was wahrscheinlich ihrer mittleren Stellung in der Kombinatshierarchie zuzuschreiben war. Sie murmelten auch etwas von »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«, die man endlich abschaffen müsse. Ich begriff damals nicht so recht, was sie meinten, und wunderte mich nur, dass sie sich mit so esoterischen Fragen des Sozialismus beschäftigten. Japan! Beide Gruppen waren dort ein paar Wochen durch die Betriebe ihrer Branche geführt worden. Einmal bei diesem Thema angekommen, waren sie so leicht nicht davon loszubringen. Meinen Widerwillen, mich auf Japan einzulassen, interpretierten sie als technisches Unverständnis und verlegten sich aufs Schwärmen über die Arbeitsorganisation und -disziplin: Wie am Schnürchen liefe alles, wie eine Maschine funktioniere der ganze Betrieb, wie auf Knopfdruck würden die Arbeiter parieren. Bis hin zu den eigenartigen Pausenaktivitäten der Japaner hätten sie am liebsten alles kopiert. Und so sauber sei alles. Im Kernbereich der Produktion fände man keine Frau, überhaupt gäbe es wenig davon in den großen Betrieben. Daher hatten sie es also: Weltniveau gleich Frauen raus! Einmal fragte ich einen Älteren, warum er und seine Kollegen so von Japan schwärmten. Er schwieg eine ganze Weile, ich befürchtete schon, ihm politisch zu nahe getreten zu sein. Das ganze Leben habe er in seinem Betrieb gearbeitet, sei mit Leib und Seele Ingenieur gewesen, habe keinen Kurs ausgelassen, sich immer weitergebildet. Und nun die Produktion in Japan zu sehen, wie viel weiter und besser die seien. Sie seien sich alle zweitklassig und »richtig dämlich« vorgekommen. Man könne die japanischen Kollegen gar nicht in ihre Betriebe reinlassen, die würden sich ja scheckig lachen über das Gerümpel, was da rumstehe. Dabei hätten sie doch auch den Krieg verloren und seien ein kleines Land ohne Bodenschätze. »Alles Ausreden.« Jahrelang würden sie an einer Sache »herumpiepeln«, ohne sich mit den westlichen Kollegen austauschen zu können. »Wenn Sie Ingenieur wären, dürfte ich gar nicht so lange mit Ihnen hier reden.« Und zum Schluss stelle man fest, dass eine ausländische Firma die Sache viel besser und schneller gelöst habe. Und nun komme er sich vor, als habe er sein ganzes Leben vertan, nichts geleistet. Er würde am liebsten die Klamotten hinschmeißen, aber jetzt sei er zu alt, um noch einmal etwas Neues anzufangen. Ob ich ihm denn nachfühlen könne, wie ihm zumute sei? Er tat mir leid. Jener aerospace engeneer fiel mir ein, der vor Jahren in meinem südkalifornischen Mietshaus als Pedell diente. Man hatte ihn mit Mitte 40, kurz vor Erreichen der Betriebsrente, bei der NASA gefeuert, weil seine Spezialisierung nicht mehr gefragt war. Oberflächlich gesehen gibt es eine gewisse inverse Parallelität: In dem fast klassischen kapitalistischen Fall stößt der Betrieb, das System den Einzelnen aus und zerstört ihn, weil seine Qualifikation – ein sicherlich wesentlicher Teil 365
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der Identität dieses Mannes – für das System wertlos wie ein Stück Schrott geworden ist, während es selbst großartig und mächtig bleibt. Im anderen Fall gibt der »altmodische« Betrieb, in dem man sozial tief verwurzelt ist, für den Aufbau einer positiven Identität nichts her, er bleibt trotz aller individuellen Investitionen klein und hässlich, wodurch auch die Qualifikation – im Vergleich zum Weltmaßstab – degradiert und das Ich zerstört wird, weil und solange es Teil des Kollektivs bleibt. Die Flüchtlingsströme des Sommers kommen in den Sinn, das gestanzte Reden der jungen Männer von »Freiheit«, »Selbstverwirklichung«, von: jeder könne im Westen »etwas werden«, wenn er nur zupacke, womit sie dem kalifornischen Ingenieur, jedem Arbeitslosen hier und letztlich sich selbst ins Gesicht schlagen, obwohl sie den sozialistischen Ingenieur treffen wollen. Kapitalistische Unternehmen in ihre sozialistischen Betriebe investieren zu lassen, stellte sich für die Ingenieure als überhaupt kein Problem dar: Die westlichen Firmen kämen, stellten ihre hochentwickelten Maschinen und Produktionsanlagen auf, für die sie statt der raren Devisen nun Betriebs- und Gewinnbeteiligung bekommen würden, was so eine Art buy now – pay later für sie zu sein schien, und mit diesen Weltspitzenanlagen ausgerüstet würden die soziaistischen Betriebe fortan auf Weltniveau produzieren … So einfach war das. Selbst die chinesische Vorsicht, den westlichen Firmen Industrieparks zuzuweisen, sie aber nicht in die eigenen Betriebe hineinzulassen, teilten sie nicht, denn damit war für sie der Sinn der Direktinvestitionen, die eigenen Betriebe zu modernisieren, nicht erfüllt. Natürlich sahen sie als erfahrene Betriebspraktiker Anpassungsschwierigkeiten, die waren aber rein technischer Natur: Umschulung, Lagerhaltung etc. Den sozialen Auswirkungen solcher kapitalistischen Beteiligungen vermochten sie auf Betriebsebene noch einigermaßen zu folgen, doch sahen sie ihnen eher erwartungsvoll entgegen, da sie sich mit ihren eigenen Wünschen, den Betrieb »auszumisten« und durchzurationalisieren, deckten. Bei einigen schien die Hoffnung mit dem kapitalistischen Partner im Rücken, die Belegschaft disziplinieren und sich endlich Handlungs- und Entscheidungsfreiheit gegen die Partei verschaffen zu können, sogar zu dominieren. Dass eine solche kapitalistische Infusion den Arbeitsrhythmus, die Selektionskriterien, die Beziehungen zwischen den Kollegen am Arbeitsplatz und außerhalb, selbst das Lebensgefühl verändern würde, lag jenseits ihrer Vorstellungskraft. Was es für die Volkswirtschaft insgesamt bedeuten würde, war ihnen nur verschwommen und punktuell deutlich. Der zu erwartenden, sich in China schon abzeichnenden Massenarbeitslosigkeit sahen sie – damals noch – erstaunlich gelassen entgegen. Sich selbst und ihre Zunft sahen sie sowieso nicht davon tangiert. Sie referierten mir die chinesische Regierungsposition, dass eine Arbeitslosenquote von zwei Prozent – sie war inzwischen auf fünf Prozent hochgesetzt worden – »gesund« sei. Auf die Frage, wann denn ihrer Meinung nach die Gesundungsrate überschritten würde, mochten sie sich nicht einlassen. Im Übrigen sei das nur ein vorübergehendes Problem, denn diejenigen, die »wirklich arbeiten« wollten, würden sehr schnell jene ersetzen, die »unbrauchbar« seien oder lieber zu Hause bleiben wollten. Nur bei einem war ich schlagfertig 366
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genug zu sagen: »Dann können Sie die Gesundungsrate getrost bei 49 Prozent ansetzen« (so hoch ist der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen in der DDR ). Die Frage, wie der Staat die Arbeitslosen und alles Übrige, was sie weiterhin von ihm erwarteten, finanzieren solle, da, wie sie selbst sagten, die Betriebe endlich über ihre »Fonds« selbstständig und ganz verfügen sollten, um »überhaupt erst mal in den Weltmarkt reinzukommen«, blieb weitgehend im Nebel. Dagegen waren ihre Vorstellungen, wo der Staat überall sparen könne, sehr detailliert. Sie umfassten schon damals vor zwei Jahren die Posten, die nach der »Wende« im Wesentlichen auch genannt wurden, und reichten vom Abbau von Stellen im Staatsapparat bis hin zur rigorosen Streichung der staatlichen Subventionierung für Grundnahrungsmittel, Transport, Mieten, Gesundheitswesen, Kinderkrippen und -bekleidung, Gas, Elektrizität, Heizung etc. Ehe Du so darüber hinwegliest oder vielleicht der jetzt auch in der Linken modischen Verdammung des »ökonomischen Unsinns« der Subventionen zustimmst, sollte man sich vorher ihren Stellenwert und das gesellschaftspolitische Konzept noch einmal verdeutlichen: Sie machen (noch) etwa ein Drittel des Durchschnittseinkommens aus und sollten im Jahr 2000 etwa die Hälfte betragen. Auch in der DDR sind die ausbezahlten Löhne durchaus unterschiedlich (sehr grob: Rentner 450 Mark, ungelernte Arbeiterin 600 Mark, Facharbeiter 1050 Mark, Professor über 2000 Mark), aber die »indirekten Löhne« wirken egalisierend. Sie – und weniger die staatlichen Zuschüsse für Alleinerziehende (200 Mark) – sind die Basis der relativen Unabhängigkeit der Frauen von einem Ehemann. Dagegen wird in unserem Leistungssystem doppelt differenziert: Neben den sehr viel größeren Spannen zwischen den Einkommen werden durch indirekte Steuern z. T. auf dieselben Güter, die in den sozialistischen Ländern subventioniert werden, die kleinen Einkommen sehr viel stärker belastet. Die Streichung der Subventionen würde eine Verarmung und Not breiter Teile der DDR-Bevölkerung nach sich ziehen. Der sollte nun nach der Vorstellung der Ingenieure durch das »Leistungsprinzip« und irgendwelche Extrafonds für Rentner begegnet werden. Es erschien mir widersprüchlich, ja abenteuerlich, wie nun gerade ein Leistungsprinzip die soziale Degradierung bekämpfen sollte, da es doch darauf zielt, die Einkommensdifferenzen möglichst zu erweitern und zu vertiefen, und in seiner Wirkung – beabsichtigt oder nicht – eine an der Armutsgrenze liegende Schicht von Arbeitnehmern produziert und legitimiert, die jede Arbeit annehmen müssen, um zu überleben. In ihrem Konzept, das – verglichen mit ihren Vorstellungen über den Kapitalismus – erstaunlich kohärent war, hatte die »leistungsorientierte« Umverteilung der Subventionen durchaus System: Sie sollten den Betrieben zur Verfügung gestellt werden und direkt in die Löhne und Gehälter fließen. Die Frage ist, wie und nach welchen Kriterien: Ob als monatliche bzw. jährliche beträchtliche Ausschüttung für die erbrachte Leistung auf der Basis eines relativ einheitlichen Grundlohns oder gestaffelt an bestimmte Arbeitsplätze gebunden, um so eine permanente, d. h. strukturelle Hierarchisierung der Einkommen zu bewirken. 367
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Die Vertreter der technischen Intelligenz schienen das Letztere im Kopf zu haben, wie überhaupt ihr sehr offenes Plädoyer für das »Leistungsprinzip« ein unverhohlenes Klasseninteresse der akademisch ausgebildeten Mittelschicht ausdrückte. Dabei schienen mir diejenigen, die aus der Arbeiterklasse kamen, was auch nach 40 Jahren Sozialismus noch sehr deutlich zu spüren ist, fast heftiger und engagierter zu sein. Ich erinnerte mich an meine langen Auseinandersetzungen mit tschechischen Bekannten und Freundinnen aus der Zeit vor dem Prager Frühling (und die ihn mir etwas vergällt hatten). Dieselben Argumente, weshalb jemand aus der Intelligenz »höhere« d. h. teurere Bedürfnisse und ein Anrecht auf mehr Bezahlung als ein(e) Arbeiter(in) habe, und immer wieder der Rückzug auf die ominöse »Verantwortung«. Meinem Gegenargument, dass eine an den Arbeitsplatz gebundene – also nicht an der aktuellen Leistung gemessene – Lohndifferenzierung nur ein Privilegiensystem, aber keinen Arbeitsanreiz darstelle, dass jedoch am Fließband der Variationsbreite der Leistung und damit der Lohndifferenzierung enge Grenzen gesetzt seien, die übrigens auch im Sozialismus voll ausgenutzt werden, hatten sie zwar nicht viel entgegenzusetzen. Aber mein Fazit, dass bei entfremdeter Arbeit und Entscheidungshierarchien nur eines helfe, um die Menschen zur Arbeit anzuhalten: ein brutaler Verdrängungswettbewerb und zwar von unten bis oben, fanden die sozialistischen Experten »etwas hart« und »übertrieben« – zumindest was das »Oben« anbelangt. Als ich sie darauf hinwies, dass ihr »Ausmisten« der Betriebe und die Bindung der Subventionen an die Leistung auf nichts anderes hinauslaufe, als eine Reservearmee zu schaffen, die, um zu überleben, jede Arbeit annehmen müsste, protestierte sie: So seien ihre Vorschläge nicht gemeint. Ich glaubte es ihnen sogar, denn richtige Kapitalisten oder »Manager« waren sie (noch) nicht, dazu fehlte ihnen der ewig hungrige Blick, das permanente Auf-dem-Sprung-Sein, das Konkurrenzverhalten bis in die letzte Nervenfaser und der Selbstdarstellungszwang – kurz all das, was eine vergleichbare Gruppe von westlichen Männern schlicht unerträglich gemacht hätte. Vieles von dem, was sie zur Sanierung sozialistischer Ökonomien vorschlugen, hielt ich für gedankenlose Imitation. Sie waren so fixiert auf das »Weltniveau« und »technische Spitze«, die sie ja nun in Japan kurz zu Gesicht bekommen hatten, dass sie alle Strukturen bis hin zur Pausenregelung unhinterfragt, sozusagen naturgesetzlich, akzeptierten. Wie sie sich das »Weltniveau«, von dem sie permanent redeten und dessen technische Produkte sie sicher besser kannten als ich, eigentlich vorstellten, ist mir ein Geheimnis geblieben. Vielleicht als einen Berggipfel, auf dem man sich, hat man die mühsame »Strecke« des Aufstiegs erst hinter sich gebracht, gemütlich niederlassen kann. Oder als exquisite Herrenrunde, zu der man, ist man erst einmal zugelassen, eben dazugehört. Auf jeden Fall nicht als eine Trittbrettfahrt auf einem rasenden Zug, bei der die Anderen zerren, stoßen und klammern, um auch auf das Trittbrett zu gelangen. Ich weiß nicht, ob man ihnen die Unfähigkeit, sich die sozialen Konsequenzen ihrer Wünsche vorstellen zu können, übelnehmen soll. Diese sozialistischen Experten haben bisher nur unter so geschützten ökonomischen Bedingungen gearbeitet 368
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und in einer in jeder Hinsicht sozial abgepufferten Welt gelebt, dass sie, selbst wenn man ihnen die Kehrseite dieser glitzernden Maschinenwelt zeigte, immer noch unfähig wären, sich vorzustellen, wie es wäre, selbst in dieser Welt zu leben. Die scheinbare soziale Brutalität, mit der die jungen Übersiedler erklärten, die Millionen Arbeitsloser im Westen seien nur zu faul und unfähig und sie selbst würden es schon schaffen, resultiert primär aus einer Wahrnehmungsund Empfindungslücke und nicht aus blanker Naivität, denn unser Fernsehen bringt genügend kritische Information. Am letzten 7. Oktober, dem inzwischen wohl berühmtesten »Jahrestag der Republik«, besuchte ich Elke. Sie hatte nicht mehr mit mir gerechnet, weil an den beiden Vortagen die Mauer dicht gemacht worden war – in der westlichen Teilstadt hatte sich schon wieder eine leichte Kalte-Kriegs-Hysterie breitgemacht. Ihr Freund, ein Betriebsökonom, sie hatte ihn niemals erwähnt, war gerade da. Nach der ersten etwas steifen halben Stunde nahmen die beiden ihre Auseinandersetzung, die meine Ankunft wohl unterbrochen hatte, wieder auf. Es ging um die Rolle der Partei in dem sich abzeichnenden Veränderungsprozess. Elke war überzeugt, dass nur mit und durch die Partei eine Veränderung möglich sei, denn in ihr seien alle Leute, die kompetent und fähig seien, etwas Neues aufzubauen. Im Übrigen bewege sich ja auch etwas in der Partei, sie nannte die Resolutionen und Forderungen, die von vielen Parteieinheiten an das ZK geschickt wurden. Ihre Meinung erstaunte mich nicht, denn ich wusste um ihre emotionale Bindung an die Partei, der sie ihre höhere Bildung und ihren sozialen Aufstieg aus proletarischen Verhältnissen in die Wissenschaft verdankt. Er hatte für ihre Parteigläubigkeit nur noch ein müdes Lächeln übrig: Man müsse möglichst schnell die Partei verlassen – er schien es schon getan zu haben oder war niemals drin gewesen –, wenn man die Veränderungen, die längst schon im Gange seien, überhaupt noch beeinflussen wolle. »Oder ihr Wissenschaftler müsst eure Umgestaltung ohne die Arbeiter machen.« Sie habe ja keine Ahnung, wie es in den Betrieben aussähe, welchen Hass die Arbeiter auf die Partei hätten. Elke war bereit, die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik aufzugeben, die eine »ganz schlimme Sache« sei, aber nicht die Partei. Hier klinkte ich mich zum ersten Mal ein: Für mich sei diese Einheit eine der wichtigsten sozialistischen Prinzipien, an denen man auf jeden Fall festhalten müsse, gerade jetzt bei der Entwicklung z. B. in der Atom- und Gentechnologie und ihren unkalkulierbaren Gefahren. Jetzt schienen beide nur ein müdes Lächeln für mich übrig zu haben: Dieses Prinzip sei der Hebel und die Rechtfertigung der Partei, um die Macht und die Kontrolle über die Wirtschaft und in allen anderen Bereichen in der Hand zu behalten. So würden ihnen selbst in den Geisteswissenschaften mit dem Hinweis auf die Erfordernisse der Entwicklung der Produktivkräfte die Themen und die Ziele ihrer Arbeiten diktiert. Dann sei es umso dringender, die Partei aufzugeben, um die sozialistischen Prinzipien zu retten, sagte ich. Elke verwies mich auf ein parteiinternes Oppositionspapier einer Gruppe von jüngeren Philosophen der Humboldt-Universität, das Anfang Oktober noch als eine Art »Geheimtipp« galt. Sie wollen den Betrieben zur Kontrolle der ökonomischen Probleme eine 369
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Art gesellschaftlicher Räte beigeben. Ihr Freund, der im Gegensatz zu meinen Ingenieuren durchaus kritisch gegenüber den naturwüchsigen Entwicklungen der Marktwirtschaft war, blieb skeptisch: Wenn nun Philosophieprofessoren und Pastoren anstatt der Parteifunktionäre die Betriebe kontrollieren sollten, sähe er erst recht schwarz. Als kurz nach der »Wende«, dem Rücktritt Honeckers am 17. Oktober, sich die Reformer in der Partei öffentlich darstellen konnten oder sich im »Dialog« zwischen Parteiführung und Volk für sie äußern mussten, wurde mir deutlich, dass jene Experten eineinhalb Jahre vorher nicht nur ihre Privatmeinung von sich gegeben hatten, sondern eine Art Konsens einer relativ großen Gruppierung innerhalb der Partei vertraten. Das erste Mal wurde der Dialog in dem »Donnerstagsgespräch« am 19. Oktober, einer wahrhaft denkwürdigen Sendung des DDR-Fernsehens, praktiziert. In der Runde der Professoren – das weibliche Geschlecht war durch die Damen in den Glaskästen repräsentiert, die die Telefonate entgegennahmen – war Otto Reinhold, Leiter der Akademie für Sozialwissenschaften, eindeutig der Wortführer, denn er schien zu wissen, wie weit man die Öffnung treiben durfte. Zu Anfang des Gesprächs wurde gleichsam eine Warntafel für die Intelligenz in den Betrieben aufgestellt: »Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik wird nicht aufgegeben.« Dafür wurden dem »Leistungsprinzip« viele Worte gewidmet, obwohl das fragende Volk eher an Reisemöglichkeiten und Devisen interessiert war. Auch von Reinhold wurde das Leistungsprinzip direkt an die Subventionspolitik gekoppelt: Die Subventionen sollten grundsätzlich beibehalten, aber nicht mehr »mit der Gießkanne« an alle vergeben werden. Er benutzte tatsächlich die bei uns von konservativen Politikern geprägte Metapher für »ökonomisch unsinnige« Sozialleistungen. Wie das geschehen sollte, darüber ließ er sich nicht aus, dafür umso länger und breiter zu den Leistungen der Intelligenz in den Betrieben, die sich endlich auch in Ansehen und Lohn widerspiegeln müsse. Das Gleiche gelte für Verwaltung und Wissenschaft, vor allem müssten die Leiter und alle, die Verantwortung übernähmen, besser bezahlt werden. Die »Verantwortung« wurde auch von ihm nicht weiter erläutert. Mein Gefühl bei meinen Flugzeuggesprächen, dass das »Leistungsprinzip« den Hauptpunkt einer Art Revolte der (männlichen) Intelligenz darstelle und wahrscheinlich – ebenso wie die Frage der Frauenarbeit – in der Arbeiter- und Bauernpartei bereits Konsens sei, hatte nicht getrogen. Das eigentlich Spannende war der »Handel«, den Reinhold der Intelligenz indirekt anbot: Ihr lasst uns die Macht, dafür bekommt ihr das »Leistungsprinzip«. Etwa zehn Tage später, also noch vor Öffnung der Mauer, strahlte dieselbe Fernsehstation eine Umfrage unter Kombinatsdirektoren aus. Vordergründig ging es um die Frage, unter welchen Bedingungen die volkseigenen Großbetriebe der Konkurrenz auf dem Weltmarkt gewachsen wären. Für die höchste Kaste der technischen Intelligenz waren Leistungsprinzip, Lohnstaffelung, Entlassungen, Streichung der Subventionen etc. keine Diskussionspunkte mehr und auch die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« nur noch am Rande 370
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wähnenswert. Diesen Genossen ging es bereits um größere Chips: um Aufteilung und private Aneignung des Volkseigentums, was selbstverständlich nicht offen ausgesprochen wurde. Fast alle deuteten z. B. an, einige sagten es offen, dass sie ihre westlichen joint venture-Partner bereits »in der Tasche« hätten (wohl eher umgekehrt), als das Volk noch gar nicht wusste, was das ist, und ein entsprechendes Gesetz noch in weiter Feme lag. In vielen Gesprächen, von denen ich Dir nur ein paar geschildert habe, wurde mir das »Klasseninteresse« der akademisch ausgebildeten Schicht und der soziale Sprengstoff, der für jedes sozialistische System darin verborgen ist, immer deutlicher. Dem Drängen, den eigenen sozialen und ökonomischen Status – auf Kosten der übrigen Bevölkerung, nur so geht’s – zu erhöhen, wird verdeckt, aber massiv durch die Forderung nach dem »Leistungsprinzip« Ausdruck verliehen. Die Kosten der Umverteilung werden dankenswerterweise von der sozialistischen Intelligenz – im Unterschied zum Deutschen Beamtenbund – gleich mitgeliefert: die Subventionen, d. h. ein Drittel der Gesamtlohnsumme. Der Wille, die eigene funktionale Kompetenz zu erweitern, wird durch die Ablehnung der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« formuliert, die sich zunächst gegen die Partei richtete und deshalb leicht (und vordergründig) mit den Demokratisierungsbestrebungen der geisteswissenschaftlichen und kulturschaffenden Intelligenz verbindet. Beide Forderungen sind letztlich gegen die Interessen der Bevölkerung, besonders ihrer unteren Einkommensgruppen und die Frauen gerichtet. Der ökonomische Interessenhintergrund der ersten Forderung wird wahrscheinlich sehr bald, der Effekt der zweiten sehr viel später, wenn überhaupt, von der Bevölkerung erkannt werden, denn bis dahin wird ihr (neu erworbener) Handlungs- und Entscheidungsspielraum von »Sachzwängen« verstellt und ihre Lebenswelt wissenschaftlich durchrationalisiert sein. Natürlich spüren die nicht-akademischen Teile der Bevölkerung, dass sich die Intelligenz »breitmacht«, aber sie haben keine »rationalen« Argumente dagegen, und ihr Unmut äußert sich in dumpfen Ressentiments, die ich z. B. bei meinen Vettern und ihrer ländlichen Umgebung in den letzten Jahren immer deutlicher bemerkte. Mit einem seltsam konservierten Sprachschatz, der den 20er und 30er Jahren entstammt (»Intelligenzler«), feiert das deutsche Erbe der Intellektuellenfeindlichkeit fröhliche Urstände. Wie in anderen Bereichen der Alltagskultur scheint die Erziehungsdiktatur der SED mit ihrer Stillstellung sozialer Konflikte mehr konserviert als verändert zu haben: z. B. die ausgeprägte Altershierarchie, das Kleben an akademischen Titeln, die sehr traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern im Privatbereich oder der autoritäre Erziehungsstil in den Schulen. (»Käseglocke« nennen es inzwischen junge DDR-Leute.) In den letzten beiden Jahren fiel mir auf, dass es trotz eines relativ gleichen Lebensstandards und der räumlichen Nähe der Wohnungen wenig soziale Kontakte jenseits der Arbeit zwischen Intelligenz und Arbeitern gibt. Die z. T. noch ausgeprägtere Separierung sozialer Schichten als bei uns erstaunt mich, da ein großer Teil der Intelligenz aus der Arbeiterschicht kommt und eine gewisse sozial-anthropologische Nähe ohne Künstelei unschwer herzustellen sein dürfte. 371
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Die Rückseite der Intellektuellenfeindlichkeit wird wohl das »Distinktionsbedürfnis« der Akademiker sein. Die »Arbeiter- und Bauernpartei« hat eine sehr ambivalente Rolle in diesen Prozessen. Ich würde ihr aber nicht, wie es heute üblich ist, die alleinige Schuld zuweisen. Sie hat noch bis in die 80er Jahre das Wachstum der Intelligenz in einem Ausmaß gefördert, das schon längst die ökonomische Notwendigkeit und zunehmend die finanzielle Belastungsfähigkeit eines kleinen Landes überschritt. Nach Etablierung ihrer Macht formulierte die SED das Revolutionsversprechen, das in der deutschen Arbeiterbewegung allerdings immer sehr materiell verstanden worden war, in eine Strategie der permanenten Bildung um, hinter der – unausgesprochen – das Versprechen des sozialen Aufstiegs steht. »Aufstieg« impliziert notwendigerweise soziale Hierarchisierung. Schon nach kurzer Zeit, spätestens mit der zweiten Generation, wird aus dem Instrument der sozialen Pazifizierung eine politische Zeitbombe: Entweder muss die Intelligenz ihre Kinder (wieder) ins Proletariat schicken – ein Punkt, an dem auch der kulturrevolutionärste Intellektuelle zum Reaktionär wird – oder die Aufstiegswege und -wünsche der Jugendlichen aus den unteren Schichten müssen abgeblockt werden. An diesem Punkt war die DDR – genau wie die BRD schon vorher – in der zweiten Hälfte der 70er Jahre angekommen. Aber im Gegensatz zur SPD (West), die ihre »Chancengleichheit« still und heimlich fallen ließ, konnte sich die SED nicht hinter einem Bürgerblock und kapitalistischen Arbeitsmarktmechanismen verschanzen. Sie musste die Enttäuschung und Wut über die vereitelten Aufstiegshoffnungen bis zur bitteren Neige selbst auslöffeln: Der Auszug der wohlgenährten, gutgekleideten und -ausgebildeten Jugend war ihr Ende. In dem Prozess der Ausweitung der Intelligenz, einer allemal gefährlichen Masse, die die Partei an sich binden musste, um sie zu kontrollieren, wurde sie zur Intelligenz-Partei – zum Schaden beider: Die Herrschaft von Partei und Intelligenz wurde identisch, zumindest in den Augen der Bevölkerung. Die Partei verlor jede Glaubwürdigkeit als Vertreterin der Interessen von Arbeitern und Bauern. Die Intelligenz verlor ihr Rückgrat als Partei-Intelligenz und damit, trotz vieler einzelner Aufrechter, ihre Glaubwürdigkeit und Funktion als Sachwalterin in kritischen Situationen. Getrennt und verfeindet, können sich das Volk und die Intelligenz nur einer äußeren Macht übergeben. Die Konsequenzen sind noch nicht abzusehen. Liebes Clärchen, ich weiß nicht, wie es Bakunin hielt mit der Intelligenz; Lenins Modell der Partei und seine Utopie der Integration von Proletariat und Intelligenz zum historischen Subjekt sind an und mit den poststalinistischen Parteien gescheitert. Ich weiß, darüber wirst Du nicht traurig sein. Doch ist noch nicht abzusehen, ob dieser Zusammenbruch die sozialistische Idee für immer unter sich begraben hat. Ich hoffe, Dich bald zu sehen, ganz herzlich Deine Anna
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Kommentar zum »Brief an eine französische Freundin« Flaschenpost von West nach Ost Im Herbst 1987 unternahm der Arbeitskreis Wissenschaftlerinnen an der Universität Hannover eine Bildungsreise nach Ost-Berlin. Nach anfänglichen Schwierigkeiten konnte erreicht werden, dass wir nicht das obligatorische Gedenkstättenprogramm zu absolvieren hatten, sondern Wissenschaftlerinnen und Gewerkschafterinnen treffen konnten, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen und uns über die Situation von Frauen in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens der DDR zu informieren. Es wurde uns viel Ehre zuteil: Wir wurden in einem Gewerkschaftsheim in Berlin-Grünau untergebracht, wo alle Referentinnen, Informantinnen und Diskussionspartnerinnen uns aufsuchten. Sogar die langjährige Vorsitzende des Beirats »Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft« an der Akademie der Wissenschaften der DDR , Prof. Dr. Herta Kuhrig, kam zu uns heraus.1 In Grünau erschien auch Prof. Dr. Hans-Jürgen Arendt, der damals Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft zur »Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse um die Befreiung der Frau« an der Pädagogischen Hochschule »Clara Zetkin« in Leipzig war und die beiden Chroniken »Zur Rolle der Frau in der Geschichte des deutschen Volkes (1830 bis 1945)« und »Zur Rolle der Frau in der Geschichte der DDR (1945 bis 1981)« mit herausgegeben hatte.2 Mit ihm diskutierten und stritten wir über Haupt- und Nebenwidersprüche und verbrachten einen Abend in kleinerer Runde. Da stellte sich dann heraus, dass er Trögers Aufsatz »Die Dolchstoßlegende der Linken« nicht nur kannte, sondern auch schätzte. Etwas merkwürdig war, dass er uns am nächsten Morgen im Frühstücksraum nicht einmal grüßte.3
1 Anfang der 1990er Jahre bin ich Herta Kurig auf einem Podium in der Uni Frankfurt wieder begegnet. Annemarie Tröger hat sie zumindest einmal bei einer Veranstaltung der Rosa Luxemburg-Stiftung über Alexandra Kollontai im Jahr 2002 getroffen, bei der beide als feministische Expertinnen geladen waren. Vgl. Höge: Das Weib als Mensch 2002. 2 Arendt / Scholze (Hrsg.): Zur Rolle der Frau in der Geschichte des deutschen Volkes (1830 bis 1945) 1984; Arendt / Scholze (Hrsg.): Zur Rolle der Frau in der Geschichte der DDR (1945 bis 1981) 1987. 3 Die Nachfolgeinstitution der Forschungsgemeinschaft mit dem pompösen Titel ist das Forschungszentrum Frauen in der Geschichte (Leipzig). – Hans-Jürgen Arendt hat in den 1990er Jahren mit dem Kasseler Archiv der deutschen Frauenbewegung zusammengearbeitet. Vgl. Arendt / Hering / Wagner: Nationalsozialistische Frauenpolitik 1995.
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Der Aufenthalt in Ost-Berlin war sehr interessant, wir erlebten auch außerhalb unserer Herberge vieles, worüber wir in Hannover berichten konnten. – Aber Annemarie Tröger und ich wollten mehr wissen und beschlossen, ein Heft der Feministischen Studien mit Frauen aus Ost- und Westdeutschland zusammen herauszugeben, in dem die wechselseitige Wahrnehmung der Situation von Frauen in West- und Ostdeutschland thematisiert werden sollte. Das Projekt beschäftigte uns in den nächsten zwei Jahren. Der ursprüngliche Plan wurde aufgegeben, weil die Autorinnen, die wir nach längerem Suchen in der DDR gefunden hatten, nicht über die Situation von Frauen im Westen schreiben wollten. Wir verlegten uns darauf, in dem Heft »Frauenforschung aus der DDR« vorzustellen, und verschoben seinen Erscheinungstermin. Als nahezu alle Texte fertig und von den entsprechenden Stellen in der DDR zur Veröffentlichung freigegeben waren, holte uns der Umbruch in der DDR ein. Um bei unserer verhältnismäßig langen Produktionszeit wenigstens noch ein bisschen von der aktuellen Situation aufgreifen zu können, die sich in rasender Geschwindigkeit veränderte, mussten wir improvisieren. Unter anderem haben wir mit Autorinnen des Heftes am 20. Januar 1990 eine Gruppendiskussion geführt, die unter dem Titel »Atemschwelle – Versuche, Richtung zu gewinnen« im Maiheft 1990 erschien und die unterschwellig inhaltliche Verbindungen zu dem »Brief an eine französische Freundin« enthält.4 Zwanzig Jahre später ist Hildegard Maria Nickel, eine der damaligen Diskussionsteilnehmerinnen, in einem Konferenzbeitrag auf diese Diskussion zurückgekommen. Als Herausgeberinnen, schreibt sie, hätten wir damals nach Veränderungen am Arbeitsplatz und in den jeweiligen Parteiorganisationen, nach Frauenforschung und Frauenbewegung in der DDR gefragt, auf die unsere Gesprächspartnerinnen auch eingingen. Aber dass diese sich »auf die Frage, welche ökonomischen, sozialen und kulturellen Werte des Sozialismus für die Zukunft zu bewahren seien«, nicht mehr einlassen mochten, hätten wir als Beleg dafür genommen, dass in kurzer Frist »Wünsche und Hoffnungen« der Befragten zerstört worden seien.5 Dies sei eine mögliche Deutung, schreibt Nickel, aber das damalige Gespräch ließe sich auch so verstehen, dass es den Befragten in erster Linie um ihre Erfahrungen mit dem realen Sozialismus gegangen sei, »um eigenes Versagen und darum, dass der Realsozialismus uns auf unterschiedliche Weise ›geschleift‹ hatte.« Es sei nicht an der Zeit gewesen, »abstrakt und theoretisch« darüber zu diskutieren, welche Werte des Sozialismus für die Zukunft zu bewahren seien. »Aber anscheinend haben wir nicht den auf die DDR (und ihre starken Frauen) projizierten Erwartungen der Interviewerinnen entsprochen. Das aber sagt auch
4 Das Heft kann online aufgerufen werden unter: feministische studien / de gruyter, Band 8 (1990) Heft 1 (Mai 1990). 5 Nickel: 20 Jahre Frauen Ost und West – Erkenntnisse und Aussichten: Wissenschaft 2009, S. 39.
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etwas über enttäuschte Hoffnungen und Wünsche unserer West-Kolleginnen in Bezug auf die DDR aus.«6 Sie verstehe das Dokument der Diskussion als ein Beispiel für »Uneindeutigkeit«, für »mit Geheimtinte geschriebene Subtexte« und Deutungskonflikte, schrieb Nickel, wie sie Dorothee Wierling im Zusammenhang mit der Befragung von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen in einem Oral-History-Projekt in der DDR dargestellt hat.7 Diese Beschreibung von sich überschneidenden Erwartungen und wechselseitigen Projektionen zwischen Ost- und Westfrauen, zwischen dem »Sie« und dem »Wir«, die zu Deutungskonflikten führen, empfinde ich im Wesentlichen auch heute noch als zutreffend und möchte sie nicht weiter kommentieren. Vermutlich spielte diese Konstellation auch eine Rolle bei der divergierenden Rezeption des Textes »Brief an eine französische Freundin« durch Leserinnen und Leser aus »Ost« und »West«, die wir um ihre Meinung dazu gebeten hatten: Während manche Leserin aus dem Osten sich gegen Klischees, Überzeichnungen und Vergröberungen in Trögers Darstellung verwahrte, äußerten sich solche aus dem Westen, aber auch ein ostdeutscher Wirtschaftshistoriker und ein westdeutscher Soziologe anerkennend zur Hellsichtigkeit der impliziten Prognosen. Wie verhält es sich nun aber in dem Brief an »Clärchen« mit dem Subtext? Tröger verfolgte – vor dem Hintergrund ihrer Herkunft – das politische Geschehen zur Zeit des Umbruchs in der DDR und in Osteuropa mit großer Spannung. Ihre Beobachtungen angesichts dieses Geschehens reichten jedoch für eine grundlegende Analyse nicht aus, wie sie schreibt. Auch suchte sie Distanz zu der unmittelbaren Situation. So schuf sie sich mit der fingierten Adressatin des Briefes einen Fluchtpunkt außerhalb: Der Anarchistin »Clärchen« in Paris konnte sie offenbar einen Blick aufs große Ganze zutrauen. Sie würde die großen Linien eher erkennen als etwa die »Westberliner Spontis und sonstigen Linken«, die in ihrem Klein-Klein bloß fürchteten, ihre Nische zu verlieren. Eine weitere, diesmal zeitliche Distanz schaltet Tröger mit der Erzählung über ihr Zusammentreffen mit DDR-Bürgern bei einer langen Wartepause vor dem Rückflug nach Berlin-Schönefeld auf dem Flughafen in Peking im April 1988 ein. In dieser Erzählung wird eine Art Lehrstück aufgeführt über die gesellschaftliche und politische Rolle der (technischen) Intelligenz in der DDR , die in Gestalt von zwei Expertengruppen, eine von Maschinenbau- und eine von Brauereiingenieuren, auftritt. Dadurch, dass sie zwei fingierte Adressatinnen hat, wird die Erzählung komplexer: »Ingrid«, eine der neuen DDR-Bekannten, zu der die Briefschreiberin ein vertrautes Verhältnis entwickelt und die sie im Mai 1988, kurz nach ihrer Rückkehr aus China, besucht hatte, erfuhr die Neuigkeiten zuerst. Im Januar 1990 wird die Geschichte gegenüber dem entfernter lebenden »Clärchen« wiederholt, um andere Begebenheiten erweitert und mit Kommentaren angereichert. 6 Ebd. 7 Vgl. Wierling: Lob der Uneindeutigkeit 2008.
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Dass die Verfasserin den DDR-Bekannten, vor allem den Frauen (Ingrid und Elke) ein vertrautes Verhältnis zu sich selbst bescheinigt, ließe sich als eine captatio benevolentiae gegenüber den Frauen aus der DDR verstehen. Auf dem Flughafen spricht die Briefschreiberin zunächst mit einem der Ingenieure über dies und jenes, um »schließlich auf mein – aber anscheinend auch sein – Leib- und Magenthema zu kommen: das Herausdrängen und die Dequalifizierung von Frauen.« Auf dieses Stichwort hin formieren sich die Männer, sie werden zu einem Kollektiv, das sich darin einig ist, dass die »Sozialleistungen v. a. für Frauen, wenn nicht sogar die Frauenarbeit an sich« schuld daran sind, »dass ihre Ökonomie nicht funktioniert.« – Nebenbei warten die »Reisekader« mit allerlei Vorurteilen gegenüber Frauen und der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern auf, die Clärchen schon von französischen Ingenieuren kennt. – Aber die Ökonomie ist das Schicksal, das unerbittlich nach Anpassung an den Weltmaßstab verlangt. Der wiederum wird vermutlich dazu zwingen, die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« in der DDR zu opfern, eine bestimmte Arbeitslosenquote als »gesund« hinzunehmen, Subventionen zu streichen usw. Durchsetzt von vielen Fakten, wird die auf dem Flughafen begonnene Diskussion im Flugzeug fortgeführt. Und gelegentlich wechseln die Zeitebenen darin: Nicht immer sind wir im Frühjahr 1988, sondern schon nach dem Herbst 1989 und mehr noch, wir bekommen Ausblicke auf die Zukunft … In seiner ganzen verschachtelten Erzähl- und Zeitkonstruktion lese ich den »Brief an eine französische Freundin« heute als eine Flaschenpost, die eine Einladung an die Frauen in der (ehemaligen) DDR enthält, Phantasie freizusetzen und gemeinsam mit Frauen im Westen über die Zukunft von Ökonomie und Gesellschaft, der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und last but not least der ökonomischen, sozialen und kulturellen Werte des Sozialismus zu diskutieren. Tröger, die im November 1989 bei einem Ost-West-Treffen mit der neugegründeten Lila Offensive (LILO) aus Ost-Berlin im Schöneberger Rathaus gesagt hatte, ihr käme es so vor, »als wollten wir alten Bewegungsfrauen diesen Frauen unseren ganzen Katalog vorhalten, um den auch wir bisher weitgehend vergeblich gekämpft haben«,8 versuchte jedenfalls mit diesem Text auf vorsichtige Weise ein Gespräch in Gang zu bringen.
8 Helwerth: Ost-Sister meets West-Sister 1989.
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Annemarie Tröger – Skizze einer Biographie Nicht nur Menschen haben Lebensläufe, sondern auch die Dinge: die Kleider, die Arbeit, die Gewohnheiten und die Erwartungen. Für Menschen sind Lebensläufe die Behausung, wenn draußen Krise herrscht. Alle Lebensläufe gemeinsam bilden eine unsichtbare Schrift. Nie leben sie allein. Sie existieren in Gruppen, Generationen, Staaten, Netzen. Sie lieben Umwege und Auswege. (Alexander Kluge 2012)
Vorbemerkung Die folgende Erzählung macht weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Kontinuität geltend. Dies widerspräche auch in vielerlei Hinsicht der Geschichte einer Person, die, wie Luisa Passerini nach Annemarie Trögers Tod schrieb, viele Leben hatte. Tröger hat keine ausführlichen Ego-Dokumente hinterlassen, weder Tagebücher noch andere längere Selbstdarstellungen, auf die sich die Erzählung stützen könnte. Die Dokumente, die hier verwendet werden, sind Familiendokumente, »Lebensläufe« für Bewerbungsschreiben, Briefe, Tonbandaufzeichnungen von auf Englisch geführten Interviews mit zwei verschiedenen Oral Historians aus den Jahren 1977 und 19821 sowie die Abschrift eines lebensgeschichtlichen Interviews aus den Jahren 1998 und 1999 auf Deutsch.2 Einen besonderen Stellenwert für Trögers Familiengeschichte haben Erzählungen einer Tante, die ihr Ehemann aufgezeichnet hat.3 – Mit den verschiedenen Dokumenten wechseln notwendigerweise auch die Perspektiven auf Annemaries Lebensgeschichte. Meine eigene Perspektive darauf ist allein schon dadurch eingeschränkt, dass ich Annemarie erst 1982 kennenlernte, als wir beide am Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hannover arbeiteten. Im Folgenden versuche ich jedoch, soweit möglich, Annemaries eigene Stimme zu Gehör zu bringen. Dabei habe ich freilich mit der Freundin auch über ihre Neigung zu fabulieren gehadert, die es oft schwer machte, die Fakten zu sichern. 1 Interview Louis Starr mit Annemarie Tröger 1977, Thema: Kiezprojekt, Familienhintergrund; Interview N . N . mit Annemarie Tröger 1982, Thema: Studentenbewegung. 2 Interview Annette Simon mit Annemarie Tröger am 26. 1. 1998: Schriftliche Zusammenfassung, S. 1-4; am 17. 6. 99 und 29. 07. 99: Abschrift, S. 1-48. 3 Burghard Claus: Aufzeichnungen über Gespräche mit Gertrud Schneider (Trudchen) über das Leben der Knabes und Trögers nach 1945, unveröffentlichtes Typoskript.
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Herkunft Annemarie Tröger kam in mütterlicher wie väterlicher Linie aus großbäuerlichen Familien: Großvater Fritz Knabe besaß in Zottelstedt bei Apolda ein Rittergut, Großvater Paul Tröger und sein Sohn Lothar waren Pächter eines Gutes in Gößnitz bei Eckartsberga. Zur Hochzeit mit Lothar Tröger schenkte Vater Knabe seiner Tochter Anna 1938 einen Flügel. Zu ihrer weiteren Ausstattung gehörte unter anderem eine Esszimmereinrichtung aus schweren, zum Teil mit dem Knabe’schen Familienwappen geschmückten Eichenmöbeln. Die 1915 als älteste von drei Töchtern geborene Anna Knabe hatte eine Hauswirtschaftslehre absolviert und neben dem Klavierspiel auch Reiten, Tennisspielen, Kutschieren und Autofahren gelernt. Sie hätte gern Landwirtschaft studiert, aber das wollte der Vater nicht zulassen, weil es ihre Heiratschancen bei den »Agrariern«, jener Schicht der organisierten, agrarwissenschaftlich ausgebildeten Landwirte, zu denen auch der 1904 geborene Lothar Tröger gehörte, angeblich verschlechtert hätte. Annemarie wurde am 8. Dezember 1939, nur wenige Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, in Jena geboren. Ihr Vater soll den seiner Frau zur Geburt zugedachten Brillantring in einen schlichteren Ring umgetauscht haben, als sich herausstellte, dass das Neugeborene nicht der ersehnte Sohn, sondern eine Tochter war. – Der Sohn, Friedrich-Karl Tröger, kam schließlich knappe fünf Jahre später im Oktober 1944 zur Welt. Ihn hat der Vater kaum noch kennengelernt. Eigenen Aussagen nach war Annemaries frühe Kindheit sehr behütet, und sie bekam viel Aufmerksamkeit von Eltern, Großeltern und Tanten. Der Vater habe sie »wie einen Jungen« behandelt und ihr früh ein Pony geschenkt, damit sie reiten lerne. Als das Kind etwa drei Jahre alt war, wurde eine Büste angefertigt, die sich bis heute erhalten hat. Das Gesicht des Kindes mit dem vorgereckten Kinn deutet ein starkes Selbstbewusstsein an, das, wie ihr späterer Ehemann einmal sagte, Bewusstsein einer künftigen Gutsbesitzerin. Sie selbst sprach davon, ihre Kindheit habe ihr das Grundgefühl vermittelt: »Mir kann nix passieren.«4 Vom Krieg war in Thüringen auf dem Land in den ersten Jahren wenig zu spüren. Als Landwirt und Hauptmann der Reserve wurde der Vater erst 1943 an die Front versetzt, er kam immer einmal wieder auf »Urlaub«, um nach dem Rechten zu sehen, was zu einem gewissen Durcheinander führte, da inzwischen Großvater Tröger auf dem Gut wieder die Regie übernommen hatte.5 Mit dem Kriegsende und dem Vorrücken der gegnerischen Truppen auf deutschem Boden ging die Macht an die Militäradministrationen der einander ablösenden Alliierten über. Im Februar und März 1945 wurde Jena bei Bombenangriffen schwer zerstört. Am 11. April befreiten US -amerikanische Soldaten das Konzentrationslager Buchenwald. Kampflos wurden am 12. April die Städte 4 Interview Simon, Abschrift, S. 1. 5 Ebd, S. 8.
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Weimar und Apolda von der US -Armee besetzt, am 13. April folgte die Einnahme von Jena. Lothar Tröger war seit dem 1. Mai als Kriegsgefangener der Amerikaner in Weimar, wo es ihm verhältnismäßig gut ging. Bald wurde er entlassen und bekam den Rat, sich in die Westzonen abzusetzen, dem er jedoch nicht folgte. Nachdem die sowjetische Armee am 2. Juli 1945, den Beschlüssen der Konferenz von Jalta entsprechend, die US -amerikanische Armee als Besatzungsmacht abgelöst hatte, wurde er von den sowjetischen Besatzern in Erfurt interniert. Er konnte sich dort einigermaßen frei bewegen und seine Frau in einem Café treffen. Sie hatte ihm eine Fahrkarte und Zivilkleidung mitgebracht und drängte ihn, sich umgehend in den Westen zu begeben. Er aber wollte die Kameraden nicht im Stich lassen und berief sich darauf, dass ein sowjetischer Offizier ihm sein Ehrenwort gegeben habe, er werde bald nach Hause zurückkehren können. Sein Vertrauen sollte enttäuscht werden, denn wenig später wurde er nach Sibirien deportiert. Er starb im Mai 1947 in einem Lazarett in Nowotscherkassk an Dysenterie. Was Ende Juli, Anfang August 1945 auf dem Gut Gößnitz passierte, hat seine Frau Anna Troeger zu Protokoll gegeben: Halle, den 7. August 1945 Betrifft: Rittergut Gößnitz bei Eckerswerda, Pächter: Lothar Troeger, z.Zt. in Kriegsgefangenschaft, Eigentümer: Herr v. Haeseler Größe: rd. 200 ha Am Freitag, den 28. 7. erschien der Dachdeckermeister Sirkikowsky auf dem Rittergut Gößnitz mit 2 Russen, die den Vater des Pächters, Herrn Tröger, der in dessen Abwesenheit das Gut bewirtschaftet hat, verhafteten. Grund: Im Jahr 1941 kamen russische Arbeiter aus dem Gefangenenlager nach Gößnitz, von denen innerhalb weniger Tage 5 gestorben sind. Diese Russen waren an Ruhr erkrankt, bereits im Gefangenenlager; darüber liegen Zeugnisse von Ärzten vor. Gleichzeitig wurde Frau Anna Troeger, der Frau des Pächters, erklärt, sie müsse den Hof sofort verlassen. Auf Befragen wurde ihr eine amtliche Anordnung nicht vorgelegt. Dasselbe erklärte ihr am nächsten Tage auch der Bürgermeister des Ortes, der ebenfalls eine amtliche Anweisung nicht vorlegen konnte. Frau Troeger hat daraufhin ihre Sachen gepackt, die ihr dann wieder vom Schweizer des Gutes fortgenommen wurden, und ist schließlich am Dienstag, den 31. 7. den untragbar gewordenen Verhältnissen gewichen. Teile der Roten Armee sind erst am Montag, den 30.7. abends auf dem Hof erschienen, haben aber Frau Troeger gegenüber nichts unternommen. Auf dem Hof arbeiten jetzt der Bürgermeister von Gößnitz, der Schweizer und der Dachdeckermeister Sirkikowsky zusammen, die einen Inspektor eingesetzt haben. Außerdem halten sich, wie festgestellt wurde, auch Russen auf dem Hof auf.
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Frau Tr. ist auch beim Landrat vorstellig geworden, der versprochen hat, die Sache dem Oberpräsidenten der Provinz zu melden. Der Landrat hat amtlich von der Angelegenheit nichts gehört, er ist lediglich durch den Bericht von Frau Tr. informiert. Hinzuzufügen ist, daß auf dem Hof eine geordnete Wirtschaft nicht getrieben wird. Insbesondere wird der Ablieferungspflicht in keiner Weise genügt. Z. B. wird überhaupt keine Milch abgeliefert, gegenüber früher von 200-250 l. ---Adresse von Frau Troeger: Frau Anna Troeger, Rittergut Zottelstedt bei Apolda.6 Bis heute konnte nicht geklärt werden, was dem Großvater Paul Tröger im Einzelnen widerfuhr. Es gab das Gerücht, er sei von »den Russen« schon auf dem Weg nach Buchenwald fast totgeschlagen worden, wo die sowjetische Militäradministration das Speziallager Nr. 2 eingerichtet hatte, eines der Lager zur Internierung lokaler NS -Funktionsträger, in dem allerdings auch politische Gegner der Besatzungsmacht, Jugendliche und Denunzierte inhaftiert wurden. Nur wenige dieser Gefangenen wurden vor ein Gericht gestellt und in einem ordentlichen Verfahren verurteilt, zahlreiche Insassen verhungerten.7 Helene Tröger soll von dort im Januar 1946 noch Nachricht von ihrem Mann bekommen haben, danach verliert sich seine Spur.8 Anna Tröger zog mit ihren Kindern Annemarie und Fritz zurück auf ihr elterliches Gut in Zottelstedt, das ihre Mutter schon lange allein bewirtschaftete, nachdem Vater Knabe nach einem Sturz vom Pferd 1940 gestorben war. Auch dort waren zunächst ohne spektakuläre Vorfälle sowjetische Soldaten eingezogen. Der Grundbesitz der Familie wurde mit der am 10. Dezember 1945 in Kraft tretenden Bodenreform enteignet. Ende Dezember wurden alle Familienmitglieder mit der Auflage aus dem Hause getrieben, sich fortan nur noch im Umkreis von mindestens 20 km Entfernung vom Gut zu bewegen. Anna Tröger ging daraufhin mit ihren Kindern nach Poley bei Bernburg an der Saale zu ihrer Schwägerin, wo bereits die Schwiegermutter Helene Tröger untergekommen war. Ihre eigene Mutter und die beiden jüngeren Schwestern konnten sich mit Hilfe von guten Bekannten in Apolda verstecken. Anfang 1946 stellte Mutter Knabe in Weimar den Antrag, als Neusiedlerin registriert zu werden. Tatsächlich wurde ihr und ihren Töchtern in Rannstedt ein Bauernhof mit 60 Morgen Land zugeteilt, den sie, weil es dort von diesen Tieren nur so wimmelte, den »Rattenhof« nannten. Dort lebten Anna Tröger, 6 Dokument im Nachlass Annemarie Tröger im FFBIZ -Archiv unter B Rep. 500 Acc. 800-2. – Gößnitz im Landkreis Eckartsberga gehörte zu Preußen, deshalb wurde das Protokoll wahrscheinlich in Halle aufgenommen. 7 Vgl. Greiner: Verdrängter Terror 2010. 8 Ein Cousin Trögers, der Nachforschungen zur Inhaftierung und dem weiteren Verbleib seines Großvaters angestellt hatte, konnte auch nach 1990 in Moskau nichts in Erfahrung bringen, weil es keine Unterlagen gab.
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ihre Mutter und Schwestern mit den Kindern von Februar 1946 bis Dezember 1947. Sie führten die Wirtschaft mit Erfolg, bis sie auch von dort vertrieben wurden und in den Westen ausreisten. Eine erste Bleibe fanden sie in Bad Driburg, wo eine der Schwestern Knabe inzwischen mit ihrem Mann lebte. Anna Tröger brachte ihre Kinder vor ihrer Ausreise aus der sowjetischen Besatzungszone wieder zu ihrer Schwiegermutter und Schwägerin nach Poley. Von da an pendelte sie regelmäßig zwischen West und Ost über die grüne Grenze, um nach Annemarie und Fritz zu sehen. Die Zeit in Poley beschrieb Annemarie im Rückblick als eine zwiespältige Erfahrung. Obwohl sie erst zwischen fünf und sechs Jahre alt war, hatte sie es schon als eine Art Statusverlust erfahren, als die Familie aus Gößnitz und Zottelstedt vertrieben wurde. Nun fühlte sie sich einsam und von Mutter, Großmutter und Tanten verlassen. Wie Kinder es tun, die sich für einen Liebesentzug rächen wollen, phantasierte sie, wie sehr ihre nächsten Angehörigen leiden würden, wenn sie ganz aus deren Leben verschwände. Und doch waren sie und ihr Bruder bei den Verwandten wie eigene Kinder aufgenommen worden. Und da waren schon meine Vettern, da war ein Zwillingspaar, das genauso alt war wie ich, und das ganze Haus war voller Flüchtlingsfamilien, also es waren mindestens zehn Flüchtlingsfamilien in dem Haus untergebracht. […] Das war also ein permanentes Gewusel, […] man kriegte ein anderes Gemeinschaftsgefühl, als wenn man in einer drei- oder vierköpfigen Familie in so einem Eigenheim aufwächst, glaube ich, also in dieser kritischen Phase zwischen sieben und zehn.9 Diese frühe Erfahrung von Gemeinschaft hat sie sehr positiv besetzt und folgendermaßen kommentiert: Und von daher war die Einsamkeit, die ich von den Erwachsenen erfuhr, eigentlich immer wieder aufgehoben in der Gruppe der Gleichaltrigen. Also eine relativ schnelle Fähigkeit, sich in diese Gruppen einzuordnen oder auch eine zu bilden, die dann auch zusammenzuhalten, also das, was ja dann in der Studentenbewegung das tägliche Brot war.10 Das Aufbrechen der Kleinfamilie in der Nachkriegszeit habe dazu geführt, dass ihr die Peergroup und nicht die Familiengruppe zur wesentlichen Bezugsgruppe wurde.11 »Und ich glaube, da kann man eben mit den ödipalen Geschichten nicht so unbedingt weiterkommen, da gibt’s dann andere Sachen, für die man noch keinen Namen hat.«12 Die »ödipalen Geschichten« waren unterdessen aus mehrerlei Gründen in die Ferne gerückt oder in den Hintergrund getreten; Vater und Großväter lebten 9 10 11 12
Interview Simon, Abschrift, S. 6. Ebd., S. 8. Ebd., S. 6. Ebd., S. 8
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nicht mehr, die Mutter und eine Großmutter hielten sich gezwungenermaßen im Westen auf. Doch bekam Großmutter Knabe auf wundersamen Wegen einen Teil ihrer Wertpapiere zurück und konnte ein Haus mit Grundstück erwerben. Einer ihrer Schwiegersöhne baute in der Nähe von Detmold eine Maschinenfabrik auf und begann 1952 mit der Produktion. 1953 wurde dort Annemarie Trögers Konfirmation festlich begangen. Anna Tröger fand eine Stelle als Wirtschafterin auf einem Gut in Loverich bei Alsdorf in der Nähe von Aachen. Sie war für den Gemüseanbau und das Kleinvieh zuständig und verkaufte die Produkte auf dem Markt. Nach einigen Jahren wurde sie Handelsvertreterin für zwei Bielefelder Textilfirmen, sie fuhr mit dem Auto über Land und bot auf den größeren Bauernhöfen Aussteuerwäsche zum Verkauf an. Sie holte ihre Tochter 1951, ihren Sohn 1956 in den Westen. Mit Annemarie wohnte sie ab 1956 in Hannover, später in Gehrden. Sohn Fritz zog 1959 aus Stadthagen, wo er fast drei Jahre in einem Internat gelebt hatte, nach. Nur ein Jahr lang lebten alle drei unter einem Dach. Im Laufe der Jahre hatte die Mutter einige der Gegenstände wieder um sich versammelt, die von dem früheren Wohlstand zeugten: die Eichenmöbel aus Zottelstedt, das Meißner Porzellan und das Familiensilber, das große Porträt ihres Ehemannes, die Büste der kleinen Annemarie und anderes mehr. Sie war in ihrer Lebensführung bescheiden und im Allgemeinen pragmatisch und nüchtern. Mit ihrer hohen Stimme und einem etwas kichernden Lachen hatte sie sich jedoch etwas Mädchenhaftes bewahrt. Sie mag sich gewünscht haben, dass ihre Tochter einmal einen Gutsbesitzer heiraten und den Status der Familie auf diese Weise wiederherstellen möge. Deshalb besuchte sie mit Annemarie gern die von den »Agrariern« veranstalteten Bälle, was dieser nicht immer gefiel. Was Mutter und Tochter voneinander erwarteten und was sie jeweils unter einer emanzipierten Lebensführung verstanden, war divergent, und so blieb die Beziehung zwischen ihnen bei aller Zuneigung immer etwas gespannt. Aber Annemarie lernte reiten, sie trug den Siegelring der Familie Knabe und trat das Familienerbe später noch auf andere Weise an. 1968 konnte die Mutter aus Lastenausgleichsmitteln ein Haus in Beedenbostel bei Celle erwerben. Annemarie war gern in der Gegend und hielt sich von den 1970er bis in die 1990er Jahre oft wochenlang in dem Haus auf, wo sie auch Besuch empfing. Aber im Sommer 1993 kam Anna Tröger dort auf tragische Weise ums Leben. Sie stürzte die Kellertreppe im Haus hinunter und starb, ohne Hilfe holen zu können, an ihren Verletzungen. Eine Nachbarin hat sie später gefunden. Annemarie war von dem einsamen Tod ihrer Mutter tief getroffen. Die Familie richtete in Beedenbostel eine Trauerfeier aus, aber die Urne der Mutter wurde im Familiengrab der Knabes in Zottelstedt in Thüringen beigesetzt. Bevor sie zum Begräbnis fuhr, habe ich Annemarie in Beedenbostel geholfen, einige Dinge einzupacken, die sie mitnehmen wollte. Sie zeigte mir ein Kostüm und erzählte, die Großmutter Knabe habe es aus einem Anzug des Großvaters, der noch aus Vorkriegszeiten stammte, anfertigen lassen, nun wolle sie dieses 382
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»Rittmeisterkostüm« zur Beerdigung ihrer Mutter anziehen. Damit schlüpfte sie gleichsam in eine Familienhaut, und von da an ließ sie sich auch dauerhaft beim Vornamen ihrer Mutter »Anna« nennen.
Schule und Studium Annemarie kam im Herbst 1947 in Poley in die Schule. In ihren Erzählungen schwärmte sie von den modernen Unterrichts- und Lehrmethoden der Neulehrer / innen, oft ehemalige Arbeiter / innen, die in vier- bis achtmonatigen Kursen außerhalb der Hochschulen auf ihre Lehrtätigkeit vorbereitet wurden. Gegen den Protest der Familie ging Annemarie zu den Jungen Pionieren. Es gefiel ihr dort gut, hauptsächlich, weil die Buntstifte hatten, und sonst hatte niemand Buntstifte. Das waren so kleine Verlockungen, aber dann auch wiederum eine Integration in eine Gruppe von Gleichaltrigen. […] Es wurde härter dann, als die Frage kam, ob ich in die FDJ eintreten wollte. Und das wollte ich nun nicht.13 Die FDJ blieb Annemarie nicht nur deshalb erspart, weil sie, wie sie sagte, von deren Kommandostrukturen abgestoßen war, sondern, weil sie als Kind von Großgrundbesitzern, »Junkern«, wie es in der SBZ hieß,14 nicht zu einer weiterführenden Schule zugelassen wurde und die Mutter sie deshalb 1951 zu sich in den Westen holte. Da, wo sie lebte, war es schwierig, überhaupt eine geeignete Schule für die Tochter zu finden. Annemarie wechselte binnen kurzer Zeit von einer Nonnenschule auf ein altsprachliches Gymnasium, dann wurde sie im Februar 1952 in die Nähe von Großmutter, Tante und Onkel geschickt, um in Bad Driburg, wo sie bei zwei älteren Damen in Pension wohnte, die Schule zu besuchen. Wie viele der sogenannten Kriegskinder blieb sie über weite Strecken sich selbst überlassen und musste sich allein zurechtfinden, während die Erwachsenen damit beschäftigt waren, sich eine neue Existenz aufzubauen.15 Dass im Westen die Klassenunterschiede eine überragende Rolle spielten, bezeichnete sie im Rückblick als ihre wichtigste Erfahrung, sie prägten sich schon im Erscheinungsbild der Mitschülerinnen deutlich aus. Sie schämte sich wegen ihres thüringischen Dialekts, den sie sich loszuwerden beeilte, so wie sie auch gute schulische Leistungen zu erbringen versuchte. Aber ihre Anpassungsbereitschaft hielt offenbar nie besonders lange vor, da sie immer wieder Regeln verletzte und sich mit Provokationen gegen ihre Stigmatisierung als »Flüchtlingskind« zu wehren suchte.16 13 14 15 16
Interview Simon, Abschrift, S. 3. »Junkerland in Bauernhand« war eine Parole für die Bodenreform von 1945 in der SBZ . Interview N . N ., Kassette II , S. 2. Ebd.
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Ihre turbulente Schullaufbahn kam in ruhigere Bahnen, als Annemarie nach Hannover zog und dort bis zum Abitur im Februar 1960 die Wilhelm-RaabeSchule, ein Mädchengymnasium, besuchte. In den Ferien fuhr sie als Au-pairMädchen nach England und Frankreich, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, fühlte sich jedoch vor allem in Frankreich oft geringschätzig als Kindermädchen behandelt und litt darunter, Deutsche zu sein. Im April 1960 begann Annemarie Tröger in Göttingen mit einem Studium der Psychologie und Soziologie. Sie zählte den damaligen Direktor des Instituts für Soziologie, Helmuth Plessner, zu ihren wichtigsten Lehrern. Eine Zeit lang lebte sie in einem »Kämmerchen« bei der Professorenfamilie Heimpel in einem bildungsbürgerlich-akademischen Umfeld, in dem man sich offenbar auch um sie bemühte.17 Elisabeth Heimpel war eine bedeutende Pädagogin und unter anderem Mitherausgeberin der Zeitschrift Die Sammlung.18 Der Mediävist Hermann Heimpel, ein Spezialist für die Geschichte des Spätmittelalters, der wegen seines Verhaltens im Nationalsozialismus umstritten ist, war Direktor des MaxPlanck-Instituts für Geschichte in Göttingen, dessen Gründung im Wesentlichen auf sein Betreiben zurückging.19 Die Psychologie hatte in Göttingen eine eher naturwissenschaftliche Ausrichtung. Tröger besuchte dort wahrscheinlich einige Einführungsveranstaltungen. Der Studienbeginn in Göttingen war für sie ohnehin eher ein Sprungbrett, hatte sie sich doch schon vorher in Berlin für einen Studienplatz in Psychologie beworben, wo es allerdings einen Numerus clausus gab. Zum Sommersemester 1961 wechselte sie an die Freie Universität Berlin. Das Psychologische Institut der FU war für seine empirisch-experimentell ausgerichtete Sozialpsychologie bekannt. Es wurden z. B. Studien über nationale Vorurteile durchgeführt, an denen unter anderem Klaus Holzkamp – damals noch als Assistent – beteiligt war. Dieser befasste sich zunehmend mit methodologischen Fragen, die in sein Projekt einer »kritischen Psychologie« einmünden sollten. Wichtige Lehrer waren für Tröger Wolfgang Köhler, einer der Begründer der »Berliner Schule« der Gestaltpsychologie, der 1935 in die USA emigriert war, jedoch in den 1960er Jahren zeitweilig eine Honorarprofessur an der FU wahrnahm, und der für seine persönlichkeits- und lernpsychologischen Studien bekannte Hans Hörmann, dessen Schwerpunkt auf der Sprachpsychologie lag.20 Aber sie studierte ja auch Soziologie, Politische Wissenschaft und Philosophie. In einem Lebenslauf verzeichnet sie den Besuch von Lehrveranstaltungen 17 Interview Simon, Abschrift, S. 10. 18 Sie hatte Heisenberg zu der sogenannten Göttinger Erklärung vom 12. April 1957 angeregt, in der er und 18 weitere anerkannte Naturwissenschaftler dazu aufriefen, auf die atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu verzichten; sie rief zusätzlich eine Unterschriftenaktion mit dem Titel »Erklärung der Frauen gegen Atomwaffen« ins Leben, die von 60 bekannten Schriftstellerinnen, Politikerinnen etc. unterzeichnet wurde. 19 Vgl. Schöttler: Die Ära Heimpel 2017. 20 Zum Psychologischen Institut der FU Berlin vgl. Schönpflug/ Brauns: Fünfzig Jahre Psychologie 2013.
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bei Ludwig von Friedeburg, Renate Mayntz und Hans-Joachim Lieber, bei Richard Löwenthal, Otto Stammer, Ernst Fraenkel, Ossip K. Flechtheim, Dieter Henrich, Klaus Heinrich, Wilhelm Weischedel und Jakob Taubes. – Eine stattliche Reihe illustrer Namen, in der jedoch nur der Name einer einzigen Frau erscheint! –
Die wichtigste Peergroup Ein wichtiger Schritt war für Tröger der Eintritt in den SDS , sie fand dort eine Peergroup, die sie in ihrem Leben länger begleiten sollte als die meisten anderen. Ich bin 1960 in Göttingen in den SDS eingetreten nach einer kurzen Phase des Suchens nach irgendeiner politischen Organisation. Da war ich beim Naumann-Bund, bei der Humanistischen Union, und schließlich gab mir jemand – was ja auch für die Verhältnisse um 1960 etwas bezeichnend ist – die Telefonnummer eines Genossen, der wüsste, wo der SDS sich treffen würde. Und schließlich fand ich dann, ja, Zugang zu einem Biertisch, da waren immer so ungefähr fünf bis sechs Personen drumherum. Und da wurde ich also mit aufgenommen in diese Biertischrunde. Ich bin dann auch häufiger dahingegangen, obwohl es eigentlich nicht das war, was ich mir unter einer politischen Organisation vorstellte (Heiterkeit), aber es gab einen sehr hübschen Mann in der Runde, ich habe leider seinen Namen vergessen (Heiterkeit), und deswegen bin ich eigentlich häufiger dahingegangen. […] Ich bin dann 1961 nach Berlin gegangen, und eine Genossin, die ebenfalls von diesem Biertisch in Göttingen stammte, hat mich mitgenommen auf einen Dachboden. Das war meine Einführung in den Argument-Club. Und später bin ich dann noch in einem Keller gelandet im Umkreis von Michael Mauke. Das nur, um zu charakterisieren, wann ich, wie ich reingekommen bin.21 Der SDS und der Argument-Club beeindruckten sie als intellektuelle Zirkel, in denen sie, wie sie sagte, ihre eigenen Erfahrungen »sortieren« und besser verarbeiten konnte als im Studium. Sie schloss sich verschiedenen SDS -Studiengruppen an, in denen eine sehr arbeitsintensive Atmosphäre herrschte: Man las Marx, Korsch und Luxemburg, um sich die nicht durch Leninismus wie Stalinismus verformte undogmatische Tradition der Theoriebildung nach Marx anzueignen. Das hatte nach ihrer Meinung auch mit den vielen Studierenden zu tun, die noch vor dem Mauerbau die DDR und Ostberlin verlassen hatten, um an der FU zu studieren und die alle »Anti-Stalinisten« waren. Zu einigen älteren Genossen, wie etwa Michael Mauke, Klaus Dörner, Harald Kerber, Klaus Meschkat und Peter Laudan, konnte sie »aufblicken« und akzeptierte sie als Mentoren.22 Maukes unvollendet gebliebene Dissertation »Die Klassentheorie 21 Tröger in: Lönnendonker, Linksintellektueller Aufbruch 1998, S. 214. 22 Interview Simon, Abschrift, S. 12.
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von Marx und Engels«, die nach seinem frühen Tod postum erschien, wurde für sie zur Grundlage ihrer klassentheoretischen Überlegungen in den 1970er und 1980er Jahren.23 1962 kandidierte sie erfolgreich für den 13. Konvent, das Studentenparlament der Freien Universität; als dessen Mitglied und Kulturreferentin im ASTA geriet sie in das Mahlwerk des Kalten Krieges. Ein Jahr nach dem Mauerbau fanden im Sommer 1962 die Weltjugendfestspiele in Helsinki statt. »Und da dachte ich, da fährst du hin. Und […] man konnte ja nicht einfach so hinfahren, sondern man musste in einer Delegation fahren. Na, was war für mich die Delegation?«24 Der SDS -Genosse Dietrich Staritz habe ihr geraten, doch mit der FDJ -Westberlin zu fahren.25 Das habe sie auch getan. In Helsinki sei sie an Bord des Dampfers »Völkerfreundschaft« gegangen, wo ein Treffen mit der DDR-Delegation stattfand und man sich in eine Diskussion über Sozialismus und Demokratie verwickelt habe. Dann habe sie aus Westberlin ein Telegramm vom ASTA bekommen, dass sie sofort zurückkommen müsse. Weil sie aber für eine Rückreise ohne die Gruppe kein Geld hatte, sei sie noch geblieben. Man habe sie schon in Abwesenheit ihres Amtes enthoben, und die Presse habe sich über die Vorgänge hergemacht. Die Nachricht, dass einige studentische Repräsentant / inn / en der FU an den Weltjugendfestspielen teilgenommen hatten, obwohl der Verband Deutscher Studentenschaften zum Boykott des – kommunistisch dominierten – Festivals aufgerufen hatte, verbreitete sich auch in der überregionalen Presse in Windeseile. Der Hauptskandal bestand darin, dass die Gruppe sich angeblich für die Umwandlung Berlins in eine »freie neutrale Stadt« eingesetzt hatte, wie es die SED wollte. In der Berliner Morgenpost erschien ein Foto von Annemarie Tröger mit Namen, Adresse und Matrikelnummer. Sie bekam derartig üble Droh- und Schmähbriefe aus der Bevölkerung, dass die Sache selbst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift »Hexenjagd« eine Meldung wert war.26 An der FU wurde ein Disziplinarverfahren gegen Tröger beantragt, wie sie meinte, auf Initiative des Psychologischen Instituts. Aber dazu kam es dann doch nicht, weil der damalige Rektor der FU, der Strafrechtler Ernst Heinitz, sich vor die »Helsinki-Fahrer« stellte. Er hielt ihnen zugute, »dass ein Student sehr wohl in dem guten, aber törichten Glauben gehandelt« haben möge, »er könne bei dem Festival mit den östlichen Besuchern wirklich diskutieren und vielleicht etwas zum Besseren wenden. Dummheit ist aber noch nicht strafbar und damit für die FU kein Ausschließungsgrund«.27 Ihr Amt als Kulturreferentin
23 Vgl. Mauke: Die Klassentheorie von Marx und Engels 1970. 24 Interview Simon, S. 13. 25 Staritz war zwischen 1961 und 1972 Agent des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR , zum Teil war er gleichzeitig und über 1972 hinaus auch Agent des Bundesnachrichtendienstes. 26 Notiz »Hexenjagd«, FAZ , 10. 9. 1962, S. 2. 27 N. N.: »Rektor: Dummheit ist nicht strafbar«, Morgenpost, 21. 9. 1962.
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musste Tröger dennoch niederlegen.28 Auch der SDS reagierte streng: Die Genossen teilten ihr mit, dass ihre Mitgliedschaft im SDS bis auf Weiteres ruhen müsse. Zwar war der SDS nach den Auseinandersetzungen über Wiederbewaffnung, Atomrüstung und das Godesberger Programm im Herbst 1961 durch einen Unvereinbarkeitsbeschluss endgültig aus der SPD ausgeschlossen worden, jedoch gab es nach Trögers Darstellung so manche ängstliche, dem vehement antikommunistischen Kurs der Partei immer noch verpflichtete Genossen, die fürchteten, sie könnte eine Ostspionin sein.29
Ein »neuer Verein«: die Psychoanalyse Sie suchte sich einen »neuen Verein« und wandte sich der Psychoanalyse zu. Sie wollte der inhaltlichen Leere und dem methodischen Formalismus in ihrem Psychologiestudium etwas Inspirierendes entgegensetzen. Denn »es war reine Wissenschaftshuberei von einem kleinen Versuch zum nächsten kleinen Versuch, es gab tausend kleine Versuche, man musste die ungefähr alle kennen, […] es war ein todlangweiliges Geschäft, diese Psychologie zu lernen.«30 Sie stellte sich auch ihre künftige Berufspraxis anders vor, als sie es bei einem Praktikum erlebt hatte, wo sie in einer »Einzelzelle« saß und die »armen Leute mit irgendwelchen Testbatterien durchschütteln« sollte.31 Dagegen erschien ihr die Psychoanalyse, die interaktiv mit ihren »Untersuchungsobjekten« umgeht, vielversprechender. Ihr Interesse an der Psychoanalyse wurde vertieft durch ein Praktikum bei Paul Matussek am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, wo sie 1964 im Rahmen einer Studie zu den Spätfolgen der Konzentrationslagerhaft an der Auswertung tiefenpsychologischer Interviews mit KZ -Überlebenden beteiligt war.32 Zunächst aber brauchte sie eine / n Analytiker / in. Sie fand Eduard Jorswieck, der, als Mediziner und Psychologe doppelt qualifiziert, empirische Untersuchungen zur Wirkung psychoanalytischer Therapien durchgeführt hatte, die später zur Anerkennung dieser Therapieform durch die Kassen beitragen sollten. Mit ihm vereinbarte sie eine Lehranalyse, und er zeigte sich »sehr verständig«: Erstens, dass er einsah, dass ich praktisch kein Geld hatte, und sagte, okay, wir machen das eben nur einmal die Woche und nicht soundso viele Male, das schaffen Sie gar nicht. Und zweitens, was sehr gut war, dass er nicht jede wissenschaftliche intellektuelle Frage als Widerstand diagnostizierte, sondern tatsächlich darauf einging und selber daran ein Interesse hatte.33 28 29 30 31 32 33
Vgl. dazu Shell: Bedrohung und Bewährung 1965, S. 273, S. 285. Interview Simon, Abschrift, S. 16, S. 22. Ebd., S. 18. Ebd., S. 21. Vgl. Matussek: Die Konzentrationslagerhaft 1971. Interview Simon, Abschrift, S. 19.
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Jorswiek ließ sich auf die unorthodoxe Form der Lehranalyse ein, so wie er auch in anderen Fällen auf niederfrequente Formen der psychoanalytischen Behandlung setzte.34 Tröger fand in der Arbeit mit ihm einen starken Rückhalt, um das ungeliebte Psychologiestudium abzuschließen. Allerdings konnte sie ihre Lehranalyse nicht beenden, bevor sie 1966 beruflich nach Afrika ging; sie hielt aber weiterhin Kontakt zu Jorswiek und hoffte, den Abschluss irgendwann nachholen zu können. Das Psychologiestudium schloss sie im Februar 1966 mit der Gesamtnote »gut« ab. Der Institutsdirektor, Hörmann, habe ihr das Diplomzeugnis nicht überreicht, sondern mit der Bemerkung »da haben sie ja nochmal ’ne Zwei gekriegt« »über den Tisch gewischt«.35 Im Institut sei die Atmosphäre ihr gegenüber noch immer feindselig gewesen. Im März 1966 trat sie eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei dem 1964 gegründeten Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in Berlin an, in dem in postuniversitären Kursen Fachkräfte für Entwicklungsmaßnahmen ausgebildet werden sollten. Ihre Aufgabe bestand darin, ein Konzept für psychologische Aspekte der Ausbildung zu erarbeiten und das Institut bei der Auswahl von Ausbildungskandidat/inn/en zu unterstützen. Im Spätsommer wurde sie mit einer Studiengruppe nach Afrika geschickt, um Erfahrungen im Feld zu sammeln. Das Thema war »Deutsche Freiwillige an der Elfenbeinküste – Bestandsaufnahme und Versuch einer Evaluierung«. Die Tätigkeit stand im Widerspruch zu ihren politischen Überzeugungen. Sie wollte keine »Elite« heranbilden und damit bestimmten Kandidaten zu Posten verhelfen. So gab sie die Stelle auf und wechselte vor Ort zu einer interdisziplinären Forschungsgruppe des Centre Africain des Sciences Humaines Appliquées (Aix en Provence), die eine Studie über die Afrikanisierung des technischen und administrativen Mittelbaus in französischen Unternehmen an der Elfenbeinküste, in Kamerun und im Senegal durchführte. Im Frühherbst 1967 kam sie nach Deutschland zurück.
Politischer Auf bruch Schon 1964 war Tröger wieder in den SDS aufgenommen worden. Es war ihr wichtig, wieder dazuzugehören, denn ihre »ganzen intellektuellen Kontakte waren eigentlich SDS -Leute gewesen in der alten Zeit, und […] ich hab schon darunter gelitten, dass ich dieses eine Jahr nicht dahin konnte.«36 Da sie aber ihr Studium abschließen wollte, nahm sie weniger an Arbeitsgruppen und anderen Veranstaltungen teil. Auch konnte sie mit den in der Zwischenzeit eingetretenen »neuen« Genossen – darunter Rudi Dutschke, Christian Semler und Bernd Rabehl – nicht viel anfangen. Sie standen ihr zwar im Lebensalter nahe, aber 34 Vgl. Rüger: Nachruf auf Eduard Kurt Jorswiek 2014. 35 Interview Simon, Abschrift, S. 20. 36 Ebd., S. 22.
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dennoch empfand sie sie – bezogen auf ihr Eintrittsdatum in den SDS – als eine »neue Generation«. Sich selbst rechnete sie gemeinsam mit den ebenfalls fast Gleichaltrigen Tilman Fichter und Ines Lehmann zu »so einer Art Zwischengeneration«.37 Im Wintersemester 1965 /66, Trögers letztem Semester als Studentin an der FU, organisierte der Berliner SDS eine Veranstaltungsreihe zur Aufklärung über den Krieg in Vietnam. Zum Auftakt dieses sogenannten Vietnam-Semesters hatte eine Gruppe älterer, angesehener SDS -Mitglieder (Peter Furth, Wolfgang Fritz Haug, Klaus Meschkat, Ulrich K. Preuß und Gerhard Schönberner) dazu aufgerufen, eine Erklärung zu unterschreiben, in der man sich von der politischen Unterstützung des Vietnamkrieges durch die Bundesrepublik distanzierte.38 70 Schriftsteller (fast die gesamte »Gruppe 47«), 130 Professoren, Dozenten und Assistenten folgten der Aufforderung. Als dann im Februar 1966 bei der ersten vom SDS und anderen Studentenverbänden organisierten Demonstration gegen den Vietnamkrieg Eier gegen das Amerikahaus geworfen wurden und die US -Fahne über dem Eingang auf Halbmast gesetzt wurde, entschuldigten sich der damalige Rektor der FU, HansJoachim Lieber, und der Erste Bürgermeister der Stadt Berlin, Willy Brandt, beim US -amerikanischen Stadtkommandanten für diese Provokation der Verbündeten. In der bundesdeutschen Politik war die Überzeugung verbreitet, nordvietnamesische Kommunisten kämpften im Süden Vietnams stellvertretend für den Kreml. Daran schloss die Behauptung an, in Vietnam werde auch die Freiheit Berlins verteidigt. Im SDS verstand man den Krieg in Vietnam dagegen als Konfliktkonstellation zwischen einer das Kolonialsystem verteidigenden Weltmacht und einem antikolonialen Befreiungskampf mit agrarrevolutionärer Zielsetzung. Solidarität mit Vietnam hieß, politische und soziale Emanzipationsprozesse auch anderer unterdrückter Völker zu unterstützen.39 Den Höhepunkt der SDS -Kampagne gegen den Vietnamkrieg bildete der internationale Vietnam-Kongress am 17. und 18. Februar 1968 im Auditorium Maximum der TU Berlin mit ungefähr 5000 Teilnehmern. Nach dem Ende des Kongresses zogen 12.000 Demonstranten durch die Berliner Innenstadt. Auf der Abschlusskundgebung wurde zu einer Desertionskampagne aufgerufen und die »Zerschlagung der NATO « verlangt. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Tröger schon längst für potenzielle Deserteure aus der US -Armee.40 Den Anstoß dazu gaben ihr 1966 US -amerikanische Austauschstudenten an der FU, die sich beim SDS beschwerten, dass einige Mitglieder ihre antiautoritären Aktionsformen bei der jährlichen Militärparade der Westalliierten erprobt hätten, indem sie Colaflaschen auf die Soldaten warfen: Man dürfe wehrpflichtige GI s nicht zur Zielscheibe solcher Aktionen machen, 37 38 39 40
Vgl. Tröger: Die Avantgarde 1988. Vgl. Fichter / Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS 1977, S. 90. Vgl. Claussen: Was vom Jahre übrig bleibt 2020, S. 148. Interview N . N ., Kassette II , S. 2.
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zumal ihnen das Schlimmste bevorstünde, wenn sie nach Vietnam geschickt würden. Diese Studenten machten in den Kasernen Aufklärungsarbeit über den Vietnamkrieg und organisierten Gruppen desertionswilliger Soldaten.41 Später richteten sie ein Café und eine Bar ein, wo man direkten Kontakt zu den Soldaten herstellen konnte. Tröger bot zunächst technische Hilfeleistungen an und half dann in dem Café aus, da sie ja nicht selbst in die Kasernen gehen und Flugblätter verteilen konnte.42 Wie so manche SDS -Genossen, für die dies eine wichtige Erfahrung praktischer Solidarität war, brachte auch Tröger als eine der wenigen Genossinnen GI s auf den Weg nach Schweden, wo sie Asyl fanden. Sie arbeitete bis Mitte der 1970er Jahre mit US -amerikanischen Soldaten. Erst als sie in den USA war, habe sie die Zusammenhänge richtig verstanden.43 Dort kämpfte sie mit den Vietnam Veterans Against War (V VAW ) für eine Amnestie von Deserteuren, machte aber auch therapeutische Arbeit mit traumatisierten GI s.44
Der Beginn einer neuen Frauenbewegung Als Tröger im Herbst 1967 nach einem Jahr Abwesenheit aus Afrika nach Berlin zurückkam, war sie über die Veränderung des SDS -Zentrums am Kudamm erstaunt: Früher war es eine Art schlecht geführtes Pflegeheim für Leute gewesen, die sich nicht in die westdeutsche Wirtschaftswunder-Gesellschaft integrieren konnten. Nun sah es dort eher nach einem Durchgangsbahnhof ohne Fahrplan aus. Als ich mit einigen Genossen über die Organisationsfrage sprechen wollte, sahen sie mich an, als ob ich eine Sozialdemokratin wäre, das Schlimmste, was einem passieren konnte. Die revolutionären Massen werden ihre eigenen Organisationsformen entwickeln, unsere Aufgabe ist es, sie zu mobilisieren, sagten sie.45 Sie hatte in der Zeit ihrer Abwesenheit offensichtlich nicht nur zentrale Wendepunkte wie die Erschießung Benno Ohnesorgs durch einen Polizisten im Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen das Schah-Regime im Iran am 2. Juni 1967 und den anschließenden Ansturm neuer Mitglieder auf den SDS , sondern auch andere Entwicklungen verpasst.46 Das neue Klima in der Öffent41 Häufig gehörten sie der Bürgerrechtsbewegung an und setzten sich vor allem für die schwarzen GI s ein. Vgl. Höhn / Klimke: Ein Hauch 2016, insbes. Kap 6, S. 202-228. 42 Interview N . N ., Kassette II , S. 2. 43 Ebd. 44 In Trögers Nachlass im FFBIZ -Archiv findet sich neben zahllosen Broschüren, Briefen und Notizen aus diesem Tätigkeitsumfeld ein beeindruckendes Interview aus dem Jahr 1973 mit einem schwarzen GI , der u. a. über den Widerstand amerikanischer Soldaten im Kriegseinsatz berichtet. Vgl. B Rep. 500 Acc. 800-156. 45 Anna Pam in: Fraser et al.: 1968. A Student Generation 1988, S. 147 f. [Übersetzung R . O] 46 Zum 2. Juni vgl. Soukup: Der 2. Juni 2017; Frei: Jugendrevolte 2008 /2017, S. 112-129.
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lichkeit gefiel ihr: Es war so lebendig in der Stadt, am Kudamm und in Charlottenburg, auf den Straßen gab es Aktionen, keine Großdemonstrationen. Die Studierenden waren aus der weit abliegenden Universität in Dahlem herausgekommen und diskutierten mit den Leuten. In den zahllosen neuen Kneipen wurde jede Nacht bis in die Morgenstunden getagt. Man konnte mit allen reden, und es bestand ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Als eine Art Rausch ohne Drogen beschrieb sie einem Interviewer die Atmosphäre; ganz ähnlich erlebten es damals auch viele andere. Hannah Arendt, die eine äußerst scharfe Kritikerin der 68er-Bewegung war, hat dennoch deren größtes Verdienst darin gesehen, dass sie die Erfahrung einer »public happiness« vermitteln konnte. Wie ich es sehe, ist seit sehr langer Zeit zum ersten Mal eine spontane politische Bewegung entstanden, die nicht nur Propaganda treibt, sondern handelt, und zwar nahezu ausschließlich aus moralischen Motiven. Dadurch ist eine für unsere Zeit neue Erfahrung ins Spiel der Politik gekommen. Es stellte sich nämlich heraus, dass das Handeln Spaß macht: Diese Generation hat erfahren, was das 18. Jahrhundert »public happiness«, das Glück des Öffentlichen, genannt hat. Das heißt, dass sich dem Menschen, wenn er öffentlich handelt, eine bestimmte Dimension menschlicher Existenz erschließt, die ihm sonst verschlossen bleibt und die irgendwie zum vollgültigen »Glück« gehört.47 Von dieser Aufbruchsstimmung zehrte auch der Beginn der neuen Frauenbewegung. Wohl hatte es schon früher eine gewisse Aufmüpfigkeit unter den Frauen im Argument-Club und im SDS gegeben, es fanden auch Debatten über Sexualität und Herrschaft48 statt, aber diese wurden unter den Genossen und Genossinnen, die schon älter und verheiratet waren, ausgetragen.49 Und »das war alles noch von so ’ner […] kleinbürgerlichen Miefigkeit.«50 Noch dachten die Frauen nicht daran, sich autonom zu organisieren. Das änderte sich, nachdem eine Initiative von Frauen aus dem SDS – darunter Sigrid Fronius, Helke Sander, Dorothea Ridder, Marianne Herzog und Jutta Menschik – zum 26. Januar 1968 im Henry-Ford-Bau, dem Audimax der FU, eine Frauenvollversammlung einberufen hatte, bei der dann der Aktionsrat zur Befreiung der Frauen gegründet wurde. Dieser traf sich fortan regelmäßig in dem von einigen älteren SDS -Mitgliedern und anderen Linken 1967 gegründeten Republikanischen Club.51
47 Reif: Die neuerweckte Lust am Handeln 1970. 48 Die Zeitschrift Das Argument widmete der Emanzipation der Frau in den Jahren 1962 und 1963 die Nummern 22, 23 und 24 unter dem Aspekt von Sexualität und Herrschaft. 49 Interview Simon, Abschrift, S. 29. 50 Ebd. 51 Sehr viel Material zum Aktionsrat enthält der »Handapparat Tröger« im FFBIZ -Archiv A Rep. 400.
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Themen der ersten Zusammenkünfte des Aktionsrates (zunächst etwa 30 Frauen) waren u. a. die Erziehung im Kibbuz, die Organisierung der Kindergärtnerinnen und praktische Erfahrungen mit den Kinderläden. Bei den Treffen zeigte sich, dass der Aktionsrat aus mehreren Initiativen hervorgegangen war und sich daraus Organisationsprobleme ergaben. Es gab Frauen, die schon im SDS politische Erfahrungen gesammelt, aber auch Frauen, die sich individuell politisiert hatten. Und es bestand eine starke Tendenz, dass der Aktionsrat in verschiedene Kinderladenprojekte und Arbeitskreise zerfiel. Die Gesamtorganisation war Sache einiger weniger Frauen, zu denen Tröger nicht gehörte. Sie bot aber eine Veranstaltung zu »Sowjetunion und China« an, während Ulrike Meinhof als Ansprechpartnerin eines Arbeitskreises »Allgemeines« fungierte.52 Arbeitsbedingt hielt sich Tröger im Frühjahr 1968 häufig in Bonn auf. Dort traf sie am 11. Mai ihre Genossinnen vom Aktionsrat, die unter dem Titel »Frauennotstand« mobilisiert hatten, beim Sternmarsch gegen die Notstandsgesetze. Tröger, die mit Helke Sander in einer Wohngemeinschaft lebte, half ihr auch bei der Vorbereitung ihrer Rede für die SDS -Delegiertenkonferenz am 13. September 1968.53 Als Sander in Frankfurt sagte: »Wir werden uns nicht mehr damit begnügen, dass den Frauen gestattet wird, auch mal ein Wort zu sagen, das man sich, weil man ein Antiautoritärer ist, anhört, um dann zur Tagesordnung überzugehen«,54 war Tröger schon auf dem Sprung in die USA . Sie erlebte nicht, dass die Genossen mit Sanders Rede genauso umgehen wollten wie beschrieben, wären sie nicht durch einen Tomatenwurf daran gehindert worden. Aber sie war noch 1984 wütend auf das Verhalten der Genossen: »Die dachten nicht im Traum daran, sich auch nur ein Stück weit auf die von den Frauen berührten Probleme einzulassen.«55 Von Dezember 1967 bis September 1968 war Tröger als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem universitären Forschungsprojekt über »Politische Karrieren« beschäftigt gewesen. Dabei ging es insbesondere um die Bedeutung der Sozialisation im Kindes- und Jugendalter für die spätere politische Karriere.56 Die Interviews mit Personen aus den Spitzengremien, die sie in Bonn und Berlin führte, erzählte sie später Louis Starr, bestärkten sie in ihren politischen Überzeugungen. Sie habe lange nicht alle Mechanismen durchschaut, die zwischen diesen Politikern wirksam waren, aber die Interviewten seien erbärmliche selbstsüchtige Menschen gewesen, die es nur darauf abgesehen hätten, permanent in den Medien zu erscheinen. »Mit denen konnten wir es aufnehmen.«57 Die Lebensverhältnisse veränderten sich in jener Zeit sehr schnell, und es entstand eine Art kollektiver Energie, eine Bereitschaft zum Umsturz. Zwar glaub52 53 54 55 56 57
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Nienhaus: »Frauen erhebt Euch …« 1998, S. 89. Sander: Rede des Aktionsrates, in: Thomas / Wischermann 2020, S. 169. Interview N. N., Kassette II , S. 2. Vgl. Anna Pam in: Fraser et al.: 1968. A Student Generation 1988, S. 269. Vgl. Herzog: Politische Karrieren 1975. Interview Starr, Min. 43.
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ten nur wenige, dass die Revolution unmittelbar bevorstünde, aber, so sagte Tröger: »trotzdem glaube ich, habe ich damals beschlossen, Berufsrevolutionärin zu werden, ohne Partei, in einer Bewegung, in der jede Art von bürgerlichem Beruf unnötig wäre.«58
Berufsrevolutionärin zwischen Europa und USA Von Herbst 1968 bis Frühjahr 1975 pendelte Tröger zwischen Europa und Amerika, zeitweise hatte sie die Absicht, Deutschland ganz zu verlassen. Ein wichtiges Motiv, in die USA zu gehen, war für Tröger ihre Arbeit mit den Vietnamdeserteuren. Ihre Legitimation für den ersten Aufenthalt dort war aber ein Graduiertenstudium. In Franz Ansprenger, der am Otto-Suhr-Institut eine Professur für Internationale Politik innehatte und die Arbeitsstelle Politik Afrikas leitete, fand sie pro forma einen Doktorvater, der ihr bei der Ausgestaltung eines Dissertationsthemas freie Hand ließ. Mit einem DA AD -Stipendium konnte sie ab Herbstsemester 1968 an der University of California in Berkeley am International Studies Center und anschließend ab Januar 1969 am African Studies Center in Los Angeles studieren, sie beschäftigte sich mit Theorien der Übergangsgesellschaft, afrikanischer Geschichte, antikolonialen Bewegungen und politikwissenschaftlicher Systemanalyse. In die USA reiste sie zusammen mit Klaus Meschkat, der eine Gastprofessur an der New York University wahrnahm. Zum Jahreswechsel 1968 /69 waren Tröger und Meschkat bei Herbert Marcuse in San Diego zu Besuch und konnten ein paar Tage im Haus des deutsch-amerikanischen Schriftstellers Reinhard Lettau am Strand verbringen. In Los Angeles lebte Tröger in Venice, einem um die Wende zum 20. Jahrhundert entstandenen Stadtteil mit Kanälen und Häusern im venezianischen Stil. Sie mochte den in den 1960er Jahren ziemlich sanierungsbedürftigen Stadtteil, der ein Zentrum der kalifornischen Bohème war und ihr Zugang zu einer politischen Alternativszene ermöglichte, die sich um den US -amerikanischen SDS gruppierte, bei dem sie Mitglied wurde.59 Darüber kam Tröger auch in Kontakt mit dem North American Congress for Latin America (NACLA ), einer Gruppe, die Aktivist / inn / en der Neuen Linken mit Informationen über Lateinamerika versorgte.60 Tröger besuchte Meschkat 1970 für einige Wochen in Medellín, wo er einen Lehrstuhl für Soziologie vertrat – seine Kontakte waren ihr sehr von Nutzen, als sie im Anschluss daran andere lateinamerikanische Länder bereiste. Insgesamt hielt sie sich sieben Monate lang in Lateinamerika auf. Ein Ertrag dieser 58 Ebd., Min. 45. 59 Gespräch mit Klaus Meschkat am 17. 11. 2019. 60 Der NACLA analysierte Wohlstand und Macht in den Amerikas und betrachtete die Machtverhältnisse aus lateinamerikanischer Perspektive. Ab Februar 1967 gab der NACLA einen Newsletter, später einen zweimonatlich erscheinenden umfangreicheren Report heraus. Weitere Informationen unter: https://nacla.org (abgerufen am 20. 10. 2020).
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Forschungsreise war ihre Rundfunksendung über die Tugurios.61 Diese Arbeit auszuweiten und eine Doktorarbeit zur Soziologie der Marginalität zu schreiben, war ein Vorhaben, das Ansprenger befürwortete. In Konkurrenz dazu stand ein Projekt über deutsche Auslandsinvestitionen, aus dem ein großer unveröffentlichter Aufsatz mit dem Titel »The New Reich« hervorging.62 Leider blieben beide Pläne unausgeführt. Abgesehen von einem mehrwöchigen Aufenthalt im Spätsommer 1971 in New York, verbrachte Tröger die Jahre 1971 und 1972 offenbar größtenteils in Deutschland: Sie war ernsthaft krank, musste sich um ihre Gesundheit kümmern und Geld verdienen, da ihr Stipendium ausgelaufen war. Eine Einnahmequelle fand sie im Rahmen eines Projekts zu »Studienreform und Berufsbild«, das sie im Auftrag der Ausbildungskommission des Fachbereichs Klinische Medizin der FU zusammen mit der Soziologin Ute Schmidt durchführte. Das Ergebnis, auf das sie durchaus stolz war, wurde im September 1972 vom Pressedienst Wissenschaft der FU veröffentlicht. Sie wollte auch weiter politisch arbeiten, war aber unsicher, wo sie sich engagieren könnte. Die Auflösung des SDS und andere Zerfallserscheinungen der Studentenbewegung hatten nach 1969 zu einer großen Zersplitterung der Linken geführt: Es gab zahllose Gruppen und Grüppchen, und »man wusste gar nicht mehr, mit wem man noch reden konnte«.63 Spätestens nach der Erschießung Georg von Rauchs engagierte Tröger sich punktuell bei der Roten Hilfe. Auch knüpfte sie an ihre Kontakte zu Frauen in- und außerhalb des SDS wieder an. Mit Helke Sander und anderen Frauen baute sie die Gruppe »Brot und Rosen« auf. Tröger war in den USA mit einer Gruppe »Bread and Roses« in Berührung gekommen. »Brot und Rosen« hatte die New Yorker Gewerkschafterin Rose Schneiderman im Jahr 1911 für die Frauen gefordert, daraus wurde 1912 eine Parole streikender Textilarbeiterinnen in Lawrence / USA . Als die Berlinerinnen diese Formel wieder aufgriffen, wollten sie deutlich machen, dass sie nicht nur für die Befriedigung materieller Bedürfnisse (Brot), sondern auch für Freude, Lust und Eros (Rosen) kämpften.64 Es war die Zeit der großen Auseinandersetzungen um das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und die Legalisierung der Abtreibung. Im Juni 1971 fand die Selbstbezichtigungsaktion »Wir haben abgetrieben, und wir fordern das Recht auf freie Abtreibung für jede Frau!« statt, die von Alice Schwarzer organisierte Parallelaktion zu einer Kampagne des Mouvement de Libération des Femmes (MLF ) in Frankreich. Die Gruppe Brot und Rosen, die sich am Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen beteiligte, erarbeitete ein auf sorgfältigen Recherchen beruhendes Handbuch, das im April 1972 erschien. Im Frauenhandbuch Nr. 1: Abtreibung und Verhütungsmittel hieß es: 61 62 63 64
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Vgl. S. 23-50 in diesem Band. Vgl. Siegel in diesem Band, S.53 ff. Interview Simon, Abschrift, S. 23. Vgl. Lenz: Die neue Frauenbewegung 2008, S. 101 f.
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Wir fordern: die ersatzlose Streichung des § 218, Abtreibung auf Krankenschein ambulant in allen Kliniken mit den schonendsten Methoden, Überführung der konfessionellen Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen in die öffentliche Hand, Entwicklung unschädlicher Verhütungsmethoden, Kontrolle der Ärzte, Schutz der Frauen der dritten Welt vor Missbrauch durch die Pharmaindustrie! Tröger sah es als besonders wichtig an, dass das Handbuch »konkrete praktische Hinweise mit politischer Agitation zu verbinden versuchte« und in einer Sprache gehalten war, die auch Lehrlinge beiderlei Geschlechts verstehen konnten. Die Gruppe beteiligte sich an wichtigen Aktionen der Frauenbewegung, etwa an dem Frauentribunal am 11. Juni 1972 in Köln, zu dem rund 1200 Teilnehmerinnen kamen und bei dem »die Ärzteschaft, Presse und Werbung, die Kirchen, die Parteien, die Justiz und die Pharma-Industrie« als »Mitschuldige am Abtreibungselend« angeklagt wurden.65 Das Frauenhandbuch erschien zunächst in einer Auflage von 10.000, zwei Jahre später wurde es in einer Auflage von 100.000 Exemplaren nachgedruckt. Ein Erfolg des Handbuchs waren die vielen Anfragen auf Beratung, die bei Brot und Rosen eingingen. Im Berliner Frauenzentrum wurde daraufhin eine eigene Beratungsgruppe eingerichtet. Die (relativ kleine) Kerngruppe von Brot und Rosen bestand unabhängig davon weiter. Tröger ging 1972 wieder in die USA . In einem Forschungsprojekt für das Labor Studies Program am Livingston College der Rutgers University in New Jersey hatte sie eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin gefunden, für die sie insgesamt von Dezember 1972 bis Mai 1974 tätig war. In der Studie »The Impact of White Collar Unionism on the Labor Movement’s Party Politics in New York State« ging es um den wachsenden Einfluss der Angestelltengewerkschaften in Staat und Parteien. Die Arbeit daran musste aufgrund von Budgetkürzungen sieben Monate vor dem ursprünglich geplanten Ende eingestellt werden, aus politischen Gründen wurde das vorläufige Ergebnis auch nicht veröffentlicht. In diesem Projekt wurde Tröger auf Stundenbasis bezahlt. Da dies für ihren Lebensunterhalt nicht ausreichte, nahm sie neben Abendkursen für Gewerkschaftsangestellte zahlreiche zusätzliche Jobs an, als Serviererin und Aushilfe in einem Buchlager, aber auch als Akkordarbeiterin in einer Fabrik.66 Im Jahr 1974 erarbeitete sie für das Brooklyn College der City University of New York das Konzept für eine Studie zur Situation berufstätiger Frauen, vor allem Arbeiterinnen, die über den zweiten Bildungsweg ihre berufliche und soziale Situation zu verändern versuchten. Sie bildete auch die Interviewerinnen für die Untersuchung aus, war aber an der Durchführung nicht beteiligt. Bei diesem zweiten Aufenthalt in den USA kam Tröger mit der Oral History in Berührung. Sie knüpfte an frühere Kontakte zu New Yorker marxistischen Feministinnen wieder an, arbeitete mit den Vietnam Veterans Against the War, 65 Brief an NN , 18. 07. 1972. 66 Interview Simon, Abschrift, S. 33.
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engagierte sich für Gewerkschafterinnen, aber sie konnte nicht richtig Fuß fassen. Ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse waren prekär, sie wohnte mal bei diesen, mal bei jenen Freundinnen oder Freunden zur Untermiete. Jahre später schrieb sie einer deutschen Freundin, dass die Zeit zwischen 1972 und 1975 »von einer Identitätskrise durchfurcht« gewesen sei, in die sie durch die Umstände hineingeraten war: Damals musste ich von meinem selbstgezimmerten Vehikel der Berufsrevolutionärin – ohne Partei und Bezahlung und ohne »Vaterland« – runter. In der amerikanischen Intelligenzija sei – außer bei ihren engsten Freunden – ein gewisses Misstrauen ihr gegenüber nie gewichen, »was sicherlich auch damit zusammenhing, dass sie sich ganz simpel nicht vorstellen konnten, dass jemand mit einem akademischen Degree und nicht ganz blöd so am Rande des Existenzminimums für die Politik lebte.67
Vergleichende Faschismusforschung Mit dem Fall Saigons am 30. April 1975 endete der Vietnamkrieg. Eine Revolution in den USA , auf die Tröger einmal gehofft hatte, war schon lange vom Horizont des historisch Möglichen verschwunden. Die Einschätzung, dass die Revolutionen von der Dritten Welt in die Metropolen getragen würden, hatte auf einer falschen Analyse beruht, und ihre politischen Tätigkeiten in den USA waren weit davon entfernt gewesen, zu einem Systemwechsel beizutragen. Sie hatte sich bisher nicht die Frage gestellt, »was ich denn mal Ordentliches im Leben werden wollte«.68 Aber mittlerweile war sie Mitte dreißig, und da sie keine berufliche Stellung hatte, mit der sie ihren Lebensunterhalt und eine Krankenversicherung finanzieren konnte, wurde ihre Situation in den USA immer schwieriger. Durch Freunde aus dem früheren SDS erfuhr sie von dem am Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ZI6) der FU geplanten Arbeitsbereich für Vergleichende Faschismusforschung und bewarb sich dort erfolgreich auf eine Stelle.69 Nach dem »Radikalenerlass« vom 18. Februar 1972, einem Beschluss der Regierungen des Bundes und der Länder zur Prüfung der Verfassungstreue von Beamten und Angestellten, wurden damals alle Bewerberinnen und Bewerber um eine Stelle im Öffentlichen Dienst vom Verfassungsschutz »durchleuchtet«.70 So auch Tröger, bei der diese Prozedur besonders viel Zeit in An67 68 69 70
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Brief an NN , 16. 11. 1982. Interview Simon, Abschrift, S. 34. Vgl. Sachse in diesem Band, S. 241. Der »Radikalenerlass« stieß auf internationale Kritik. Angesichts der Tatsache, dass in der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer ehemalige Nazis über Jahre hinweg ungehindert hohe Positionen besetzen konnten, gab der Soziologe und Politologe Alfred Grosser zu den »Berufsverboten« unter Willy Brandt den Kommentar ab: »Wenn man die Gestapo-Polizeirechte gerechtfertigt hatte, durfte man in der freiheitlichen
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spruch nahm. Zum 1. Oktober 1975 wurde sie schließlich gleichzeitig mit Tilla Siegel für fünf Jahre befristet als wissenschaftliche Assistentin eingestellt. In das Team kamen 1977 /78 Carola Sachse, Gisela Bock und Wolfgang Heidel; die dazugehörende Professur wurde erst Jahre später besetzt. Die Ausgestaltung des neuen Schwerpunkts blieb daher zunächst den beiden ersten Mitarbeiterinnen überlassen, die, wie Siegel sich erinnert, ihren Freiraum zu nutzen wussten.71 Im Sommersemester 1976 organisierten sie eine Vortragsreihe mit bekannten Vertretern der Forschung zu Faschismus und Nationalsozialismus wie Alfred Sohn-Rethel, Eike Hennig, Henry Ashby Turner, Timothy Mason und Reinhard Opitz. Die Vorträge fanden bei den Studierenden großes Interesse. Das Forschungskolloquium wurde mehrere Semester lang mit verschiedenen Schwerpunkten fortgeführt, so etwa zur »Entwicklung des Arbeitsmarktes im Nationalsozialismus« (Sommersemester 1977) oder zur Oral History (Sommersemester 1979). Zu der Diskussion über lebensgeschichtliche Interviews als sozialhistorische und sozialwissenschaftliche Methode, die Tröger schon seit ihrer Rückkehr aus den USA intensiv beschäftigte, kamen als Vortragende William Sheridan Allen (USA ), Paul Thompson (GB) und Luisa Passerini (Italien) nach Berlin. Ihren eigenen Forschungsschwerpunkt zur Situation von Frauen im Nationalsozialismus verfolgte Tröger im Rahmen einer Seminarreihe zu »Frauen im Faschismus«, bei denen die Methode der Oral History ebenfalls einen großen Raum einnahm. In diesem Kontext entstanden mehrere Diplom- und Staatsexamensarbeiten, die später zum Teil in Dissertationen weitergeführt wurden. Bewusst egalitär wurde ein Teil dieser Arbeiten in dem Band »Mutterkreuz und Arbeitsbuch« veröffentlicht, für den nicht Tröger, sondern eine aus Studentinnen bestehende »Frauengruppe Faschismusforschung« als Herausgeberin firmierte. Es ging Tröger nie allein um neue Forschungsinhalte. Sie wollte kollektive Lernprozesse von Frauen innerhalb wie außerhalb der Universität organisieren. Gemeinsam hatte sie mit der Gruppe Berliner Dozentinnen die 1. und die 2. Sommeruniversität für Frauen vorbereitet, die in den Jahren 1976 und 1977 an der FU stattfanden.72 Einleitend erklärte sie 1976: Wir sind ein Teil der außeruniversitären Frauenbewegung und zwar nicht nur, weil einige von uns – zum Teil schon seit Jahren – aktiv in dieser Bewegung mitgearbeitet haben, sondern weil wir die Fragestellungen, Inhalte und Forderungen der Frauenbewegung in die Universität tragen und so die Bewegung verbreitern.73 ordnung Rektor und Kultusminister werden. Die Kriterien, Dorfschullehrer oder Zollbeamter zu werden, scheinen mir strenger zu sein.« Vgl. Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland 2013; Heinz-Jung-Stiftung (Hrsg.): Wer ist denn hier der Verfassungsfeind? 2019. 71 Vgl. den Kommentar von Tilla Siegel in diesem Band. 72 Vgl. Tröger: Dolchstoßlegende 1977 und Carola Sachse in diesem Band, S. 237 ff. 73 Tröger in: Frauen und Wissenschaft 1977, S. 14.
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Inhalte und Fragestellungen der Frauenbewegung in die Universität hineinzutragen sollte also der Frauenbewegung im Allgemeinen nützen und auf keinen Fall einer »szientistisch verkürzten Frauenwissenschaft« den Boden bereiten, die jederzeit politisch instrumentalisiert werden könnte, wie es im Editorial der Zeitschrift Feministische Studien von 1982 hieß. Ein besonderes Anliegen Trögers war die »Frauenarbeitslosigkeit«. Noch bis weit in die 1980er Jahre galt in der Arbeitsmarktpolitik und -forschung die Erwerbslosigkeit von Frauen gegenüber der von Männern als das geringere Übel. Nicht nur war das männliche Alleinernährermodell noch nahezu unangefochten in Geltung, sondern es herrschte auch die Vorstellung, Frauen hätten als Hausfrauen immer noch eine »Alternativrolle« auszufüllen, wenn sie ihre Berufstätigkeit und ihren eigenen Erwerb einbüßten. Sie hätten es – mit anderen Worten – besser als die Männer, die ihre Familie ernähren müssten. In der Frauenbewegung verlangte dagegen seit Mitte der 1970er Jahre eine Gruppe von Frauen einen Lohn für die Hausarbeit, während andere sich, wie Tröger, für eine Quotierung von 50 aller qualifizierten Arbeitsplätze für Frauen einsetzten.74 Die Initiativgruppe gegen Frauenarbeitslosigkeit, der Tröger angehörte, veröffentlichte 1976 und 1977 in der Zeitschrift Courage mehrere Artikel z. B. über »Rationalisierung im Büro« oder »Geld vom Arbeitsamt«. Tröger selbst war bezüglich eines Broterwerbs längst nicht mehr so voller Vertrauen wie früher, als sie gedacht hatte, sie könne immer irgendwo Geld verdienen. Die Konjunktur war vorbei. Mit der Berlin-dienlichen Forschung war 1978 /79 an den Berliner Universitäten ein Förderungsinstrument entstanden, das Beschäftigungsmöglichkeiten für Hochschulabsolvent / inn / en eröffnen und zugleich städtischen Belangen dienen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war das sogenannte Kiezprojekt, ein Oral-HistoryProjekt im Charlottenburger Danckelmann-Kiez, das Tröger über mehrere Semester mit ihren Studentinnen vorbereitet hatte, so weit fortgeschritten, dass ihre Bewerbung in der ersten Ausschreibungsrunde der Berlin-dienlichen Forschung erfolgreich war. Sie konnte einige ihrer Studentinnen auf qualifizierten Stellen unterbringen und wurde als Leiterin des Projekts am ZI 6 nach dem Auslaufen ihrer Assistentinnenstelle noch fast ein Jahr lang weiterbeschäftigt, allerdings nur auf einer halben Stelle.75 Viele der mit Tröger befreundeten Mitglieder der International Oral History Association, so die Beobachtung der Historikerin Manja Finnberg, hatten in der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine Lebenskrise durchgemacht. Mit der »innovativen Methode« der Oral History fanden sie eine Möglichkeit, »unter anderen Vorzeichen die alten Fragen neu zu stellen«. Die »Rückverwandlung« (Passerini) der Vollzeitrevolutionär / inn / en in Intellektuelle mit bürgerlichem Hintergrund, die dann stattfand, war mit einer Veränderung der Motivation verbunden: »Der Impuls, die Gesellschaft zu verändern, wurde eher zum Impuls, sie zu verstehen«.76 74 Vgl. Tröger: Diskussionsbeitrag 1978 und Kurz-Scherf in diesem Band. 75 Vgl. dazu ausführlich Dagmar Reese in diesem Band, S. 202-212. 76 Finnberg: Die Intellektuellen 2013, S. 56.
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Ganz offensichtlich trifft dies auf Tröger zu, die Starr gegenüber äußerte, dass Zweifel an ihrem Herkunftsland Deutschland ein Motiv für die Hinwendung zur Oral History gewesen seien.77 Ihre Pläne für das Projekt im Danckelmann– Kiez waren umfangreich, weil sie in ihrer historischen (Selbst-)Aufklärungsarbeit gründlich zu Werke zu gehen gedachte. Aber eine Reihe von Problemen, darunter das Verschwinden von Interviewmaterial, führte dazu, dass nur ein Bruchteil des Vorhabens verwirklicht werden konnte.78 Kaum hatte sie zusammen mit Tilla Siegel, Carola Sachse und Gisela Bock – mit viel Arbeitseifer und wenig Rücksicht auf das eigene Qualifikationsinteresse – für den Arbeitsbereich Vergleichende Faschismusforschung einen Rahmen abstecken können, endete ihre befristete Mitarbeiterinnenstelle auch schon wieder.79 Dass das Kiezprojekt nicht abgeschlossen werden konnte, kränkte sie. Sie sprach mit Kolleginnen, die mehr Erfahrungen mit der Leitung von Projekten hatten als sie selbst, über die Konflikte mit einigen ehemaligen Mitarbeiterinnen, ging aber niemals auf Vorschläge ein, diesen gegenüber ihre Ansprüche als Projektleiterin juristisch geltend zu machen. Irgendwann verlief der Konflikt dann im Sande. Sieht man sich Trögers Publikationsliste an, so waren die 1980er Jahre für sie ein fruchtbares Jahrzehnt. Im Rahmen ihrer internationalen Vernetzung in der Oral History und der Frauengeschichtsschreibung reiste sie zu einer Reihe von Konferenzen und konnte in mehreren Sammelbänden Beiträge publizieren. Als im Jahr 1982 die erste Ausgabe der Zeitschrift Feministische Studien erschien, gehörte sie zu den Herausgeberinnen. Im Editorial versprach die Zeitschrift unter anderem »wissenschaftliche Strömungen, die für Frauenstudien relevant sein können, aufzugreifen, über den Stand der Frauenforschung auch in anderen Ländern zu informieren und insbesondere Formen nicht-institutionalisierter Frauenforschung darzustellen und zu Wort kommen zu lassen.«80 Hier betätigte sich Tröger gern als Vermittlerin. So besorgte sie 1985 für ein Heft der Feministischen Studien mit einem Diskussionsschwerpunkt zu Methoden und Methodologie Aufsätze von Renate Bridenthal und Geneviève Fraisse zur Frauengeschichtsschreibung.81 Auch später hat sie Kolleginnen aus den USA , aus Frankreich und sogar aus Ägypten ermutigt, Beiträge bei der Zeitschrift einzureichen. Bis 1986 gehörte sie der Redaktion, bis 2002 dem Beirat der Feministischen Studien an. Bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz unterstützten sie ehemalige Berliner SDS -Genossen, die Anfang der 1970er Jahre unter dem damaligen 77 Interview Louis Starr. 78 Vgl. Reese in diesem Band, S. 211. 79 Harold Hurwitz bescheinigte Tröger 1980, dass sie in den Anfangsjahren ihrer Tätigkeit am ZI 6 die Hauptlast für den Aufbau dieses Arbeitsbereiches getragen habe. Vgl. Gutachten Hurwitz vom 13. Mai 1980, in: Freie Universität Berlin (FU Berlin), Universitätsarchiv (UA ), ZI 6, Inst. Rat, Anträge, Tröger 1979. 80 Feministische Studien 1, 1982, Heft 1, S. 3. 81 Feministische Studien 4, 1985, Heft 2.
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Kultusminister Peter von Oertzen an die Fakultät für Geistes- und Staatswissenschaften der (seinerzeit noch) Technischen Universität Hannover gekommen waren. Dort wurden 1982 in den drei Fächern Psychologie, Soziologie und Politische Wissenschaft, die zu einem sozialwissenschaftlichen Diplomstudiengang gehörten, mehrere Stellen ausdrücklich für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen ausgeschrieben, um einen Schwerpunkt Frauenforschung zu begründen. Tröger bewarb sich auf eine dieser Stellen im Fach Politische Wissenschaft. Man war interessiert daran, sie mit ihren Arbeitsschwerpunkten »Frauen im Faschismus« und Oral History nach Hannover zu holen, konnte sie jedoch für eine Mitarbeiterinnenstelle nicht durchsetzen, sie bekam nur einen Lehrauftrag. Kurz darauf stand eine auf zwei Jahre befristete Vertretungsprofessur im Fach Soziologie an, die schließlich je zur Hälfte Annemarie Tröger und einer anderen Wissenschaftlerin übertragen wurde. Von den Hannoveraner Kollegen und (wenigen) Kolleginnen wurde Tröger freundlich aufgenommen, und man bot ihr an, sie bei einer kumulativen Promotion zu unterstützen. Nachdem sie zunächst darauf eingegangen war, wurde sie aber wohl von Verzagtheit und Selbstzweifeln heimgesucht. Sie brachte die Zuversicht, Geduld und Stetigkeit nicht auf, ihre früheren Aufsätze noch einmal in die Hand zu nehmen, sie zu überarbeiten und in einen größeren thematischen Zusammenhang einzubinden. Wie so manche andere aus ihrer Generation musste sie schließlich hinnehmen, dass Wissenschaftler / innen mit größerer pragmatischer Effizienz und Biegsamkeit im akademischen Betrieb an ihr vorbeizogen und sie selbst in eine zunehmend marginalisierte Position geriet. In ihren Hauptarbeitsfeldern der letzten Jahre, der Geschichte von Frauen im Nationalsozialismus und qualitativen Methoden in den Sozialwissenschaften, führte Tröger über die Zeit ihrer Vertretungsstelle hinaus Lehrveranstaltungen durch. Dabei ging es ihr vor allem um die Vermittlung methodischer Sicherheit, die sich am besten im Zusammenhang mit einem konkreten Projekt gewinnen ließ. So entstand in Hannover ein neues Projekt »Der Schützenkönig und die Schützenbeste – Vereinskultur in niedersächsischen Dörfern«, das sie von 1984 bis 1986 mit acht Studentinnen zusammen als Forschungsseminar organisierte und das sie zu den Frauenabteilungen der Schützenvereine in der Südheide bei Celle führte, wo ihre Mutter lebte. Obwohl ihre berufliche und finanzielle Situation prekär war, darf man sich Annemarie Tröger in dieser Zeit nicht als unglücklichen Menschen vorstellen. Sie konnte mit wenig Geld auskommen, wenn nötig. Das ging besonders gut, wenn sie bei ihrer Mutter auf dem Land war. Seit sie in Hannover lehrte, war sie wegen der räumlichen Nähe oft sehr lange bei ihr in Beedenbostel. Für ihre Bedürfnisse war dort gesorgt: Im Sommer ging sie in ein Dorfschwimmbad, das Arno Schmidt literarisch verewigt hat, im Winter zog sie, wenn Schnee lag, mit Langlaufskiern durch die Südheide. Im Haus konnte sie sich in die eigene kleine Wohnung zurückziehen und nächtelang ihrer Schreibarbeit nachgehen. In der Nachbarschaft gab es eine gute Bekannte, die ihr beim Schneidern half. Und sie konnte »die Welt« dorthin einladen. Besucher und Besucherinnen kamen aus Berlin 400
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und Hannover, aus New York, aus Paris, aus Hamburg, ja sogar aus der DDR .82 Und seit 1982 war ihr Lebensgefährte Burghard Claus dort ein ständiger Gast.
Veteranentreffen Im Juni 1985 veranstalteten ehemalige SDS ler ein Symposion in Berlin, das den Auftakt zu einem geplanten Forschungsprojekt (über den Verband und seine Mitglieder) abgeben sollte. In seiner Einführung zur Dokumentation des Symposions vermutet Bernd Rabehl, der Einladung zu dem Treffen seien damals deshalb so wenige Frauen gefolgt, weil der SDS für ihre politische Identität nicht maßgeblich war, sondern als »Männerverein« nur eine Episode blieb.83 Als einzige Frau war am Ende Annemarie Tröger mit einem Referat vertreten.84 Sie wollte den Männern mit einer Typologie von Revolutionärinnen vorführen, welche Wahrnehmungsmuster sie von den Frauen im SDS entwickelt hatten. Das waren: 1. Der Nina-Krupskaja-Typ, benannt nach Lenins Ehefrau: »Das war die Genossin, die selbstständig etwas organisierte, und die dazu auch noch das Leben ihres jeweiligen Genossen ebenfalls organisierte.« 2. Der InessaArmand-Typ, benannt nach Lenins Geliebter: Bei diesem Typ »wurde alles, was sie sagte und tat, und sie tat durchaus etwas, eigentlich immer den dazugehörenden Genossen zugeschrieben, sie wurde im Wesentlichen betrachtet als der verlängerte Arm ihres Genossen«. 3. Der Rosa-Luxemburg-Typ, »in dem wir uns alle vielleicht am liebsten sähen und vielleicht auch partiell gesehen haben«, der aber »im SDS sowohl vor 1967 als auch danach sehr, sehr selten aufgetaucht« war. Diese Frauen hatten, nach Tröger, »ihr selbstständiges, ihr eigenes Bild eigentlich außerhalb der eigenen Organisation und ihrer Aktivitäten erworben, z. B. in der studentischen Selbstverwaltung, z. B. als Journalistin.«85 Es sei dann nach 1967, als die Geschlechterverhältnisse durcheinandergerieten, noch ein vierter Typus hinzugekommen, nämlich die vermeintlich sexuell verfügbaren sogenannten Bräute der Revolution, deren Image vor allem von den Medien gemacht worden sei. Die unter den Genossen verbreitete Vorstellung, dass die Frauenbewegung sich »nahtlos aus und als Fortsetzung der Studentenbewegung entwickelt habe«, treffe nicht zu. Es gäbe ein gemeinsames Erbe, nämlich das 82 Vor Jahren war auch Ulrike Meinhof einmal zu einem Treffen dorthin gekommen. Tröger und Meschkat wollten versuchen, sie aus dem R AF -Zusammenhang herauszulösen. Sie hatten dafür größere Vorbereitungen getroffen. Aber Meinhof ließ sich in keiner Weise darauf ein und erschien zu einer zweiten Verabredung nicht mehr. 83 Lönnendonker: Linksintellektueller Aufbruch 1998, S. 11. 84 Auf dem zweistündigen Panel zu »Kulturrevolutionären Vorstellungen im SDS und den Beginn einer Frauenbewegung« hatten vor ihr Lutz von Werder als Kinderladenund Kommunespezialist und dann K. D. Wolf gesprochen. Vgl. Lönnendonker: Linksintellektueller Aufbruch, 1998, S. 214. ff. 85 Lönnendonker: Linksintellektueller Aufbruch, 1998, S. 215 f.
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Antiautoritäre, sowohl als Ideologie als auch als Gestus, der in der Frauenbewegung noch viel radikaler und rigoroser durchgesetzt […] wurde, als er […] in der Studentenbewegung praktiziert wurde. Und ich glaube, sonst gibt es außer den vielen Genossinnen, die wir ab 1975 aus den verschiedenen zerfallenden Organisationen sozusagen geerbt haben, und den Genossinnen, die 1968 anfingen, in den verschiedenen Weiberräten aktiv zu sein, relativ wenig an Erbe.86 Die Genossen gingen nach Trögers Vortrag zu ihrer Tagesordnung über.87 Erst hielt Peter Schneider ein langes Referat über die Kulturrevolution, dann sprachen drei weitere Männer über andere Fragen, bis eine – in der Dokumentation bezeichnenderweise namenlose – Frau aus dem Publikum eingriff und sich beschwerte, dass die »Frauenfrage« in der Tradition der Arbeiterbewegung hier ein weiteres Mal als Problem der Kultur abgetan werde. Die Diskussion zeige erneut, warum es nötig war, »aus dem SDS auszusteigen und eine autonome Frauenbewegung zu gründen, denn im SDS liefen ja alle Diskussionen so ab wie heute.«88 Und genauso ging es denn auch weiter: Ingrid Schmidt-Harzbach sprang Tröger zur Seite, in anderer Weise auch Georgia Tornow. Helmut Schauer hingegen schalt Tröger, sie habe mit ihrer Typologie verdiente Genossinnen wie Elisabeth Lenk, Ursel Schmiederer, Monika Seifert geschmäht. Letztere fragte, was denn die Männer gelernt hätten, welche die von Müttern ins Leben gerufene Kinderladenbewegung erst usurpiert, aber, als sie keinen Ruhm mehr abwarf, diesen wieder überlassen hätten. Am Ende entschuldigte sich Tröger, sie habe vielleicht nicht ausreichend vermitteln können, in welcher Weise die Genossinnen selbst die Typologie bedient hätten und welchen Anteil die Genossen daran hatten. Auf keinen Fall wollte sie eine der Genossinnen schmähen. Obgleich ihr Versuch, mit den Genossen über die (imaginären) Geschlechterverhältnisse im SDS zu sprechen, so verunglückt war, ging Tröger immer wieder zu ähnlichen Veranstaltungen, so etwa 1988 zu einem Aussöhnungstreffen mit der »Mutterpartei« SPD in Bonn, bei dem Helke Sander filmte,89 oder als Die Tageszeitung (Taz) es ehemaligen SDS ler / inne / n zu Ostern 1998 überließ, eine ganze Ausgabe zu gestalten. Annette Simon gegenüber äußerte sie, die Beziehungen zu Frauen hätten sich für sie auf die Dauer als die tragfähigeren und verbindlicheren erwiesen, aber sie schien diese »Brüderhorde« nicht loszuwerden. Von 1984 bis 1987 nahm Tröger an einem internationalen Oral-HistoryProjekt zur »Generation 1968« teil, in dem Entstehungsbedingungen und Ver86 Ebd., S. 218. 87 Theo Pirker hatte 1990 ein Vorwort zu der Dokumentation geschrieben, deren Veröffentlichung er nicht mehr erlebte. Darin äußerte er sein Erschrecken über die gravierenden Verdrängungen, die er schon bei der Veranstaltung wahrgenommen und in der Dokumentation bestätigt gefunden hatte. Sie betrafen das Thema der männlichen Vorherrschaft im SDS , das Verhältnis der Organisation zur SED und die Frage der Gewalt. 88 Lönnendonker: Linksintellektueller Aufbruch 1998, S. 226. 89 Vgl. Helke Sander: Die Deutschen und ihre Männer, Dokumentarfilm/Spielfilm 1988/89.
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laufsformen der Studentenbewegung in fünf westlichen Industrieländern auf der Basis lebensgeschichtlicher Interviews miteinander verglichen werden sollten. Für dieses Projekt interviewte sie viele ehemaligen SDS -Genossinnen und Genossen, in Deutschland war außer ihr Jochen Staadt an dem Projekt beteiligt. Die beiden arbeiteten mit Luisa Passerini, Daniel Bertaux und Béatrix le Wita, Bret Eynon und Ronald Grele zusammen. Die Interviewergebnisse wurden zusammengefasst, untereinander ausgetauscht und diskutiert. Am Ende schrieb Ronald Fraser, der Geld von einem Verlag aufgetrieben hatte, die Studie zusammen, die unter dem Titel »1968: A Student Generation in Revolt« 1988 in den USA und in Großbritannien als Buch erschien. Tröger selbst hat den Aufsatz »Die Avantgarde der Angestelltenklasse« zum Thema der »68er Generation« geschrieben.90 Damit schien für sie das Projekt, das mit vielen Reisen, internationalen Treffen und lebendigem Austausch verbunden gewesen war, abgeschlossen.91 Noch einmal machte Tröger einen Ausflug auf einen für sie neuen Kontinent, als sie von August bis Dezember 1986 als Visiting Fellow an das Humanities Research Centre der National University in Canberra eingeladen war. Sie hielt in Australien Vorträge und nahm an drei internationalen Konferenzen zu »Feminism and the Humanities« teil.
Neue Stationen: Potsdam, Kairo, London Das nächste größere Projekt, das Tröger in Angriff nahm, war kein Forschungsprojekt, sondern ein Heft der Feministischen Studien mit Wissenschaftlerinnen aus der DDR , mit dem sie und ich unversehens mitten in der »Wende« landeten. Wir haben in dieses Heft viel Zeit, Arbeit und Emotionen investiert, bis es im Mai 1990 unter dem Titel »Zwischenzeiten – Frauenforschung aus der DDR« endlich erschien. Das Heft enthält einen Text von Tröger selbst, in dem sie für eine Zeit nach der Wiedervereinigung vorsichtige Prognosen wagt.92 Zwischen 1987 und 1990 war Tröger erwerbslos, aber im Zuge der Personalrotationen im Gefolge der Wiedervereinigung und der Neugliederung der ehemaligen DDR fand auch sie eine Stelle. Ingrid Kurz-Scherf, mit der sie in der Kampagne für die Hälfte aller qualifizierten Arbeitsplätze zusammengearbeitet hatte und die jetzt bei der brandenburgischen Ministerin für Arbeit, Gesundheit, Soziales und Frauen, Regine Hildebrandt, Staatssekretärin wurde, holte sie 90 Vgl. S. 329-254 in diesem Band. 91 Als eine Art Nachtrag dazu erscheint eine Veranstaltung im Rahmen einer einsemestrigen Ringvorlesung »Die internationale Dimension der Studentenbewegung«, die am 8. Juli 1988 mit Luisa Passerini und Daniel Bertaux unter der Diskussionsleitung von Annemarie Tröger in der FU stattfand. Sie ist im Internet nachzulesen: http://www. infopartisan.net/archive/1968 /29712.html (abgerufen am 20. 8. 2020). 92 Vgl. Tröger: Brief an eine französische Freundin in diesem Band, S. 359-370, und den Kommentar von Regine Othmer.
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als Referentin für die Abteilung Arbeitsmarkt in das Ministerium. Dort hatte Tröger hauptsächlich mit Landfrauen zu tun, von denen viele nach Auflösung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gezwungen waren, sich neue Perspektiven zu suchen. Tröger ging mit dem gewohnten Eifer ans Werk und initiierte den Verband »Selbsthilfe Brandenburgischer Landfrauen e. V.«. Aber es gab Differenzen zwischen der Ministerin und der Staatssekretärin, so dass Letztere bald ihres Amtes enthoben wurde. Danach war auch Trögers Bleiben nicht mehr lange, insgesamt war sie nur von Februar bis Oktober 1991 im Ministerium beschäftigt. Als ihr Lebensgefährte als Leiter des dortigen GTZ -Büros für vier Jahre nach Kairo ging, begleitete sie ihn für längere Zeit und arbeitete unentgeltlich in einem Rehabilitationszentrum für Folteropfer. Aber es widerstrebte ihr, auf Dauer im Umfeld von Entwicklungshelfern, Diplomaten und Halbdiplomaten als »Anhängsel« ihres Mannes zu leben. So ging sie nach Berlin zurück und begnügte sich in den nächsten Jahren mit häufigen Besuchen in Ägypten. Schließlich heirateten Annemarie Tröger und Burghard Claus im September 1996 in der deutschen Botschaft in Kairo. Burghards Schwester und ich hatten die Ehre, ihrer beider Trauzeuginnen zu sein. Unterdessen hatte Tröger sich auch wieder darauf besonnen, dass sie ausgebildete Psychologin war, und von September 1994 bis August 1996 in Berlin in der psychiatrischen Klinik Erlengrund des Deutschen Roten Kreuzes gearbeitet, wo sie sich hauptsächlich um Borderline-Patienten kümmerte. Zu dieser Zeit stand die im Rahmen von Sparprogrammen der Krankenhäuser bevorstehende Enthospitalisierung der Patienten stark im Vordergrund der Therapien. Die Patienten würden lernen müssen, in ihrem neuen Wohnumfeld außerhalb des Krankenhauses so selbstständig wie möglich zu leben. Tröger setzte Biographiearbeit zu therapeutischen Zwecken ein und war damit erfolgreich. Zusätzlich durchlief sie berufsbegleitend ab 1995 eine gestalttherapeutische Ausbildung und machte sich in zahlreichen Workshops mit weiteren Therapieformen vertraut. 1997 erhielt sie ihre Approbation, aber keine Kassenzulassung, sie konnte also nur Privatpatienten behandeln. Dass sie sich dann von Juli 1998 bis Juni 1999 an der Klinischen Abteilung für Psychotherapie und Psychiatrie des King’s College in London noch in der Cognitive Analytic Therapy ausbilden ließ, war möglicherweise eine besondere Art der Rückwendung auf die Psychoanalyse unter Bedingungen, die ihr entgegenkamen. Bei der Cognitive Analytic Therapy (CAT ) handelt es sich um eine zeitlich begrenzte problemorientierte integrative Psychotherapie, welche die Effizienz kognitiver Ansätze mit den Einsichten analytischer Therapien verbinden soll. Sie wird häufig als erste Interventionstherapie mit wenigen Sitzungen eingesetzt, bei denen die Zusammenarbeit mit den Patient / inn / en, deren Selbstmanagementfähigkeiten durch Schreibarbeiten gefördert werden sollen, von großer Bedeutung ist. So steht es in einem Zeugnis, das Anna Tröger gute Erfolge bei der Behandlung von mehreren Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und einer Vielzahl 404
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weiterer Probleme bescheinigt. Weiter heißt es dort: »Sie hat sich bei Schwierigkeiten als hartnäckig und als offen für kreative Lösungen erwiesen. […] Sie hat mit Ausdauer und Engagement in einem schwierigen Umfeld gearbeitet und viel Anerkennung dafür bekommen.«93 Ihre Londoner Patienten waren zum größeren Teil junge Banker mit einem Burn-out-Syndrom gewesen. Ab dem Jahr 2000 praktizierte sie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern und arbeitete mit wenigen, jedoch hauptsächlich jungen Privatpatientinnen und -patienten, obwohl sie im Januar des Jahres frühzeitig in Rente gegangen war. Zugleich aber reiste sie weiterhin viel und weit, unter anderem fuhr sie allein in die Mongolei; nach China, Laos und Kambodscha sowie in fast alle nordafrikanischen Länder kam sie in Begleitung ihres Ehemannes. Im Jahre 2001 begleitete sie ihren Mann drei Monate lang auf einer Studienreise mit einem Ausbildungslehrgang des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) nach Marokko, die in bäuerliche Regionen im Atlas führte. Es ging um den Umgang der Dorfbevölkerung mit Wasserressourcen. Bei der Befragung der Bauern und vor allem der Bäuerinnen konnte Tröger als geübte Interviewerin dort ansetzen, wo sie vor Jahrzehnten in westafrikanischen Ländern angefangen hatte.
Jülchendorf Annemarie war gern auf dem Land. In der Südheide bei Celle kannte sie sich auf den Dörfern bestens aus. Sie wusste, wem welches Haus und welcher Hof gehörte und suchte ständig nach einem eigenen Haus, einem Schlösschen oder einer Mühle, die sich eventuell renovieren und ausbauen ließen, bis sie 1991 endlich zusammen mit Burghard Claus in Jülchendorf-Meierei in MecklenburgVorpommern ein Kätnerhaus kaufte, mit Garten, Äckern und Wiesen drumherum. Ihre Mutter lernte das Anwesen noch kennen und gab Ratschläge, wie es bewirtschaftet werden könnte. Es liegt sehr abgeschieden, ist aber nur jeweils dreißig Kilometer von Wismar und Schwerin entfernt. Zahlreiche Seen im Umkreis laden zum Schwimmen ein. Nach dem Fall der Mauer versuchte Annemarie, einen Teil des Familienbesitzes in Thüringen zurückzubekommen. Dies gelang ihr zwar nicht, aber sie konnte durch die Gründung eines landwirtschaftlichen Betriebs in Mecklenburg im Rahmen des Lastenausgleichs begünstigt Land kaufen. Am Ende kam auf diese Weise ein Besitz von ca. 80 ha zusammen. Hatte Annemarie zu Anfang der 1990er Jahre noch von der Zucht von Galloway-Rindern geträumt, zog sie es später allerdings vor, den größten Teil der Felder und Wiesen zu verpachten.
93 Dokument des King’s College vom 13. 10. 1999, unterzeichnet von Mark Dunn, CAT Clinic Director, Senior Tutor in Psychotherapy, Privatnachlass Annemarie Tröger, Übersetzung R . O.
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Burghard ging 2002 in Rente. In den Jahren danach hielten sich beide monatelang in Jülchendorf auf, wo sie das Haus modernisierten, den Garten bestellten, Wiesen und Äcker verwalteten und Apfelbäume pflanzten. Beedenbostel wurde als Ort der Gastfreundschaft durch Jülchendorf ersetzt. Dorthin kamen nun auch Burghards Freunde und Verwandte zu Besuch, und manchmal fanden mit den Dorfbewohnern größere Feste statt. Im Januar 2010 wurde Annemarie wegen einer Verengung der Herzkranzgefäße operiert und bekam mehrere Bypässe. Nach der Zeit in der Reha stellte sich heraus, dass sie an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung litt. Wieder musste sie eine radikale Operation und mehrere Chemotherapien durchmachen. Wenn sie in Berlin keine Ärzte und Krankenhäuser aufsuchen musste, lebte sie fortan den größten Teil des Jahres auf dem Land. Im Sommer 2012 konnte sie im Garten arbeiten und Gäste empfangen. Im Dezember wurde ihr 73. Geburtstag in Berlin mit einem Fest begangen, sie war erkennbar schwach, und es ging ihr in der Folge immer schlechter. Anfang Januar 2013 bekam sie nach einer Lungendrainage eine Lungenentzündung und wurde mit Antibiotika behandelt. Kurz darauf musste Burghard sich einer unaufschiebbar gewordenen Hüftoperation unterziehen. Annemarie wurde zu Hause von Freund / inn / en und einem Pflegedienst versorgt und dann in die Palliativstation der anthroposophischen Klinik Havelhöhe gebracht. Dort hat sie noch sechs Tage im Koma und Halbkoma gelebt, bis sie am 18. Februar 2013 im Beisein von Burghard starb. Die Trauerversammlung nach ihrem Begräbnis am 22. März 2013, bei der Freundinnen und Freunde sprachen und z. T. heftig miteinander diskutierten, gab einen wesentlichen Anstoß zu dem vorliegenden Buch.
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Abb. 16 /17: Ende 1942 / Anfang 1943, Annemarie mit ihrer Mutter
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Abb. 18: 1964
Abb. 19: 1976
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Abb. 20: 1985
Abb. 21: 1998
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Schriftenverzeichnis Annemarie Tröger 1 Zur Soziologie der Marginalität. Das Beispiel Kolumbien. Rundfunkmanuskript des Westdeutschen Rundfunks, Kulturelles Wort, Redaktion Peter Laudan. Gesendet am 30. Juni 1970. The New Reich. Unveröffentlichtes Typoskript, 1971 (63 S.). / Schmidt, Ute / Costas, Peter: Studienreform und Berufsbild. Umfrage unter Examenskandidaten der Medizin an der Freien Universität Berlin im SS 1971 (im Auftrag der Ausbildungskommission der FB 3 »Klinische Medizin«), Pressedienst Wissenschaft, H. 9, Berlin 1972. Organizing that Works: CLUW, in: Quest: A Feminist Quarterly – Money, Fame, and Power, 1 (1974) 2, S. 24-34. The Coalition of Labor Union Women: Strategic Hope, Tactical Despair, in: Radical America, 9 (1975) 6, S. 85-110. Nachwort: Alexandra Kollontai: Zwischen Feminismus und Sozialismus, in: Alexandra Kollontai. Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung. Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Sverdlov-Universität 1921, aus dem Schwedischen übersetzt von Claudia Sternberg, hrsg. und bearb. von Tilman Fichter, Frankfurt a. M. 1975, S. 243-264. Die Dolchstoßlegende der Linken: ›Frauen haben Hitler an die Macht gebracht‹, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hrsg.): Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, Berlin 1977, S. 324-355. Rezension von: Jill Stephenson, Women in Nazi Society, London 1975, in: Science and Society: A Journal of Marxist Thought and Analysis, XLI (1977) 2, S. 237. Fragen an unkritische Kritiker. Gedanken zu sozialistischen Übergangsgesellschaften, in: Berliner Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 7 – Kampf der Geschlechter. Der Feminismus und die Linke, Berlin 1978, S. 34-46. Summer Universities for Women: The Beginning of Women’s Studies in Germany?, übersetzt von Beth Weckmueller, in: New German Critique, No. 13, Winter: Special Feminist Issue (1978), S. 175-179. Was hat Weiterbildung mit feministischer Wissenschaft zu tun?, in: Frauen als bezahlte und unbezahlte Arbeitskräfte. Beiträge zur 2. Berliner Sommeruniversität für Frauen – Oktober 1977, hrsg. von der Dokumentationsgruppe der Sommeruniversität e. V., Berlin 1978, S. 8-13. Diskussionsbeitrag zur Podiumsdiskussion: Die Hälfte aller qualifizierten Arbeitsplätze für Frauen, in: Frauen als bezahlte und unbezahlte Arbeitskräfte. Beiträge zur 2. Berliner Sommeruniversität für Frauen – Oktober 1977, hrsg. von der Dokumentationsgruppe der Sommeruniversität e. V., Berlin 1978, S. 506-512. Die Frau im wesensgemäßen Einsatz, in: Frauengruppe Faschismusforschung (Hrsg.): Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und unter dem Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1981, S. 246-273. »Ich komme da mit den feministischen Gedanken nicht mit …«: Ein Versuch, Forschung feministisch zu betreiben, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 4 (1981) 5, S. 39-50. 1 Die kursiv markierten Titel wurden in diesen Band aufgenommen.
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schr if ten v er zeichnis a nnem a r ie tröger Die Planung des Rationalisierungsproletariats. Zur Entwicklung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und des weiblichen Arbeitsmarktes im Nationalsozialismus, in: Kuhn, Annette / Rüsen, Jörn (Hrsg.): Frauen in der Geschichte II , Düsseldorf 1982, S. 245-313. / Kleiber, Lore / Wittmann, Ingrid: Mündliche Geschichte: Ein Charlottenburger Kiez in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, in: Alltagskultur / Industriekultur. Protokoll einer Tagung vom 15. 1. bis 17. 1. 1982 Berlin (West), Fotos: Friedrich Seidenstücker, Berlin 1945-1950, hrsg. vom Museumspädagogischen Dienst Berlin, Berlin: 1982., S. 49-64. Lebensgeschichte und Fotografie. Ein Vergleich an einem Beispiel, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 2 (1982) 5, S. 29-34. Zwischen Kunst und Zeitungsmarkt. Ein Ausschnitt aus dem Leben der Fotografin Ilse Bing, in: Die Gleichschaltung der Bilder. Pressefotographie 1930-36, hrsg. von Kerbs, Diethart / Uka, Walter / Walz-Richter, Brigitte im Auftrag d. Bundes dt. Kunsterzieher e. V., Berlin 1983, S. 91-97. Das Ende der Dephot. Interview mit Rolf Peter Petersen, in: Die Gleichschaltung der Bilder. Pressefotographie 1930-36, hrsg. von Kerbs, Diethart/Uka, Walter/Walz-Richter, Brigitte im Auftr. d. Bundes dt. Kunsterzieher e. V., Berlin 1983, S. 183-190. NS -Politik gegen Frauen und ihre Kontinuität, Vortrag zum 30. Januar 33, gehalten am 31. Januar 1983 an der Universität Hannover, in: 30. Januar 1933 – Kontinuität, Bruch und Folgen, Arbeitspapier, hrsg. vom Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover 1983, S. 9-13. La mère au travail à la chaine: structuration d’un prolétariat féminin »taylorisé« par le régime Nazi, in: Les femmes et la question du travail, hrsg. vom Centre lyonais d’études féministes. Lyon 1984, S. 49-61. The Creation of a Female Assembly-Line Proletariat, in: Bridenthal, Renate / Grossmann, Atina / Kaplan, Marion (Hrsg.): When Biology Became Destiny. Women in Weimar and Nazi Germany, New York 1984, S. 237-270. Tagungsbericht: Workshop »Women and War« an der Harvard Universität vom 6. bis 8. Januar 1984, in: Feministische Studien 3 (1984) 2, S. 168-170. Rezension von: Leila J. Rupp: Mobilizing Women for War. German and American Propaganda 1939-1945, Princeton, 1978, in: Feministische Studien 3 (1984) 2, S. 181-183. (Hrsg.): Gerhard Gronefeld: Frauen in Berlin 1945-1947, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen, Berlin: Dirk Nishen 1984. /Kramer, Helgard/Othmer, Regine/Rumpf, Mechthild (Hrsg.): Themenheft: »Konstruktionen des Weiblichen in den Sozialwissenschaften« Feministische Studien 4 (1985) 2. Between Rape and Prostitution: Survival Strategies and Chances of Emancipation for Berlin Women after World War II , in: Friedlander, Judith et al. (Hg.): Women in Culture and Politics. A Century of Change, Bloomington 1986, S. 97-117. German Women’s Memories of World War II, in: Randolph Higonnet, Margret et al. (Hrsg.): Behind the Lines. Gender and the Two World Wars, New Haven/ London 1987, S. 285-299. Die Avantgarde der Angestelltenklasse. Die Studentenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1969 [unveröffentlichter Text, der 1988 auf Französisch unter dem Titel »Les enfants du tertiaire« erschien.]. Les enfants du tertiaire: le mouvement étudiant en RFA de 1961 à 1969, Übersetzung von Liliane Crips und Nicole Gabriel, in: Le Mouvement social, No. 143: Mémoires et Histoires de 1968 (Apr. – Jun. 1988), S. 13-38.
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Bildnachweis Abb. 1-4: Sommeruniversität Berlin 1977, FFBIZ – Das feministische Archiv e. V., Nachlass Tröger. Abb. 5: Hilde Radusch: Die Familie, FFBIZ – Das feministische Archiv e. V., Nachlass Tröger. Abb. 6: Hilde Radusch, FFBIZ – Das feministische Archiv e. V., Nachlass Tröger. Abb. 7: Ilse Bing: Selbstporträt im Spiegel, Copyright Estate of Ilse Bing. Abb. 8: Professors William Chafe and Laurance Goodwyn meet with Oral History Program students. Duke University Archives, David M. Rubinstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University. Abb. 9: Oral History Association. [Ronald J. Grele, Sam Tan, Annemarie Tröger, and Paul Thompson Standing Together], photograph, [1979, 1980], https://digital.library.unt. edu/ark:/67531/metadc952281/: accessed October 7, 2020, University of North Texas Libraries, UNT Digital Library, https://digital.library.unt.edu; crediting UNT Libraries Special Collections. Abb. 10: Ingrid Wittmann, Annemarie Tröger, Lore Kleiber, Oral History Conference Colchester 1979, Privatnachlass Tröger. Abb. 11: Um 1920: Städtisches Asyl für Obdachlose; Schlafsaal für Frauen; Fröbelstraße (Prenzlauer Berg), Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (07) Nr. 0109237 / Foto: k. A. Abb. 12: 1919-1920, Notzeiten: 1918-1920, Kontrolle von Hamsterern, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (03) Nr. 0136703 / Foto: k. A. Abb. 13: Um 1919, Notzeiten 1918-1920: Holzsammeln in den Stadtrandgebieten; Eintreffen eines Zuges auf einem Vorortbahnhof, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (3) Nr. II 11342 / Foto: k. A. Abb. 14: März 1926: Demonstration Erwerbsloser; Volksbegehren zur Fürstenabfindung, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (93) Nr. II5892 / Foto k. A. Abb. 15: 1933, Nähen von Hakenkreuzfahnen, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (03) Nr. II 10463 / Foto: k. A. Abb. 16: Annemarie Tröger und ihre Mutter 1942 /43, FFBIZ – Das feministische Archiv e. V., Nachlass Tröger. Abb. 17: Annemarie Tröger und ihre Mutter 1942 /43, FFBIZ – Das feministische Archiv e. V., Nachlass Tröger. Abb. 18: Passfoto Annemarie Tröger 1964, FFBIZ – Das feministische Archiv e. V., Nachlass Tröger. Abb. 19: Annemarie Tröger 1976, Privatnachlass Tröger. Abb. 20: Annemarie Tröger 1985 [Ausschnitt], FFBIZ – Das feministische Archiv e. V., Nachlass Tröger. Abb. 21: Annemarie Tröger 1996 [Ausschnitt], FFBIZ – Das feministische Archiv e. V., Nachlass Tröger.
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Autor / inn / en Renate Bridenthal, Professorin für Geschichte (1967-2001) am Brooklyn College der City University of New York. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Geschichte, Frauengeschichte, Weltgeschichte. Publikationen u. a.: Renate Bridenthal / Susan Mosher Stuard / Merry E. Wiesner: Becoming Visible: Women in European History. Boston 1998; Renate Bridenthal u. a., Families in Flux, New York 1989; Renate Bridenthal / Krista O’Donnell / Nancy Reagin: The Heimat Abroad: The Boundaries of Germanness, Ann Arbor 2005; Renate Bridenthal (Hrsg.): The Hidden History of Crime, Corruption and States, New York 2013. Atina Grossmann, Professorin für Geschichte an der Faculty of Humanities and Social Sciences der Cooper Union in New York. Publikationen u. a.: Jews, Germans, and Allies: Close Encounters in Occupied Germany 2007, deutsch: Juden, Deutsche, Allierte: Begegnungen im besetzen Deutschland, Göttingen 2012; Wege in der Fremde: Deutsch-jüdische Begegnungsgeschichte zwischen New York, Berlin und Teheran, Göttingen 2012; Reforming Sex: The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920-1950 (1995); Atina Grossmann und Tamar Lewinsky: Erster Teil: 1945-1949. Zwischenstation, in: Geschichte der Juden in Deutschand von 1945 bis zur Gegenwart, hrsg. von Michael Brenner, München 2012; zuletzt: Mark Edele, Sheila Fitzpatrick and Atina Grossmann (Hrsg.): Shelter from the Holocaust: Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union, Detroit 2017. Elizabeth Harvey, Universitätsprofessorin für Geschichte an der Universität Nottingham. Arbeiten zu Geschlechtergeschichte, Nationalsozialismus und dem NS -besetzten Europa, auch zur Geschichte der Fotografie. Mitarbeit am mehrbändigen Editionsprojekt »Persecution and Murder of the European Jews by Nazi Germany 1933-1945«. Publikationen u. a.: Women and the Nazi East. Agents and Witnesses of Germanization, New Havenu / London 2003 (deutsche Fassung: »Der Osten braucht Dich!« Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik, Hamburg 2010); hrsg. mit Maiken Umbach: Photography and Twentieth-Century German History (special issue, Central European History vol. 48 /3, 2015); hrsg. mit Johannes Hürter, Maiken Umbach und Andreas Wirsching: Private Life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge 2019. Johanna Kootz, Dipl.-Bibliothekarin, Dipl.-Soziologin, seit 1974 Initiative 1. Frauenhaus Berlin, Mitarbeiterin der Begleituntersuchung des Projekts. 1981 bis 2005 Mitarbeiterin und Dozentin der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenund Geschlechterforschung FU Berlin. Seit 1995 Zusammenarbeit mit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Publikationen u. a.: Mit Gisela Brandt und Gisela Steppke: Zur Frauenfrage im Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1973; Deportiert aus dem Land des Verbündeten: Italienerinnen, in: Insa Eschebach 429
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(Hrsg.), Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Neue Beiträge zur Geschichte und Nachgeschichte, Berlin 2014, S. 31-50; italienische Ausgabe Lidia Beccaria Rolfi / Anna Maria Bruzzone, »Le donne di Ravensbrück« (Als Italienerin in Ravensbrück), Berlin 2016. Ingrid Kurz-Scherf, Dr. rer. pol., emeritierte Professorin für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt »Politik und Geschlechterverhältnis« an der Philipps-Universität Marburg. Von 2002-2005 leitete sie dort das Projekt GendA – Netzwerk feministische Arbeitsforschung. Sie war u. a. Staatssekretärin für Arbeits- und Frauenpolitik im Saarland und in Brandenburg (1990-1991), Leiterin des sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg in Berlin. Publikationen u. a.: mit Alexandra Scheele (Hrsg.): Macht oder ökonomisches Gesetz? Zum Zusammenhang von Krise und Geschlecht, Münster 2013. Klaus Meschkat, Dr. phil., emeritierter Professor für Soziologie an der Leibniz Universität Hannover; war 1957 AS tA-Vorsitzender der FU und 1958 bis 1959 Vorsitzender des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS). Wissenschaftlicher Assistent am Osteuropa-Institut der FU von 1965 bis 1968, von 1968 bis 1973 Gastprofessuren in New York, Medellín/Kolumbien und Concepción/Chile. Arbeitsschwerpunkte: Politische Soziologie von Entwicklungsländern, vornehmlich Lateinamerikas; Entwicklungspolitik der Bundesrepublik; Internationale Arbeiterbewegung, insbesondere Gewerkschaften in Entwicklungsländern; nachrevolutionäre Gesellschaften in Lateinamerika und Afrika; Imperialismustheorien und zeitgenössische Entwicklungstheorien; soziale Bewegungen in Kolumbien, Chile, Bolivien und Nicaragua. Publikationen u. a.: Konfrontationen: Streitschriften und Analysen 1958 bis 2010, hrsg. von Urs Müller-Plantenberg, Hannover 2010. Mary Nolan, Professorin für Geschichte (Emerita) an der New York University. Arbeitschwerpunkte: Europäisch-Amerikanische Beziehungen im zwanzigsten Jahrhundert, Deutsche Geschichte, zuletzt auch: soziale und ökonomische Menschenrechte im Zeitalter des Neoliberalismus und die Genderpolitik rechter populistischer Bewegungen. Publikationen u. a.: The Transatlantic Century. Europe and America, 1890-2010, Cambridge / New York / Melbourne 2012; Visions of Modernity: American Business and the Modernization of Germany, New York 1995; Social Democracy and Society: Working-class Radicalism in Düsseldorf, 1890-1920, New York 1981. Mitherausgeberin von Crimes of War: Guilt and Denial in the Twentieth Century, New York 2002; The Routledge Handbook of the Global Sixties, London 2018. Regine Othmer, Sozialwissenschaftlerin, Übersetzerin und Redakteurin; Herausgeberin der Zeitschrift feministische studien seit 1985. Publikationen u. a.: feministische studien, Heft 1 /18: Mehr feministische und kritische Theorie! (hrsg. mit Birgit Riegraf ); Kari Polanyi Levitt: Die Finanzialisierung der Welt. Karl 430
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Polanyi und die neoliberale Transformation der Weltwirtschaft (hrsg von Andreas Novy / Michael Brie / Claus Thomasberger), Weinheim / Basel 2020 (Übersetzung). Luisa Passerini, Professorin (Emerita) am Department für Geschichte und Zivilisation des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz, Professorin für Kulturgeschichte an der Universität Turin. Gastprofessuren in den USA (New York, Berkeley), Frankreich (Paris) und Australien (Perth, Sydney), Fellowships u. a. am Wissenschaftskolleg Berlin und Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Publikationen u. a.: Storie di donne e femministe, Torino 1991; Women and Men in Love: European Identities in the Twentieth Century, Oxford / New York 2012; Conversations on Visual Memory, http://hdl.handle.net/1814/60164, 2018 (abgerufen am 10. 10. 2020). Dagmar Reese, Dr. phil, Arbeiten zu Frauen im Nationalsozialismus, Kameradschaft und Geschlecht, Georg Simmels Geschlechtertheorien im »fin de siècle« Berlin, Nahida Ruth Lazarus. Publikationen u. a.: Growing up Female in Nazi Germany, Ann Arbor 2006; als Hrsg.: Die BDM-Generation. Weibliche Jugendliche in Deutschland und Österreich im Nationalsozialismus, Berlin 2007; Akt und Anstand. Der Skandal um den Gustav Graef Prozess, Berlin 1885, Köln / Weimar / Wien 2014. Carola Sachse ist Universitätsprofessorin (i. R.) für Zeitgeschichte an der Universität Wien; derzeit forscht sie am MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin zur Wissenschaftsdiplomatie im Kalten Krieg. Publikationen u. a.: Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie. Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Hamburg 1990; Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 19391994, Göttingen 2002; (hrsg. mit Susanne Heim und Mark Walker), The Kaiser Wilhelm Society under National Socialism, Cambridge 2009; (hrsg. mit Alison Kraft) Science, (Anti-) Communism and Diplomacy. The Pugwash Conferences on Science and World Affairs in the Early Cold War, Leiden 2020. Tilla Siegel, Promotion (Wirtschaftswissenschaften) 1979, Habilitation (Soziologie) 1988. Von 1994 bis 2010 Professorin für Soziologie an der J. W. GoetheUniversität, Frankfurt a. M. Publikationen u. a.: Politics and Economics in the Capitalist World Market. Methodological Problems of Marxist Analysis, in: International Journal of Sociology, 14 (1984), 1, S. 1-154; Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen »Ordnung der Arbeit«, Opladen 1989; Schlank und flexibel in die Zukunft. Überlegungen zum Verhältnis von industrieller Rationalisierung und gesellschaftlichem Umbruch, in: Brigitte Aulenbacher / Tilla Siegel (Hrsg.): Diese Welt wird völlig anders sein. Denkmuster der Rationalisierung, Pfaffenweiler 1995, S. 175-195.
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Dorothee Wierling, Professorin für Geschichte (i. R.) an der Universität Hamburg mit den Forschungsschwerpunkten Sozial- und Erfahrungsgeschichte des deutschen 20. Jahrhunderts, Geschlechter- und Generationengeschichte, Oral History. Monographien: Mädchen für alles. Lebensgeschichten und Arbeitsalltag städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin / Bonn 1987; zus. m. Lutz Niethammer und Alexander von Plato: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR , Berlin 1991; Geboren im Jahr Eins. Der Geburtsjahrgang 1949 in der DDR , Berlin 2002; Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914-1918, Göttingen 2013; Mit Rohkaffee handeln. Hamburger Kaffee-Importeure im 20. Jahrhundert, Hamburg 2018.
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