Alles ist nur Symbol: Symbolisches Kapital und implizite Soziologie in Buddenbrooks [1 ed.] 9783737010016, 9783847110019


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Alles ist nur Symbol: Symbolisches Kapital und implizite Soziologie in Buddenbrooks [1 ed.]
 9783737010016, 9783847110019

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Passages – Transitions – Intersections

Volume 6

General Editors: Paola Partenza (University of Chieti-Pescara, Italy) Andrea Mariani (University of Chieti-Pescara, Italy)

Advisory Board: Gianfranca Balestra (University of Siena, Italy) Barbara M. Benedict (Trinity College Connecticut, USA) Gert Buelens (University of Ghent, Belgium) Jennifer Kilgore-Caradec (University of Caen, and ICP, France) Esra Melikoglu (University of Istanbul, Turkey) Michal Peprn&k (University of Olomouc, Czech Republic) John Paul Russo (University of Miami, USA)

Pier Carlo Bontempelli

Alles ist nur Symbol Symbolisches Kapital und implizite Soziologie in Buddenbrooks

Übersetzt aus dem Italienischen von Maria Böhmer

V& R unipress

Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available online: https://dnb.d-nb.de. Original edition: »Tutto › soltanto simbolo«. Capitale simbolico e sociologia implicita nel romanzo i Buddenbrook. La scuola di Pitagora editrice, Napoli 2014.  2020, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Gçttingen, Germany All rights reserved. No part of this work may be reproduced or utilized in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or any information storage and retrieval system, without prior written permission from the publisher. Proofreading: SchwabScantechnik, Geiststraße 11, 37073 Gçttingen, Germany Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-9173 ISBN 978-3-7370-1001-6

So muß die Frage noch einmal ins Auge gefaßt werden: wie können die verwalteten Individuen – die ihre Verstümmelung zu ihrer eigenen Freiheit und Befriedigung gemacht haben und sie damit auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren – sich von sich selbst wie von ihren Herren befreien? Wie ist es auch nur denkbar, daß der circulus vitiosus durchbrochen wird? Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch

Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Thomas Mann im literarischen Feld des ausgehenden 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das erneute Interesse am Werk Thomas Manns . . 2. Habitus und posture . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das literarische Feld der 1880er Jahre . . . . . . . . 4. Die Überwindung des Naturalismus . . . . . . . . . 5. Thomas Manns posture im literarischen Feld der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Buddenbrooks oder der Roman der Distinktion . . . . . . . 1. Die Ökonomie der symbolischen Güter in Buddenbrooks 2. Die Distinktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwei soziale Störfaktoren: Ida und Thilda . . . . . . . . . 4. Die Klasse als sozialer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die symbolische Ökonomie der bürgerlichen Familie . . 6. Die Strukturierung des sozialen Raums . . . . . . . . . . 7. Widerspenstige Körper : die Aneignung des Habitus . . .

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III. Buddenbrooks und das protestantische Bürgertum: eine implizite Soziologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Thomas und Christian: Annahme und Ablehnung der innerweltlichen Askese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomie der Reproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Christian oder die Verschwendung . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Hagenströms: neuer Kapitalismus oder Variante des alten? 5. Im stählernen Käfig: Hanno und die Schule . . . . . . . . . . . 6. Freundschaft und Anomie: Hanno und Kai . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung

Seit 2005, dem Jahr des 50. Todestags von Thomas Mann, hat die Mann-Forschung einen ungeheuren Aufschwung erlebt, der zu ausgezeichneten Resultaten geführt hat. Das ist unter anderem neuen Forschungsansätzen und Analysemethoden zu verdanken.1 Ein bedeutender Impuls kam von der Literatur- und Kultursoziologie, wie sie von dem französischen Denker Pierre Bourdieu, dem Autor des bekannten Werks Les RHgles de l’art (1992) konzipiert wurde.2 In diesem grundlegenden Werk richtet Bourdieu seine Aufmerksamkeit in erster Linie auf das literarische Feld, in dem ein Werk entsteht, und auf die Merkmale, die es besitzt, um sich zu behaupten. Im literarischen Feld agieren die Autoren wie Akteure, wie Spieler, die in einem Spiel, das sich historisch mit bestimmten Regeln entwickelt hat, ihre Karten setzen, um einen Einsatz zu gewinnen: den Erfolg. In diesem Kontext wird das Kunstprodukt zum Ergebnis einer Reihe von Operationen und Strategien, die normalerweise nicht in Zusammenhang mit dem Kunstschaffen gebracht werden. Dazu gehört etwa die Entscheidung für die Positionierung an einem bestimmten Platz im literarischen Feld und nicht an einem anderen. Dabei kommen verschiedene Variablen ins Spiel, die sowohl von dem Habitus abhängen, den der Autor erworben hat (das betrifft den praktischen Sinn für das Spiel, die Fähigkeit, die Spielregeln zu befolgen oder nicht zu befolgen), als auch von der Art und Weise, wie er den gegebenen Raum besetzt. Die Leistung der Literatur besteht also nicht darin, die bestehende Realität widerzuspiegeln, und auch nicht in einer romantischen Erfindung neuer Welten, sondern sie entsteht aus der Interaktion zwischen dem 1 Vgl. dazu Julia Schöll, Einführung in das Werk Thomas Manns, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013. Als allgemeines Nachschlagewerk verweise ich auf das ThomasMann-Handbuch, Helmut Koopmann (Hrsg.), Frankfurt/M., Fischer 2015, und auf das »Thomas-Mann-Jahrbuch« (erscheint seit 1988 und enthält seit 1997 eine ständig aktualisierte Bibliographie der Veröffentlichungen zu Thomas Mann). 2 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer, Frankfurt/M., Suhrkamp 1999 (Originalausgabe: Les RHgles de l’art. GenHse et structure du champ litt8raire, Paris, ðditions du Seuil 1992).

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Einführung

Habitus des Akteurs im Feld und der Situation des Feldes mit seinen Regeln und Machtverhältnissen. Der Text eines Autors wird gesehen als das Produkt einer Behauptungsstrategie (oder einer Absicht, sich nicht zu behaupten), die es möglich macht, den allgemeinen Kontext aufgrund seiner besonderen Eigenschaften zu rekonstruieren. Bourdieu will dem Kunstwerk die sakrale Aura nehmen, die ihm oft verliehen wird, als ob es sich um ein Werk handelte, das nicht aus dem Sozialen und der Geschichte entstanden ist, sondern von einem Schöpfer stammt, der keinen Bedingungen unterliegt. Der Anspruch, die Kunst und die Literatur als Produkte des Sozialen zu analysieren und zu erklären, ist zweifellos der Grund für die zahlreichen Anfeindungen, die Bourdieu von Seiten der Literaturexperten erfährt. In den Regeln der Kunst bezieht er sich übrigens nicht auf das abstrakte Funktionieren eines generischen literarischen Feldes, sondern analysiert das literarische Feld in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts und das Paris, wie es in der Erziehung der Gefühle (1869) von Flaubert geschildert wird. Ich bin davon überzeugt, dass die von Bourdieu aufgezeigte Möglichkeit, die – durchaus individuelle – künstlerische Arbeit in dem neuen, relationalen Kontext eines »Feldes« zu sehen, uns dabei helfen kann, die Bedeutung derjenigen Aspekte herauszuarbeiten, die normalerweise nicht als dem Kunstwerk »inhärent« gelten, sondern die ihm vorausgehen, in die Vorbereitungsphase fallen, wie etwa die Entscheidung des Autors für eine Gattung, für einen Stil, die Entdeckung einer Lücke im literarischen Feld, die gefüllt werden kann, die Entscheidung für ein bestimmtes Zielpublikum oder die Art und Weise der Selbstdarstellung und der Besetzung des Raums. Unter den Literaturwissenschaftlern, die sich in irgendeiner Weise an Bourdieu orientieren, wird gewöhnlich der Begriff des literarischen Feldes als Ausgangspunkt angenommen. Insbesondere denke ich dabei an Norbert Christian Wolf, der in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (2011)3 der Epoche Musils eine tiefgehende Sozioanalyse widmet und sich ausdrücklich auf die zahlreichen Studien des französischen Denkers bezieht. Aber ich werde versuchen zu zeigen, dass Bourdieu auch andere konzeptuelle Kategorien zur Verfügung stellt, die der literarischen Analyse von Nutzen sein können. Auf der Basis der Überlegungen Bourdieus möchte ich einige soziokritische »Lesegänge« durch einen Roman wie Buddenbrooks vorschlagen, einen Roman, der, wie sich zeigen wird, besonders für eine »Sozioanalyse« dieser Art geeignet ist. Den Begriff des Feldes verwende ich als Ausgangspunkt. Es erscheint mir wichtig, die Besonderheiten des literarischen Feldes in Deutschland ab 1870 zu 3 Norbert Christian Wolf, Kakanien als gesellschaftliche Konstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar, Böhlau Verlag 2011. Ein weiteres Beispiel für Sozioanalyse von Texten, Autoren und großen Epochenwerken liefert Bernard Lahire, Franz Kafka. Plements pour une th8orie de la cr8ation litt8raire, Paris, Pditions la d8couverte 2010.

Einführung

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definieren und zu rekonstruieren, welches die dominierenden Kräfte sind, wie sie agieren, wie Mann die Lage analysiert und welche Positionierungsstrategie er daraus ableitet. Mann ist ein Autor, der über einen eigenen Habitus und eine eigene posture4 verfügt, er erarbeitet sich eine Selbstdarstellung nach vorgegebenen Mustern und beweist, dass er mit dem Raum, in den er einzutreten beabsichtigt, und den darin herrschenden Kräfteverhältnissen sehr gut vertraut ist. Er weiß, wer dominiert, wer ausscheidet, wer ihm den Erfolg streitig machen kann. Mit anderen Worten: Er kennt den Zeitgeist. Daraus ergeben sich auf der Ebene des Narrativen konkrete Entscheidungen, sie sind das Ergebnis der Positionierungsstrategien des Autors. Deshalb steht die Entscheidung für die Gattung, den Stil, den Gegenstand des Romans, für die ästhetischen Lösungen der formalen Probleme, für die auftretenden Personen und ihr Verhalten in der Öffentlichkeit und im Privatleben in enger Verbindung mit dem sozialen Raum (dem Publikum und dem literarischen Feld), zu dem der Roman sich in Beziehung setzen muss. Die Möglichkeit, einen neuen Zugang zur Lektüre zu finden, kann sich nicht nur auf die Verwendung der Feldtheorie und den Habitus beschränken. Mir scheint, dass für Buddenbrooks viele andere Ansätze aus der Literatursoziologie erfolgversprechend sind. Wie kaum ein anderer Roman (vielleicht mit Ausnahme von f la recherche du temps perdu)5 kann er als ein Roman der Distinktion gelesen werden. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit werde ich mich auf eine Lektüre des »Sozialen« in Manns Roman konzentrieren und auf die Anfangsszene im ersten Teil ziemlich strikt die Kategorie der »Distinktion« anwenden, so wie Bourdieu es in seinem gleichnamigen Essay empfiehlt.6 Die Anregung dafür verdanke ich einer Studie von Ursula Bavaj, La semantica dell’abbigliamento nei Buddenbrook7, in der die Kleidung unserer Romanfiguren einer genauen, intelligenten Analyse unterzogen wird. Vom Anzug oder Kleid ist es nur ein kleiner Schritt zum Habitus8 : Habitus kommt von habere, haben. Es ist ein »Haben«, das zum »Sein« wird, ein sozialer Unterschied, der zur zweiten Natur wird und das Auftreten sowie das Bewohnen des Raums be4 Zum Begriff der posture vgl. J8rime Meizoz, Die posture und das literarische Feld. Rousseau, C8line, Ajar, Houellebecq, in Text und Feld, Markus Joch et al. (Hrsg.), Tübingen, Niemeyer Verlag 2005, S. 177–188. 5 Jacques Dubois macht das Soziale zum Gegenstand seines Essays Pour Albertine. Proust et le sens du social, Paris, Pditions du Seuil 1997; vgl. auch Jacques Dubois, Le roman de Gilberte Swann. Proust sociologue paradoxal, Paris, Pditions du Seuil 2018. 6 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übers. v. Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt/M., Suhrkamp 1987 (Originalausgabe: La Distinction. Critique sociale du jugement, Paris, Les Pditions de Minuit 1979). 7 Ursula Bavaj, La semantica dell’abbigliamento nei »Buddenbrook« di Thomas Mann, in Scritti in onore di Mirella Billi, Benedetta Bini (Hrsg.), Viterbo, Sette Citt/ 2005, S. 163–175. 8 Im Italienischen bezeichnet das Wort abito den Anzug oder das Kleid.

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Einführung

stimmt. Daher ist der Habitus ein ausgezeichnetes Mittel für das Erkennen, für die Distinktion und die Klassifizierung. Es scheint mir möglich, ausgehend von der Einrichtung, von der Art der Kleidung, von den Essgewohnheiten, von der Besetzung des Raums sowie von der Körperhaltung und -bewegung im Raum, die Kriterien der Distinktion und der Unterschiede im Roman rekonstruieren zu können. Ich wende dabei eine soziologische Kategorie an, die weniger als andere Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden hat, weil sie sicherlich auch nicht für alle Romane oder Romanciers passend ist. Aber im Fall von Buddenbrooks scheint Mann die Absicht verfolgt zu haben, Akteure in Szene zu setzen, die mit ihren Bewegungen und ihrem Verhalten, mit ihrer Kleidung und ihrem Habitus, mit der Hexis ihrer Körper, mit ihrem fortgesetzten Bemühen um Selbstdefinierung und um »korrekte« Positionierung im sozialen Raum gerade auf der Distinktion eine symbolische Ordnung der Unterschiede aufbauen. Die als »natürlich« dargestellte Unterteilung in Klassen ist ein Element, das dem Leser sofort auffällt: Jede Bewegung oder Art, den Raum zu besetzen, jede Körperhaltung ist aufgrund von distinktiven Hierarchien berechnet, wird genau eingeordnet und klassifiziert. Manns Roman verdeutlicht auf diese Weise, was gewöhnlich verborgen bleibt oder verschwiegen wird: Die Menschen verkörpern Verhaltensdispositionen, die von der Zugehörigkeit zu einer Klasse, einer Schicht oder vom Geschlecht abhängen. Auch die Geschlechtsunterschiede lassen sich am Umgang mit dem Körper und am Verhalten ablesen, wie wir an den weiblichen Nebenfiguren sehen werden, die ich im zweiten Kapitel untersuche. Und wenn wir in Bezug auf Buddenbrooks von Geschlechtsunterschieden sprechen, sollten wir besonders auf eine aussagekräftige Figur achten: die immer wieder präsente Protagonistin Tony, weil ihre Geschichte ungeheuer emblematisch ist für die Rolle der Frau und die enge Verknüpfung von Geschlechterfragen und ökonomischer Ordnung in der bürgerlichen Welt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da ich aber der symbolischen Ordnung, die sich um die Ethik der Arbeit und die Familie als sozioökonomische Einheit gestaltet hat, den Vorzug gegeben habe, habe ich Tony nur hin und wieder erwähnt und mich bewusst nicht eingehender auf ihre Figur eingelassen, sondern mich mehr auf die männlichen Gestalten und einige weibliche Nebenfiguren konzentriert. Nichtsdestoweniger ist Tony eine Figur, die den großen Protagonistinnen des 19. Jahrhunderts in nichts nachsteht – von Flauberts Emma Bovary bis zu Isabel Archer von Henry James. Es würde sich lohnen, ihr eine gesonderte Abhandlung zu widmen und die hier skizzierten Untersuchungskriterien auf sie anzuwenden. Allein ihr Bemühen um Distinktion und um Eleganz »um jeden Preis«, ihre Unterordnung unter eine »symbolische Gewalt«, die sie selbst, Untergebene und Opfer, aufgrund des in der patriarchalischen Familie herrschenden Geschlechter- und Rollenunterschieds für gerechtfertigt hält, sind eine Studie wert.

Einführung

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Tony ist jedoch nicht der einzige Fall, an dem Mann demonstriert hat, welche Wirkungen die »symbolische Gewalt« auf den Geist und auf den Körper der Individuen ausübt. Diesem Thema hat Bourdieu einen Großteil seines Werks9 gewidmet. Er hat gezeigt, dass die Beherrschten sich »freiwillig« der herrschenden Gewalt unterwerfen und auch zu dieser beitragen, wobei er sich auf Marx (Die deutsche Ideologie), Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft) und Marcel Mauss beruft, ohne die frühere Dialektik von Herr und Knecht, die Hegel analysiert hatte, zu vernachlässigen. Der Begriff der »symbolischen Gewalt« bezieht sich auf die »sanften« Formen der Herrschaft, die von den Beherrschten gebilligt und legitimiert werden. Es ist eine »sanfte« Gewalt, weil sie nicht auf körperlicher Gewalt oder auf ausgesprochener Bestrafung beruht, wie etwa die Disziplinartechnologie. Trotzdem handelt es sich um Gewalt, weil es eine Herrschaftsform ist, die auf das Gehirn derjenigen ausgeübt wird, die sie erleiden. Und es ist eine symbolische Gewalt, weil sie sich auf der Ebene der Bedeutungen und der symbolischen Ordnung vollzieht, die von Herrschenden und Beherrschten als legitim anerkannt wird. In diesem Bezugsrahmen habe ich meine Aufmerksamkeit einigen Nebenfiguren des Romans zugewandt (den Ausgeschlossenen, den Parvenüs, denjenigen, die nicht oder noch nicht über symbolisches Kapital verfügen), um zu zeigen, dass die symbolische Gewalt in ihrem Fall verschleiert auftritt und über die Sprache, die Gesten, die erworbenen und verinnerlichten Gewohnheiten wirkt. Mann demonstriert die Stärke, die in der herrschenden symbolischen Ordnung steckt und die auch bei der kleinen »Revolte«, die 1848 in Lübeck wie in großen Teilen Deutschlands stattfindet, nicht im Mindesten angetastet wird. Revolutionen sind nur dann möglich, wenn die symbolische Ordnung von den Beherrschten nicht mehr als legitim betrachtet wird. Und die Rechtmäßigkeit der symbolischen und sozialen Ordnung von Lübeck wird im Roman nicht ein einziges Mal wirklich in Frage gestellt. Diese Möglichkeit lag nicht in Manns Interessenhorizont, gehörte nicht in seine Strategie und entsprach vielleicht auch nicht seinen literarischen Fähigkeiten. Das dritte Kapitel ist den Kontrasten gewidmet, die sich innerhalb der symbolischen Ordnung und zwischen den Werten, auf denen der Roman gründet, entwickeln. Es geht um verschiedenartige Gegensätze: im Innern der Familie (zwischen Thomas und Christian), unter Familien derselben Schicht (Buddenbrooks und Hagenströms) und schließlich zwischen Hanno Buddenbrook und Kai von Mölln auf der einen Seite und den Hagenström-Söhnen auf der anderen. Auch in diesem Fall habe ich auf Bourdieus Kategorien zurückgegriffen und sie meinen Bedürfnissen angepasst: Am Beispiel von Thomas und Christian, und später Hanno, habe ich betont, dass der (teilweise oder völlige) 9 Vgl. Benjamin Moldenhauer, Die Einverleibung der Gesellschaft. Der Körper in der Soziologie Pierre Bourdieus, Köln, PapyRossa Verlag 2010.

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Einführung

Verlust der illusio, der Fähigkeit, an das Spiel und den Einsatz zu glauben, und des conatus, des Willens, im Bestehenden zu verbleiben, ein entscheidendes Element für die Krise der Familie ist, die sich mehr oder weniger intensiv offenbart. Für die Analyse dieser Konflikte habe ich als Leitfaden die Geschichte des protestantischen Bürgertums in ihrer Verbindung zum Geist des Kapitalismus gewählt und die Beziehung dieses Bürgertums zum »Interesse« der kalten Rationalität und der Logik des Kalküls des Kapitals herausgearbeitet. Dafür erweist sich die parallele Lektüre zweier zeitgleicher Narrationen der gleichen Geschichte – Max Weber (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus)10 und Werner Sombart (Der Bourgeois)11 – als aufschlussreich. Ich habe also versucht, einem »soziologischen Romancier«, als solchen sehe ich Mann, zwei »erzählende Soziologen« an die Seite zu stellen, die mit Hingabe, aber jeder auf seine Weise, »fast« dieselbe Geschichte erzählen. Auch die beiden Soziologen wählen »Idealtypen« des Bürgers in verschiedenen Abwandlungen aus, auf die sich sowohl das »Modell« Buddenbrook (das seinen Habitus im Wertesystem der protestantischen Ethik herausgebildet hat) als auch das skrupellose »Modell« der Rivalen, der Hagenströms, zurückführen lässt. Ich wollte aufzeigen, dass der Roman von Mann als narrativer Diskurs mit einer »impliziten Soziologie« gelesen werden kann. Das heißt nicht, dass Mann damit zum Soziologen erklärt wird. Selbst wenn er sich auf eine breite Dokumentation und präzise Beobachtungen der sozialen Wirklichkeit stützt, erreicht seine Arbeit nie die Systematik und noch weniger den hohen Grad der Begrifflichkeit und Objektivierung, die einem Soziologen eigen sind. Nichtsdestoweniger gestaltet er seine Figuren zu »Idealtypen« aus und lässt sie in der sozialen Welt agieren; er bringt in seiner literarischen Arbeit ein Wissen von der sozialen Welt zum Ausdruck, das ebenfalls dazu beiträgt, eine »objektive« Kenntnis zu vermitteln. Vielleicht kommt es durch das Übereinstimmen der Positionen des Soziologen und des Autors dazu, dass die Dichotomie zwischen dem Essenzialismus der »reinen« Literatur und dem soziologischen »Reduktionismus« überwunden wird. In ihren jeweiligen Narrationen gelangen Mann, Weber und Sombart zu überraschenden, aber nicht völlig verschiedenen Schlussfolgerungen. Anders, aber doch nicht sehr viel anders ist das Ende der Erzählung: Auf die apokalyptische Vision vom großen Finale der Bourgeoisie, die bei Weber ebenso wie 10 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Dirk Kaesler (Hrsg.), München, Beck 2010. S. auch die umfassenden Einführungen von Dirk Kaesler, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 7–64, und für die französische Ausgabe von Isabelle Kalinowski, L’Pthique protestante. et l’esprit du capitalisme, Paris, Flammarion 2002, S. 7–46. 11 Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München/Leipzig, Duncker & Humblot 1913. (Reprint der Originalausgabe: Literarikon, Treuchtlingen 2018).

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bei Sombart vorhanden ist (und die merkwürdigerweise an die großartige Darstellung erinnert, die Marx von der weltweiten Behauptung der Bourgeoisie gab), reagiert Mann mit einer Antwort, in der ich Marcuse wiederfinde. Die Familie Buddenbrook lebt in einer symbolischen Ordnung und in einem sozialen Raum, der vom Kalkül, vom Interesse und von der »innerweltlichen Askese« des protestantischen Kapitalismus beherrscht ist. Gegen Ende des Romans führt Mann in diesen Raum eine anomale Figur ein, eine Figur, die die vom Geist des Kapitalismus hervorgerufenen großen Umwandlungen überlebt hat: Es handelt sich um einen Adligen, den kleinen Grafen Kai von Mölln, den einzigen Freund von Hanno Buddenbrook. Mann versetzt beide in ein völlig neues Ambiente, in die preußisch ausgerichtete Schule des Zweiten Deutschen Reichs, die sich auf eine starre Disziplinartechnologie stützt, um das zu erreichen, was Foucault als »Gesellschaft der Normalisierung«12 bezeichnet. Diese Umstände erzeugen in Mann offensichtlich gewisse Ambivalenzen: Während er einerseits diesem »Renationalisierungsprozess« durchaus nicht abgeneigt ist, wie seine posture als Autor beweist, in der er sich als überzeugter Erbe der »deutschen Nationalkultur« gibt, unterstreicht er andererseits als Erzähler, wie fremd und unerträglich ihm »normalisierte« und »nationale« Verhaltensmuster sind, indem er dem Unbehagen und dem Leiden Hannos breiten erzählerischen Raum lässt. In dieser neuen, disziplinierten Gesellschaft, die auf Zwangsmechanismen und Ausschluss beruht, ist Hanno ein Unterlegener. Aber Mann stellt ihm einen Akteur zur Seite, der sich nicht in den vorgesehenen sozialen Koordinaten bewegt: den jungen Grafen Kai von Mölln, einen adligen Vagabunden, uneigennützig und großzügig, der sich absolut nicht in die symbolische Ordnung des nationalen Bürgertums in seiner Entwicklungs- und Expansionsphase einpasst. Kai ist eine Figur, die von der Geschichte und der unaufhaltsamen Entwicklung des Kapitalismus überholt ist und die sich als nicht normalisiert und nicht normalisierbar erweist. Ganz unzweideutig gilt ihm die Sympathie von Mann, denn am Ende des Romans ist es der adlige, unproduktive Vagabund, der die einzige Form von Rebellion und Widerstand verkörpert.

12 Michel Foucault, Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am CollHge de France 1972–1973, Bernard E. Hartcourt (Hrsg.), übers. v. Andrea Hemminger, Berlin, Suhrkamp 2015 (Originalausgabe: La soci8t8 punitive. Cours au Coll8ge de France 1972–1973, Paris, Seuil-Gallimard 2013).

I.

Thomas Mann im literarischen Feld des ausgehenden 19. Jahrhunderts

1.

Das erneute Interesse am Werk Thomas Manns

Die Mann-Forschung hat sich in den letzten Jahren, wie eine neuere, intelligente und gut dokumentierte Einführung in das Werk Thomas Manns13 unterstreicht, mit ganz neuen Aspekten des Werks und des Autors auseinandergesetzt. In den jüngsten Mann-Studien zeigt sich die Tendenz zu einer beträchtlichen Ausweitung, sei es der behandelten Themen oder der Methodologie, mit der man das Gesamtwerk in all seinen Aspekten und seinen feinen Nuancierungen angeht. Die Beiträge auf den Kongressen der Thomas-Mann-Gesellschaft, die regelmäßig im »Thomas-Mann-Jahrbuch« veröffentlichten Artikel und zahlreiche weitere Aufsätze legen beredtes Zeugnis dafür ab.14 Das Werk Manns wird ständig neuen Lesarten unterzogen, deren methodisch-analytische Ansatzpunkte weit über den Horizont der traditionellen Kritik hinausreichen. Die jüngste Kritik bevorzugt ungewöhnliche Themen, die von den Geschlechterdifferenzen bis zur Soziologie des menschlichen Körpers und dessen spezifischer Darstellung reichen; sie sieht die nicht ganz eindeutige Beziehung zum Judentum in einem neuen Licht, untersucht das Verhältnis zu den Natur- und Wirtschaftswissenschaften sowie zu den Kommunikationsmitteln der modernen Gesellschaft (Fotografie, Rundfunk, Journalismus) und beschäftigt sich mit weiteren, bisher noch nicht ausreichend vertieften Themen.15

13 Schöll, Einführung in das Werk Thomas Manns. 14 Vgl. die von Lorenzo Mirabelli zusammengestellte Bibliographie, Centotre anni di bibliografia in lingua italiana su Thomas Mann (1908–2011), Rom, Istituto Italiano di Studi Germanici 2012. 15 Das kürzlich erschienene Buch von Alke Brockmeier, Die Rezeption französischer Literatur bei Thomas Mann. Von den Anfängen bis 1914, Würzburg, Königshausen & Neumann 2013, schildert das komplexe und schwierige Verhältnis von Mann zu der französischen Literatur ex novo. Vgl. dazu auch die treffenden Bemerkungen von Yves Chevrel, D8cadence, Naturalisme – et Romanticisme? De la fortune des Rougon / Verfall einer Familie, in »Ptudes Germaniques«, 61 (2006), 3, S. 417–432.

18

Thomas Mann im literarischen Feld des ausgehenden 19. Jahrhunderts

Traditionell stand die Lektüre und Interpretation der Mann’schen Werke, und das schon zu Lebzeiten des Autors, im Großen und Ganzen unter dem Einfluss der »Selbststilisierung Thomas Manns«,16 wie sie gemeinhin genannt wird, d. h. der Art und Weise, wie er sich strategisch geschickt dem Publikum und der Kritik darzustellen pflegte. Ziel dieses Kapitels ist es, die Züge, die traditionsgemäß als »natürliche, eingeborene Eigenschaften« des Autors galten, einer soziokritischen Analyse zu unterziehen und gleichzeitig herauszuarbeiten, inwieweit die Entscheidungen, die Mann in der Zeit unmittelbar vor der Veröffentlichung und dem Erfolg von Buddenbrooks für sich trifft, im Zusammenhang mit einer konkreten Behauptungsstrategie im literarischen Feld zu sehen sind. Manche seiner Eigenschaften und Besonderheiten werden heute in bestimmten Forschungskreisen neu interpretiert (etwa seine Beziehung zur französischen Literatur),17 auch weil es an der Zeit ist, neue Diskurse in die Germanistik einzubringen und den Positionierungsstrategien der Neuankömmlinge Raum zu geben.18 Dieser kritische Ansatz bezieht sich in vielerlei Hinsicht auf die Literatursoziologie von Pierre Bourdieu, der die Betonung auf neuere Themen legt, etwa auf das Verständnis der sozialen Genese des literarischen Feldes, die Glaubensüberzeugung, auf die dieses sich stützt, das Spiel der Sprache, das sich darin entwickelt, und die materiellen und symbolischen Herausforderungen, die daraus entstehen. Das bedeutet nicht, und es ist auch nicht im Sinne Bourdieus, dass die literarische Erfahrung als solche reduziert oder zerstört oder dass die Einzigartigkeit des Autors geleugnet werden würde. Der Verzicht auf den Glauben an das Unstofflich-Vergeistigte des reinen Interesses für die reine Form ist der Preis, der zu zahlen ist für das Verständnis der Logik jener gesellschaftlichen Welten, denen es vermittels der sozialen Alchemie ihrer historischen Funktionsgesetze gelingt, aus dem häufig erbarmungslosen Zusammenprall der besonderen Leidenschaften und Interessen die sublimierte Essenz des Universellen zu destillieren; ist der Preis für eine wahrere und tatsächlich auch beruhigendere, weil weniger übermenschliche Sicht der höchsten Errungenschaften des menschlichen Tuns.19

Der Kunstsoziologe Bourdieu will mit dem Idealismus der literarischen Verklärung und dem idealistisch verstandenen Kunstwerk brechen, indem er durch 16 Schöll, Einführung in das Werk Thomas Manns, S. 10. 17 Vgl. Alke Brockmeier, Les Buddenbrook de Thomas Mann: une lecture des Rougon-Macquart, in »Les Cahiers naturalistes«, 56 (2010), 84, S. 241–254. 18 Zu einer ausführlichen Untersuchung des Versuchs, neue literaturtheoretische Methoden zu Thomas Manns Werk zu erarbeiten, vgl. Tim Lörke und Christian Müller (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Theorie für die Lektüre. Das Werk Thomas Manns im Lichte neuer Literaturtheorien, Würzburg, Königshausen & Neumann 2006. 19 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, Genese und Struktur des literarischen Feldes, S. 16.

Das erneute Interesse am Werk Thomas Manns

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einen Prozess der Rekonstruktion des Raums, in dem der Autor wirkt und »gewirkt wird«, die Verhältnisse aufdeckt, die das Werk begreiflich, besser erkennbar und wiedererkennbar machen. Am Ende, so Bourdieu, hat in jedem Fall der Leser das letzte Wort: Tatsächlich ist es am Leser, darüber zu entscheiden, ob es stimmt, dass – wie ich es (aufgrund eigener Erfahrungen) glaube – die wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion und Rezeption des Kunstwerks die literarische Erfahrung keineswegs reduziert und destruiert, sondern vielmehr noch steigert: wie anhand von Flaubert zu sehen sein wird, hebt sie zunächst die Einzigartigkeit des »Schöpfers« zugunsten der sie gedanklich nachvollziehbar machenden Beziehungen nur dem Anschein nach auf, um sie am Ende der Rekonstruktion des Raums, dem der Autor als konkreter Schnittpunkt angehört, um so eindrucksvoller wiederzufinden. Diesen Punkt des literarischen Raums zu kennen, der auch der Punkt ist, von dem aus sich ein singulärer Standpunkt gegenüber diesem Raum, eine Perspektive auf ihn ausbildet, versetzt in die Lage, durch mentale Identifikation mit einer konstruierten Position die Besonderheit dieser Position und desjenigen der sie annimmt, wie auch die außergewöhnliche Anstrengung zu verstehen und sinnlich zu erfassen, die – zumindest im Fall Flaubert – notwendig war, um sie existent werden zu lassen.20

Dieser neue methodologische Ansatz verschiebt den Fokus der kritischen Analyse von dem, was Bourdieu als die »monumentalisierten«, hagiographischen und »sakralisierten«21 Aspekte des Kunstwerks bezeichnet (Einzigartigkeit, Unergründlichkeit, Transzendenz, Ausnahmecharakter des Meisterwerks usw.), auf die spezifischen Entscheidungen und auf das Interesse,22 in unserem Fall auf Manns Interesse, an der Konzeption einer konkreten Strategie zur Besetzung des literarischen Feldes seiner Zeit. Und gerade ein Autor wie Thomas Mann hinterlässt wie der kleine Däumling im Walde zahlreiche Anhaltspunkte für seine Positionierungsstrategie: Mithilfe der vielen »Spuren der Selbststilisierung«23 können die Philologen gut nachvollziehen, welchen Weg er uns damals zeigen wollte und wie wir heute, diesen 20 Ebd., S. 14. 21 In Bourdieus Werken zur Literatur und zur Kunst wird stets die Notwendigkeit hervorgehoben, die wichtigsten Aspekte der literarischen Produktion (Kanon, Gattungen, Formen und Stilrichtungen) nach Epochen, Orten und Momenten, in denen sich die Trajektorie eines Autors innerhalb der sozialen Welt konkret verwirklicht, zu »entweihen« und zu »entfatalisieren«. 22 Es sei angemerkt, dass der Begriff »Interesse« bei Bourdieu eine andere Bedeutung hat, als bei den Wirtschaftswissenschaftlern. Für ihn bedeutet er Einbeziehung, d. h. Absicht, in das Spiel einzugreifen. Er benutzt auch den Begriff illusio und versteht diesen ähnlich wie den Freud’schen Begriff der libido. 23 Hans Wibkirchen, Zu einigen Tendenzen der Thomas Mann-Forschung 1955–2005, in Das zweite Leben – Thomas Mann 1955–2005. Das Magazin zur Ausstellung, Kulturstiftung Hansestadt Lübeck (Hrsg.), Lübeck 2005, S. 22–25, hier S. 23.

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Thomas Mann im literarischen Feld des ausgehenden 19. Jahrhunderts

Spuren folgend, seinen Versuch, sich innerhalb des »außertextuellen«24 Kontextes des literarischen Feldes seiner Zeit zu positionieren, beurteilen können. Das erneute Interesse am Werk von Thomas Mann ist auch den teilweise schon erwähnten Einrichtungen zu verdanken, die das mit seiner Person verbundene »symbolische Kapital« verwalten und die oft mit großer Weitsicht neue Forschungsansätze, insbesondere aus anderen geistes- und naturwissenschaftlichen Bereichen, gefördert haben und noch fördern. Von herausragender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Neuausgabe seiner Werke, die Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA), die dem Leser seit dem Jahr 2000 die Schriften Manns, versehen mit einem hervorragenden, umfangreichen Kommentar, zur Verfügung stellt. Diese Ausgabe enthält auch gewissenhaft recherchierte, ausführliche Informationen zu den Vorarbeiten und zum allgemeinen Kontext, in dem die Texte entstanden sind. Der wissenschaftliche Apparat erleichtert es sowohl dem Leser als auch dem Kritiker, die Motivationen nachzuvollziehen, die zur »Autogenese« einer Persönlichkeit geführt haben, so wie Mann sie geschickt konstruiert und über die Jahrzehnte bis zu seinem Tod (1955) verkörpert hat. Die von mir vorgeschlagene Lesart, die sich mit Absicht auf die Zeitspanne der Entstehung und Veröffentlichung von Buddenbrooks und die unmittelbar darauf folgenden Jahre beschränkt, soll zeigen, wie Mann seine bewusste Strategie zur Selbstbehauptung im literarischen Feld und Raum seiner Zeit entwickelte. Ich gehe dabei von der These aus, dass er den Kampf um die Hegemonie im literarischen Feld nicht als passiver Einzelgänger beobachtet hat, wie es das Klischee seiner Selbstdarstellung will, sondern dass er im Gegenteil in den Kampf eingreifen wollte, wenn auch mit anderen Waffen als seine Zeitgenossen. Aufschlussreich ist diesbezüglich ein Vortrag von 1950 (im Folgenden als Chicago-Vortrag zitiert): Wenn ich zurückdenke – ich war nie modisch, habe nie das makabre Narrenkleid des Fin de siHcle getragen, nie den Ehrgeiz gekannt, literarisch / la tÞte und auf der Höhe des Tages zu sein, nie einer Schule oder Koterie angehört, die gerade obenauf war, weder der naturalistischen, noch der neu-romantischen, neu-klassischen, symbolistischen, expressionistischen, oder wie sie nun hießen. Ich bin darum auch nie von einer Schule getragen, von Literaten selten gelobt worden. Sie sahen einen »Bürger« in mir – nicht zu Unrecht, denn aus einem Instinkt, der bis ins Bewußtsein reichte, hielt ich fest an der mir eingeborenen bürgerlichen Überlieferung, dem Bildungsgut des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem sich in mir ein ausgesprochener Sinn für Größe verband.25 24 Mit Text und Kontext befasst sich die Online-Zeitschrift »COnTEXTES«. URL: https://jour nals.openedition.org/contextes/. 25 Thomas Mann, Meine Zeit, in Über mich selbst. Autobiographische Schriften, Frankfurt/M., Fischer 2010, 6. Auflage, S. 5–27, hier S. 14 (Vortrag vom 22. April 1950 an der Universität Chicago).

Das erneute Interesse am Werk Thomas Manns

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Als Mann 1950 diese Betrachtungen niederschreibt und den Studenten der Universität Chicago vorträgt, war er bereits auf dem Gipfel seines Welterfolges angelangt. Sie dienen ihm im Abstand von einigen Jahrzehnten zu einer Definition oder Neudefinition dessen, was seine Position als junger Schriftsteller innerhalb des damaligen literarischen Feldes gewesen war. Das Bild, das er von sich selbst geben will, ist das eines zurückgezogenen Autors, der nicht dem Zeitgeist hinterherläuft, wie es dagegen die Schriftsteller des Naturalismus und der späteren Literaturströmungen tun, die damals um Raum und Hegemonie gekämpft haben. Mann gibt sich als Autor, der »über der Menge steht«, und schreibt die ästhetischen, thematischen und formalen Entscheidungen seiner Literaturpraktiken dem Umstand zu, dass er immer ein abseits stehender, cliquenloser, keiner Gruppierung angehörender »Bürger« war. Doch gerade diese Eigenschaft geht bei ihm mit dem Besitz von »Bildungsgut« einher (ein Begriff, der in die Sprache Bourdieus übersetzt »kulturelles Kapital« heißt), welches sich wiederum mit einem »ausgesprochenen Sinn für Größe« paart. Diese Selbstdarstellung legt nahe, dass Mann danach strebt, sich das Image einer gehobenen und zurückhaltenden Figur zuzulegen, das ihm auch durch die exklusive Aneignung bestimmter Kultur- und Symbolgüter im literarischen Feld seiner Zeit einen »Distinktionsprofit« garantieren sollte. Das Profil, das er von sich selbst zeichnet, soll dem Leser vermitteln, dass er seltene, einzigartige innere Eigenschaften besitzt, aus denen sich die Behauptung seines Werks ableitet. Mann beansprucht damit, im Besitz angeborener Dispositionen und Fähigkeiten zu sein, die nur wenigen vergönnt sind. Dazu gehört der Zugang zu Mechanismen, sich »kulturelles Kapital« anzueignen, die nicht allen zugänglich sind und im Spiel um die Vorherrschaft im literarischen Feld als wirksame Waffe eingesetzt werden können. Auf diese Weise kommt er dem Geschmack eines Publikums entgegen, das im labyrinthischen Feld der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende das Bedürfnis hat, sich mit einem Autor zu identifizieren, der auf den Spuren der Tradition und der überkommenen Werte wandelt (das Bildungsgut ist das Erbe des Bildungsbürgertums, also des Bürgertums, das über Bildung und Besitz verfügt) und damit dem Leser erlaubt, sich ebenso – im Zeichen einer gemeinsamen »Distinktion« – zu definieren. Dies ist also die Position, die Mann einnimmt. Doch in welchem Kontext? Welches sind die anderen Positionen im Feld? Wer waren seine Konkurrenten, die eine Avantgarde darstellen wollten, indem sie sich der einen oder anderen Bewegung oder Schule anschlossen? Welche Möglichkeiten hatte er, von einer Neuverteilung des kulturellen und symbolischen Kapitals zu profitieren? Um diese Fragen zu beantworten, muss man die von Mann im literarischen Feld seiner Zeit eingenommene und hochstilisierte Position untersuchen. Die Einzigartigkeit und Originalität, die er dabei für sich beansprucht, lassen sich in einen theoretischen Rahmen einordnen, den Bourdieu mit dem Diktum »Alles

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ist sozial« auf eine Formel bringt. Damit will Bourdieu erhärten, dass die Geschichte und die Gesellschaft in unseren Köpfen wie in unserem Handeln durch bestimmte Prozesse und Dispositionen verankert sind. In seinem Essay Pour une science des œuvres26 erklärt er, dass das Soziale in der Literatur, mehr noch als das Sexuelle, heute als tabu gilt, weil die Literatur es übelnimmt, wenn ihre geheimen Funktionsweisen aufgedeckt werden. Vom Sozialen auszugehen bedeutet folglich, sämtliche Begriffe und Praktiken, die die sozialen und materiellen Bedingungen der Literatur und der persönlichen Beziehungen des Schriftstellers in Vergessenheit geraten lassen, zu entmystifizieren. Ein solcher Ansatz darf jedoch nicht deterministisch angewandt werden, man muss vielmehr schrittweise vorgehen. Wenn Mann seine Position im literarischen Raum seiner Zeit definiert und sich dabei auf den »ausgesprochenen Sinn für Größe« und seine anderen oben zitierten Eigenschaften beruft, dann geht mein kritischer Vorschlag in die Richtung, seine Positionierungsstrategie nach der Logik des »praktischen Sinns«27 zu analysieren, also nach der Logik eines erworbenen modus operandi, einer Spielstrategie, aus der sich, so wie ich es sehe, einige konkrete Entscheidungen des Autors ableiten lassen: Aufgrund des »praktischen Sinns« existiert der Text als Produkt im Feld der Literaturpraxis seiner Zeit, und zwar in Folge der Entscheidungen, die der Autor unter den ihm im »Raum des Möglichen« zur Verfügung stehenden Optionen getroffen hat. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die historischen Bedingungen, unter denen der junge Thomas Mann, ein noch nicht etablierter Schriftsteller, ab 1897 seinen Roman entwirft, das Manuskript verfasst und die Strategie seines Eintritts, seiner Präsenz und seiner Behauptung auf dem literarischen Markt erarbeitet, in großen Zügen zu rekonstruieren. Das Endergebnis seiner geschickten Steuerung heterogener Positionierungen sollte bekanntlich der nationale und internationale Erfolg eines großen Romans, Buddenbrooks, sein, der, 1901 erschienen, Mann 1929 den Nobelpreis einbrachte. Dies bedeutet in erster Linie, das Spielfeld, auf dem der Schriftsteller agiert, zu rekonstruieren und dessen Regeln, die Qualität der anderen Spieler und den Spieleinsatz zu erfassen. In diesem Zusammenhang kommt den im ChicagoVortrag geäußerten autobiographischen Betrachtungen eine Bedeutung zu, die von Manns anfänglichen Vorstellungen abweicht. Bei genauerem Hinsehen fällt nämlich auf, dass sich Mann durchaus nicht dem Spiel und den Spielregeln auf dem literarischen Feld seiner Zeit entzieht, sondern dass er beschließt, in das Spiel einzusteigen und aus den Karten, die ihm zur Verfügung stehen, diejenigen 26 Pierre Bourdieu, Pour une science des œuvres, in »Art Press«, Sp8cial 20 ans, novembre 1992, S. 124–129, hier S. 125. 27 S. dazu Praktischer Sinn, in Bourdieu-Handbuch: Leben –Werk –Wirkung, Gerhard Frölich u. Boike Rehbein (Hrsg.), Stuttgart/Weimar, Metzler 2014, S. 193–196.

Das erneute Interesse am Werk Thomas Manns

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auszuspielen, die ihm am vielversprechendsten erscheinen. Im Spiel zieht er zunächst die Karte seines Habitus, nämlich die Gesamtheit von dauerhaft und bleibend erworbenen Qualitäten, wozu das Image seiner Familie, sein soziales Umfeld und seine Schulbildung gehören. Zu anderen Zeiten hätte die positivistische Kritik einfach behauptet, der Autor sei »ein Produkt seines Umfeldes«. In Bourdieus Sozialpraxis und -theorie deckt sich der Begriff des Umfeldes jedoch nicht mehr mit dem des Milieus, einer Kategorie, die sowohl von der französischen (Hippolyte Taine) als auch von der deutschen (Wilhelm Scherer) positivistischen Kritik streng deterministisch aufgefasst wurde. In Bourdieus Sichtweise der Sozialwelt und ihrer Auswirkungen wird stattdessen das Moment der Selbstreflexion des erkennenden Subjekts aufgewertet: »Verstehen heißt zunächst das Feld zu verstehen, mit dem und gegen das man sich entwickelt.«28 Gerade um die Tücken des positivistischen Milieuverständnisses zu überwinden, entwickelt Bourdieu den Begriff des »Feldes« als Antithese gegen jede Art von Mechanizismus, sei er nun positivistisch, marxistisch oder strukturalistisch geprägt. Mit seiner Analyse der Komplexität der modernen Sozialwelt, die ja aus einem langwierigen Differenzierungsprozess hervorgeht, macht Bourdieu eine Reihe von Mikrokosmen aus – die Felder (das religiöse, das philosophische, das literarische Feld usw.) –, die jeweils spezifische Eigenschaften und Interessen besitzen. Jeder Teil des sozialen Raums, der als Feld bezeichnet wird, ist dabei relativ autonom. Das literarische Feld, das uns hier am wichtigsten ist, wird daher als ein Kräftefeld gesehen, das sich durch den Impuls der neu Hinzukommenden ständig verändert. Die besonderen Merkmale und die dort herrschenden Spielregeln erlauben es nicht, aufgrund der Ausgangsbedingungen ein Ergebnis vorauszusehen. Das steht im Gegensatz zur positivistischen Kritik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die behauptete, die von Taine postulierten drei Elemente »race, milieu, moment«, die in Scherers deutscher Version »Ererbtes, Erlebtes, Erlerntes« genannt wurden, könnten die Eigenschaften und Erfolge der Autoren und ihrer Werke vorherbestimmen. Die in dem von Bourdieu umrissenen Kräftefeld realisierbaren Varianten sind dagegen unvorhersehbar und fast unendlich zahlreich. Die Aufgabe des Wissenschaftlers, der sich mit dieser neuen »Wissenschaft der literarischen Werke« befasst, ist es, zu untersuchen, wie, zu welchem Zeitpunkt und an welcher Stelle des Feldes das Werk entsteht. Kurz, er muss »zuerst den professionellen Raum, in dem das Spiel stattfindet und die Art und Weise, wie dieser sich dem Akteur darbietet, also je nach dessen Ressourcen und seinem

28 Pierre Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, übers. v. Stephan Egger, mit einem Nachwort von Franz Schultheis, Frankfurt/M., Suhrkamp 2002, S. 11 (Esquisse pour une auto-analise, Raisons d’agir, Paris 2004).

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Habitus, umreißen«29. Sich mit Bourdieus Instrumenten Thomas Mann zu nähern bedeutet also an erster Stelle, nachzuvollziehen, wie der Autor von Buddenbrooks tatsächlich innerhalb des literarischen Feldes seiner Zeit handelte und dabei alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel nutzte.

2.

Habitus und posture

Wir müssen daher zunächst die räumlichen und zeitlichen Koordinaten sowie die Eigenschaften des Feldes beschreiben, in dem Mann wirkt: Verteilung des Kapitals in all seinen Formen (der ökonomischen, symbolischen, sozialen, kulturellen usw.) unter den Spielern, spezifische Dynamiken, Kräfteverhältnisse zwischen den Dominierenden und den Dominierten (den neu Hinzukommenden) innerhalb des Feldes, Konflikte zwischen Orthodoxen und Häretikern, Bündnisse, Behauptungsstrategien usw. Die Zeitspanne erstreckt sich von dem Augenblick, wo Mann seinen Roman konzipiert (1897), bis zum Jahr 1904, als Die Bilanz der Moderne von Samuel Lublinski erscheint, d. h. die Schrift, die Mann auf nationaler Ebene als Autor eines Epochenwerks konsekriert, womit ein Zeitalter abgeschlossen und ein neues eingeläutet wird: »dieser Roman [Buddenbrooks] ist nicht nur ein Anfang, sondern auch ein Abschluß.«30 Aus methodischen Gründen beschränkt sich die vorliegende Untersuchung nur auf diese kurze Zeitspanne: Wenn man die Position eines Autors innerhalb eines Feldes analysieren will, muss man berücksichtigen, dass die Felder ein Produkt der Geschichte sind, d. h. dass sie autonom sind und einer eigenen Logik folgen. Und gerade als Produkt der Geschichte hat jedes Feld Eigenschaften, die sich innerhalb weniger Jahre verändern können. Außerdem beabsichtige ich mit dieser Arbeit, den Roman Buddenbrooks in seinem Bezugsfeld zu lesen, daher betrachte ich zuerst die Differenzierungsprozesse der verschiedenen Positionen, die dieses bestimmte Feld ausmachen. Anschließend muss untersucht werden, wie sich die Distinktionen innerhalb des Feldes auswirken, d. h. wie die Kräfteverhältnisse und die unterschiedlichen Strategien zu definieren sind, wer die am Spiel beteiligten Akteure sind, welche Instanzen sie vertreten, welche Ziele sie mit welchen Mitteln anstreben, welche Allianzen und Beziehungen sie eingehen, über welche Trümpfe sie wirklich verfügen oder an welchen Gewinn sie glauben. Nur zum Schluss wird man sehen können, auf welche Weise Mann in das literarische Feld seiner Zeit einsteigt. Möglich wird dies mithilfe seiner 29 Anna Boschetti, Nachwort zu Bourdieu, Questa non H un’autobiografia. Elementi per un’autoanalisi, übers. v. Alessandro Serra, Mailand, Feltrinelli 2005, S. 110. 30 Samuel Lublinski, Die Bilanz der Moderne, Gotthart Wunberg (Hrsg.), Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1974, S. 227 (Reprint des Originals, Berlin 1904).

Habitus und posture

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zahlreichen Stellungnahmen, sowohl während der Arbeit an Buddenbrooks als auch unmittelbar nach der Veröffentlichung. Aus diesen geht klar hervor, wieviel Aufmerksamkeit er dem literarischen und relationalen Kontext schenkt, in den sein Buch sich einfügt, wie er die Merkmale des Raums, in dem es gelesen wird, und die Rezeption von Seiten der Kritik, auch der Presse, verfolgt, weil all das ihm erlaubt, sich im literarischen Feld besser darzustellen und eine rentablere Position einzunehmen. Mann verfügt über einen bestimmten Habitus, um sein Ziel zu erreichen, und er erarbeitet sich schon früh eine Autoren-posture. Beide Begriffe sind besonders bei einem Autor wie ihm von größter Bedeutung. Der Begriff des Habitus beschreibt nach Bourdieu: Systeme von dauerhaften Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv »geregelt« und »regelmäßig« sein können […].31

Der Habitus bedeutet also eine dauerhaft verwurzelte Disposition, die es den Akteuren und Spielern ermöglicht, mitzuspielen, ihre Entscheidungen zu treffen und zu begründen. Ein solcher Habitus befindet sich im Kopf wie im Körper der verschiedenen Akteure und wird nicht in Verbindung mit bestimmten Existenzbedingungen, sondern als »naturalisiert« wahrgenommen. Der Begriff des Habitus ist eng mit dem des Feldes verbunden, und er zielt darauf ab, Eigenschaften auszumachen, mit denen sich verschiedene soziale Stellungen und die damit jeweils verbundenen Praktiken unterscheiden lassen. Der Habitus wirkt wie eine zweite Natur und lässt uns manche Aspekte des Soziallebens als »natürlich« erscheinen, die in Wirklichkeit das Produkt der Geschichte sind. Die verschiedenen Habitus und ihre Auswirkungen sind als Produkte einer Sozialisierung und einer ständigen bleibenden Erziehung nicht unbedingt irreversibel, neigen aber dazu, dauerhaft und unauslöschlich zu sein. Auf die Beständigkeit des Habitus werde ich an der Stelle zurückkommen, an der ich einige Figuren aus Buddenbrooks näher untersuche. Neben den Begriffen des Feldes und des Habitus erscheint es mir sinnvoll, hier eine weitere analytische Kategorie einzuführen, auf die in jüngster Zeit ein Teil der Literatursoziologie rekurriert, um das Verhältnis zwischen literarischem Feld und Habitus besser herauszuarbeiten: den Begriff der posture. Mit dem

31 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übers. v. Cordula Pialoux u. Bernd Schwibs, Frankfurt/M., Suhrkamp 1979, S. 165 (Originalausgabe: Esquisse d’une th8orie de la pratique, pr8c8d8 de trois 8tudes d’ethhnologie kabyle, Genf, Droz 1972).

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Thomas Mann im literarischen Feld des ausgehenden 19. Jahrhunderts

Ausdruck »posture eines Autors«32 soll die individuelle Art und Weise angegeben werden, in der ein Autor eine bestimmte Position im literarischen Feld seiner Zeit besetzt: Es handelt sich also um eine persönliche Art, eine Rolle oder einen Status anzunehmen bzw. innezuhaben: ein Autor erspielt oder erstreitet seine Position im literarischen Feld über verschiedene Modi der Darstellung seiner selbst und seiner postures.33

Der Unterschied zwischen posture und Habitus mag unbedeutend erscheinen, tatsächlich hat Bourdieu selbst bei seinen Untersuchungen nicht allzu sehr darauf geachtet und Begriffe wie Haltung, Position, Disposition, Stellungnahme, Einstellung, körperliche Hexis je nach Situation und Kontext fast als Synonyme verwendet. Aber wenn der Habitus die soziale Position eines Akteurs und seine erworbene, folglich unbewusste Sozialpraxis definiert, so stellt die posture die individuelle Art, eine Position im Literaturfeld zu verhandeln, dar. Dieses subjektive Verhalten ist an eine Selbstdarstellung des Autors gebunden, die dieser in dem Moment, wo er auf das Literaturspiel setzt, öffentlich machen und als zusätzliches Mittel benutzen will, um ein bestimmtes Image von sich wiederzugeben. Es ist nicht gesagt, dass das Einnehmen einer bestimmten posture alle Schriftsteller betrifft: Möglicherweise ist dieser Wille zur Selbstdarstellung kein universales Phänomen, auch wenn ein gewisser Hang zur Selbstdarstellung Schriftstellern und Künstlern seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemein ist. Mit dem Beginn des Medienzeitalters und mit den ersten Anzeichen einer Massenkultur und neuer Journalismusformen verwandelt sich die ehemals isolierte Figur des Autors allmählich in eine literarische Berühmtheit, die in der Öffentlichkeit angepriesen wird. Insbesondere sollte es gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Fotografie sein, die Bilder und Darstellungen in einer durchaus konstruierten und subjektiven Perspektive reproduziert, die vor allem durch die zahlreichen Zeitschriften, wo immer mehr Fotos von Schriftstellern, Dichtern und Künstlern zu sehen sind, Verbreitung findet. Man denke beispielsweise an das Foto von Andr8 Gide, der sich verewigen lässt, während er den Kongo hochfährt und dabei Bossuet liest. Aber außer Gide waren viele seiner Zeitgenossen, z. B. Autoren wie Marcel Proust und Henry James, sehr darauf bedacht, ein bestimmtes, stark individualisiertes Bild, sei es nun fotografisch oder verbal, von sich zu zeigen. 32 Alain Viala, Pl8ments de sociopo8tique, in Approches de la r8ception, s8miostylistique et sociopo8tique de le Cl8zio, Georges Molini8 u. Alain Viala (Hrsg.), Paris, PUF 1993, S. 137– 297. 33 Jerime Meizoz, Die posture und das literarische Feld, in Text und Feld, Markus Joch et al. (Hrsg.), Tübingen, Max Niemeyer Verlag 2005, S. 177–188, hier S. 177. Vgl. auch die Sonderausgabe von »COnTEXTES« La posture. GenHse, usages et limites d’un concept, 8 (2011), https://journals.openedition.org/contextes/4692 (zuletzt aufgerufen am 8. Juli 2019).

Das literarische Feld der 1880er Jahre

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Der Begriff der posture eines Autors setzt somit eine diskursive sowie eine kontext- und verhaltensbezogene Dimension voraus.34 Erstere betrifft die Korrespondenz, die Tagebücher, die Memoiren, die Autobiographien und alle weiteren Texte, in denen der Autor öffentlich Stellung bezieht und aus denen man Elemente seiner Figur oder seiner Person herauslesen kann. Die zweite (der Look, die Art, sich zu zeigen, zu sprechen, öffentlich aufzutreten) gewinnt, wie gesagt, eine besondere Bedeutung durch die Mediatisierung der Literatur und die wachsende Kulturindustrie, vor allem durch den zunehmenden Einfluss des Journalismus. Kurz, die posture bezeichnet das Streben eines Autors nach Distinktion in einem bestimmten Feld oder gegenüber dem Publikum. Und zweifelsohne war Thomas Mann wie kaum ein anderer darauf aus, durch eine ständige Inszenierung seiner selbst in das literarische Feld seiner Zeit Einzug zu halten.35 Ich habe sehr synthetisch die Begriffe Feld, Habitus und posture eingeführt, weil sie es mir ermöglichen, Mann und seinen Roman in den literarischen Raum der Zeit einzuordnen. Nun geht es darum zu verstehen, wie sich dieses Feld gestaltet, welche Kräfte hier am Werk sind, welche Beziehungen zwischen den von den Akteuren angewandten Strategien bestehen oder mit welchen Interessen und »Investitionen« sich Mann auseinanderzusetzen hat.

3.

Das literarische Feld der 1880er Jahre

Das auffallendste Phänomen im literarischen Feld des 1871 gegründeten Deutschen Reichs ist die gehäufte Ansammlung junger Schriftsteller in Berlin, der Hauptstadt des neu gegründeten Reichs. Die preußische Metropole wird damals aus verschiedenen Gründen (darunter die schnelle Urbanisierung, die Industrialisierung, ein sich dynamisch ausbreitender Kulturraum mit dementsprechender Neuverteilung des Kapitals in all seinen Formen) schnell zum Anziehungspunkt für die junge Generation der Autoren, die sich auf den Naturalismus beruft. In Kürze gewinnt der Berliner Naturalismus mit seiner krassen realistischen, dramatischen Darstellung der sozialen Konflikte und des Großstadtle34 Der Verhaltensdimension der posture entspricht weitgehend das, was Bourdieu »körperliche Hexis« nennt, d. h., die erworbene Art, sich zu verhalten, zu sprechen, aber auch zu denken und zu fühlen. Der Habitus ist die Inkorporierung eines Nomos, eines bestimmenden und unterscheidenden Prinzips der sozialen Ordnung, während die Hexis eine individuelle Art ist, mit dem Körper umzugehen, ein posturales Schema. 35 Vgl. Heinrich Detering, Der Litterat. Inszenierung stigmatisierter Autorschaft im Frühwerk Thomas Manns, in Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Michael Ansel, HansEdwin Friedrich u. Gerhard Lauer (Hrsg.), Berlin/New York, Walter de Gruyter 2009, S. 191– 206.

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bens seine eigene Physiognomie. Diese Darstellung weist allerdings in der Form und im Stil Unterschiede auf, wie Arno Holz und Johannes Schlaf, Gerhart Hauptmann, Max Halbe, Wilhelm Bölsche, Richard Dehmel, Heinrich und Julius Hart, Hermann Conradi, Leo Sudermann, Max Kretzer, Leo Berg, Otto Julius Bierbaum, Otto Brahm und viele andere beweisen. Der Berliner Naturalismus bildet ein Feld, auf dem sich lebhafte, oft chaotische und widersprüchliche Kräfte messen: Einerseits haben diese Autoren das Bedürfnis, Phänomene wie die rapide Urbanisierung, die dramatische Zuspitzung der sozialen Konflikte, den Vormarsch der Arbeiterbewegung, das Entstehen eines neuen Soziallebens und neuer Lebensstile im Herzen der Metropole in die künstlerische Darstellung einzubeziehen, andererseits erliegen sie auch dem Reiz der national-patriotischen Ideologien und lassen sich von der an Nietzsche angelehnten Kritik der Massenkultur aus »sozial-aristokratischer« Perspektive (der Begriff wurde von Arno Holz geprägt) beeinflussen. Dieses wirre und widersprüchliche Kräftefeld wird gewöhnlich nur dann positiv beurteilt, wenn es als Vorbereitungsphase der folgenden bedeutenderen und besser kanonisierbaren Bewegungen gesehen wird. Bis heute weckt die Berliner Variante des Naturalismus (aber nicht nur diese) kein besonders großes Interesse in der symbolischen Ökonomie der Literaturforschung.36 Ganz anders und ausgeglichener stellt sich die Situation in der bayerischen Hauptstadt dar, die sicherlich im Vergleich zu Berlin weniger attraktiv ist und der jungen deutschen Schriftstellergeneration weniger Chancen zu bieten scheint. Die Münchener Szene war in den 1880er Jahren von dem Schriftsteller Michael Georg Conrad dominiert, einem brillanten Polemiker und bedeutenden Vertreter der neuen modernen Literatur des Naturalismus. Conrad, der heute – wie die meisten Vertreter dieser Strömung, mit Ausnahme vielleicht von Gerhart Hauptmann – fast vergessen ist, war damals in Deutschland einer ihrer streitbarsten Theoretiker. Die äußerst heterogene, in verschiedene Richtungen und Tendenzen aufgespaltene Bewegung, die sich nicht einmal in den ihre Kunst betreffenden Grundsatzfragen einig war (Themenwahl, Wiedergabe der Realität, Verhältnis zur Politik und zu den Kräften, die sich um die Veränderung der Gesellschaft bemühen), hatte allerdings einen gemeinsamen Ausgangspunkt: das konkrete Bedürfnis, die deutsche Literatur den Ansprüchen der »Moderne«37 anzupassen, wobei es sich um einen unscharfen, auch theoretisch schwer definierbaren Begriff handelt. Es gibt eine Fülle von literarischen Manifesten,

36 Vgl. dazu Wolfgang Bunzel, Einführung in die Literatur des Naturalismus, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, S. 15. 37 Zu den zahlreichen Nuancen des Begriffs »Moderne um 1900« siehe Peter Sprengel u. Gregor Streim, Berliner und Wiener Moderne, Wien/Köln/Weimar, Böhlau 1998.

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Aufrufen und Abhandlungen, die auf verschiedene Art versuchen, das »Moderne« oder die »Moderne« des Naturalismus zu definieren.38 Aus diesem mare magnum39, dem weiten Meer mit Strömungen und Gegenströmungen, ist eine Stimme deutlich herauszuhören: Conrad, der für die Literatur »das französische Modell« einfordert. An der französischen Literatur werden besonders das hohe Niveau und ihre Fähigkeit zur wissenschaftlichen Darstellung der Realität bewundert, die vor allem bei Zola beispielhaft zum Ausdruck kommt. Conrad verbreitet seine Ideen zur Erneuerung der deutschen Literatur durch die Rezeption des französischen Naturalismus von Zola über die Zeitschrift »Die Gesellschaft«, die bald schon zum Mittelpunkt der Münchener Literaturszene wird. Es ist aber nicht nur Conrads Verdienst, dass Zola in Deutschland bekannt wird, sondern er vertritt auch eine eigene Position, die sich ein Stück weit vom sozialen Engagement seiner Freunde und naturalistischen Mitstreiter absetzt, wenn auch der Name seiner Zeitschrift, »Die Gesellschaft«, dem Zeitgeist verpflichtet ist, der eine gewisse Aufmerksamkeit und Anteilnahme an der »sozialen Frage« verlangt. Auf theoretischer Ebene vertritt Conrad die Auffassung, dass die deutsche Literatur, wenn sie wirklich modern, also auf der Höhe der großen Zeit nach der Gründung des Deutschen Reichs, sein will, auf Elemente setzen muss, die von den anderen Naturalisten vernachlässigt werden, etwa auf eine starke Persönlichkeit, der es gelingt, die kennzeichnenden Merkmale der Nationalkultur mit der »Größe des Genies«40 zu verbinden. Conrad erhofft sich die Verwirklichung eines Literaturmodells, das zugleich dem Naturalismus und einem unverfälschten Nationalismus verpflichtet ist. Um ein solches Modell umzusetzen, braucht es, so meint er, Persönlichkeiten, die in der Lage sind, die Größe der Nation (und ihres in einigen beispielhaften Menschentypen verkörperten Geistes) mit der Objektivität der Darstellung zu verknüpfen. Die Beispiele, auf die er sich dabei ausdrücklich beruft, sind Wagner, Nietzsche und Bismarck, die er recht willkürlich mit der außergewöhnlichen Persönlichkeit von Zola vergleicht, den ein anderer großer Theoretiker des Naturalismus, Karl Bleibtreu, nach der Lektüre von Germinal schon als »Naturgewalt« bezeichnet hat, einen wahren »Herkules«41 der Literatur. Zola wird in diesem Kontext also 38 Die umfangreiche publizistische Produktion des deutschen Naturalismus ist Gegenstand der Anthologie Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900, Manfred Brauneck u. Christine Müller (Hrsg.), Stuttgart, Metzler 1987. Siehe auch I manifesti letterari del naturalismo tedesco, Pier Carlo Bontempelli (Hrsg.), Rom, Nuova Arnica Editrice 1990. 39 Das mare magnum, das zur Kennzeichnung des Berliner Literaturraums herangezogen wird, ist das Bild des Ozeans mit seinen Strömungen, die in verschiedenen Richtungen verlaufen: siehe Die Stadt als Ozean, in Peter Sprengel u. Gregor Streim, Berliner und Wiener Moderne, S. 305ff. 40 Manifeste und Dokumente, S. 35. 41 Ebd., S. 47.

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für seine Fähigkeit gepriesen, um jeden Preis, mit großer Kohärenz und Entschlossenheit, die Realität darzustellen. Conrads Position lässt sich auf folgende Formel bringen: Er sehnt eine Literatur herbei, die die Eigenschaften von zwei Persönlichkeiten wie Bismarck und Zola vereint, und zwar im größeren Rahmen einer allgemeinen Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. Im Gegensatz zu Conrad teilen die meisten Vertreter des Naturalismus die bedingungslose Verherrlichung der großen Charaktere nicht, weil sie eine allgemeine Abneigung gegen autoritäre und starke Persönlichkeiten hegen. Diese Feindseligkeit ist ganz offensichtlich zum größten Teil auf die Opposition gegen den Reichskanzler Bismarck zurückzuführen, weil dieser sowohl die nationale Einheit durch den Einsatz der preußischen Armee (»mit Feuer und Eisen«) durchgesetzt als auch drakonische Gesetze erlassen hat (das Sozialistengesetz, in Kraft von 1878 bis 1890), um den Vormarsch der sozialistischen Bewegung zu stoppen. Die Mehrheit der Autoren des Naturalismus, vor allem im Berliner Umkreis, hat sich auf die Seite der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen geschlagen, in Auflehnung gegen Bismarck und dessen Versuch, die sozialdemokratische Opposition zum Schweigen zu bringen. Doch abgesehen von den Gegensätzen und Meinungsverschiedenheiten zu den aktuellen oder vergangenen politischen Geschehnissen des wenige Jahre zuvor gegründeten Reichs verbreitet sich in den intellektuellen Kreisen das Bewusstsein, dass mit dem neuen Reich endlich auch ein gemeinsames literarisches Feld entstanden ist. Es gibt nun einen einheitlichen Raum, in dem es möglich ist, die eigenen literarischen und künstlerischen Ansprüche zu behaupten. In ihrer Studie Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 187142 hat Christine Magerski überzeugend dargelegt, dass die Entstehung eines gemeinsamen literarischen Feldes auch in Deutschland den typischen Mechanismus der Literaturavantgarden ausgelöst hat, den sich die Naturalisten als Erste klug zunutze machten. Einerseits verbreitet sich dadurch auch in Deutschland die konkrete Möglichkeit, große Teile des (ökonomischen, symbolischen, sozialen und kulturellen) Kapitals in einem immer breiteren und reicheren Raum zu erwerben und neu zu verteilen. Andererseits wird es gerade durch das Aufkommen neuer Möglichkeiten schwieriger, sich zu behaupten, und die Konkurrenz zwischen Etablierten und Newcomern wird härter. Wer neu hinzukommt, muss auf immer radikalere Kampfmethoden gegen die etablierte Ordnung zurückgreifen, um sich durchzusetzen und an der Neuverteilung des Kapitals zu partizipieren. Als Waffen werden neuartige, auch extreme Themen

42 Christine Magerski, Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie, Tübingen, Niemeyer 2004.

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und Formen eingesetzt, sofern sie nur nützlich sind, das gesteckte Ziel zu erreichen. Der Sprache und der Form kommen große Bedeutungen zu, sie sind eine Art geheimer Trumpf, der über den Ausgang des Spiels entscheiden kann. Die Radikalisierung der Sprache betrifft insbesondere die letzte Phase des Naturalismus, den sogenannten konsequenten Naturalismus, und die unmittelbar nachfolgenden Literaturströmungen, die gewöhnlich als Antinaturalismus und Postnaturalismus43 bezeichnet werden. Wichtig ist freilich, dass der Letzteren fast immer Autoren angehören, die bis kurz zuvor noch zum Naturalismus zählen. Aus dem ständigen Schwanken zwischen Gruppierungen, die verschiedenen, oft gegensätzlichen Poetiken anhängen, ergibt sich die Notwendigkeit, die Rolle und die Funktion der Autoren, der Literatur und ihrer Formen im neuen, sich ebenfalls ständig verändernden Kontext neu zu definieren. Innerhalb weniger Jahre sollen nicht mehr nur die Autoren, sondern auch die Kritiker und die Literaturhistoriker über das traditionelle, rein ästhetische Verständnis der Literatur hinausdenken. Die »moderne« Reflexion über die Literatur soll ihren Höhepunkt in Die Bilanz der Moderne (1904) von Samuel Lublinski, dem wahrscheinlich ersten Theoretiker der Literatursoziologie, finden. In den letzten Jahren des Naturalismus bzw. den ersten des Postnaturalismus entwickelt sich im literarischen Feld auf nationaler Ebene eine für die deutsche Kultur relativ neue Literaturgattung: der Roman, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich nicht an eine gehobene Leserschicht wendet – wobei das nicht bedeuten soll, dass er ein Produkt für ein ungebildetes Publikum sei –, sondern sich als das neue Muster einer Unterhaltungsliteratur auf hohem Niveau versteht. Es werden darin Themen, Bilder, Gemeinplätze, Schreibstile und eine Erzähltechnik verwendet, die der Darstellung der sozialen Wirklichkeit gerecht werden. Das Deutsche Reich ist eine Nation, in der sowohl die private als auch die öffentliche Leserschaft schnell und stetig anwächst, auch dank der steigenden Anzahl an Bibliotheken und Leserverbänden. Nach und nach gibt es im ganzen Land eine schnelle Übertragung der Nachrichten, eine kapillare Verbreitung von Zeitungen bzw. Zeitschriften und daraus folgend die Gelegenheit für eine große Leserschaft, sich an den journalistischen Rezensionen zu orientieren.44 Die Gattung Roman kann insofern einen neuen Raum besetzen, als sie 43 Der Begriff Postnaturalismus umfasst bei mir alle literarischen Bewegungen (Impressionismus, Symbolismus usw.), die ab Anfang der 1890er Jahre auf den Naturalismus folgen, wobei einige betont und andere übergangen werden, aber immer mit Bezug, auch ex negativo, auf diese entscheidende Erfahrung fast aller Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts. 44 Siehe Fr8d8ric Barbier, L’Empire du livre. Le livre imprim8 et la construction de l’Allemagne contemporaine (1815–1914), Paris, Les Pditions du Cerf 1995, zum Roman Buddenbrooks vgl. bes. S. 558–571.

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von den neuen Formen der Produktion, der Verbreitung und der Zirkulation profitiert. Und die Romanciers können mit einem beträchtlichen Profit rechnen, wenn sie am Prozess der Neuverteilung des Kapitals teilhaben und zwar in seinen verschiedenen Formen. Das kulturelle Kapital ist »Haben, das Sein geworden ist«, d. h. es ist ein sozialer Zustand, der als die Dispositionsveranlagung des Habitus verinnerlicht ist (Sprachkompetenz, Erwerb von Bildungsabschlüssen bzw. schulisches Kapital, Besitz oder Zugang zu Bibliotheken, Sammlungen usw.). Das soziale Kapital bestimmt die Gesamtheit der Ressourcen, die an ein mehr oder weniger institutionalisiertes System sozialer Beziehungen gebunden sind. Im Fall des literarischen Feldes können das die Zugehörigkeit zu einer literarischen Bewegung, die enge, dauerhafte Bindung an einen Verlag oder einen Kritiker sowie die Anerkennung bestimmter Verknüpfungen auf nationaler und internationaler Ebene sein. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mit dem Deutschen Reich entsteht zum ersten Mal in Deutschland ein breites literarisches Feld, das über alle Formen von Kapital verfügt. Die Schriftstellergeneration des Naturalismus ist, anagrafisch betrachtet, die erste, die versucht, Positionen zu besetzen, indem sie auf eine Weise vorgeht, die kennzeichnend für die literarische Avantgarde ist. Den jungen Autoren des Naturalismus ist völlig bewusst, dass sie sich in einem Raum befinden, in dem ein »Spiel« gespielt wird, das es sich zu spielen lohnt, da es die konkrete Möglichkeit bietet, immer größere und zahlreichere Einsätze zu gewinnen. Um dieses Spiel zu gewinnen, benutzen sie unterschiedlich ausgearbeitete Strategien, die aber alle einen gemeinsamen Nenner haben: Die literarische Produktion der Neueinsteiger (der jungen Naturalisten) stellt sich gegen die traditionelle Literatur, die eine dominierende Position einnimmt. Der gemeinsame Nenner jenseits von verschiedenen politischen Positionen oder der Bevorzugung bestimmter Themen ist die Überzeugung, dass die für alle sichtbare Beschleunigung der historisch-ökonomischen Entwicklung der jungen Generation von Naturalisten die Möglichkeit bietet, einen eigenen Raum zu erobern, indem sie die Literatur, ihre Darstellungsmethoden und die Kommunikationsstrategien revolutionieren. Das Bild der Umwandlung des literarischen Feldes, wie es sich zu diesem Zeitpunkt gestaltet, wäre nicht vollständig, wenn man nicht den Auftritt eines neuen Akteurs erwähnt: der engagierte und innovative Verleger, der sich angesichts der raschen Möglichkeiten einer Neuverteilung des Kapitals auf die Seite der Neueinsteiger stellt. Es handelt sich hierbei vor allem um zwei Persönlichkeiten: Wilhelm Friedrich und Samuel Fischer.45 Ersterer war der Verleger vieler naturalistischer Schriftsteller, der Zeitschrift »Die Gesellschaft« und 45 Das Verlagsmodell Wilhelm Friedrichs und des erfolgreicheren Samuel Fischer ist Gegenstand der Abhandlung von Fr8d8ric Barbier, L’Empire du livre, S. 109ff.

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anderer Verlagsinitiativen, z. B. des »Magazins für die Literatur des In- und Auslandes«. In der »Gesellschaft« veröffentlichte Mann seine erste Erzählung.46 Fischer war der Verleger der »Freien Bühne«, der militanten Zeitschrift in der Konsolidierungsphase des deutschen Naturalismus, der Thomas Mann direkt den Auftrag für einen Roman erteilte, aus dem Buddenbrooks werden sollte.

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Im literarischen Feld bzw. »Unterfeld«47 der bayerischen Hauptstadt, in der der junge Mann aktiv war, lassen sich ästhetische Tendenzen, formale und thematische Präferenzen, Bezüge auf deutsche und internationale Kanons und Modelle ausmachen, die stark durch Michael Georg Conrad beeinflusst waren, der (wie bereits erwähnt) der unbestrittene Protagonist der Münchener Literaturszene war. Conrad, der unter anderem Mitglied einer Freimaurerloge war, hatte sich lange in der Schweiz, in Italien und in Paris aufgehalten. 1876 hatte er in Sorrent Nietzsche kennen gelernt, dessen Ausstrahlung er »wegen seines Denkens und wegen seines Stils«48 sofort erlegen war. Die starke Persönlichkeit des Philosophen und die geniale Subjektivität seines Denkens wurden somit fester Bestandteil von Conrads literarischem Erneuerungsprogramm, das dennoch am naturalistischen Postulat der absoluten und treuen Wiedergabe der Realität festhielt. Conrad, 1846 geboren, also gut zehn Jahre älter als die anderen Naturalisten, hatte dank seiner Reisen und seiner Beziehungen ein beträchtliches kulturelles und soziales Kapital angesammelt, das ihm in den Jahren der »Kritischen Waffengänge«49 zugutekam, die er bei seiner Rückkehr nach München 46 Über den Verleger Friedrich und über seine Funktion in der militanten Literatur der Naturalisten vgl. Pier Carlo Bontempelli, Einleitung zu I manifesti letterari, S. 14–17. 47 Unter Unterfeld verstehe ich einen bestimmten Bereich eines größeren Feldes, das seinerseits mit einer spezifischen Logik und mit eigenen Regeln versehen ist, wie z. B. das Unterfeld der Poesie oder des Theaters im allgemeineren Literaturfeld. Der Begriff Unterfeld kann auch im räumlichen Sinne eingesetzt werden, da München damals Teil eines nationalen Literaturfeldes war, das sich seit wenigen Jahren auf dem Weg der Vereinigung befand. Die Vereinheitlichung des Feldes auf nationaler Ebene war also noch nicht ganz vollendet. Die älteren, positivistischen Literaturgeschichten neigen dazu, die zwei Literaturfelder, das Berliner und das Münchener, deutlich zu unterscheiden, wie etwa Albert Soergels Dichtung und Dichter der Zeit, Leipzig, Voigtländers Verlag 1911. Der erste soziologische Analyseversuch des deutschen Literaturfeldes findet sich in Lublinski (Die Bilanz der Moderne), wie Magerski betont, Die Konstituierung des literarischen Feldes, S. 106ff. 48 Manifeste und Dokumente, S. 35. 49 »Kritische Waffengänge« war der kämpferische Name der Zeitschrift der Brüder Heinrich und Julius Hart, die zu den Kritikern von Zola gehörten, dessen ästhetischen Radikalismus sie beanstandeten. Vgl. Heinrich und Julius Hart, Für und gegen Zola, in »Kritische Waffengänge«, H. 2 (1882), S. 43–55.

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startete, um Anerkennung zu erlangen und einen immer größeren Raum im deutschen Literaturfeld zu erobern.50 Die ausländischen Autoren, die zu seiner Bildung beigesteuert hatten und auf die er sich in seinen Schriften stets bezieht, waren die Verfasser des großen realistischen und naturalistischen Romans, der das ganze 19. Jahrhundert über in Frankreich dominierend war (Balzac, Stendhal, Flaubert, Daudet, Taine, Renan). Dazu gesellten sich die Skandinavier Ibsen und Björnson. Wie die meisten Naturalisten stand Conrad den damals in Deutschland gängigen Literaturformen äußerst kritisch gegenüber. Außerdem war er der Auffassung, dass sich sowohl die Führung des Reichs als auch Bismarck selbst nicht der Bedeutung einer großen, erneuerten Nationalliteratur bewusst waren, sondern überkommene Modelle und tröstliche Traditionen bevorzugten. Für Conrad und andere Autoren seiner Zeit war Frankreich der Bezugspunkt, besonders wegen der namhaften Kulturinstitutionen, die sich dort bilden und weiterentwickeln konnten, weil der Nationalstaat frühzeitig entstanden war, weil ein monarchistischer und später republikanischer Zentralismus herrschte und weil es eine Kulturpolitik der Nation gab. In Frankreich bestand eine institutionalisierte Struktur des Literatursystems, die in Deutschland absolut nicht vorhanden war. Wie lässt sich – dies ist die Frage, die sich damals fast zwanghaft in den dem Naturalismus nahestehenden Literaturzeitschriften aufdrängte – der Rückstand im kulturellen Bereich aufholen, dieser Rückstand einem Land gegenüber, das im deutsch-französischen Krieg von 1870 leicht besiegt worden war, das aber immer noch imstande war, stolz auf seine Hegemonie im kulturellen und literarischen Bereich zu pochen? Wie kann man die Entwicklung einer Kulturindustrie unterstützen, die die Serienproduktion von Literatur für eine breite Leserschaft fördern soll? Wie kann man das neue Publikum (z. B. Frauen und neue Gesellschaftsschichten) zum Konsum der neuen symbolischen Güter – z. B. des Romans – anregen? Die Entstehung der Kulturindustrie bringt auch die Möglichkeit mit sich, neues symbolisches (und ökonomisches) Kapital zu erzeugen, etwa den Journalismus als einen Anziehungspunkt für am Rande stehende, noch nicht konsekrierte Intellektuelle (aber nicht nur für solche). In der kollektiven Wahrnehmung bestand die feste Überzeugung, dass das Zweite Reich auf ökonomischer, politischer und wissenschaftlicher Ebene die Hegemonie in Kontinentaleuropa antreten würde. Ein rapider, außerordentlich starker Fortschritt in vielen wesentlichen Bereichen des modernen Lebens (Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft) war durchaus zu konstatieren, doch es war noch keine entsprechende Entwicklung im literarischen Feld zu beobachten. Während außerdem weite Teile der Natur- und Geisteswissenschaften (Philo50 Vgl. Michael Georg Conrad in seiner Autobiographie, Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann, Leipzig, Hermann Seemann Nachfolger 1902, S. 67.

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logie, Geschichte, Philosophie) zu einem Vorbild für ganz Europa wurden, erschien die deutsche Literatur unfähig, mit der anderer europäischer Länder, besonders der französischen, mithalten zu können. Es schien so, als ob eine geheimnisvolle Hemmschwelle ihre Weiterentwicklung verhinderte. Um den Engpass zu überwinden, griff mancher auf naive Maßnahmen zurück, z. B. Arno Holz, der »konsequenteste« aller Naturalisten, der auf die Idee kam, durch eine mathematische Formel (Kunst = Natur – x)51 die Notlage der deutschen Literatur zu bezwingen. In der extremen Formulierung von Holz kann die Kunst wieder Natur werden, wenn es ihr gelingt, das x, das für die künstlerischen Mittel der Realitätswiedergabe steht, auf ein Minimum zu reduzieren. Holz dachte, auf diese Weise automatisch die Kunstproduktion der Methode der exakten und positiven Wissenschaften anpassen zu können, um in Analogie dazu die gleichen Erfolge zu erzielen. Der Rückgriff auf das Paradigma der Wissenschaften dient in diesem Kontext zur Legitimierung der eigenen Arbeit, die sonst, in Bezug auf den Aufbau des Reichs, als nutzlos und unproduktiv gelten würde. Tatsache ist, abgesehen von diesem paradoxen Zug der Holz’schen Theorie, dass die Schriftsteller des Naturalismus auf dem Recht bestehen, mit einem eigenen Statut am Aufbau des Reichs teilzunehmen. Zum Vergleich wird wiederum Frankreich herangezogen, wo Zola entscheidend zur Entstehung eines neuen Systems bürgerlicher und industrieller Literatur beigetragen hat, indem er das Publikum differenzierte und die Literatur auf ihrem spezifischen Feld autonomer gestaltete, sie gleichzeitig aber stärker mit anderen Kräften (dem Markt, dem Erfolg bei den Lesern) verknüpfte. Auch im Reich regt sich das Bedürfnis, die Autonomie des literarischen Feldes auszuweiten, indem man dem Publikum an der Seite der Neueinsteiger eine bedeutendere Rolle zuweist, um den im literarischen und kritischen Bereich vorherrschenden Konservatismus zu besiegen. In den Jahren, die unmittelbar auf die Entstehung des Reichs folgten, gingen manche Autoren sogar so weit, den Kanzler um eine offizielle Aner51 Die Formel von Holz kann auf folgende Weise erklärt werden: Die Kunst hat die Tendenz, wieder Natur zu werden. Sie wird es wieder je nach den jeweils zur Verfügung stehenden Wiedergabetechniken und je nach deren Anwendung. Das Interesse des Schriftstellers verlagert sich also auf die Wiedergabetechniken der Realität. Der Versuch, der Literatur und der Kunst eine Entwicklung, die sich auf eine mathematische Formel stützt, unterzuschieben, die in Analogie die gleiche Entwicklung der Naturwissenschaften hätte garantieren sollen, führte zu einer äußerst zersplitterten Technik der theatralischen Experimente von Holz (Papa Hamlet, 1889 und Die Familie Selicke, 1890, in Zusammenarbeit mit Johannes Schlaf). Beim Versuch, die Unbekannte der Formel Kunst = Natur – x auf ein Minimum zu reduzieren, beschränken Holz und Schlaf den Untersuchungsgegenstand auf das Minimum und parzellieren dafür die Darstellung. Das Ziel ist, die Entfernung zwischen Signifikat (Natur) und Signifikant (Kunst) zu minimieren. Aus diesem Experiment geht der »Sekundenstil« hervor, d. h., ein Text gibt vor, die Realität Sekunde für Sekunde darzustellen, weshalb es keine Einheit der Form oder der Gattung mehr gibt. Nicht von ungefähr beschließt Mann, diesem Stil seinen breit angelegten Erzählstil entgegenzusetzen.

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kennung ihrer Rolle und Funktion durch die Gründung einer Reichsinstitution zur Förderung kultureller Aktivitäten zu bitten.52 Doch die dominierende Tendenz bei den jungen Vertretern des deutschen Naturalismus war, Eingriffe von Seiten institutioneller Einrichtungen abzulehnen, und alles darauf zu setzen, ein neues Publikum zu schaffen, das am Zugang zu neuen kulturellen Konsumgütern interessiert war. Die Literatur wird als das Werk unabhängiger Literaten gesehen, die sich mit einem eigenen Kanon, eigenen Arbeitsregeln und einer Infrastruktur zum Vertrieb ihrer Produkte ausstatten. Die Hoffnung dabei ist, dass, basierend auf dem enormen Aufschwung der Literatur in Deutschland auf allen – gehobenen und weniger hohen – Ebenen, bald ein relativ unabhängiges Literaturfeld entstehen würde. Anfang der 1890er Jahre weist das nationale Literaturfeld also verschiedene Impulse auf, die ich folgendermaßen zusammenfassen möchte: Einerseits besteht und dominiert in der öffentlichen Meinung eine Literaturauffassung, die an große (und kleine) nationale Vorbilder gebunden ist, die als überragend und beispielhaft gelten, andererseits gestaltet sich der Literaturraum, auch durch den Umlauf internationaler Modelle und Theorien, immer unabhängiger und differenzierter. Ich habe schon den Einfluss des französischen Naturalismus auf einen Großteil des deutschen Naturalismus, vor allem auf Conrad, erwähnt. Auch Ibsen war als häufiger Besucher der Berliner Naturalismusszene stets präsent. Zur gleichen Zeit nahm auch der dänische Kritiker Georg Brandes, der von 1877 bis 1883 in Berlin lebte, direkt am Kulturleben der Hauptstadt teil. Schließlich sind es die großen russischen Romanciers (Tolstoi, Dostojewski), die zu einem lebhaften und heterogenen Gesamtbild beitragen. In einer kurzen Zeitspanne (1892–1893) versiegte die jüngste deutsche Literaturströmung, die sich als die naturalistische »Phalanx«53 definiert hatte, und ihre Vertreter vollzogen zahlreiche und thematisch wie formal bisweilen unvorhersehbare Konversionen und Rückkonversionen mit dem Ziel, sich in einem stetig wandelnden Raum neu zu positionieren. Ausgerechnet in der Zeitschrift »Die Gesellschaft« wird Richard Dehmel, Spitzenvertreter der naturalistischen Strömung und treibende Kraft der postnaturalistischen Literaturszene, mit dem 52 Der Antrag, eine »staatliche Einrichtung« für die Entwicklung von Kunst und Literatur zu gründen, wurde in der Anfangsphase der naturalistischen Bewegung von mehreren Seiten vorgebracht. Ich zitiere für alle das Beispiel der Brüder Heinrich und Julius Hart, Offener Brief an den Fürsten Bismarck, in »Kritische Waffengänge«, H. 2 (1882), S. 23–27. 53 In seiner Einführung Unser Credo (jetzt in Manifeste und Dokumente, S. 247–250) zur Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere, die 1885 vom Verleger Friedrich Arendt in Leipzig veröffentlicht wurde, benutzt Hermann Conradi eine Reihe von militärischen Metaphern, die die kämpferische Geschlossenheit einer Gruppe unterstreichen, die auf literarischer Ebene als wirklich revolutionär galt. Vgl. außer der schon zitierten von Conradi auch die Einführung von Karl Henckell, Die neue Lyrik (jetzt in Manifeste und Dokumente, S. 353– 355).

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Essay Die neue deutsche Alltagstragödie54 die Bewegung für überholt erklären und die Autoren auffordern, über die Formen der Literaturdarstellung und die Mittel der Realitätswiedergabe, die der Naturalismus verabsolutiert hatte, hinauszugehen. Mit seinem Essay Die Überwindung des Naturalismus (1891)55 dekretiert auch Hermann Bahr das Ende der bereits aufgebrauchten naturalistischen Erfahrung. Schon bald darauf sollte sich die ganze Bewegung in viele kleine und kleinste, oft kontrastierende Strömungen auflösen.56 In kürzester Zeit bilden sich auch Gruppierungen, Meinungsströmungen sowie literarische und philosophische Tendenzen, die im Naturalismus nur mehr den Ausdruck einer brutalen Form von Dekadenz und Verkommenheit sehen, die von Frankreich auf alle Länder Europas übergegriffen haben soll. Auch diesmal wird es Frankreich sein, das die »Renationalisierung«57 der Literaturströmungen um wenige Jahre vorwegnehmen wird, besonders dank der Trajektorie von Paul Bourget, der in wenigen Jahren vom überzeugten Anhänger Zolas zum Theoretiker der ideologischen, sozialen und ästhetischen Nationa54 »Die Gesellschaft. Monatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik«, I, H. 8 (1892), S. 475– 512. 55 Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus. Als zweite Reihe von »Zur Kritik der Moderne«, Dresden- Leipzig, E. Pierson’s 1891. Von Bahrs Band existiert eine sorgfältige italienische Ausgabe, Il superamento del naturalismo, Giovanni Tateo (Hrsg.), Mailand, SE 1994, mit einem bemerkenswerten ausführlichen Essay des Herausgebers: La questione del Moderno. Hermann Bahr e la cultura europea fin de siHcle, S. 165–230. 56 Es scheint mir nützlich, das wichtige Zeugnis eines scharfsinnigen Protagonisten und aktiven Vertreters der naturalistischen Bewegung zu zitieren, der im Jahre 1900 eine dokumentarisch belegte Chronik der Ereignisse veröffentlichte: Adalbert von Hanstein, Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte deutscher Literaturgeschichte, Leipzig, Voigtländers Verlag 1900. Der Autor betont die Entstehung der Bewegung in zwei Hauptzentren (Berlin und München) und unterstreicht die Schwierigkeit, die zeitliche und räumliche Gliederung der »sogenannten literarischen Revolution« nachzuzeichnen (S. VI), da die Bewegung von Anfang an auf eine ständige Revolution gesetzt hat. 57 Paul Bourget ist ein in der Mann-Forschung häufig zitierter Autor (vgl. Luca Crescenzi, Einleitung zu Thomas Mann. Romanzi, Band I: I Buddenbrook-Altezza Reale, Mailand, Mondadori 2007, S. 5–45). Er gilt vor allem als Spitzenvertreter der d8cadence, die Mann zur Zeichnung seines Dekadenzbildes inspirierte (vgl. Crescenzi, Einleitung, S. 5ff.). Von einem anderen Gesichtspunkt aus kann die Laufbahn eines Schriftstellers wie Bourget als beispielhaft für spontane Anpassungsstrategien der europäischen Schriftsteller gelten, die ab 1880 (in Frankreich) und ab ca. 1890 (in Deutschland) das Kulturleben der Nation/-en nationalisierten bzw. renationalisierten, und zwar nach dem kurzen Zwischenspiel der internationalistischen und transnationalen Literatur, in dem die Verwendung von aus dem Ausland stammenden Vorbildern Teil einer Legitimierungs- und Behauptungsstrategie im nationalen Literaturfeld war. Die Bedeutung der Renationalisierung der Literatur bei Bourget im kulturellen und symbolischen Raum Europas wird ausführlich behandelt von Blaise Wilfert-Portal, L’internationalit8 d’un nationaliste de Paris: Paul Bourget entre Paris, Londres et Rome, in L’Espace culturel transnational, Anna Boschetti (Hrsg.), Paris, Nouveau Monde 8ditions 2010, S. 165–194. Siehe auch Paul Bourget, D8cadence. Saggi di psicologia contemporanea, übers. v. Francesca Manno, Einleitung von Giuliano Campioni, Turin, Nino Aragno Editore 2007.

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lisierung einer ganzen Generation von Schriftstellern mutiert, für die das Schreiben zur Aufgabe wird, die nationale, von äußeren Kräften bedrohte Identität neu zu begründen. In Deutschland lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten, das jedoch andere Mittel benutzt, um die nationale, vom kulturellen Internationalismus bedrohte Identität zu untermauern: Die Kritik der Dekadenz sollte sich der faszinierenden Wirkung von Nietzsches »Kulturkritik« bedienen, darüber hinaus auf Autoren wie Julius Langbehn58 und Max Nordau59 zurückgreifen, die in der von Zola inspirierten Literatur nur den Ausdruck einer transnationalen Orientierung sehen, die zum Verlust der nationalen Wurzeln und der sich unweigerlich daraus ergebenden Dekadenz führt.60 Es wäre sehr komplex und schwierig, die von den Hauptvertretern des Naturalismus eingeschlagenen Trajektorien in einem Moment nachzuzeichnen, in dem neue Modelle und Werte Einzug in das literarische Feld halten: Einige von ihnen wurden Spitzenvertreter der neuen literarischen Strömungen der Jahrhundertwende, etwa des Impressionismus (Hermann Bahr, Johannes Schlaf) oder des Symbolismus (Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel), andere hingegen gingen einen ganz individuellen und exzentrischen Weg (Arno Holz), noch andere schließlich blieben im Einklang mit der deutschen Arbeiterbewegung den Prinzipien des sozialen Engagements des Naturalismus treu. Albert Soergel hat die rasante ideologische und politische Umwandlung des literarischen Feldes in Deutschland in den Jahren 1890–1900 überzeugend zusammengefasst. In seiner erfolgreichen Literaturgeschichte (Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte),61 die einige Jahre nach der tiefgreifenden ideologischen, sozialen und ästhetischen Umwandlung des literarischen Feldes in Deutschland geschrieben wurde, hebt Soergel aus dem Ge58 Mit Julius Langbehn (1851–1907), Paul de Lagarde (1827–1891) und Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) bekommt das Phänomen der Renationalisierung der deutschen Literatur einen aggressiven und antisemitischen Charakter. 59 Der Fall von Max Nordau (1849–1923) ist umstritten und interessant (wie der von Bourget): Er wurde berühmt und war von den Naturalisten geschätzt wegen seines Buches Die konventionellen Lügen der Menschheit (1883), in dem er mit einem kosmopolitischen Weltbild die negativen Folgen des internationalen Kapitalismus kritisierte. Im Jahre 1892 veröffentlichte er das Werk Entartung, das großes Aufsehen erregte, da es sich an die von Cesare Lombroso (1835–1905) entwickelte Theorie der erblichen Entartung anlehnte. 60 In einem Moment, wo sich die Positionen der Naturalisten neu definieren (1886), wird der Begriff »Zolaismus« von Julius Hart geprägt, der sich, zusammen mit anderen, gegen Michael Georg Conrad stellt. Julius Hart, Zolaismus in Deutschland, in »Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur und öffentliches Leben«, Bd. 30 (1886), Nr. 40, S. 214–216 (jetzt in Manifeste und Dokumente, S. 672–678). 61 Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte, Leipzig, Voigtländer Verlag 1911, S. 387–679. Für eine Beurteilung des Werks von Soergel siehe die interessante Rezension von Walter Boehlich, Literaturgeschichte für Bildungsbürger, in »Die Zeit« vom 19. April 1963.

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sichtspunkt eines konservativen Kritikers und Befürworters der Wiedergeburt einer Literatur auf nationaler Basis das große Verdienst der naturalistischen Literaturrevolution hervor, und zwar den Umstand, dass ihre enge und beschränkte Vorstellung der Realität zu einer positiven Gegenreaktion geführt habe, aus der die antinaturalistische bzw. postnaturalistische Literatur entstanden sei. Diese konnte, nach dem Versuch der Naturalisten, eine Legitimierung in ausländischen Vorbildern zu finden, nicht anders, als sich wieder an der Logik der Nationalisierung zu orientieren und zu den nationalen Vorbildern zu bekennen.

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Der junge Thomas Mann trifft also auf eine komplexe und abwechslungsreiche Realität in einem Moment, wo heterogene, oft gegensätzliche Kräfte im literarischen Feld wirken. 1875 geboren, gehört er einer jüngeren Generation an als die Naturalisten, die das literarische Feld mit der aggressiven Sprache der aktivistischen Avantgarde in Beschlag halten: Nicht umsonst wird immer wieder das Bild der »Phalanx« verwendet, um ihre Vorgehensweise und Strategie zur Besetzung des literarischen Raums zu beschreiben. Als er aus dem ruhigen Lübeck in die bayerische Hauptstadt zieht, setzt er alles aufs Spiel, um am literarischen und künstlerischen Leben teilnehmen zu können. Seine Position ist die des Debütanten. Er ist ein Akteur, der genau weiß, dass er sich in einem Literaturfeld befindet, in dem noch epigonale, glorifizierende und klassizistische Literaturprodukte unterwegs sind (die Literatur der Gründerjahre), die gegen eine kollektive Sensibilisierung und Strömungen aufbegehren, die einen raschen Generationswechsel, also eine Literatur auf der Höhe der neuen Zeit herbeiwünschen und schließlich auch eine Renationalisierung der Literatur fordern, die zu sehr unter dem Einfluss transnationaler Vorbilder steht, was ihre Identität beeinträchtigen könnte. Welchen Handlungsspielraum hat Mann in diesem Kontext? Wie ist sein Habitus, über welche erworbenen Dispositionen verfügt er? Was für eine Strategie erarbeitet er? Welche posture nimmt er ein, um den Platz zu erobern, für den er sich entschieden hat? Und schließlich die wichtigste Frage: Wie stellt er sich selbst dar und wie will er im »Raum des Möglichen« dargestellt werden? Woraus das »schöpferische Projekt« eines Künstlers hervorgeht, führt Bourdieu in seiner Kunstsoziologie auf: aus dem Zusammentreffen der speziellen Dispositionen, die ein Produzent (oder eine Gruppe von Produzenten) in das Feld einführt aufgrund seiner früheren Laufbahn und seiner Stellung im Feld, mit dem Raum der dem Feld innewohnenden Möglichkeiten,

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(all das, was unter dem vagen Begriff der künstlerischen oder literarischen Tradition firmiert).62

Der Autor bestimmt seine Entscheidungen also nicht nur aufgrund seiner sozialen Herkunft und der erworbenen Dispositionen, sondern auch aufgrund einer spezifischen Entscheidung im »Raum des Möglichen« und je nach den Umständen, die er innerhalb des Feldes antrifft. Die Positionen im Feld konkurrieren miteinander. »Sich auf eine Gattung zu beziehen, die Gattungen neu zu definieren, die Einteilung nach Gattungen abzulehnen, einen Stil, eine Technik zu erwerben, oder Stile und Techniken zu kombinieren, auf ein bestimmtes Thema zu setzen oder sich auf die Schöpfungskraft des Schreibens zu verlassen usw.«63 bedeutet also, eine Entscheidung innerhalb eines »Raums des Möglichen« zu treffen (eines Raums, den auch Michel Foucault untersucht und als das »Feld strategischer Möglichkeiten«64 bezeichnet). Nun wissen wir, dass jedes Feld nach autonomen Regeln funktioniert, die ihrerseits das Ergebnis von Kämpfen, Konflikten und Konsolidierungsmaßnahmen sind. Die Untersuchung des literarischen Feldes in Paris zu Zeiten Flauberts, dem Bourdieu Die Regeln der Kunst gewidmet hat, ist ein beispielhaftes Modell, das sich jedoch nicht automatisch nachahmen oder übertragen lässt. Tatsächlich ist ein Feld ein sozialer Raum, der über Jahrhunderte hinweg bestimmte, von seiner Geschichte bedingte Merkmale herausgebildet hat. Das literarische Feld Frankreichs, in dem Flaubert wirkt, ist das Ergebnis einer seit Jahrhunderten zentralisierten Nation, in der sich ein Publikum, ein bestimmter Konsum und ein spezifisches System zur Produktion symbolischer Güter entwickelt haben (die literarischen Einrichtungen und der Journalismus haben dabei als Zuflucht für am Rande stehende Intellektuelle gedient, die anderswo nicht unterkamen). Das Paris Flauberts hat den Status der Hauptstadt einer Nation, in der es jedoch zu einer klaren Dichotomie gekommen ist: Einerseits hat sich der autonome und nicht an materiellen Gütern interessierte Pol der Kunst herausgebildet, der nur den symbolischen Profit kennt, andererseits gibt es den Pol der politischen und ökonomischen Macht. Diese Art von Polarisierung ist im Deutschland zu jener Zeit noch völlig unbekannt. Das literarische Feld Deutschlands befindet sich noch in seiner Aufbauphase, es zeigt sich polyzentrisch und noch ungefestigt.65 Wie oben schon angedeutet, stehen den 62 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 209. 63 Anna Boschetti, Einleitung zu Pierre Bourdieu, Le regole dell’arte, übers. v. Anna Boschetti u. Emanuele Bottaro, Milano, Il Saggiatore 2005, S. 29. 64 Vgl. was Bourdieu zu Foucault in Die Regeln der Kunst, S. 316, bemerkt. 65 Vgl. Magerski, Die Konstituierung des literarischen Feldes, die die Übereinstimmungen und vor allem die Unterschiede zwischen dem französischen und dem deutschen Literaturfeld rekonstruiert. Für die Gründung des nationalen Literaturfeldes in Frankreich scheint ihr das Jahr 1848 entscheidend, während es für Deutschland 1871, das Gründungsjahr des Zweiten

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deutschen Schriftstellern in dieser Phase Optionen offen, die widersprüchlich und schwankend im »Raum des Möglichen« sind.66 Während die Autonomie des literarischen Feldes in Frankreich schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreicht ist, funktioniert und tendenziell eine duale Struktur aufweist (auf der einen Seite die gehobene Literatur, auf der anderen die Produktion auf breiter Skala), gibt es in Deutschland keinen solchen bipolaren Raum. Das geht auf die »Verspätung« bei der Einigung der Nation zurück. Auch das entsprechende literarische Feld entwickelt sich erst ab 1871 und setzt, wie wir gesehen haben, in seiner Anfangsphase auf die legitimierende Wirkung, die von der Inspiration bei anderen, weiter fortgeschrittenen Literaturen ausgeht. Tatsache ist, dass die nationalen literarischen Felder zwischen 1850 und 1870 entstehen und sich strukturieren konnten, indem sie sich auf fremdsprachige Literaturen beriefen: Man sehe diesbezüglich etwa die Rolle Wagners und der russischen Schriftsteller bei der Polemik innerhalb des französischen Kulturfeldes.67 Die transnationale Solidarität legitimiert die Dissidenten des Kunstfeldes in ihrem Kampf gegen die herrschenden Institutionen. Dieses Prinzip gilt selbstverständlich auch für das literarische Feld in Deutschland. Mann ist ein junger Debütant, der in ein Feld objektiver, bereits bestehender Relationen eintritt, wo die Positionen von Individuen und symbolischen Gütern besetzt sind. Er wird sich allerdings schnell bewusst, dass das Kunstwerk eine literarische Praxis ist, die dem Raum, in dem sie wirkt, entspricht, sie ist das Produkt eines »praktischen Sinns«. Wie wir sehen werden, hat der Neueinsteiger Mann gute Karten für das Spiel in diesem Kontext: Erstens verfügt er über die richtigen erworbenen Dispositionen (seinen Habitus, die angeborene Fähigkeit, die Spielregeln zu akzeptieren), und dann besitzt er eine weitere wichtige Eigenschaft: die illusio. Der Begriff, den Bourdieu von Huizingas Homo Ludens (1938) übernimmt, kann in diesem Zusammenhang als Synonym von libido betrachtet werden und bedeutet den Wunsch, zu spielen, ins Spiel aufgenommen zu werden sowie die Regeln und den Einsatz zu akzeptieren. Durch diesen Begriff wird das Interesse zu einer an das Feld gebundenen Investitionsform. Schließlich erarbeitet Mann, der über den Habitus und die illusio verfügt, schnell eine eigene wirksame posture als weiteres Hilfsmittel seiner Präsenz und Selbstbehauptung im literarischen Feld. Die »rhetorische« bzw. diskursive posture, von der vorher die Rede war, lässt sich recht deutlich an den Vorbereitungsmaterialien (Namenslisten, detaillierte Projekte, Notizen) ablesen, die Reichs, ist. Wie man sehen kann, gibt es zwischen den Momenten der Gründung der beiden Literaturfelder eine Verschiebung von etlichen Jahren. 66 Man sehe z. B. die als konstant zu definierenden Schwankungen zwischen dem Pol des gesellschaftlichen Engagements und dem ausgesprochen anarchistischen Individualismus, die zusammenfassend von Marx und Nietzsche dargestellt sind. 67 Vgl. Wilfert-Portal, L’internationalit8 d’un nationaliste de Paris, S. 189.

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Mann anfertigt, während er Buddenbrooks plant, niederschreibt und während das Buch sich verbreitet. Aber es ist vor allem der Briefwechsel mit Partnern verschiedener Art (mit Schulkameraden, Freunden, Verlegern, befreundeten Kritikern), der die rhetorische und textbezogene posture des Autors kennzeichnet. Hier zeigen sich in aller Deutlichkeit die Motivationen, die Mann dazu brachten, sich für bestimmte »praktische« Lösungen in Bezug auf den Text, das behandelte Thema, die passende Gattung sowie die zitierten und die ignorierten Vorbilder usw. zu entscheiden. Neben der Arbeit an seinem »Kunstwerk« erarbeitet er sich eine bewusste und kohärente Strategie zur Selbstbehauptung im Feld des Möglichen. Anders als andere Autoren, die ein auffallendes Desinteresse für ihr eigenes Werk an den Tag legen, sobald es in den Druck gegangen ist, bemüht Mann sich, die Rezeption durch Briefe an Kritiker und Journalisten zu steuern. Von seinen zahlreichen Stellungnahmen scheinen mir diejenigen am aufschlussreichsten, die er an den Freund Otto Grautoff gerichtet hat, und zwar wegen der großen Vertraulichkeit, die zwischen den beiden herrschte, und wegen der Unbefangenheit, mit der eine so in sich gekehrte Person wie Mann sich enthüllt: Ein paar Winke noch, Buddenbrooks betreffend. Im Lootsen68 sowohl wie in den Neuesten69 betone, bitte, den deutschen Charakter des Buches. Als zwei echt deutsche Ingredienzen […] nenne Musik und Philosophie. Seine Meister, wenn schon von solchen die Rede sein müsse, habe der Verfasser freilich nicht in Deutschland. Für gewisse Partien des Buches sei Dickens70, für andere seien die großen Russen zu nennen. Aber im ganzen Habitus (geistig, gesellschaftlich) und schon dem Gegenstand nach echt deutsch: schon im Verhältnis zwischen den Vätern und den Söhnen in den verschiedenen Generationen der Familie (Hanno zum Senator). Tadle ein wenig (wenn es Dir recht ist) die Hoffnungslosigkeit und Melancholie des Ausganges. Eine gewisse nihilistische Neigung sei bei dem Verf. manchmal zu spüren. Aber das Positive und Starke an ihm sei sein Humor. – Der äußere Umfang sei etwas nicht ganz Bedeutungsloses. In der Zeit des »Überbrettls«71 und der Fünf-Secunden-Lyrik sei es wenigstens ein Zeichen ungewöhnlicher künstlerischer Energie, ein solches Werk zu concipiren und zu 68 »Der Lotse« war eine Hamburger Kunstzeitschrift mit politisch und kulturell konservativen Tendenzen. Momme Nissen, einer seiner Hauptredakteure, war auch Sekretär und ergebener Freund von Julius Langbehn, dessen Nachlass er herausgab. 69 Die »Münchner Neueste Nachrichten«. 70 Der Hinweis auf Dickens wiederholt sich in einem Brief an Josef-Emile Dresch vom 21. Oktober 1908, in dem Mann Dickens »unter die großen Romanciers des germanischen und slawischen Stammes« einreiht, von denen er mehr als von den Franzosen gelernt habe. Jetzt in: Thomas Mann, Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA), Band 21: Briefe I 1889–1913, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget u. Cornelia Bernini (Hrsg.), Frankfurt/M., Fischer 2002, S. 394. 71 Das »Überbrettl« war ein literarisches Kabarett, das 1901 von Ernst von Wollzogen in Berlin gegründet wurde, und zwar nach dem Vorbild von »Le chat noir«, das 1881 von Rodolphe Salis in Montmartre eröffnet wurde und Treffpunkt der Pariser Boheme war.

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Ende zu führen. Es sei dem Verf. gelungen, den epischen Ton vortrefflich festzuhalten. Die eminent epische Wirkung des Leitmotivs. Das Wagnerische in der Wirkung dieser wörtlichen Rückbeziehung über weite Strecken hin, im Wechsel der Generationen. Die Verbindung eines stark dramatischen Elementes mit dem epischen Dialog. Damit genug! Mach Deine Sache recht gut und verschiebe sie nicht zu lange.72

Grautoff, ein Schulkamerad und enger Freund von Mann, als Publizist und im Verlagswesen aktiv (seit 1900 Redakteur der Zeitschrift »Jugend« und der »Münchner Neuesten Nachrichten«), war immer über die Genese, die Themen und die Inhalte, die Mann in seinem Roman73 behandeln wollte, informiert und befolgte in der Buchbesprechung, die er einige Monate später veröffentlichte, fast wörtlich die genauen Anweisungen, die er erhalten hatte.74 Mann erklärt seinem treuen Rezensenten, wie er vor- und dargestellt werden will, mit anderen Worten, wie seine posture als Autor im Rahmen der Literatur seiner Zeit definiert sein soll. Bemerkenswert dabei ist, dass jeglicher Bezug auf die französische Literatur und auf die großen realistischen und naturalistischen Autoren verschwunden ist. Erst einige Jahre zuvor (1896) hatte Mann in einem Brief an Grautoff all seine Bewunderung für die großen Autoren des französischen Realismus des 19. Jahrhunderts geäußert: Ich lese augenblicklich ausschließlich französisch, was ich endlich gründlich lernen muß, und ich kenne schon jetzt kaum einen feineren Genuß, als die Lektüre Maupassant’scher Novellen, dieser kleinen wagehalsigen Geschichten, die unübersetzt und unübersetzbar sind. Auch Bourget ist ja im Original etwas unvergleichlich Anderes! Und dann eröffnet sich einem eine ganze, neue Literatur, die Schule von 1830 z. B., die man bislang nur aus seinem Brandes75 kennt, Balzac, M8rim8e, Stendhal; und die großen Kritiker!76

Mann hatte der französischen Literatur immer schon große Aufmerksamkeit geschenkt, was er in seinen zahlreichen autobiographischen Essays auch ausdrücklich zugibt. Doch seine Essays, vor allem die autobiographischen Inhalte, weisen immer wieder neue Standpunkte auf, die Rolf Renner als »Masken und Tarnungen«77 bezeichnet. Das entspricht Manns Bedürfnis, im Laufe der Jahre 72 Brief an Otto Grautoff vom 26. November 1901, in Thomas Mann, Briefe I 1889–1913, S. 179– 180. 73 Vgl. den Brief von Ende Mai 1895, S. 57–59. 74 In »Der Lotse«, Jg. 2 (1902), S. 442f., jetzt in Briefe I 1889–1913, S. 622–623. 75 Georg Brandes (1842–1927), Kritiker und Literaturhistoriker der wichtigsten literarischen Strömungen Europas, war einer der führenden Köpfe der Berliner Literaturszene. Er hat einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der französischen Literatur in Deutschland geleistet. 76 Brief an Grautoff vom 17. Januar 1896, in Briefe I 1889–1913, S. 66. 77 Vgl. Rolf G. Renner, Literarästhetische, kulturkritische und autobiographische Essayistik, in Thomas-Mann-Handbuch, Helmut Koopmann (Hrsg.), Frankfurt/M., Fischer 2005, S. 629– 677, hier S. 636.

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ständig seine posture zu ändern, ohne dabei seine Identität und das Image seiner Unparteilichkeit78 zu verlieren. Mann, der Grautoff Hinweise gibt, wie er dargestellt werden möchte, optiert, ebenso wie es Jahrzehnte später bei der erwähnten Chicago-Konferenz79 der Fall sein wird, für die Inszenierung als Schriftsteller, die ihm die jeweils beste zu sein scheint, um Distinktionsprofit und symbolisches Kapital anzuhäufen, für ein Image, das in der Vorstellung des Publikums das Bild eines klassischen Autors verankert, der über den literarischen Moden und Cliquen steht. Die Position, die er um 1900 in dem literarischen Feld einnehmen will, in dem Buddenbrooks gelesen, kommentiert, kritisiert und verbreitet werden soll, ist die eines Schriftstellers, der hohen kulturellen Werten anhängt und mit einem geistigen und sozialen deutschen Habitus ausgestattet ist. Diese Eigenschaften – das darf man nicht vergessen, und Mann wünscht, dass es dem Leser ausdrücklich vermittelt wird, wie er Grautoff für seine Buchbesprechung empfiehlt – kennzeichnen einen Autor, der sich als rechtmäßigen Erben des kulturellen und sozialen Kapitals der Nation vorstellt und darstellt. Deswegen muss er nun jegliche Abhängigkeit von der französischen Literatur leugnen, zumal diese als frivol und oberflächlich gilt, als unfähig, die tragische Dimension des Lebens darzustellen, da sie an die oberflächlichen Vorgänge der Zivilisation gebunden ist. Es gehe stattdessen darum – legt er Grautoff nahe –, den Nihilismus, die Musik, die Philosophie, Wagners Erbe, kurz, die Werte der Nationalkultur aus antifranzösischer Sicht und in Opposition zu Zola zu unterstreichen. Mann will sich als Nationalautor inszenieren, der einen Beitrag zur Renationalisierung der deutschen Literatur liefert, was zu diesem Zeitpunkt vom Publikum geschätzt wird. Gleichzeitig muss er zu den Kontroversen Stellung beziehen, die in jenen Jahren das literarische Feld der deutschsprachigen Länder bewegen. In einer andauernden Konfliktsituation, in der Berlin, München und Wien sich die literarischen Bewegungen der Avantgarden streitig machen, die entstehen und sich vermehren, um eine Vorrangstellung im literarischen Feld zu erobern, beschließt Mann, auf Distinktionsprofite anderer Herkunft zu setzen. Wo die Vertreter der avantgardistischen Boheme auf ruppige und auch groteske Art und Weise gegeneinander polemisieren, beabsichtigt er, dieses »Narrenkleid« nicht anzuziehen und der tiefen Krise der deutschen Literatur zu begegnen, indem er auf ein anständiges und gepflegtes Auftreten und einen Habitus setzt, der die bürgerlich-protestantische Tradition Deutschlands fortsetzt.

78 Siehe dazu den Essay von Ralf Klausnitzer, Jenseits der Schulen und Generationen? Zur literarischen Beziehungspolitik eines Solitärs, in Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 453–483. Dem Essay von Klausnitzer verdanke ich verschiedene Anregungen für meine Ausführungen. 79 Thomas Mann, Meine Zeit, in Über mich selbst. Autobiographische Schriften.

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An dieser Stelle bietet es sich an, Manns Strategie der Selbstdarstellung durch die Fotografie, die er in jenen Jahren umsetzt, ins Auge zu fassen. Seine mehrfach eingehend dokumentierte grundsätzliche Bereitschaft, sich fotografieren zu lassen, geht über ein rein narzisstisches Gebaren hinaus, das bei Mann sicher nicht unerheblich ist. Sie entspringt vielmehr dem ausdrücklichen Wunsch, von seiner Leserschaft in einer sorgfältig durchdachten Autoren-posture gesehen zu werden. Seine Position im Feld, die er diskursiv schon durch seine Schriften ausgedrückt hat, wird nun zusätzlich durch die Fotografie untermauert. Wie zahlreichen anderen Schriftstellern (allen voran Henry James, Andr8 Gide, Marcel Proust und Ferdinand C8line) ist es Mann gelungen, sich mittels einer genau kalkulierten Strategie fotografisch darzustellen und darstellen zu lassen.80 Dazu schreibt er 1901 an seinen Bruder Heinrich: »Ich werde mich photographieren lassen, die Rechte in der Frackweste und die Linke auf die drei Bände gestützt; dann kann ich eigentlich getrost in die Grube fahren.«81 Das Foto, von dem die Rede ist, zeigt symbolisch die Trümpfe seiner Selbstinszenierung: Die starke Bindung an die Tradition äußert sich darin, dass die rechte Hand in der bürgerlichen »Uniform« schlechthin steckt (nämlich in der Weste des eleganten, schlichten schwarzen Fracks), während die linke sich auf nicht weniger als drei Bände und damit auf ein beträchtliches solides symbolisches Kapital stützt.82 Und dann – da er sein Ziel erreicht hat – fügt er hinzu, könne er in Ruhe sterben. Das Foto entspricht genau dem, was er im erwähnten Brief an Grautoff empfohlen hatte: Er inszeniert sich hier nach einem Verhaltenskodex und in einer gewissenhaft studierten posture, die dazu dient, die Vorstellung von Solidität und Seriosität eines »deutschen« Schriftstellers zu übermitteln, der über einen Habitus verfügt, der sowohl »geistig«83 als auch »gesellschaftlich«84 aufs Engste mit der nationalen Tradition verknüpft ist. Ein Phänomen wie die impressionistische Lyrik, die damals wegen ihres fragmentarischen und oberflächlichen Charakters (»Fünf-Secunden-Lyrik«) im literarischen Feld Mode war, ist ihm völlig fremd: Der Schriftsteller Mann stützt sich auf seine drei Bände und unterstreicht damit seine Exzellenz (den erwähnten »Sinn für Größe«), die sich in gewichtigen, episch angelegten Werken, die lange Bestand haben werden, konkretisiert. Sein Werk ist, wie uns das oben genannte Foto nahelegt (viele weitere wären da noch hinzuzuziehen), die dauerhafte Darstellung für die Nachwelt, ein Er80 Die Selbstdarstellung von Mann durch die Fotografie ist auch das Thema des Essays von Heinrich Detering, Der Litterat. Inszenierung stigmatisierter Autorschaft im Frühwerk Thomas Manns, in Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 191–206. 81 Brief vom 13. Februar 1901, in Briefe I 1889–1913, S. 155. 82 Es handelt sich um den anfangs in drei Bänden geplanten Roman Buddenbrooks. 83 Vgl. den Brief an Grautoff vom 26. November 1901, in Briefe I 1889–1913, S. 179. 84 Ebd.

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gebnis, das nicht ohne eine angemessene bürgerliche Arbeitsethik zu erlangen ist. In diesem Sinn interpretiert Mann – wie Tim Lörke, ein Kritiker, der kohärent und mit nennenswerten Resultaten einige der analytischen Kategorien von Bourdieu auf Manns Werk angewandt hat, treffend bemerkt – den Kampf um die Behauptung im literarischen Feld durchweg als »bürgerliches Konkurrenzgeschäft«85, d. h. als eine erfolgreiche Fortsetzung dessen, was im Roman dargestellt wird. Diese Stellungnahme bezieht sich gleichermaßen auf die damaligen Vertreter der Avantgarde wie auf seinen älteren Bruder Heinrich, gegenüber dem Thomas wiederholt seine bürgerliche Identität betont.86 Die von Mann angenommene posture ist Teil einer regelrechten Marketingstrategie für die Verbreitung des Romans, eines neuen literarischen Produktes, das sich von den im Naturalismus bevorzugten und gepflegten Gattungen (Lyrik und Drama) abhebt. Es ist auch dank Autoren wie Mann, die mit einer »überdurchschnittlichen Schaffenskraft« ausgestattet waren, was Mann in seinem Brief an Grautoff als hervorzuhebende Eigenschaft seiner selbst unterstreicht, dass sich der Roman als literarische Gattung auf dem Markt durchsetzen konnte. Andere Komponenten der Selbstdarstellung, die Grautoff nahegelegt wurden, sind mit Sorgfalt so ausgewählt, dass der Autor im Rahmen der Renationalisierung der deutschen Literatur eindeutig zu positionieren ist: Wagner, die Technik des Leitmotivs und die Fähigkeit, epische und dramatische Elemente zu kombinieren – weitere Etappen zur Konstruktion der eigenen posture im literarischen Feld. Als seine Leserschaft sieht Mann in einer Zeit des rasant anwachsenden Buchmarkts das reformierte Großbürgertum, das gerade aufgrund seines besonderen Verhältnisses zum geschriebenen Wort und zum Buch – abgesehen von der begrenzten Welt der Intellektuellen – das ideale Publikum ist.87 Wenn man hingegen einige Jahre zurückdenkt, also in die Zeit, als Mann Buddenbrooks konzipierte und niederschrieb, dann kann man schon in jenen entscheidenden Jahren Hinweise darauf finden, dass er sehr geschickt damit anfängt, an seiner posture im Raum des Möglichen zu arbeiten. Er will dabei in erster Linie seine Besonderheit in einem Raum definieren und garantieren, in dem unterschiedliche Kräfte gegeneinander antreten. Er muss es nicht nur mit den Literaturströmungen, die aus der Auflösung des Naturalismus hervorgegangen sind, aufnehmen, sondern auch mit der Konkurrenz, die ihm von den postures anderer Schriftsteller droht. Da ist nämlich Stefan George, der sich äußerst geschickt in Szene zu setzen weiß und der als spiritueller Prophet und Gründer einer eigenständigen, gegen den Strom der Moderne schwimmenden 85 Tim Lörke, Bürgerlicher Avantgardismus. Thomas Manns mediale Selbstinszenierung im literarischen Feld, in »Thomas-Mann Jahrbuch«, 23 (2010), S. 61–77, hier S. 71. 86 Vgl. dazu die Anmerkungen von Lörke, ebd., S. 71–73. 87 Siehe dazu die treffenden Bemerkungen von Fr8d8ric Barbier, L’Empire du livre, S. 558–561.

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Ästhetik (»das geheime Deutschland«) einen bedeutenden Raum einnimmt, aber da zeichnet sich auch die Rivalität zu seinem Bruder Heinrich ab, der für Thomas bei einer sich allmählich verändernden Marktlage ein gefährlicher Konkurrent ist. Wie Thomas dem Bruder über das Verhältnis zum Publikum, mit dem sich beide, wenngleich auf unterschiedliche Weise, zu konfrontieren haben, schreibt: [besteht] aber der Hauptreiz für das Publikum […] doch, glaube ich, nicht so sehr in dem Erotischen als in dem Satyrischen und Sozial-Kritischen, wofür man ja jetzt in Deutschland merkwürdig empfänglich ist. Die rein ästhetischen Bemühungen natürlich gehen verloren, aber das Gesellschaftliche-Satyrische ist doch eine bedeutend edlere Wirkung, als das Geschlechtliche.88

Mann ist sich also der Notwendigkeit bewusst, dass das Soziale nicht vernachlässigt werden darf, wenn man Erfolg haben will. Doch der Autor von Buddenbrooks muss gleichzeitig seine posture aktualisieren und als Vertreter der postnaturalistischen »Nationalisierung« der Literatur auftreten. Erneut liefern uns seine autobiographischen Essays eine Erklärung für die Neupositionierung, die er nach dem Erfolg von Buddenbrooks vornimmt, um die Stelle des großen Nationalschriftstellers zu besetzen. Wo und wie er sich positioniert sehen will, erwähnt er in Der französische Einfluß, einer kurzen Schrift aus dem Jahr 1904: Ich bin nordisch bestimmt, bin es mit der ganzen Bewusstheit, die heute überall in Sachen der Nationalität und der Rasse herrscht. Protestantische, moralische, puritanische Neigungen sitzen mir, wer weiß, woher, im Blute, und wie ich gegen die südliche Landschaft eine gelinde Verachtung hege, so erregt mir jene gewisse Gemeinheit, die unzweifelhaft dem romanischen Kunstgeschmack anhaftet, einen instinctiven und nervösen Unwillen.89

Dagegen kann man nun einwenden, dass Mann schon vor dem 20. Jahrhundert mit der konservativen Zeitschrift »Das zwanzigste Jahrhundert« zusammengearbeitet hatte, zu deren Redakteuren auch Friedrich Lienhard, seit 1900 Mitarbeiter von Adolf Bartels bei der Zeitschrift »Heimat«, zählte, doch ich möchte hier nicht auf Manns politische Neigungen eingehen, die er später selbst in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) darlegen und zur Debatte stellen sollte. Es interessiert mich vielmehr festzuhalten, dass er den Begriff der »nordischen Bestimmung« benutzt, um einen weiteren und sehr wichtigen Aspekt seiner posture zu inszenieren, indem er seine Eigenschaft als protestantischer Bürger und den daraus für seine Leserschaft entstehenden Distinktionsprofit ins Spiel bringt. Das reformierte Großbürgertum, das er in Buddenbrooks be88 Brief vom 2. November 1900 an den Bruder Heinrich, in Briefe I 1899–1913, S. 133. 89 In »Die Zeit. Wiener Wochenschrift« vom 16. Januar 1904, in GKFA, Bd. 14.1, Essays, I: 1893–1914, Heinrich Detering (Hrsg.), Frankfurt/M., Fischer 2002, S. 73–75, hier S. 73.

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schreibt, ist identisch mit dem ziemlich zahlreichen Publikum, für das er schreibt, das sein Werk schätzt und das seinerseits durch dieses Werk »Wertschätzung« erfährt. Kulturwerke sind nämlich der Gegenstand einer exklusiven, materiellen oder symbolischen Aneignung, und sie funktionieren als (objektiviertes oder verinnerlichtes) kulturelles Kapital, das den Lesern einen »Distinktionsprofit«90 sichert, der sich proportional zur Qualität der Mittel verhält, die für diese Aneignung aufzubringen sind, nämlich Bildung, Kultur, Zugangsmöglichkeiten, finanzielle Mittel usw. Und Mann ist sich auf seine Art und Weise durchaus bewusst, dass der symbolische Profit, der aus der Lektüre seines Werks resultiert, einen Wert darstellt, der lange Zeit erhalten bleiben sollte.

90 Zur Analyse des Begriffs der Distinktion vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.

II.

Buddenbrooks oder der Roman der Distinktion

In seinem brillanten Essay Bilanz der Moderne (1904) hat der scharfsinnige Literaturkritiker und -soziologe Samuel Lublinski einige interessante Wesenszüge des Romans Buddenbrooks hervorgehoben, die hier zusammengefasst werden sollen. Im vorigen Kapitel konnten wir feststellen, dass Mann sich sorgfältig bemühte, nicht in den Verdacht zu geraten, als Vertreter des Naturalismus betrachtet zu werden, denn die konservative Kritik der damaligen Zeit sah im Naturalismus das literarische Pendant zum Sozialismus, nach der Gleichung literarischer Naturalismus = politischer Sozialismus. Durch seinen Habitus und seine posture als Schriftsteller positionierte sich Mann bewusst in einem Raum, den er selbst für sich ausgesucht hatte und der genügend Abstand von diesen literarischen Bewegungen garantierte. Gleichzeitig hatte er mit großer Aufmerksamkeit – was er bisweilen geschickt verschwieg – die großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts, die als Meister der Darstellung des Realen und des Sozialen galten, gelesen.91 Lublinski macht in Manns Roman genauestens die Merkmale einer akribischen Wiedergabe der Realität aus und geht so weit, ihn als »erste[n] und einzige[n] naturalistische[n] Roman«92 zu bezeichnen, der in Deutschland erschienen ist, und zwar zu einem Zeitpunkt, als das literarische Feld vom Symbolismus und von der Neoromantik mit ihrer trunkenen, berauschenden Atmosphäre beherrscht war.93 Lublinski bestätigte, dass Mann eine klare, sachliche, gut dokumentierte, »chronikartige Darstellung« in Romanform »von Familien- und Zeitgeschichte«94 gelungen war. Er spricht ihm auch den großen Verdienst zu, »innerhalb der Grenzen des Sozialen«95 geblieben zu sein, ohne den Rahmen der gegebenen Realität zu sprengen. Der Mann’sche Roman, so Lublinski weiter, sei jedoch dazu bestimmt, ein 91 Vgl. Jacques Dubois, Les Romanciers du r8el. De Balzac / Simenon, Paris, Pditions du Seuil 2000. 92 Lublinski, Die Bilanz der Moderne, S. 226. 93 Vgl. dazu Lublinski, ebd., S. 226ff. 94 Ebd., S. 226–227. 95 Ebd., S. 225.

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Einzelfall zu bleiben, da er alle Möglichkeiten, die die Gattung Roman bietet, in sich erschöpft habe: Buddenbrooks wird daher »nicht nur [als] ein Anfang, sondern auch [als] ein Abschluß«96 gesehen. Der naturalistischen Romanform würden andere literarische Formen folgen, so dass der naturalistische Roman nur »ein plötzliches und glorreiches Zwischenspiel«97 bleiben sollte. Lublinski spricht dem Mann’schen Roman weitere Verdienste zu, auf die ich hier jedoch nicht eingehen möchte. Es sei aber daran erinnert, dass Mann über Lublinskis positive Kritik98 sehr erfreut war. Er dankte ihm brieflich dafür und zeigte ihm bei vielen späteren Gelegenheiten seine Verbundenheit. Was uns hier interessiert, ist, dass ein zeitgenössischer Kritiker wie Lublinski den sozialen und naturalistischen Charakter von Buddenbrooks so klar erkannte, dass er mehrmals darauf verwies und Mann damit eindeutig in die Folge der großen französischen und russischen Romanciers des 19. Jahrhunderts einreihte. Mann war sich seinerseits durchaus bewusst, dass der deutschen Literatur trotz Fontanes lobenswerter Versuche ein großer realistischer Roman fehlte, so etwas gab es auf dem deutschen Buchmarkt nicht. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sein Roman tatsächlich eine »strukturelle Lücke«99 im literarischen Feld seiner Zeit füllte, das keinen großen, episch angelegten Roman kannte, der es mit den großen französischen Romanciers des Realen und zum Teil des Sozialen hätte aufnehmen können. Wie Jacques Dubois anmerkt, wissen Schriftsteller wie Balzac und Flaubert, wenn sie die Welt des Sozialen in ihrer Komplexität und ihren Widersprüchen schildern, genau, dass sie damit extrem tabuisierte Themen berühren, etwa den Klassenunterschied, der als »natürlich« und »notwendig« gelten soll. Dadurch erklärt sich auch die Vorsicht, mit der sie bestimmte Themen des Sozialen angehen. Dennoch spüren sie in den Sozialstrukturen oder -verhältnissen ständig eine »besondere libidinöse Beziehung«100 auf, es gibt einen fast unbewussten Drang, im Text zu enthüllen, wie sich das Soziale (die Klassifizierung, die Hierarchie, die Herrschaftsverhältnisse, das Auftreten symbolischer Gewalt) auch in scheinbar belanglosen Details verbergen kann. Daher offenbart der große realistische Roman im 19. Jahrhundert, und zwar vor allem der Roman der Autoren der »Distinktion« (z. B. Proust, wie

96 Ebd., S. 227. 97 Ebd., S. 228. 98 Siehe dazu den Brief vom 23. Mai 1904 an Lublinski, in Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA), Bd. 21: Briefe I 1889–1913, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget u. Cornelia Bernini (Hrsg.), Frankfurt/M., Fischer 2002, S. 277–278. 99 Vgl. dazu, was im vorigen Kapitel über die »posture des Autors« gesagt wurde: Es ist die Art und Weise, wie eine im Feld entdeckte Lücke besetzt wird. 100 Dubois, Pour Albertine. Proust et le sens du social, S. 23.

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Dubois überzeugend gezeigt hat),101 ein Sinnpotenzial, das noch nicht vollständig erforscht ist. Und es stimmt, dass auch bei Mann ein Sinn für das Soziale vorhanden ist, eine besondere Sensibilität, eine Neugier, die ihn dazu befähigt, die Art und Weise zu schildern, wie die Logik des Sozialen schrittweise die psychologischen Verhaltensformen des Einzelnen bestimmt. In diesem Zusammenhang erscheint Buddenbrooks in einem neuen Licht, nämlich als Manns Antwort auf eine Reihe von Fragen zur narrativen Wiedergabe des Sozialen. Wie soll man dem Anderen (dem anderen Geschlecht, der anderen Klasse, der anderen Kultur) zum Ausdruck verhelfen, ohne ihm ausdrücklich das Wort zu erteilen? Wie lässt sich das Ungesagte vermitteln? Wie geht man der Funktionsweise des Sozialen auf den Grund? Wie lässt sich die symbolische Erscheinung der sorgfältig verborgenen Unterdrückungsmechanismen entschlüsseln? Wie kann man die Unterschiede in der Klassenzugehörigkeit und die eingefleischten Hierarchien, ausgehend vom rein symbolischen Charakter der Unterscheidungen, zur Geltung bringen, ohne dabei die Rhetorik des sozialen Diskurses, wenn sie einem sehr fern liegt, zu benutzen? Wenn Mann in die große Tradition des französischen und europäischen Realismus eingereiht wird, kann man verstehen, warum es ihm gelingt, überzeugende Antworten auf diese Fragen zu finden. Im Übrigen waren es in erster Linie sein Habitus und seine posture als Schriftsteller, die ihn in die Nähe der großen Schriftsteller des Realismus und des Naturalismus rückten. Sein Schreibprojekt ist sorgfältig durchdacht, keineswegs improvisiert: Wie kaum ein anderer Autor hatte er regelmäßige und asketische Schreibgewohnheiten, die an Flaubert oder, in anderer Hinsicht, an Zola erinnern. Bei Mann wird der Roman zu einem vielschichtigen und reproduzierbaren Produkt. Seine Schilderung der sozialen Welt ist nicht das Resultat romantischer Inspiration, sondern eines auch auf formaler Ebene langen und komplexen Prozesses, bei dem er zum Zweck einer möglichst realitätsnahen Beschreibung gern auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreift. Stil und Form gehen mit dem Wunsch nach Erkenntnismethoden zusammen, die sich der modernen Wissenschaft öffnen. In bestimmten Fällen kann der Schriftsteller sogar dem »Soziologen« die Beobachtung vorwegnehmen oder sie parallel zu ihm anstellen. Vergessen wir aber nicht, dass Mann für seine Arbeit als Romancier niemals offen soziologische oder sozialkritische Ambitionen beansprucht hat. Zum damaligen Zeitpunkt fiel das »Soziale« mit dem endgültig an sein Ende gekommenen Naturalismus und mit dem Sozialismus zusammen. In beiden Fällen handelte es sich um Bewegungen, die denkbar weit entfernt von Manns Welt-

101 Dubois versucht, in der Figur von Albertine die in Recherche sehr detaillierten Machtstrukturen und die Herrschaftsbeziehungen zu lesen, die – ähnlich wie in Buddenbrooks – von der Klassifizierung und den Distinktionen abhängen.

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anschauung waren. Doch wie bereits im vorigen Kapitel102 festgestellt, war Mann sich sehr wohl der Notwendigkeit bewusst, sich den kritischen und satirischen Dimensionen des »Sozialen« zu stellen, nicht zuletzt, um dem Geschmack des Publikums entgegenzukommen. Zudem hat er gerade durch seine wissenschaftliche Arbeitsmethode und durch die sorgfältige Rekonstruktion seiner Familiengeschichte als Vorarbeit zu Buddenbrooks ein Wissen und ein Einfühlungsvermögen erworben, die es ihm ermöglichen, die Welt mit einem derart subtilen Verständnis für das Soziale zu lesen, dass seine Arbeit zu einer »impliziten«103 soziologischen Analyse wird. Es gelingt ihm dadurch, das Verborgene und das nicht ausdrücklich Gesagte aus dem Sozialen herauszulesen und so darzustellen, dass er die akribische analytische Arbeit der Soziologen vorwegnimmt. Der Romancier stellt die Zusammenhänge, die Interaktionen, die Schichtungen und den »natürlichen Anschein« der sozialen Welt somit »symbolisch« dar und inszeniert dadurch letzten Endes eine Gesellschaft, die eine »Ökonomie der symbolischen Güter« im Sinne Bourdieus wiedergibt.

1.

Die Ökonomie der symbolischen Güter in Buddenbrooks

Bei Bourdieu wird die Kategorie des Symbolischen nicht im analogen Sinn (wie in der klassischen Anthropologie) verwendet oder um etwas zu bezeichnen, das magisch oder mythisch heraufbeschworen wird, ein Bild oder ein Gegenstand, sie wird vielmehr auf mannigfaltige Weise eingesetzt. Dabei kommt dem Symbolischen besonders die Funktion zu, einen neuen Blick auf andere Begriffe zu werfen, also auf Gegenstände, Praktiken und Verhaltensweisen, die gewöhnlich verdinglicht oder naturalisiert werden, ohne dabei zu berücksichtigen, dass sie ihren Ursprung im Sozialen haben. Der Begriff des Symbolischen, der von Bourdieu fast immer als Adjektiv verwendet wird, ist also mit der desakralisierten und denaturalisierten Darstellung der sozialen Welt verknüpft: Es ist die Rede von symbolischer Gewalt, symbolischem Kapital, symbolischen Gütern, symbolischer Ökonomie, symbolischer Sprache und symbolischer Macht. Für Bourdieu besitzt jede Handlung, jeder Gegenstand, jede Form einen symbolischen Charakter, dessen Sinn im Sozialen wurzelt und der nur eine Funktion haben kann, wenn er von den anderen Akteuren, die Teil derselben Struktur sind und dieselben Normen befolgen, anerkannt wird. In Bourdieus soziologischem Denken werden sowohl die materiellen Realitäten als auch ihre Darstellungen 102 Brief an den Bruder Heinrich vom 2. November 1900, in Briefe I 1889–1913, S. 132–135. 103 Der Begriff »implizite Soziologie« wird von David Ledent in Bezug auf einige literarische Werke benutzt, Les enjeux d’une sociologie par la litt8rature, in »COnTEXTES«, Varia, 19. April 2013. URL: https://journals.openedition.org/contextes/231. (aufgerufen am 7. Juli 2019).

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(auch die literarischen) als soziale Praktiken betrachtet. Sie können sich auf zwei eng miteinander verkoppelten Ebenen entwickeln, so wie sich die soziale Welt auf zwei Ebenen abspielt: Die eine, äußere [Ebene], ist an die ungleiche Verteilung der Ressourcen gebunden (Ressourcen aller Art, vor allem aber ökonomische); die andere, innere [Ebene], ist an die kognitive Verinnerlichung der Strukturen dieses ungleichen Universums gebunden […]. Die soziale Welt wird also als ein Universum der Wahrnehmung und der Darstellung definiert, das sicher auch die Sprache einschließt, aber ebenfalls zahlreiche andere Kulturprodukte.104

Den Begriff der »Ökonomie der symbolischen Güter«105 hat Pierre Bourdieu zum ersten Mal bei seiner soziologischen Untersuchung des Volks der Kabylen106 verwendet, um damit eine allgemeine Wirtschaftstheorie zu bezeichnen, die den Praktiken als ratio zugrunde liegt. Für Bourdieu sind die ökonomischen Praktiken im engeren Sinne (als Produktion und Austausch von Gütern und Diensten) nur Teil einer generelleren Praxistheorie, die die Kreation, die Akkumulation, die Produktion und die Umwandlung verschiedener Arten von Kapital betrifft. Es handelt sich dabei nicht mehr um die Marxsche Auffassung des Kapitals, in der nahezu die gesamte soziale und nichtsoziale Realität zum Ausdruck kommt, sondern um verschiedene Arten von Kapital, die auf verschiedenen Ebenen, in unterschiedlichen Feldern und auf verschiedene Art und Weise interagieren. Nach Bourdieus Auffassung setzt sich das ökonomische Universum aus verschiedenen Welten zusammen, die jeweils einen spezifischen Zweck und eine eigene Rationalität besitzen, und nicht alle davon gehorchen einzig der Logik der finanziellen Profitmaximierung. Der französische Soziologe verbindet die »wirtschaftliche« mit der »symbolischen« Ökonomie, die auf symbolischen Gütern und auf symbolischem Austausch beruht und von der »reinen« Wirtschaftslehre als nicht rational betrachtet wird. Gewöhnlich werden diese beiden Wirtschaftsformen nicht als vergleichbar und miteinander kommunizierend betrachtet: Die eine (die rein wirtschaftliche) gehört in jeder Hinsicht dem Bereich der kapitalistischen und »modernen« Gesellschaft an, die andere dem Bereich der vormodernen Gesellschaften (der Welt der Kabylen, aber auch der Welt vorkapitalistischer Produktionsweisen). In Bourdieus Logik haben diese zwei Wirtschaftsformen – die der materiellen und die der symbo104 Jacques Dubois, Pascal Durand, Yves Winkin, Aspects du symbolique dans la sociologie de Pierre Bourdieu, in »COnTEXTES«, Varia, August 2013, URL: https://journals.openedition. org/contextes/5661 (aufgerufen am 17. Juli 2019). 105 Vgl. Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, übers. v. Hella Beister, Frankfurt/M., Suhrkamp 1998 (Originalausgabe: Raisons pratiques. Sur la th8orie de l’action, Paris, Pditions du Seuil 1994). 106 Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis: auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft.

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lischen Güter – dagegen gemeinsame Eigenschaften, weil sie beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, dem Ziel der Anhäufung und Maximierung des Gewinns gehorchen. Es gibt für Bourdieu eine den Praktiken innewohnende Vernunft bzw. eine Form der Ökonomie der Praktiken, die weder aus einem bewussten Kalkül noch aus mechanischen (rein wirtschaftlichen) Gründen und auch nicht durch den Zwang äußerer Gegebenheiten entsteht. Es ist eine den Praktiken innewohnende Logik, die den ökonomischen Interessen im weiteren Sinn entspricht, aber nicht den streng und unmittelbar ökonomischen Interessen gehorcht. Das ökonomische Universum, das Bourdieu beschreibt, besteht aus Welten und Akteuren, die einer spezifischen Logik und praktischen Überlegungen folgen. Eine Besonderheit eines so gestalteten Universums ist der Umlauf der symbolischen Güter. Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass die symbolischen Güter als solche von den Akteuren anerkannt werden müssen, damit sie in Umlauf kommen und ausgetauscht werden können: Würden sie nicht anerkannt, wären sie wertlos. Um ein Beispiel zu nennen: Es kann sich um Praxisformen handeln, um symbolische, religiös behaftete Werte, oder auch um bestimmte kulturelle Güter, die in scheinbarem Gegensatz zum rein arithmetisch kalkulierten ökonomischen Interesse stehen. Als Beispiel sei die Bildung genannt (Schulbildung oder Erziehung, die Mann in seiner Selbstdarstellung bei der Chicago-Konferenz als »Bildungsgut«107 bezeichnet hat), die für das deutsche protestantische Bürgertum ein hochwertiges symbolisches Gut darstellt, oder das Prinzip des l’art pour l’art, das für die Vertreter mancher Avantgarden sowie literarischer und künstlerischer Bewegungen symbolischen Wert hat. Bourdieu zitiert in diesem Zusammenhang als Beispiel auch den Begriff der Ehre der Gesellschaften des Mittelmeerraums, einen symbolischen Wert bzw. ein symbolisches Kapital, das Herrschaftsformen etabliert zwischen demjenigen, der es besitzt, und demjenigen, der es als solches anerkennt und sich damit freiwillig in ein Abhängigkeitsverhältnis begibt. Das Gleiche ist der Fall bei Hegels Verhältnis zwischen Herr und Knecht, in dem der Herr, um als solcher zu gelten, auf die Anerkennung des Untergebenen angewiesen ist: ein paradigmatischer Fall von symbolischer Gewalt, die vom Herrschenden mit der Zustimmung des Beherrschten ausgeübt wird. Hier ließe sich auch, und ich werde später noch einmal darauf zurückkommen, der symbolische Wert des »desinteressierten Interesses« erwähnen, das der Adel für das ökonomische Interesse zeigt, ein Prinzip, das in der Formel noblesse oblige108 zum Ausdruck kommt. Wie diese Beispiele zeigen, handelt es sich um symbolische Werte, Prinzipien oder Einstellungen, die sich im Feld der 107 Mann, Meine Zeit, in Über mich selbst. Autobiographische Schriften, S. 14. 108 Siehe, was Pierre Bourdieu dazu bemerkt, Ist interessenfreies Handeln möglich? in Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 139–157.

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praktischen Handlungen herausbilden und den Raum der ökonomischen Interessen im engeren Sinne, wie man sie normalerweise versteht, nicht berühren, obwohl sie durch die Anerkennung ihres Wertes durch alle Beteiligten eine wichtige Funktion im sozialen Bereich einnehmen. Wenn wir nun mit Bourdieu die soziale Welt als eine Welt sehen, die sich ökonomisch nicht weniger auf den symbolischen als auf den materiellen Austausch stützt, wird uns klar, dass Buddenbrooks in erster Linie ein Roman ist, der die Ökonomie der symbolischen Güter thematisiert. Zieht man stattdessen die anerkannten traditionellen Interpretationen heran, so scheint es nichts zu geben, was Manns Weltanschauung ferner läge als der Gedanke an das Soziale. Und diese Sichtweise wurde zum Teil durch Mann selbst gesteuert. Wie er in einem seiner bedeutendsten autobiographischen Essays schreiben wird, verfolgte er damit eine ganz bestimmte Absicht. Für ihn ist Buddenbrooks »[…] ein nach Form und Inhalten sehr deutsches Buch […], zugleich ein überdeutscheseuropäisches Buch, ein Stück Seelengeschichte des europäischen Bürgertums […]«109. Mann beruft sich also auf die Geschichte und die Seele: Das ist seine Sprache, eine Sprache, der die Kategorien der sozialen Rhetorik fremd sind. Ich bin jedoch dafür, dass man seinen Roman trotzdem zum Typus der Sozialromane zählen kann.110 Ich meine damit, dass Buddenbrooks ebenso die großen Sozialstrukturen mit ihren Einrichtungen und ihren Überzeugungen in Szene setzt wie auch ihre Funktionsweise, und zwar als einen Raum, in dem Akteure handeln, einen Raum, dem wiederum Praktiken entsprechen, die aus der genauen Positionierung der Handelnden innerhalb der gegebenen Sozialwelt resultieren. Das bedeutet keineswegs, dass es eine mechanische Übereinstimmung zwischen der Weltanschauung Manns und seiner Fähigkeit, die Realität und ihre sozialen Konflikte darzustellen, gäbe: Er beabsichtigt nicht, große soziale Bewegungen zu schildern sowie die Konflikte zwischen Bürgertum und Proletariat, zwischen Adel und Bürgertum, zwischen Herrschern und Beherrschten in allen denkbaren Kombinationen und mit allen sich daraus ergebenden Interaktionen wiederzugeben. Dennoch kann ein Leser, der ein Auge für bestehende Hierarchien und Unterschiede hat, in dem Roman die soziologische Gliederung der gegebenen Realität wiedererkennen. Wie wir sehen werden, bildet Mann in Buddenbrooks mit großer Genauigkeit und äußerst wirksam die Struktur einer Sozialwelt und ihre Klassen bzw. Klassifizierungen ab: die symbolischen Herrschaftsbeziehungen, die Wirkung von Prestige und Distinktion, die mit dem Besitz von symbolischem Kapital einhergehen, schließlich die Denkstrukturen 109 Thomas Mann, Lübeck als geistige Lebensform (1926), in Thomas Mann, Appell an die Vernunft. Essays 1926–1933, Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski (Hrsg.), Frankfurt/M., Fischer 2002 (2. Auflage), S. 16–38, hier S. 23. 110 Vgl. die Definition des sozialen Romans bei Dubois, Les Romanciers du r8el, S. 46–69.

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und die durch diese Welt hervorgebrachten Dispositionen. Er vertraut die Wiedergabe des Sozialen den Unterschieden, den Relationen und den sozialen Hierarchien an, die zwischen den Akteuren im Feld herrschen und sich jeweils auf symbolischer Ebene zeigen. Der Roman macht eine symbolische Ordnung sichtbar und demonstriert die Funktionsweise der Ökonomie der symbolischen Güter, indem er dem Leser offenbart, wie diese Ordnung die Wirkung der (symbolischen) Herrschaft und die symbolischen Relationen unter den Klassen beeinflusst. Innerhalb dieser Ordnung kommen die für den Roman typischen Beschreibungen einer regelrechten Soziologie des Wirklichen gleich. Wie kaum ein anderer Roman ist Buddenbrooks fest an eine lokal begrenzte, gut definierte und erkennbare Realität gebunden: an die Gesellschaft des protestantischen Bürgertums von Lübeck, der Hansestadt, die auf eine besondere Geschichte zurücksieht, über eigene politische Einrichtungen und eine eigene Ökonomie der symbolischen Güter verfügt. Es ist bezeichnend für diesen Mikrokosmos, wenn Thomas an einem bestimmten Punkt des Romans feststellt: »Alles ist bloß ein Gleichnis auf Erden.«111 Der aus Goethes Faust übernommene Satz bestätigt unsere hier vorgeschlagene Lesart: Die wichtigsten Themen sind der symbolische Kampf um das Sein und den Schein, um den symbolischen Einsatz der Figuren bei der Besetzung des sozialen Raums, der Kampf zur Aneignung bestimmter distinktiver symbolischer Qualitäten und der Anspruch, die Trennungslinien zwischen den Klassen und die weiteren feinen Unterschiede innerhalb derselben zu erkennen und anerkennen zu lassen. Gegenstand der Darstellung sind Personen, Klassen oder Klassifikationen, Themen und Werte aus der Welt des Handels und des Warenaustausches im traditionellen Sinn, so wie sie sich im Laufe der Geschichte in Lübeck herausgebildet hat. Allgemeiner gesagt, geht es um die bürgerlich-kapitalistische Ökonomie als Produktionsform von Waren und sozialen Praktiken, von Werten und Symbolen, von Unterschieden und Klassifizierung der Unterschiede. Das ist der Motor, der den Roman antreibt und die Organisation der darin dargestellten Gesellschaft bzw. des multidimensionalen sozialen Raums bestimmt. In Buddenbrooks wird eine strukturierte soziale Welt in Szene gesetzt, deren Akteure wie alle Figuren im realistischen Roman nicht nur Rollen einnehmen und Funktionen ausüben, sondern auch deren Bewusstsein repräsentieren. Mann spricht von einem »geistigen Leben«, tatsächlich jedoch beschreibt er in allen Einzelheiten eine spezifische Ökonomie der symbolischen Güter, die die Figuren zu denen macht, die sie sind, und die ihr Handeln nach vorgegebenen oder »habitualisierten« 111 Thomas Mann, Buddenbrooks, GKFA, Heinrich Detering et al. (Hrsg.), 1.1: Textband, Eckhard Heftrich (Hrsg.) unter Mitarbeit v. Stephan Stachorski u. Herbert Lehnert, Frankfurt/M., Fischer 2002, 302. Alle Zitate sind dieser Ausgabe entnommen; die Seitenzahlen folgen ab jetzt in Klammern im Text.

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Formen bestimmt, da die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass die Figuren den Habitus bestimmter Klassen und Stände verinnerlichen. Daher bin ich der Ansicht, dass der Begriff der »Ökonomie der symbolischen Güter« den entscheidenden Schlüssel zu Manns Roman liefert. Die meisten Interpretationen von Buddenbrooks neigen dazu, hierin die Geschichte der familiären, gesellschaftlichen oder ständischen Dekadenz oder der Dekadenz tout court zu erkennen. Diese Lesarten sind insgesamt gewiss richtig und berechtigt. Zweifelsohne hat Mann in erster Linie die Absicht, die Geschichte und den Verfall einer bürgerlich-protestantischen Familie aus Lübeck in allen Einzelheiten und Nuancen zu erzählen, wobei er seine Aufmerksamkeit auf die Angehörigen der Familie Buddenbrook und ihre individuellen Angelegenheiten, auch ihren Niedergang konzentriert. Aber man kann eine andere Perspektive anlegen und das kritische Hauptinteresse auf die Beziehungen richten, die sich in dem familiären und sozialen Raum entwickeln, in dem sich alle Akteure bewegen. In dem sozialen Mikrokosmos Lübecks, den Mann so genau schildert, lässt sich nämlich beobachten, in welchen Formen das symbolische Kapital seine Herrschaft über die Untergebenen entfaltet. Der Begriff des symbolischen Kapitals, seine ungleiche Verteilung unter den verschiedenen sozialen Schichten, die Möglichkeit, diejenigen zu klassifizieren, die es besitzen – auch seit wann, in welchem Ausmaß usw. –, erlauben uns, Buddenbrooks als einen Roman zu lesen, in dem die Logik des Sozialen und der Klassifizierung auch in Situationen und Momenten vorherrscht, die allem Anschein nach eher einer individuellen Sphäre angehören und nicht der Absicht entsprechen, das Soziale darzustellen. Die kollektiven Denkschemata, die Hierarchien, die Herrschaftsverhältnisse und die symbolische Gewalt, die einfachen Unterschiede, die Habitus, die Art zu sprechen, sich zu kleiden und zu essen machen die Geschichte aus, die in einem Individuum verkörpert ist, und orientieren dessen Handlungen im sozialen und relationalen Raum. Nebenfiguren, die im Raum des Romans auftreten, tragen dazu bei, dass ein präziseres Bild von der Welt mit ihrer symbolischen Ordnung und der Gliederung ihrer sozialen Beziehungen entsteht, noch bevor eine soziologische Analyse einsetzt. In seinem Roman verwirklicht Mann eine groß angelegte Katalogisierung, eine Darstellung und Charakterisierung der Unterschiede, die auf der Ebene des symbolischen Austausches auftreten sowie im Verhalten und in den erworbenen Dispositionen der Akteure zum Ausdruck kommen. Buddenbrooks ist somit eine ausgezeichnete symbolische Beschreibung einer ungleichen Sozialordnung.

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Wer Buddenbrooks liest, ist von Anfang an von einer Charakteristik beeindruckt: von dem ständigen Bemühen um Distinktion. Wie andere große Romane, die um die Jahrhundertwende entstanden sind (man denke z. B. an Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust, der mit diesem Werk den Klassenunterschieden ein Denkmal errichtet hat), inszeniert Buddenbrooks die Formen, in denen sich die sozialen Verhältnisse in einem bestimmten Feld präsentieren, und ihre Veränderungen. Die Distinktion, über die Bourdieu einen aufschlussreichen Essay geschrieben hat112, ist eine Differenzierungsstrategie, die die Einzelnen oder, besser gesagt, die in der sozialen Welt Agierenden verinnerlicht haben und im Alltag bei allen Gelegenheiten einsetzen. So hat auch jede Klasse oder jede Schicht ihre eigene Distinktionsstrategie. Das deutsche protestantische Bürgertum von Lübeck – die Klasse, die für Mann bei Buddenbrooks im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, und nicht nur das – unterscheidet sich von den anderen Klassen und zeigt auch eine Binnendifferenzierung, die in vielen verschiedenen Formen erscheint: Geschmack, Sprache, Habitus, körperliche Hexis113, Kleidung114 und Verhalten, korrekte Tischmanieren usw., es gibt nahezu unendlich viele Varianten. Der Roman spielt zwischen 1835 und 1877, in einem Zeitraum, der vier Generationen der Familie Buddenbrook umfasst und einige bedeutende geschichtliche Ereignisse behandelt, was allerdings ausschließlich aus der Perspektive der Familie und ihrer Interessen heraus geschieht. Mit wenigen Ausnahmen gehören alle Protagonisten zum Großbürgertum der Hansestadt. Dass es im Roman um eine einzige Klasse geht, die die Hegemonie im sozialen Feld innehat und keine Gegenspieler aufweist, entspricht tatsächlich der Realität der Stadt Lübeck, die als hanseatischer Stadtstaat völlig auf den Handel ausgerichtet war und keinen Adel im eigentlichen Sinne hatte. Dies bedeutet, dass es in Lübeck im Unterschied zu anderen Städten dieser Zeit keine nennenswerten Konflikte mit dem Adel gab, der anderswo in Deutschland dem Bürgertum die politische, ökonomische und kulturelle Vorherrschaft streitig machte, wobei es zu Auseinandersetzungen kam, die manchmal auch osmotische Vorgänge zwischen den Klassen zur Folge hatte. Das Konfliktpo112 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M., Suhrkamp 1987 (Originalausgabe: La Distinction. Critique sociale du jugement, Paris, Les Pditions de Minuit 1979). 113 Die Hexis ist eine einverleibte, dauerhafte Disposition und eine stabile Art und Weise der Körperhaltung, des Redens, Gehens, Fühlens und Denkens. Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, übers. v. Günter Seib, Frankfurt/M., Suhrkamp 1987, S. 128 (Originalausgabe: Le sens pratique, Paris, Les Pditions de Minuit 1980). 114 Siehe dazu den brillanten Essay von Bavaj, La semantica dell’abbigliamento nei »Buddenbrook« di Thomas Mann.

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tenzial zwischen Adel und Bürgertum ist in Lübeck gleich null, weil Lübeck eine Handelsstadt ist, in der die Aristokratie aus einer Art Regierung besteht, die sich aus den in ökonomischer, symbolischer und politischer Hinsicht angesehensten Patrizierfamilien zusammensetzt. Kontraste erscheinen höchstens in Form von Unterschieden: Tatsächlich gibt es im Roman Figuren, deren Verhalten und Geschmack als »adlig«115 bezeichnet werden, wohingegen die eigentlichen Adligen, wo sie als leibhaftige Akteure auftreten (z. B. Irmgard von Schilling, der Graf Kai von Mölln), einer überholten, fremden Welt angehören, auch wenn sie möglicherweise als Träger positiver Werte gezeigt werden (insbesondere Kai). In Lübeck gibt es eine herrschende Klasse, die aus einem soliden bürgerlichen Patriziat besteht, das mit dem Handel und den Berufsständen verflochten ist und eine relativ einheitliche Auffassung der sozialen und symbolischen Ordnung hat. Darüber hinaus gibt es einzelne Akteure, die nach einem vertikalen Kriterium auf der sozialen Leiter ab- oder aufsteigen können. Zieht man dagegen eine horizontale Klassifizierung heran, so lässt sich beobachten, dass sich die Akteure innerhalb eines gemeinsamen Raums (der Mikrokosmos von Lübeck ist sehr klein, daher gut überschaubar und klassifizierbar) auf Positionen zubewegen, die sich im Zentrum oder am Rand befinden, und zwar je nach dem Erfolg, den sie im Handel, in der Wirtschaft, in der Politik im Allgemeinen, in der Heiratspolitik und den sich daraus ergebenden Geschäften (etwa Erwerb aller Arten von neuem Kapital) erzielen. Gleich die Anfangsszene des Romans gestattet uns, die symbolische Ordnung und die Grundsätze, auf denen die bürgerliche Aneignung der Welt beruht, zu erfassen. Im Oktober 1835 treten drei Generationen der Familie auf: der alte Konsul Buddenbrook, Gründer der Firma, dessen Ehefrau, die er in zweiter Ehe im ausschließlichen Interesse der Familie und der Firma geheiratet hat (nach dem Grundsatz, der später das Leben und das Schicksal aller Familienmitglieder bestimmen wird), der Sohn Johann (Jean) und dessen Ehefrau Elisabeth Kröger und die drei Enkel, jeweils Hauptfiguren des Romans, Thomas (Tom), Christian und Antonie (Tony). Es fehlt die vierte Enkelin, Klara, die kurz danach geboren wird, und natürlich die vierte Generation, vertreten durch Erika, die Tochter Tonys, und durch Hanno, der 1861 als Sohn von Thomas und Gerda Arnoldsen zur Welt kommen wird, um 1877 sein kurzes Dasein zu beenden. Mann hat eine langwierige Vorarbeit zu all seinen Figuren geleistet: hat nach den am besten geeigneten Namen gesucht, sich für ihre Lebensgeschichte interessiert, die menschlichen Charakterzüge jedes Einzelnen durchdacht und schließlich auch 115 Besonders Tony zeigt in der Kindheit (aber auch später) eine Schwäche für den reichen und glänzenden Lebensstil der Familie mütterlicherseits, der Krögers. Auch in einer Stadt wie Lübeck kommt es vor, dass die obersten Schichten des Handelsbürgertums dem Zauber einer weniger asketischen und eher »adligen« Existenz erliegen.

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verschiedene Optionen, die ein Roman anzubieten hat, abgewogen. Danach galt sein Interesse dem individuellen Charakter der Figuren und deren literarischer Darstellung. Mann hat nie die programmatische Absicht gezeigt, den sozialen Aspekt, den seine Figuren verkörpern, vorzuführen. Dennoch gelingt es ihm durch die Charakterdarstellungen, dem Leser eine genaue Beschreibung der sozialen Welt und der symbolischen Ordnung Lübecks zu liefern. Die Individuen existieren als solche, aber sie handeln in Bezug auf ihre Mitmenschen und innerhalb eines gemeinsamen Raums. Sobald sie im gegebenen Raum agieren, kommen unbewusst und fast unbemerkt Trennungen und Gegensätze in der Verteilungsstruktur des symbolischen Kapitals zum Vorschein. Mit anderen Worten, der Besitz oder das Fehlen symbolischen Kapitals ist entscheidend für die Möglichkeit, eine bestimmte Rolle zu spielen, die eigene (eher zentrale oder eher marginale) Position im Spielfeld zu finden und von den anderen Spielern als guter Spieler anerkannt und legitimiert zu werden, nämlich als einer, der die Spielregeln kennt und weder ein Hochstapler noch ein Schwindler ist.116 So präsentiert uns Mann im ersten Teil seines Romans fast alle Figuren, ihren Charakter und die soziale und symbolische Ordnung, an der sie sich orientieren. Die erste Szene zeigt den alten Johann Buddenbrook, wie er gutmütig seine achtjährige Enkelin Antonie bzw. Tony über den kürzlich erschienenen Katechismus befragt. Schwiegertochter Elisabeth, Tonys Mutter, hilft ihrer kleinen Tochter mit sanfter Stimme bei der Antwort. Es ist nur ein kurzer und oberflächlicher Meinungsaustausch über eine religiöse Frage, aber durch diesen Auftakt betont Mann, dass der kurze Dialog nach den Modi und Formen abläuft, die die Selbstdarstellung des Bürgers entscheidend prägen: Elisabeth besitzt Eleganz und zeigt sie, ihre Person strahlt Sicherheit und Ruhe aus. Die Schwiegertochter stammt aus einer Nebenlinie der Familie Buddenbrook, der symbolische Merkmale zugeschrieben werden, die sich manchmal von der Welt des Bürgertums tout court abheben: Tatsächlich verfügt Elisabeth Krögers Familie im Vergleich zur diskreten Sachlichkeit der Familie Buddenbrook über ein Übermaß an Distinktion, eine Art der Eleganz, die Mann ausschließlich den Mitgliedern der Familie Kröger vorbehält. In großen Teilen des Romans werden Krögers als Beispiel für eine bürgerliche Existenzform vorgeführt, die sich an den adligen Lebensstil annähert und ihn zum Teil auch übernimmt. Wir wissen, dass es in Lübeck keine eigentliche Aristokratie gibt, aber im Laufe der Zeit und mit zunehmendem materiellen Reichtum verbreiten sich leicht verweichlichte, feinere Existenzformen, die nichts mehr mit dem asketischen, strengen Lebensstil der Buddenbrooks zu tun haben. Die Familie Kröger vertritt die an116 Die Figur des Hochstaplers und des Schwindlers spielt bei Mann eine bedeutende Rolle. Man denke an den Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, an dem der Autor von 1910 bis 1954 schrieb.

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spruchsvollste Schicht der Konsumenten: Ihr Lebensstil, ihre Gewohnheiten, ihre aristokratisch anmutende Villa am Stadtrand sind alles distinktive Elemente, die vom Romanbeginn an die kleine Tony faszinieren, zumal sie ohnehin dazu neigt, sich der in der Familie vorherrschenden sanfteren Form der Askese zu entziehen. Krögers sind ein klares Beispiel dafür, wie eine alteingesessene Kaufmannsfamilie aufgrund ihrer besonderen Geschichte eine Stufe des bürgerlichen Lebensstils erreichen kann, die an den Lebensstil des Adels fast heranreicht. Krögers haben über die Jahre auch einen distinktiven, »habitualisierten« Geschmack erworben (d. h. einen Geschmack, der zu einem richtigen Habitus geworden ist), der eine Art Distinktion in der Distinktion darstellt: Es ist, als seien sie die »CrHme de la CrHme«. Frau Kröger, fügt Mann hinzu, war »wie alle Krögers, eine äußerst elegante Erscheinung, und war sie auch keine Schönheit zu nennen, so gab sie doch mit ihrer hellen und besonnenen Stimme, ihren ruhigen, sicheren und sanften Bewegungen aller Welt ein Gefühl von Klarheit und Vertrauen«. (11) Manns Porträt bringt eine weitere Eigenschaft der dominanten symbolischen Ordnung ins Spiel: In der Welt der symbolischen Güter, die man erwerben kann (Eleganz, Selbstbeherrschung, harmonische Gestik, Körperbeherrschung), ist die Schönheit keine Eigenschaft, die zu den Unterscheidungsmerkmalen der herrschenden Klasse gehört. Im Gegenteil, sie kann beunruhigende und fatale117, zerstörerische und ablenkende118 Züge tragen. Im Bereich der protestantischen Ethik, die den Bezugsrahmen für Manns Wertesystem darstellt, ist Schönheit insofern ein gefährliches und verwirrendes119 Element, als sie unkontrollierbar und dadurch nicht in den Rahmen der geltenden symbolischen Ordnung einzugliedern ist. Schönheit kann man weder lehren noch durch Übung erlernen, deshalb gehört sie nicht zu den Eigenschaften, die man sich durch Habitualisierung aneignen kann: Aus diesem Grund erzählt sie nicht zu den symbolischen Gütern. »›Das Auge‹ ist ein durch Erziehung reproduziertes Produkt der Geschichte«,120 schreibt Bourdieu, d. h., die ästhetische Einschätzung basiert auf dem Erlernen bestimmter Klassifikationsmuster. Auch für die Buddenbrooks besteht die Möglichkeit, ihr Aussehen und ihre Selbstdarstellung zu verbessern, und viele der Protagonisten des Romans machen auch einen ausgiebigen Gebrauch davon (Thomas, Tony), doch Schönheit als Eigenschaft an und für sich 117 Dabei denkt man an den Topos der »Femme fatale«, der sich gerade um die Jahrhundertwende in der europäischen Literatur durchsetzte. 118 Auf den im protestantisch-asketischen Bereich äußerst negativ besetzten Begriff der Ablenkung werde ich später zurückkommen. 119 Verwirrend ist ohne Zweifel die Ehefrau von Thomas: Gerda Arnoldsen. Aber verwirrend sind auch die weißen Zähne des jungen Morten und die exotische Schönheit von Anna, der Floristin und Geliebten von Thomas. 120 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 20–21.

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ist kein Grundwert ihrer sozialen Welt: Schönheit verweist auf ein ästhetisches Wertesystem, das der ethisch-protestantischen Welt von Lübeck fremd ist. »Ein enger Rock aus duftiger, hellgeblümter Seide« und ein »Atlasband an dem eine Komposition von großen Brillanten flimmerte« (11) können jedoch die nüchterne Eleganz der Frau Konsul zur Geltung bringen. Solche Accessoires stehen einerseits mitunter für einen ostentativen und überflüssigen Luxus, andererseits haben sie auf der ethischen Ebene eine Distinktionsfunktion: Wer nach bestem Wissen und Gewissen bzw. nach der Moral der Buddenbrooks handelt, der erhält die verdiente Belohnung eines Wohlstandes, den man nicht zu verheimlichen braucht. Und der ganze Raum, das Umfeld in seiner soliden, gut strukturierten Eleganz, die Ökonomie der langsamen, gemessenen und diskreten Gesten sowie die freudige, rituelle Feierlichkeit kennzeichnen die erste Szene und haben die Merkmale eines Wohlstandes, der vorgezeigt werden darf bzw. muss und als Zeichen einer tugendhaften und gottgefälligen Lebensführung wahrgenommen wird. Mann betont die innere Ruhe und die gelassene Selbstsicherheit der Hausherrin. Auch der häusliche Raum ist an der herrschenden symbolischen Ordnung ausgerichtet. Die Wände sind mit Tapeten verkleidet, die im perfekten farblichen Einklang mit dem Teppich idyllische Szenen zeigen. Insgesamt überwiegt die Farbe Gelb in all ihren Schattierungen.121 Familie Buddenbrook ist zu einem gewöhnlichen Empfangstag versammelt. Wie es der Brauch verlangt, empfängt die Familie jeden zweiten Donnerstag. Es handelt sich um eine ritualisierte Handlung mit dem Zweck, bei allen Angehörigen der eigenen Schicht das Gefühl der Konformität zu festigen. Gerade deshalb ist dies, wie wir sehen werden, der Ort, an dem die Unterschiede in der herrschenden Sozialordnung spürbar werden. An diesem Tag ist ein Ereignis vorgesehen, das nicht dem gewöhnlichen Ritual entspricht: die Einweihung des neuen Hauses, eine Feier von institutioneller Bedeutung. Familie Buddenbrook hat ein bedeutendes Ziel erreicht: Die individuelle, aber auch gemeinsame Leistung ihrer Mitglieder wird mit der Einweihung eines neuen Hauses belohnt, das in der symbolischen Ökonomie, mit der sich alle Familienmitglieder identifizieren, einen hohen Stellenwert besitzt. Der Verkauf des Hauses am Ende des Romans ist für die Familie daher gleichbedeutend mit dem Verlust des symbolischen Kapitals und dem Ende der Familiengeschichte. Das von Mann anfangs beschriebene Gesamtbild ist der Ausdruck einer allgemeinen, einstimmigen Zufriedenheit. Alle Akteure bewegen sich unbefangen nach gemeinsamen verinnerlichten Verhaltensmustern. Als ein »soziales Produkt«, wie wir aus den Studien über die Zivilisationsprozesse in der modernen 121 Ich erinnere daran, dass die Farbe Gold in den Buddenbrooks oft erscheint, um einen bevorstehenden Tod und Verfall anzuzeigen.

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Welt von Norbert Elias und später von Bourdieu wissen, ist der Körper »nicht nur Träger sondern auch Produzent von Zeichen, die in ihrem sichtbar-stofflichen Moment durch die Beziehung zum Körper geprägt sind«122. Die Haltung des Körpers und die Art und Weise, wie er sich im Raum bewegt, drückt somit den Grad seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sozialsystem aus. Der Umgang mit dem Körper ist eine praktische Art, je nach den erworbenen Dispositionen die Bedeutung der Besetzung des sozialen Raums und der Klassifizierung123 auszudrücken. Sämtliche Gäste des abendlichen Mahls bei Buddenbrooks beweisen, dass sie die Dispositionen und Verhaltensweisen ihrer Klasse vollkommen verinnerlicht haben. Wir wissen, dass sie zum Kreis der hohen Persönlichkeiten von Lübeck gehören und dass sie alle einen ausgeprägten Sinn für ihren gesellschaftlichen Status haben, der mit ihrem Ruf, ihrem Ansehen und ihrer Ehrbarkeit einhergeht – alles symbolische Güter, die bedeutenden wirtschaftlichen und politischen Positionen im Mikrokosmos der kleinen Hansestadt entsprechen. Mit dem Gelage zu einer Hauseinweihung zelebrieren die Gäste einen Topos des realistischen sozialen Romans. Es ist ein relationaler Moment, den die großen Romanciers des Realen – man denke etwa an die Gelage und Empfänge bei Stendhal, Flaubert und Proust – in Szene setzen, um die Rivalitäten und Machtkämpfe innerhalb einer Klasse oder die Konflikte zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten konkret zu veranschaulichen. Hier, in Buddenbrooks, sind die Umstände anders als bei den Massenzeremonien (große Empfänge, Bälle usw.), die bei den Franzosen Gegenstand ausgiebiger Schilderungen sind: In unserem Fall verhindert die Homogenität der Anwesenden, die alle einem Verhaltensmuster folgen, alle einer Klasse und einer einzigen Partei angehören, das Aufkommen religiöser, politischer, wirtschaftlicher und ideologischer Konflikte. Dabei kann es jedoch zu kleineren Unstimmigkeiten zwischen den Generationen (etwa zwischen Konsul Buddenbrook und seinem Sohn) oder zu Auseinandersetzungen kommen, die sich aber in der privaten Sphäre klären lassen (beispielsweise zwischen den Brüdern Thomas und Christian). Dennoch hat Mann nicht die Absicht, Konflikte zwischen den Klassen oder gar »brutale« Machtverhältnisse darzustellen. In der sozialen Welt der Buddenbrooks ist kein Platz für konkrete Formen sozialer Rivalität oder für einen ausdrücklichen Klassenkonflikt (abgesehen von dem kurzen Intermezzo im vierten Teil des Romans, in dem die 48er-Revolution in Lübeck mit distanzierter Ironie geschildert wird). Es ist aber gerade die Zurückhaltung, mit der bestimmte Themen behandelt werden: Themen, die den 122 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 310. Über die Körpersoziologie von Marcel Mauss bis Pierre Bourdieu siehe den interessanten Essay von Benjamin Moldenhauer, Die Einverleibung der Gesellschaft. Der Körper in der Soziologie Pierre Bourdieus. 123 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 727–757 (Klassen und Klassifizierungen).

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Autor weniger interessieren und von denen er eine begrenzte Kenntnis hat, die jedoch einigen Stellen des Romans, in denen die sozialen Unterschiede inszeniert und als »natürlich« dargestellt werden, größeres Gewicht verleihen. Der aufmerksame Leser kann in scheinbar bedeutungslosen Details und Figuren der Erzählung die widersprüchlichen Merkmale der sozialen Welt wahrnehmen, die eine symbolische Störung der festgelegten Ordnung ausdrücken. Es treten Akteure auf, die bewusst oder unbewusst praktische soziale Verhältnisse und Verhaltensweisen ins Spiel bringen, die im Kontrast zur herrschenden symbolischen Ordnung stehen.

3.

Zwei soziale Störfaktoren: Ida und Thilda

Die erste »fremde« Erscheinung, die auftritt, ist Fräulein Ida Jungmann. Ihre Benachteiligung besteht darin, dass sie eine Fremde (Preußin) und ohne Familie ist. Man könnte vielleicht anmerken, dass Mann in der Figur der Ida seine Ironie spielen lassen wollte. Vielleicht ist dem so. Jedenfalls hinterlässt die durch die junge Hausangestellte verursachte Störung der Harmonie eine eindeutige Wirkung. Mit ihrem Erscheinen und ihrer Anwesenheit liefert uns Ida einen klaren Beweis dafür, wie die soziale Welt der Unterschiede funktioniert, auch in einem Mikrokosmos wie dem Haus der Buddenbrooks, das augenscheinlich keine sozialen Gegensätze kennt. Hier wird der Unterschied in Szene gesetzt und vom Leser wahrgenommen. Fräulein Jungmann, sagt uns der Romancier, wurde als kleines Mädchen aus christlichem Mitgefühl aufgenommen und als Hausangestellte, besonders zu Diensten der kleinen Tony, eingesetzt. Ihre preußische Herkunft macht sie für Johann Buddenbrook verdächtig. Trotz all seiner Gutmütigkeit – betont Mann – neigt der alte Buddenbrook nämlich dazu, in seinen sozialen Beziehungen »strenge Grenzen zu ziehen und Fremden ablehnend zu begegnen«. (14) Ida verfügt jedoch über zwei Eigenschaften, die von ihrer Herrschaft überaus geschätzt werden: Sie arbeitet sorgfältig, zuverlässig und verkörpert vor allem, wie ich es bezeichnen würde, die »Werte des Preußentums«. Mit Mann gesprochen: Übrigens hatte Ida Jungmann sich als tüchtig im Hausstande und im Verkehr mit den Kindern erwiesen und eignete sich mit ihrer Loyalität und ihren preußischen Rangbegriffen im Grunde aufs Beste für ihre Stellung in diesem Hause. Sie war eine Person von aristokratischen Grundsätzen, die haarscharf zwischen ersten und zweiten Kreisen, zwischen Mittelstand und geringerem Mittelstand unterschied, sie war stolz darauf, als ergebene Dienerin den ersten Kreisen anzugehören, und sah es ungern, wenn Tony sich etwas mit einer Schulkameradin befreundete, die nach Mamsell Jungmanns Schätzung nur dem guten Mittelstande zuzurechnen war …(15)

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Manns Urteilsschwankungen und Ambivalenzen in Bezug auf den Begriff des »Preußentums« sind bekannt und sollen an dieser Stelle nicht noch einmal erörtert werden.124 Was er implizit an der Sozialstruktur des damaligen Preußens anerkennt, ist jedoch direkt mit der hier besprochenen Frage verknüpft: die Fähigkeit, den Untertanen die Disposition zur Subordination und zur unmittelbaren Anerkennung der Klassen- und Rollenunterschiede125 einzuimpfen, und zwar noch früher und gründlicher, als es in den anderen deutschen Staaten der Fall war. Die Geschichte dieser jungen Frau ist beispielhaft für die Herrschaftsausübung: Es geht um eine Person weiblichen Geschlechts, ohne Familie, ohne Bildung, die keinerlei symbolische oder nicht-symbolische Güter besitzt und dementsprechend kaum eine Möglichkeit hat, sich zu emanzipieren und zu befreien. Mit Bourdieus Worten: Es gibt kaum Trajektorien, die sich dem Mädchen in diesem historischen Moment in der Welt des Möglichen bieten. Auf der sozialen Skala steht Ida auf der niedrigsten Stufe der Beherrschten: In ihr verkörpern sich Sozialstrukturen in einem gewaltlosen Herrschaftsverhältnis. Das Mädchen hat die Normen, die das Leben in der sozialen Welt, in der sie sich bewegt (die Familie, die sie aufgenommen hat, und ihr Milieu), streng hierarchisch regeln, wie eine zweite Natur verinnerlicht. Ihr Glaube an die Legitimität der Macht und an deren Zeichen oder symbolische Repräsentationen ist total und absolut. Sie übt eine Art freiwilliger Dienerschaft aus, die ganz und gar auf dem Beharrungsvermögen der erworbenen Gewohnheiten basiert.126 Ida hat ihre Unterwerfung durch die Macht als völlig legitim und natürlich verinnerlicht und entsprechend auch die unterwürfige Anerkennung, die sie der Macht entgegenbringt. Sie hält die Klassenunterschiede für so selbstverständlich und 124 Mann wird im Laufe seiner langen Reflexionen über Deutschland, über seine Funktion und über sein »Schicksal« oft die sogenannten preußischen Werte und die Rolle, die Preußen bei der Vereinigung Deutschlands gespielt hat, überdenken. In Buddenbrooks behandelt er besonders die negativen Auswirkungen der nationalen Vereinigung auf das Schulwesen: Siehe im elften Teil die Beschreibung der preußisch orientierten Schule, die der kleine Hanno gezwungen war zu besuchen. 125 In einer konservativen Vorstellung gehören zu den traditionell als »preußisch« geltenden Tugenden und Werten (die nicht an eine Volksgruppe – es gibt nämlich kein »preußisches Volk« –, sondern an eine Ideologie gebunden sind) Dispositionen wie: Offenheit, Bescheidenheit, (selbst auferlegte) Disziplin, Großzügigkeit, Fleiß, Gehorsam, Beständigkeit im Streben nach dem Ziel, Sinn für Gerechtigkeit (»jedem das Seine«), Härte (erst sich selbst und dann den anderen gegenüber), Sinn für Ordnung und für Rangordnung, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Korrektheit, ritterlicher Mut, Selbstverneinung im Kollektiv, Enthaltsamkeit, Treue, Unbestechlichkeit, Dienstfertigkeit, Herrschaftsvermögen, Härte und Mitgefühl sowie eingefleischte, begeisterte Bereitschaft zur Unterordnung. Es ist offensichtlich, dass Mann manche dieser Werte, die sich vollkommen in die protestantische Ethik einordnen lassen, schätzt, andere jedoch ablehnt. 126 Man siehe hierzu auch im achten Teil die rituelle Ehrerbietung der Arbeiterdelegation des Speichers, die sich aus Anlass der Feier zur hundertjährigen Firmengründung zum Senator Thomas Buddenbrook begibt.

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nötig, dass sie selbst »spontan« dafür garantieren kann, dass die kleine Tony keinen Umgang mit nicht standesgemäßen Personen hat. Mann bezeichnet sie daher auch als eine Person mit »aristokratischen Grundsätzen«, womit er uns einen zusätzlichen Beweis dafür liefert, wie der Unterwerfungsmechanismus funktioniert: Obwohl Ida ein Waisenkind ist und nichts zu verlieren hat, hat sie dennoch alle Prinzipien der Sozialordnung, auf denen ihre Unterwerfung beruht, dauerhaft verinnerlicht und ist selbst zu einem aktiven Teil der Herrschaft, der sie unterliegt, geworden. Jeglicher Widerstand ist ihr unmöglich. Da sie kein anderes Wahrnehmungsschema besitzt als das der Herrschenden, nimmt sie als Beherrschte ihren Status als durchaus notwendig und legitim wahr. Fräulein Jungmann ist gewiss eine Nebenfigur des Romans, aber sie ist bezeichnenderweise bis zum Ende präsent, da sie einen Grundmechanismus der sozialen Welt verkörpert, den der symbolischen Gewalt. Nach Max Webers klassischer Definition von Macht und Herrschaft ist die Gewaltausübung innerhalb eines bestimmten Gebiets einzig und allein Monopol des Staates. Doch neben den Formen der staatlichen Gewalt, die im Raum ausgeübt wird, gibt es willkürliche Herrschaftsformen, die es den Herrschenden ermöglichen, ihre Gewalt auszuüben, indem sie sich auf Einrichtungen, Bräuche, Gepflogenheiten und Glauben berufen, so dass sie auf den direkten Einsatz physischer Gewalt verzichten können. In der modernen kapitalistischen Gesellschaft hat sich eine Form des ökonomischen Zwangs durchgesetzt – und zwar jener, der sich bei der Trennung der Produktionsmittel und der daraus resultierenden Arbeitsteilung bildet. Dadurch entsteht für die Beherrschten der Zwang, ihre Arbeitskraft frei zu verkaufen. Sie akzeptieren in diesem ökonomischen Kontext freiwillig die Herrschaft als ihre einzige Überlebenschance. Sie begehren nicht auf und leisten keinen Widerstand, nicht nur aus Angst vor der staatlichen, familiären, religiösen oder im weiteren Sinne institutionellen Unterdrückung, sondern auch weil sie die Überzeugung entwickelt haben, dass die Herrschaft in der natürlichen Ordnung der Dinge vorgegeben ist. Die Untergebenen erkennen letzten Endes also die Herrschaft, der sie ausgesetzt sind, als legitim und notwendig an. Bourdieu bezeichnet diejenige Art von Gewalt, die nicht durch physischen Zwang wirkt, sondern indem sie die Wahrnehmungsmuster, das Denken und die körperlichen Dispositionen der Beherrschten unbewusst konstruiert, als »symbolische Gewalt«. Dieser Begriff gilt für sämtliche Formen »sanfter Gewalt« und für jede Herrschaftsform, die von den Beherrschten akzeptiert und für selbstverständlich gehalten wird.127 Die symbo127 Mit dem Konzept der symbolischen Gewalt entwirft Bourdieu »eine Antwort auf die Frage: wieso unerträgliche soziale Existenzbedingungen von denen, die ihnen unterliegen, oft als akzeptabel, natürlich und selbstverständlich erlebt werden«, Robert Schmidt, Symbolische Gewalt, in Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Gerhard Frölich u. Boike Rehbein

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lische Gewalt wird zwar nicht als physische Gewalt ausgeübt, aber sie wirkt dennoch auf den Körper und kann eine Reaktion des Unbehagens in den Gesten und den Handlungen der Betroffenen hervorrufen: Sie kann z. B. zur Selbstmissachtung, zu Schamgefühl, Stottern, Erröten, Selbstzensur und Selbstausgrenzung führen.128 Die Anerkennung, die die Beherrschten den Herrschern zollen, hat außerdem eine zweifache Bedeutung: Einerseits werden die für die Herrschaft angeführten Grundlagen (die ethnischer, sozialer, religiöser, natürlicher usw. Art sein können) als legitim angesehen, andererseits wird das Prinzip akzeptiert, dass nur eine disziplinierte Eingliederung in die Ordnung der Dinge Nutzen und Vorteile bringt. »Aus der Not eine Tugend machen«, das ist es, was dazu führt, dass die eigenen Existenzbedingungen und die erlittene symbolische Gewalt als amor fati akzeptiert werden.129 Mit diesem Begriff bezeichnet man eine Form der Selbsterhaltung, die es dem Akteur erlaubt, nach einem verinnerlichten Verhaltensmuster, das keinem unmittelbaren Interesse entspricht, im Raum zu handeln: Treue und Loyalität gegenüber Personen, Symbolen und Institutionen sowie jegliche Art desinteressierten Verhaltens (noblesse oblige, pro patria mori usw.) beruhen auf der »Not, aus der man eine Tugend macht«, und der Liebe zur Notwendigkeit. Der Begriff der symbolischen Gewalt stützt sich auf ein vollkommen neues Prinzip, nach dem Herrschaft unabhängig von ihrer bewussten Wahrnehmung ausgeübt werden kann. Dies bedeutet, dass es nicht ausreicht, sich seines Untergebenenzustands bewusst zu werden, um den Willen zu entwickeln, sich davon zu befreien. Es handelt sich eher um eine aktive Komplizenschaft seitens der Beherrschten, die an die Legitimität der Hierarchie und der Ordnung glauben, denen sie unterworfen und deren erste Opfer sie sind (wie im Fall von Ida Jungmann). Außerdem zwingt die symbolische Gewalt den Körpern der Beherrschten ihre Normen wie eine vis insita auf, wie einen regelrechten Habitus, der jedoch nicht in der Reichweite des individuellen Bewusstseins liegt. Gehorsam und Unterwerfung unter die Sozialordnung sind »automatisch« geworden, wobei die Möglichkeit des Ungehorsams, der Gehorsamsverweigerung und des offenen Widerstands (theoretisch) erhalten (Hrsg.), Stuttgart, Metzler 2014, S. 231–235, hier S. 231. Auf die Formen und die Funktionsweise der symbolischen Gewalt kommt Bourdieu in vielen seiner Schriften zu sprechen: vgl. besonders M8ditations pascaliennes, Paris, Pditions du Seuil 1997. 128 Zur Art der Aktionen und Reaktionen der Beherrschten in den Herrschaftsbeziehungen siehe auch die erhellende Analyse von Bernard Lahire, Franz Kafka, 8l8ments pour une th8orie de la cr8ation litt8raire, vor allem S. 475ff. 129 Wie ich in der Einleitung erwähnte, haben wir es bei Tony mit einem bedeutenden Fall von symbolischer Gewalt zu tun, und zwar in einem doppelten Herrschaftsverhältnis (MannFrau- und Vater-Tochter-Beziehung). Tony ergibt sich in die vom Vater aufgezwungene Heirat. Ihr anfänglicher Widerstand wird dadurch gebrochen, dass sie die Tradition, die Geschichte und die Interessen der Familie als transzendente Werte anerkennt und den Wunsch hat, zu dieser Welt zu gehören.

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bleibt. Nicht von ungefähr ist die erste Form des Widerstands diejenige, die die Gewalt der Macht delegitimiert, entmystifiziert, als solche aufzeigt und dadurch das Zuwiderhandeln rechtfertigt. Widerstand kann also nur in bestimmten historischen und sozialen Kontexten entstehen, wenn die Beherrschten die symbolische Gewalt, der sie ausgesetzt sind, als unrechtmäßig und unnatürlich erkennen. Wir wissen, dass sich Mann bei der Konzeption der Figur der Ida Jungmann von der Geschichte zweier Kindermädchen der Familie Mann inspirieren ließ.130 Mann wollte dieser Figur den ganzen Roman hindurch einen genau umschriebenen Status verleihen, und zwar den des ruhigen und nachgiebigen Dienstmädchens, einer folgsamen Vertreterin der Kategorie der Beherrschten. Hier haben wir einen Fall von amor fati vor uns: In der Tat akzeptiert und »liebt« Ida ihre soziale Stellung, macht aus der Not eine Tugend und verzichtet dabei völlig auf die Möglichkeit, ihre Lage zu verbessern. Daher erkennt sie die angeborenen und »rechtmäßigen« Standesunterschiede noch besser als jeder andere. Wie auch andere Figuren des Romans handelt Ida aufgrund der erworbenen Dispositionen im gegebenen sozialen Raum, ohne dessen Legitimität in Frage zu stellen. Es gibt im Roman nur einige seltene Ausnahmen von Beherrschten, die die Funktionsweise der sozialen Welt und den Ewigkeitsanspruch der Herrschaft in Frage stellen: Einer davon ist Morten Schwarzkopf, der junge Medizinstudent im dritten Teil des Romans, die anderen sind die Revolutionäre von 1848 im vierten Teil. Im Großen und Ganzen haben sie im Roman jedoch nur ein unerhebliches Gewicht, denn Mann ist wenig daran interessiert, den politischen Thesen der »Revolutionäre« Raum zu geben: Die Rhetorik der Revolution, die im Übrigen in stotterndem Dialekt131 vorgebracht wird, behandelt er mit ironischem Abstand. Die Inszenierung und die schnelle Niederlage der revolutionären Instanzen scheinen weniger die revolutionären Gedanken zum Ausdruck zu bringen, als die »naturgegebene« Unvermeidbarkeit der Herrschaft und der sozialen Normen, die die Klassenverhältnisse regeln, zu bekräftigen. Es besteht nie eine echte Alternative: Mortens Vater ist der Erste, der sich empört, als er erfährt, dass sein Sohn die bestehende symbolische Ordnung in Frage stellt, indem er einer Frau den Hof macht, die sozial höhergestellt ist als er. Das sind Kernpunkte des Romans, wo alternative Hypothesen für eine Etablierung neuer sozialer, geschlechts- oder generationsbezogener Verhältnisse ausgeschlossen werden. Zugleich werden Alternativen für den Roman selbst ausgeschlossen, die sich auf andere Formen der Rhetorik berufen: die Rhetorik des Sozialen, der 130 Siehe Thomas Mann, GKFA, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, I, 2: Kommentar, v. Eckhard Heftrich u. Stefan Stachorski, unter Mitarbeit v. Herbert Lehnert, Frankfurt/M., Fischer 2002, S. 466. Vgl. auch Buddenbrooks-Handbuch, Ken Molden u. Gero von Wilpert (Hrsg.), Stuttgart, Kröner Verlag 1988, S. 23. 131 Siehe die Beschreibung der Figur von Corl Smolt im vierten Teil.

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Revolte, der ausdrücklichen Rebellion, der nicht standesgemäßen Ehe, des Primats der Herzensangelegenheiten über das Geschäftsinteresse. Sie lagen Mann fern.132 Unvergesslich bleibt Idas erster Auftritt. Das Mädchen ist nicht allein, es hält vielmehr ein kleines Kind an der Hand: In diesem Augenblick ward die Preußin selbst in der Säulenhalle sichtbar und trat durch die Glastür ein: ein ziemlich großes, knochig gebautes Mädchen in schwarzem Kleide, mit glattem Haar und einem ehrlichen Gesicht. Sie führte die kleine Klothhilde an der Hand, ein außerordentlich mageres Kind in geblümtem Kattunkleidchen, mit glanzlosem, aschigem Haar und stiller Altjungfernmiene. Sie stammte aus einer völlig besitzlosen Nebenlinie, war die Tochter eines bei Rostock als Gutsinspektor ansässigen Neffen des alten Herrn Buddenbrook und ward, weil sie gleichaltrig mit Antonie und ein williges Geschöpf war, hier im Hause erzogen. (15)

Es handelt sich hier also um zwei fremde Mädchen, ein großes und ein kleines, beide leben im Familienkreis. Die Art ihrer Darstellung schließt jeden Zweifel aus, dass diese beiden Subjekte – hier benutze ich den Begriff Subjekt anstelle von Handelnder oder Akteur, weil mir scheint, dass damit besser die Stellung eines Menschen umschrieben wird, der bestimmten verinnerlichten sozialen Gesetzen unterworfen ist und soziale Benachteiligungen erfährt bzw. somatisiert – nicht in jeder Hinsicht zur Familie gehören, sondern einen Sonderstatus einnehmen: Die eine ist Kindermädchen, die andere ein kleines, mittelloses Mädchen. Obwohl sie aus einer Nebenlinie der Familie stammt, ist nämlich auch Klothhilde arm, sie wurde aus christlicher Nächstenliebe aufgenommen. Beide leben innerhalb der familiären Institution, doch ihrem Aussehen, also auch ihren Körpern, ist der Unterschied anzusehen. Klothhilde ist kein vollberechtigtes Familienmitglied, denn was die Zugehörigkeit zur Familie Buddenbrook ausmacht, ist, Teil am Besitz einer gewissen Menge von ökonomischen und/oder symbolischen Gütern zu haben. Wer kein ökonomisches, symbolisches, soziales usw. Kapital besitzt, dem fehlen die gebotenen Referenzen, der kann nur aus Mitleid aufgenommen werden. In der Weltanschauung der Buddenbrooks gestaltet sich die Familie als einer der Orte der Akkumulation, der Erhaltung und der Reproduktion verschiedener Arten von Kapital. Die Beziehung zwischen ihren Mitgliedern ist weder sentimentaler noch emotionaler oder erotischer 132 Ein stärkeres Echo als das der 48er-Revolution ist dem politischen Radikalismus in den Worten von Morten beschieden, auf die Tony wiederholt zurückkommt. Mit der Zeit werden sie bruchstückhaft und neigen immer mehr zu wirrem Gefasel. Sie dienen als Beweis für die enge Verbindung zwischen den zwei Formen der symbolischen Gewalt – der, die Tony mit ihrer unglücklichen Ehe erträgt, und der, auf der die sozialen Herrschaftsbeziehungen beruhen, gegen die Morten aufbegehrt. Der Umstand, dass diese Worte bis zum Ende des Romans immer wieder aufgenommen werden, setzt ein sichtbares Zeichen dafür, dass der Wunsch nach Rebellion zwar vorhanden ist, aber keine Folgen hat.

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Natur, sondern beruht vielmehr auf der Fähigkeit, die vorhandenen symbolischen Güter zu erhalten, zu verwerten und zu vermehren. Wer an diesem Akkumulationsprozess nicht teilnimmt – wir werden im Folgenden sehen, dass dies bei Christian Buddenbrook der Fall ist –, der wird früher oder später einer Art (Selbst-)Ausgrenzung ausgesetzt. Wer sich jedoch in die Wahrnehmungsschemata der sozialen Welt integriert und seine Praktiken den Prinzipien des Feldes, in dem er agiert, anpasst, der erwirbt einen Habitus, der eine Form des Habens impliziert, die sich in die Möglichkeit des Seins und des Agierens in der sozialen Welt umwandelt. Das alles ist für Klothhilde ausgeschlossen. Ihr ist ein »fataler Habitus«133 vorbehalten, d. h. eine völlig der Vergangenheit entstammende Form von Habitus, die alle zukünftigen Handlungen bestimmt und einer bewussten Handlungsabsicht keinerlei Spielraum lässt. Die kleine Thilda, Altersgenossin von Tony, gehört also zum selben Familienstamm, doch sie trägt die Stigmata des Unterschieds. Konsul Buddenbrook ist ihr liebevoll zugeneigt und stellt ihre positiven Eigenschaften sogar als beispielhaft hin: »So ist es recht, Thilda. Bete und arbeite, heißt es. Unsere Tony soll sich ein Beispiel daran nehmen. Sie neigt nur allzu oft zu Müßiggang und Übermut …« (16) Der aufgeklärte Patriarch lobt Klothhildes Eigenschaften und kritisiert damit zugleich seine anmutige Enkelin (bis zum Ende des Romans wird sie ihr jugendliches, elegantes und bezauberndes Aussehen behalten). Es ist allerdings eine liebevolle Kritik, denn er behandelt Tony mit Großmut und Toleranz. Nachdem er jedoch Klothhildes Vorzüge und Tonys »Mängel« (Müßiggang und Hochmut) verglichen hat, kommt er zu der unmissverständlichen Schlussfolgerung: »Kopf hoch, Tony, courage! Eines schickt sich nicht für alle. Jeder nach seiner Art. Thilda ist brav, aber wir sind auch nicht zu verachten. Spreche ich nicht raisonable, Bethsy?« (16) Anders formuliert bedeutet das, dass ein jeder naturaliter seinen Platz im gegebenen sozialen Raum einzunehmen hat. Aus diesem Grund bleibt Klothhilde, obschon gutmütig und fleißig, nichts anderes übrig, als der Dienerschaft in der Küche zu helfen. Das der symbolischen Ordnung zugrunde liegende Unterscheidungsprinzip findet hier seine natürliche, in den beiden Mädchen verkörperte Anwendung. Sie erfahren ihre benachteiligte Lage als ihr persönliches Schicksal, die eine, indem sie es ergreift, bis sie zu dessen Trägerin und Hüterin wird, die andere, indem sie es passiv und unartikuliert erleidet – Klothhilde wird den ganzen Roman hindurch so gut wie nie ein Wort hervorbringen –, wobei sie sich stillschweigend nimmt, was sie bekommt. Wir werden an ihr eine regelrechte Somatisierung beobachten kön-

133 Pierre Bourdieu erarbeitet sich in seiner langen Studie über den Begriff der Gewohnheit bei Pascal verschiedene Typologien für sein Konzept des Habitus: eine davon ist der »fatale Habitus«. Vgl. M8ditations pascaliennes, S. 79.

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nen, die im übermäßigen Verschlingen einer Nahrung besteht – als Zeichen ihrer Abhängigkeit von der Nächstenliebe der anderen.

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Für Mann ist die Klasse keine verdinglichte Entität wie für den traditionellen Marxismus, der den Menschen, die ein und derselben Klasse oder ein und demselben Stand angehören, allgemeine und verallgemeinerbare Verhaltensweisen zuschreibt. Im Marxismus, so könnte man schematisch sagen, entspricht einer im Produktionsprozess besetzten Position eine bestimmte Weltanschauung. Vergeblich würde man in Buddenbrooks nach einer genauen und schlüssigen Definition des Bürgertums suchen. Er äußert sich dazu eher in seinen Essays (z. B. Lübeck als geistige Lebensform oder Betrachtungen eines Unpolitischen), wo er den Begriff des deutschen Bürgertums abgrenzt, und zwar nicht ohne tausend Widersprüche, Unsicherheiten und taktische Änderungen. Mit Buddenbrooks macht Mann jedoch sichtbar, wie der Vertreter des Bürgertums (in seiner deutschen, protestantischen und Lübecker Variante) als solcher auftritt und in der sozialen Welt bzw. im Raum der Unterschiede handelt. Damit nimmt er als Schriftsteller die soziologischen Positionen von Autoren wie Max Weber, Pmile Durkheim und Pierre Bourdieu vorweg, die den Großteil ihrer soziologischen Theorie und Praxis auf das Prinzip gestützt haben, dass die soziale Wirklichkeit ein Raum unsichtbarer Relationen ist, die auf gegenseitiger Kontiguität beruhen. In diesem Raum, der unter Herrschenden und Beherrschten aufgeteilt ist, existieren die verschiedenen Klassen, ihre Dispositionen und Verhaltensweisen (Stil, Geschmack usw.). Es ist nicht mehr (wie bei Marx) die im Produktionsverhältnis ausgeübte Funktion, die die Klasse auf vorgegebene essentialistische Weise bestimmt, sondern es ist die Position, die man im sozialen Raum, in dem sich alle Handlungsträger befinden, einnimmt. Jede Position im sozialen Raum zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich von anderen unterscheiden lässt. Damit wird der soziale Raum zu einem symbolischen Feld, auf dem das Spiel um die Behauptung bzw. die Ausschließung ausgetragen wird. Es geht um einen Klassifizierungskampf, der den Platz des Klassenkampfes im Sinne der marxistischen Lehre übernimmt. Die von den Akteuren besetzten Positionen sind das Ergebnis der Kombination der verschiedenen Formen des Kapitals, über das sie verfügen. So entsteht ein relationales Feld, in dem jeder Position eine bestimmte Menge an Merkmalen (soziales Kapital) und an praktischen Fähigkeiten (erworbene Dispositionen wie z. B. ein Habitus) entspricht. Und je mehr das Volumen und die Struktur des Kapitals (im weiteren Sinne) der Handelnden übereinstimmen, desto näher stehen sie sich und desto ähnlicher sind ihre Eigenschaften.

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Die Klassen weisen also nicht mehr die traditionelle Pyramidenstruktur auf und sind nicht mehr an ihrem wesentlichen Inhalt zu erkennen, sie sind vielmehr nach verschiedenen praxisorientierten Unterscheidungskriterien konstruiert und erkennbar. So gesehen ist das Bürgertum nicht nur eine Klasse, die im Sinne der Marxschen Theorie die Produktionsmittel besitzt, sondern auch ein Akteur in einem Raum, der durch ein Spektrum von Praktiken und Relationen definiert wird. Die klassische postmarxsche und postmarxistische Soziologie (Durkheim, Weber, Elias, Bourdieu) versucht, den statischen Charakter des marxschen Modells zu überwinden und es durch ein Modell zu ersetzen, in dem es wechselhafte Beziehungen zu den Dingen gibt, wodurch ständig neue Unterschiede und Analogien entstehen. Der soziale Raum, wie er sich in Bourdieus Theorie und Praxis darstellt und wie ihn der französische Denker immer wieder der substantialistischen und universalistischen Auffassung von der Klassengesellschaft entgegensetzt, ist also kein statischer Ort, sondern ein in Bewegung befindlicher, an dem das Verhalten der Akteure aufeinandertrifft und interagiert. Die sozialen Praktiken seien nicht, behauptet Bourdieu wiederholt, ein für alle Mal festgelegt, unveränderlich, universell und notwendig, sie können vielmehr anerkannt oder verworfen werden, so dass sich ihr Sinn, ihr sozialer, kultureller und symbolischer Wert ändert. In diesem flexiblen Modell sind auch die Positionen nicht ein für alle Mal festgelegt und das führt zu räumlichen Verschiebungen und dauerhaften Differenzierungsprozessen. Daraus ergibt sich ein Dynamisierungseffekt des sozialen Raums, denn alle Akteure, die über bestimmte erworbene Dispositionen verfügen, sind ständig in Bewegung, um ihre Position innerhalb des gegebenen Raums zu verändern. Der Kampf, den die Klassen um ihre Klassifizierung ausfechten, ist auch ein Kampf um die Aneignung der ökonomisch-symbolischen Güter (von deren Besitz und Gebrauch eine mehr oder weniger vorteilhafte Klassifizierung abhängt) und ein Versuch, die eigene Weltanschauung (die im gegebenen Raum eingenommene Position) als legitim und als die einzig mögliche durchzusetzen (die Vorstellung, dass die Herrschenden aufgrund göttlichen Rechts, aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts, ihres Verdiensts und ihrer Arbeitsethik, schließlich aufgrund einer Kombination der genannten Faktoren usw. das natürliche Recht zur Herrschaft haben). Diese relationale Auffassung des sozialen Daseins will tendenziell die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt überwinden, indem sie insbesondere die Vorstellung eines Subjekts, das ganz Herr seiner selbst und seiner Handlungen ist, kritisiert. Wenn wir von der Vorstellung ausgehen, dass die Klassen aufgrund ihrer Relationen als solche existieren, so bemerken wir, dass die erste Szene der Buddenbrooks ein einzigartiges Modell für die Positionierung und Katalogisierung der Akteure in einem gegebenen Raum widerspiegelt. Daher die Bedeutung zweier Figuren wie Ida und Thilda, die gerade dadurch, dass sie Randerschei-

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nungen sind, die Grenzen und die Funktionsmechanismen des sozialen Raums enthüllen. Mit ihnen führt uns Mann zwei Figuren vor, die am äußersten Rand des Raums stehen: Die zwei Mädchen befinden sich in einem Zustand extremer Armut. Zusätzlich wird in ihrem Fall die wirtschaftliche Ausbeutung (beide leisten unbezahlte Arbeit) euphemistisch zu einer Geste der Nächstenliebe verklärt. Die unentgeltliche Aufnahme in eine patriarchalische Familienstruktur verschleiert das traditionelle Herr-Knecht-Verhältnis sowie die Merkmale von Herrschaft und Ausbeutung.

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Nachdem wir gesehen haben, wie Mann die Beherrschten im familiären Raum der Buddenbrooks darstellt, wollen wir sehen, wie er die Familie, der dieser große Roman gewidmet ist, dem Leser präsentiert. Buddenbrooks besitzen eine florierende Import-Export-Firma. Als Familie bilden sie eine geschlossene Einheit, die durch ein solides gemeinsames Vermögen und einen beträchtlichen Anteil an symbolischem, sozialem und relationalem Kapital zusammengehalten wird. Im Innern der Familie werden die Kompetenzen und sozialen Dispositionen zum Handeln erworben. Da die Familienmitglieder durch ihr Vermögen und die lex insita, dieses zu erhalten und zu vergrößern, miteinander verbunden sind – woran Konsul Buddenbrook seine Kinder wiederholt erinnert und was später bei verschiedener Gelegenheit auch von Thomas wieder aufgenommen wird –, ist die Familie auch der Ort, wo sich die Konkurrenz um das Vermögen abspielt: Das ausschließlich ökonomische Kalkül gerät dabei möglicherweise in Kontrast zu den Gefühlswerten (die sich per definitionem einer ausschließlich ökonomischen Logik widersetzen). Die Familie – damit meine ich das westliche patriarchalische Modell, an dem sich die Buddenbrooks orientieren – ist zwei widersprüchlichen Kräftesystemen ausgesetzt: Einerseits tendieren die ökonomischen Kräfte dazu, sie durch Ehen, Krisen usw. zu teilen, andererseits dient ihr innerer Zusammenhalt dazu, die Produktion des vorhandenen Kapitals in all seinen Formen zu verstärken. Diese Form der Produktion/Reproduktion hängt generell davon ab, wie gut die patriarchalischen Werte die Einheit der Familie garantieren. Die Familie ist also als elementare soziale Einheit ein Ort für Akkumulation und Reproduktion des ökonomischen, symbolischen, sozialen, relationalen und kulturellen Kapitals. Dabei spielt besonders die Ehe eine wichtige Rolle, und das sowohl bei der Bewahrung als auch bei der Vergeudung der verschiedenen Arten von Kapital, wie die Ehegeschichte von Tony zeigen wird. Der wirtschaftliche und soziale Aufstieg der Buddenbrooks erreicht seinen Höhepunkt mit der Einweihungsfeier des neuen Hauses, das von der Familie kurz zuvor erworben wurde. Es handelt sich um ein Gebäude aus dem Jahr 1682.

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Wir erfahren, dass die Vorbesitzer (Familie Ratenkamp) zum Verkauf gezwungen waren, weil sie wegen eines Geschäftspartners (Geelmaack), der »bitterwenig Kapital hinzubrachte, und dem niemand den besten Leumund machte […]« (25) in Konkurs gegangen waren. Den Ratenkamps ist also eine unverzeihliche Fehleinschätzung unterlaufen, als sie sich auf eine zweifelhafte Partnerschaft einließen. Makler Grätjens macht klar, was geschehen ist: »Tja, traurig«, sagte der Makler Grätjens; »wenn man bedenkt, welcher Wahnsinn den Ruin herbeiführte … Wenn Dietrich Ratenkamp damals nicht diesen Geelmaack zum Kompagnon genommen hätte! Ich habe, weiß Gott, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als der anfing zu wirtschaften. Ich weiß es aus bester Quelle, meine Herrschaften, wie greulich der hinter Ratenkamps Rücken spekuliert und Wechsel hier und Accepte dort auf Namen der Firma gegeben hat … Schließlich war es aus … Da waren die Banken mißtrauisch, da fehlte die Deckung … Sie haben keine Vorstellung … Wer hat auch nur das Lager kontrolliert? Geelmaack vielleicht? Sie haben da wie die Ratten gehaust, Jahr aus, Jahr ein! Aber Ratenkamp kümmerte sich um nichts …« (25)

Der Sozius der Ratenkamps ist nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht unpassend. Mann bedient sich hier eines Kapitalbegriffs, der sich der streng ökonomischen Logik entzieht. Er sieht das Kapital in einem weiteren Zusammenhang, der mehr oder weniger mit dem Begriff des sozialen Kapitals bei Bourdieu zusammenfällt: Der »gute Ruf« ist eine Schlüsselkategorie in der Ökonomie der symbolischen Güter bzw. in einer Auffassung der Ökonomie, die sich der Ökonomie im engeren Sinn widersetzt. Bourdieu unterscheidet dabei die Theorie der rein ökonomischen Praktiken von einer allgemeinen Ökonomie der Praktiken. Mit anderen Worten: Er entfernt sich von der Auffassung einer Wirtschaft, die sich ausschließlich auf Gewinn, Kapitalerhöhung, Investitionen, Markt, Produktion und Austausch materieller Güter bzw. Dienste stützt. In der Reflexion des französischen Soziologen über die allgemeine Theorie der Wirtschaftspraktiken stellt sich die Ökonomie der symbolischen Güter als eine Theorie ökonomischer Praktiken dar, die andere Formen der Produktion, des Austausches und der Zirkulation symbolischer Güter vorsieht und nicht mit dem rein ökonomistischen Diskurs134 der herkömmlichen Wirtschaft sowie erst recht nicht mit den anonymen Eigenschaften des Finanzkapitals übereinstimmt.135 Wer einen »guten Ruf« hat, wer durch tugendhaftes Verhalten stabilisierte Verhältnisse hat und wer aus einer bestimmten Familie kommt, der genießt einen Status, mit dem er über ein symbolisches Gut verfügt, das kein wirtschaftliches Kapital im en134 Unter Ökonomismus verstehe ich die Tendenz, die Wirtschaft und ihre Kriterien als natürlich und notwendig, ewig und absolut darzustellen und ihnen viele Praktiken zuzuordnen, die die ökonomischen Gesetze nicht berücksichtigen: z. B. die am Desinteresse und am Erwerb von symbolischem Kapital orientierten Praktiken. 135 Im Roman wird es von der Familie Hagenström repräsentiert.

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geren Sinne ist, trotzdem aber von den Beteiligten als klingende Münze anerkannt wird. Und gerade ein Autor wie Mann führt uns in Buddenbrooks oft wirtschaftliche Praktiken vor, die in einer ökonomischen Theorie im engeren Sinn sinnlos wären, aber im Rahmen einer Ökonomie der symbolischen Güter funktionieren: der gute Ruf, der Name, die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen, die im sozialen Raum eingenommene Position, die Beziehungen und vieles mehr. Die Gespräche über die Schwierigkeiten der Familie Ratenkamp werden unterbrochen, als der alte Hausherr seine Gäste zu Tisch bittet. Das Abendessen ist ein topischer Sozialraum, in dem die anwesenden Akteure aufgrund ihrer Positionen agieren und sich unterscheiden. Der Schauplatz ist nach strengen Regeln aufgebaut, so dass die Merkmale der Hausherren, etwa die Haltung oder Hexis, der Geschmack bei der Auswahl der angebotenen Speisen und Getränke bzw. die Art, diese zu verzehren, deutlich werden. Der Esstisch ist mit kostbarem Meissener Porzellan und Silberbesteck eingedeckt, und zu den feinsten Speisen wird Qualitätswein kredenzt. Die prominenten Persönlichkeiten von Lübeck sind geladen, also jene Akteure, die den Buddenbrooks im sozialen Raum am nächsten stehen136 : der Weinhändler, der Kunstexperte, der Senator, der Holzgroßhändler, der Dichter und der Pastor. Es ist eine Gelegenheit, zu der sich die herrschende Klasse der Hansestadt zusammenfindet. Sie haben alle dieselben kulinarischen Vorlieben, denselben Geschmack bei der Auswahl und der Konsumption der Güter, dieselben guten Manieren. Da sie in demselben Raum so nahe beieinanderstehen, vertreten sie ähnliche Ansichten und sind stolz darauf, auf demselben Bildungsniveau denselben Lebensstil zu praktizieren. Das gemeinsame Festmahl verstärkt das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Klasse, die sie für überlegen halten und die berechtigterweise den natürlichen Geschmack angibt. Die Gäste begeben sich zu Tisch, und Mann fasst gewissermaßen ihre selbstzufriedene kollektive Überzeugung in der Bemerkung zusammen: »man konnte eines nahrhaften Bissens gewärtig sein bei Buddenbrooks …« (21) Das sollte bedeuten, alles ist, »wie es sich geziemt«, und diese unpersönliche Sentenz unterstreicht den gemeinsamen Geschmack und die Ideologie, die ihnen zur Natur, zur doxa geworden sind: Jede Familie muss das bieten, was von ihr aufgrund der Position, die sie im sozialen Raum einnimmt, erwartet wird. Die Buddenbrooks würden die Erwartungen nicht enttäuschen: Den Erwartungen nicht gerecht zu werden, hätte einen Bruch mit der symbolischen Ordnung bedeutet, und die Familie hätte dafür mit ihrem guten Ruf (also mit ihrem symbolischen und sozialen Kapital) bezahlt.

136 Es liegt auf der Hand, dass sich aus dieser Nähe eine Übereinstimmung von Gesichtspunkten, von Aktionen und praktischen Reaktionen im besetzten Raum ergibt, die nicht für immer festgelegt ist, sondern ein dynamisierendes Element darstellt.

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Das Festmahl zur Hauseinweihung der Buddenbrooks erfolgt also in einem gemeinsamen sozialen Raum, in dem sich die Praktiken und die Beziehungen zwischen den Personen und Klassen herausbilden und festigen. Das gemeinsame Speisen bestätigt die Kohäsion der seit Generationen in Lübeck wohnenden prominenten Persönlichkeiten, aus denen sich die herrschende Klasse zusammensetzt. Mann zeigt uns jedoch, dass diese, obwohl sie alle derselben dominierenden Klasse angehören, unterschiedliche Positionen im Raum einnehmen, je nachdem, wie die verschiedenen Formen von Kapital auf sie verteilt sind: Jede Position verlangt und entspricht einem bestimmten Bestand an Eigentum (Kapital) und an praktischen Fähigkeiten (Habitus). Wie jede soziale Praktik steht auch das gemeinsame Speisen, vor allem bei zeremoniellen Gelegenheiten (z. B. bei einer Hauseinweihung), in einer symbolischen Ordnung der Distinktionen, die die Menschen voneinander unterscheiden. Mit anderen Worten, das Mahl ist eine Bekräftigung ästhetischer, ökonomischer, ethischer und kultureller Werte: die Darbietung der Speisen, die Sitzordnung, das Geschirr, die Etikette beim Zugreifen und Verzehren (nicht zu viel und nicht zu wenig und mit dem richtigen Besteck), der Rhythmus der einzelnen Gänge oder die Entscheidung für Wein statt Bier (das beim Volk beliebter und den unteren Schichten vorbehalten war). Die Palette der möglichen Varianten ist sehr groß: Mann sagt uns implizit, dass das alles das Ergebnis einer langen Zivilisationsgeschichte137 ist, die schließlich dazu geführt hat, dass ein Essen genau formalisierte Manieren fordert. Speisen, »wie es sich gehört«, wie es bei den Buddenbrooks üblich ist, ist der Zielpunkt eines historischen Prozesses der Kontrolle über den Körper, seine Bedürfnisse und Gewohnheiten. Ein neuer Habitus, eine individuelle Verinnerlichung der von der eigenen Gruppe übermittelten Normen, setzt sich zu Tisch. Und auch bei dieser Gelegenheit hält ein sorgfältiger und auf das Erfassen und Betonen der Unterschiede bedachter Autor wie Mann fest, dass es an diesem Tisch zwei bezeichnende Ausnahmen gibt. Wieder sind es Fräulein Jungmann und Klothhilde, die nicht dazu passen: Die eine »kniff ihre braunen Augen zusammen und hielt nach ihrer Gewohnheit Messer und Gabel gerade empor, indem sie sie leicht hin und her bewegte« (33), während der alte Konsul ausruft: »Thilda […] packt ein wie söben Drescher, die Dirn …« (34) Mann widmet Thildas Tischmanieren eine Reihe von treffenden Bemerkungen: 137 Die Soziologie der guten Manieren ist vor allem den Forschungen von Norbert Elias zu verdanken, besonders in Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, erster Band von Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Basel, Haus zum Falken 1939.

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Und wahrhaftig, es war zum Erstaunen, welche Fähigkeiten dieses stille, magere Kind mit dem langen, ältlichen Gesicht beim Essen entwickelte. Sie hatte auf die Frage, ob sie zum zweiten Male Suppe wünsche, gedehnt und demütig geantwortet: »J-a-bit-te!« Sie hatte sich vom Fisch wie vom Schinken zweimal je zwei der größten Stücke nebst starken Haufen von Zuthaten gewählt, sorgsam und kurzsichtig über den Teller gebeugt, und sie verzehrte alles, ohne Überhastung, still und in großen Bissen. […] Sie ließ sich nicht einschüchtern, sie aß, ob es auch nicht anschlug und ob man sie verspottete, mit dem instinktmäßig ausbeutenden Appetit der armen Verwandten am reichen Freitische, lächelte unempfindlich und bedeckte ihren Teller mit guten Dingen, geduldig, zäh, hungrig und mager. (34–35)

Im fest umrissenen, von Mann genau beschriebenen sozialen Raum, der sich als solcher aufgrund der darin eingenommenen Positionen, der Rangordnung, der Ausschließung oder der Distinktion der darin handelnden Figuren konstituiert, agieren (und reagieren) Fräulein Jungmann und Klothhilde mit einem abweichenden und unüblichen Verhalten. Es handelt sich dabei nicht um ein paar harmlose Fauxpas, da diese einen unbewussten Verstoß gegen den erworbenen Habitus darstellen würden. Es geht vielmehr darum, dass es beiden an schulischer und familiärer Sozialisation mangelt und sie deshalb die geziemende hexis nicht verinnerlichen konnten, also den korrekten Umgang mit dem Besteck (mit dem man beim Essen nicht unnötig herumhantiert) nicht kennen und nicht die angemessene Einstellung zur Nahrungsaufnahme haben. Noch unschicklicher als Ida benimmt sich Thilda. Mit ihrem enthemmten Appetit ist die Kleine ein passendes Beispiel dafür, was Bourdieu in einem anderen Kontext als ein »freimütiges Essen«138 bezeichnet, dem das Bürgertum (in unserem Fall das Lübecker Bürgertum, aber das Phänomen betrifft das Bürgertum des 19. Jahrhunderts insgesamt) seine distinguierten und korrekten Tischmanieren entgegensetzt: Nicht umsonst wird Thilda mit einer Figur verglichen, die eine sehr niedrige Position in der sozialen Ordnung einnimmt, einem Drescher. Die Tischmanieren drücken sich im Tempo, im Stil, in der Körperhaltung aus, sowie in den Verhaltensregeln im gegebenen Sozialraum, die alle anderen Tischgenossen kennen und längst verinnerlicht haben. In der Situation, in der die Protagonisten des Abendessens handeln, muss der Umgang mit dem primären Bedürfnis schlechthin, der Nahrungsaufnahme, einem formalisierten und disziplinierten Ablauf folgen. Dies gilt besonders bei offiziellen Anlässen, wo das Mahl zu »einer gesellschaftlichen Zeremonie«139 stilisiert wird, mit der die distinktiven Qualitäten der gastgebenden Familie sowohl in ethischer (als Kontrolle der vulgären und tierischen Appetite, für die Thildas Gefräßigkeit steht) als auch in ästhetischer Hinsicht unterstrichen werden. Die beiden Mädchen, Ida und 138 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 313. 139 Ebd., S. 316, Kursivschrift im Text.

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Thilda, haben bei der Besetzung des sozialen Raums nur Nachteile, ihr unschickliches Benehmen bestätigt das und liefert zugleich die Erklärung, weshalb ein sozialer Aufstieg nahezu unmöglich ist. Sie besitzen keinerlei Kapital und haben keine illusio für ihre Zukunft. Die illusio ist der Motor, der die Menschen dazu antreibt, ihre Trümpfe in den verschiedenen Sozialbereichen auszuspielen: Nur wer gewillt ist, auf das Spiel zu setzen, kann am Spiel teilnehmen. Aber auch diese Investition ist gesellschaftlich verinnerlicht, d. h., sie hängt davon ab, ob die Strukturen, die Spielregeln und die Trümpfe in unserem Kopf vorhanden sind und uns Lust auf das Spiel machen. Das Abendessen bei Buddenbrooks zeigt, dass nur derjenige, der einen bestimmten Habitus erworben hat, die Fähigkeit und die Möglichkeit besitzt, am Spiel teilzunehmen. Sie sitzen alle am selben Tisch (»Wir sitzen alle im selben Boot«, lautet ein Slogan der konservativen politischen Soziologie im auslaufenden 19. Jahrhundert, der heute immer wieder aufgegriffen wird), doch der gemeinsame soziale Raum und die soziale Praktik des gemeinsamen Speisens enthüllen die tiefen Positions- und Realisierungsunterschiede im Raum des Möglichen. Jeder Position entspricht also eine Verteilungsstruktur des Kapitals, die die Mittellosen ausschließt. Auch unter den »befugten« Tischgenossen gibt es jedoch Unterschiede. Auch bei ihnen hat sich ein Parvenü eingeschlichen, der Weinhändler Köppen: Alle Achtung! Diese Weitläufigkeit, diese Noblesse … ich muß sagen, hier läßt sich leben, muß ich sagen … Herr Köppen hatte bei den früheren Besitzern des Hauses nicht verkehrt; er war noch nicht lange reich, stammte nicht gerade aus einer Patrizierfamilie und konnte sich einiger Dialektschwächen, wie die Wiederholung von »muß ich sagen«, leider noch nicht entwöhnen. Außerdem sagte er »Achung« statt »Achtung«. (24)

Nicht, dass der Dialekt bei Tisch verboten wäre, aber es gibt diesen und jenen Dialekt, und wer nicht aus einer prominenten Familie stammt, der weiß noch nicht recht, was gestattet ist, der hat noch keinen gesellschaftlich geformten und gefestigten sprachlichen Habitus »naturalisiert«. Es gibt eine Sprachkompetenz, die den Sinn dessen, was gesagt werden darf, bestimmt. Die Grammatik definiert den Sinn nur ganz partiell, und erst in der Beziehung zu einem Markt wird die Bedeutung der Rede vollständig bestimmt. Einen Teil der Bestimmungen – und nicht den geringsten-- , die zur praktischen Definition des Sinns führen, erfährt die Rede automatisch und von außen. Ursprung des objektiven Sinns, der in der sprachlichen Zirkulation erzeugt wird, ist zunächst der Distinktionswert, der sich aus der Beziehung ergibt, die die Sprecher bewusst oder unbewusst, zwischen dem von einem gesellschaftlich bestimmten Sprecher angebotenen sprachlichen Produkt und den in einem bestimmten sozialen Raum gleichzeitig angebotenen Produkten herstellen.140 140 Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Georg

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Der ungezwungen-leichte Ton als individuelle Abweichung von der Sprachnorm verleiht dem Gespräch besondere Merkmale, die nur von Hörern wahrgenommen werden können, die über die (als sprachlichen Habitus) angeeigneten Dispositionen verfügen. Mit diesen Dispositionen kann man zwischen verschiedenen Redeweisen unterscheiden, die Sprache einer Klasse erkennen oder Elemente innerhalb dieser Klasse herausfiltern, die bestimmte Diskurse ermöglichen. Der Sprachaustausch ist Ausdruck der symbolischen Machtverhältnisse zwischen den Sprechern: Nicht umsonst legt Mann der kleinen Thilda »schleppend gesprochene« Wörter in den Mund, die ausdrücken, dass sie in der Sozialstruktur, in der die Kommunikation stattfindet, untergeordnet ist. Auch ein individuell konnotiertes Sprechen wie das des Weinhändlers Köppen wird von den Empfängern symbolisch aufgenommen und nach den ihrem sprachlichen Habitus eigenen Dispositionen beurteilt. Langfristig wird auch Köppen, nachdem er sich eine distinktive Sprachgewandtheit angeeignet hat, die der von ihm im sozialen Raum eingenommenen Position entspricht, über eine ausgesuchtere Redeweise verfügen und damit seine wachsende Zugehörigkeit und Homologisierung mit seiner Klasse beweisen.

7.

Widerspenstige Körper: die Aneignung des Habitus

Bis jetzt habe ich aufgezeigt, dass die ungleiche Verteilung des Kapitals in all seinen Formen zu unterschiedlichen Arten in der Besetzung des Raums durch den Körper führt. Dies betrifft angeheiratete Figuren wie Elisabeth Kröger oder Randfiguren wie Ida Jungmann und Thilda oder Außenstehende wie Köppen. Jetzt möchte ich meine Aufmerksamkeit anderen Stellen im ersten Teil der Buddenbrooks zuwenden, wo uns Mann wertvolle Hinweise darauf gibt, wie der Habitus von den beiden jungen männlichen Protagonisten, den zwei Söhnen des Konsuls, Christian und Thomas, in der primären Sozialisation (Familie und Schule) erworben wird. Mann beschreibt sie von ihrem ersten Erscheinen an als Träger unterschiedlicher Eigenschaften: »Thomas, das ist ein solider und ernster Kopf, er muss Kaufmann werden, darüber besteht kein Zweifel« (17), »Christian dagegen scheint mir ein wenig Tausendsassa zu sein, wie? Ein wenig incroyable …« (17), bemerkt Dichter Hoffstede. Thomas verhält sich den ganzen Abend über wie jemand, der sich den richtigen Habitus, die richtige Hexis usw. aneignet. Bei Christian dagegen wird von Anfang an eine Lücke im System deutlich. Der Körper, so Bourdieu, funktioniert wie ein Speicher von Eindrücken und Gewohnheiten. Die soziale Welt übermittelt dem Körper des darin Agierenden Kremnitz (Hrsg.), übers. v. Hella Beister, Wien, Braunmüller 1990, S. 12 (Originalausgabe: Ce que parler veut dire. L’8conomie des 8changes linguistiques, Paris, Fayard 1982).

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Pflichten und Dispositionen, die im Kopf zu gewöhnlichen Vorgängen (Habitus) strukturiert werden. Es kann jedoch geschehen, dass der Körper sich weigert oder nicht in der Lage ist, die strukturierenden Strukturen, die für ihn in einem gegebenen sozialen Raum vorgesehen sind, zu erwerben. Dies ist bei Christian der Fall: Der Junge beweist, dass er unfähig ist, das, was von ihm verlangt wird, korrekt zu verinnerlichen. Dabei gibt er sich durchaus Mühe. Er will das Verhalten der anderen wiederholen und nachahmen, und das ist einer seiner besonderen Vorzüge. Es ist kein Zufall, dass ihn sein Großvater zweimal in wenigen Zeilen treffend einen »Affen« nennt und damit auf seine Begabung, andere Personen – besonders den Lehrer Marcellus Stengel – zu imitieren, anspielt: »›’n Aap is hei!‹ Soll er nicht gleich Dichter werden, Hoffstede?« (17) und »›’n Aap is hei!‹ wiederholte der alte Buddenbrook kichernd«. (18) Dichter Hoffstede sagt dazu: »Charmant! […] Unübertrefflich! Muß man Marcellus Stengel kennen! Accurat so! Nein, das ist gar zu köstlich!« (18) Es ist zwar so, dass die Erwerbung des Habitus bei Kindern weitgehend über die Nachahmung von Gesten, Verhalten und Bewegungen der erwachsenen Bezugsmodelle verläuft. Tatsache aber ist, dass dieser Nachahmungsprozess bei Christian ein Selbstzweck bleibt. Seine Begabung dafür ist ziemlich undifferenziert und oberflächlich, sie dient dem eigenen und dem Vergnügen anderer und nicht der Aneignung eines kohärenten Verhaltensmusters. Dies ist bereits ein Vorzeichen dafür, dass Christian, wenn er im sozialen Feld agieren will, das nicht so können wird, wie es ihm zuerst täglich von den Erwachsenen gezeigt wurde, die ihm den praktischen Sinn vermitteln sollten, und wie es ihm später von seinem Bruder vorgemacht wird. Christian drückt sein Unbehagen durch den Körper aus, dem es nicht gelingt, sich den empfangenen Dispositionen anzupassen: Dort im Halbdunkel, auf der runden Polsterbank […], saß, lag oder kauerte der kleine Christian und ächzte leise und herzbrechend. »Ach Gott, Madamchen!« sagte Ida, die mit dem Doktor bei ihm stand, »Christian dem Jungchen, ist gar so schlecht …« »Mir ist übel, Mama, mir ist verdammt übel!« wimmerte Christian, während seine runden tiefliegenden Augen über der allzu großen Nase unruhig hin und her gingen. Er hatte das »verdammt« nur aus übergroßer Verzweiflung hervorgestoßen, die Konsulin aber sagte: »Wenn wir solche Worte gebrauchen, straft uns der liebe Gott mit noch größerer Übelkeit!« (38–39)

Die Aufforderung der Mutter, sich beim Sprechen besser zu beherrschen, ist umsonst, weil Christian seinen Ausruf wenig später wiederholt. »Das starke Wort schien ihm geradezu Linderung zu bereiten, mit solcher Inbrunst stieß er es hervor.« (39) Die zwei Brüder haben im Laufe ihres Lebens einen verschiedenen Werdegang, der sich darin unterscheidet, wie gut sie das ihrem Rang gemäße Verhalten

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erworben haben und auf welche Weise sie die angeeigneten Dispositionen umsetzen. Zum Schluss wird es zwischen den beiden zu einer dramatischen Konfrontation kommen. Man darf dabei nicht vergessen, dass die beiden Männer aus ein und derselben Familie stammen und dieselbe Schule besucht haben. Ihre Sozialisierung hat sich im Kreis von Einrichtungen vollzogen, die noch nicht allzu streng und repressiv waren: Die Schule, zu der Christian und Thomas gehen, ist nicht die am unerbittlichen Preußentum orientierte Institution, die später Hanno und sein Busenfreund, der junge Graf Kai von Mölln, mit großem Widerwillen besuchen werden, d. h., es ist noch keine Institution, die sich moderner Disziplinarmethoden bedient, um Körper und Geist der Knaben zu stählen. Die Erziehung der zwei Söhne des Konsuls ist relativ tolerant und berücksichtigt alles in allem die Individualität der Knaben. Dasselbe gilt für die Familie: Auch hier wird, was ich zuvor als symbolische Gewalt bezeichnet habe, von den Familienangehörigen als sanfter Druck ausgeübt, so wie später auch auf die Schwester Tony. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Nachkommen alle über ihre Zukunft frei hätten entscheiden können. Indem Mann Christians akutes Unbehagen inszeniert, beweist er, dass der Erwerb des Habitus nicht mechanisch und schmerzlos vor sich gehen kann. Man erlernt durch den Körper und es ist der Körper, der sich dem Lernen verweigern kann. In den psychosomatischen Störungen, die Christian zeit seines Lebens begleiten, bringt sein Körper zum Ausdruck, dass er unfähig ist, sich den Rollen anzupassen, die von ihm erwartet werden. Christian tut sich schwer, die Welt, in die er hineingeboren, und das Schicksal, das ihm zugedacht wurde, uneingeschränkt zu billigen. Auch sein Verstoß gegen den zulässigen Sprachkodex (»verdammte Übelkeit!«) veranschaulicht durch den Körper, durch eine Körperfunktion, nämlich die Sprache, sein Unvermögen, den korrekten Habitus zu erwerben (wie auch Thilda und Köppen). Es gibt noch ein Element in Manns eingehender Darstellung, das uns einen weiteren negativen Charakterzug Christians vorstellt: Wie erwähnt, wird er wegen seiner Begabung im Nachahmen zweimal mit einem Affen verglichen – eine Eigenschaft, die sich schlecht mit der Verinnerlichung des »korrekten« Habitus vereinbaren lässt. Im Rahmen der symbolischen Werte, auf die Mann sich bezieht, sind diese Nachäffereien Ausdruck mangelnder Seriosität. Christian hat nicht nur im Gegensatz zu Thomas den vorgesehenen Habitus noch nicht erworben, seine Nachäffereien stehen vielmehr für eine zusätzliche Distanz von dem vorbestimmten Habitus und der Hexis. Der Nachahmer ist derjenige, der auch nur für die kurze Zeit der Imitation die Grenzen seiner Identität und seiner sozialen Stellung überschreiten will, um den Nächsten (vorübergehend) zu täuschen und ein falsches Bild von sich zu geben. Er ist ein Komödiant und ein Dilettant, der sich gegen die korrekte Hexis zur Wehr setzt, was verhindert, dass er die richtigen Dispositionen für die Arbeitsethik erwerben kann.

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Buddenbrooks oder der Roman der Distinktion

Nicht nur das: Der Nachahmer enthüllt das soziale und kodifizierte Wesen der distinktiven Charakter- und Verhaltenszüge (des Habitus), die nicht »natürlich« aus der Individualität heraus entstehen, sondern isolierbar und reproduzierbar sind. Er stellt sie als Produkte unnatürlicher, künstlicher Einschärfung bloß. Man erahnt, dass Christians Werdegang schon weitgehend vorgezeichnet ist: Nach mehreren vergeblichen Versuchen, seine Position im sozialen Raum zu finden und sich in die Ordnung der Familiennachfolge einzufügen, wird er sein Leben in einer Nervenheilanstalt beenden.141 Im ersten Teil seines Romans liefert Mann uns schon mehrere Lesarten zur Entschlüsselung des sozialen Raums, seiner Struktur und seinen Unterscheidungen, die jeweils anhand marginaler und/oder benachteiligter Figuren dargestellt werden. Doch der Kern und Motor des Romans, die Firma und ihr Schicksal innerhalb der Werteordnung der protestantischen Ethik, wird erst zum Schluss des ersten Teils ausdrücklich auf den Plan gebracht, nachdem die Gäste nach Hause gegangen sind. Der alte Buddenbrook und sein Sohn Johann besprechen ohne Umschweife eine Frage von großer symbolischer Bedeutung: die Erhaltung des Familienvermögens. Anlass dazu ist ein Brief des Sohnes aus erster Ehe, Gotthold Buddenbrook, in dem dieser die Auszahlung seines Erbteils beansprucht. Johann legt dem alten Konsul den Antrag seines Stiefbruders vor und vertritt dabei gleichzeitig, wie er selbst sagt, »die Interessen der Firma«. (23) Nach kurzer Beratung wird der Antrag abgelehnt, um das Familienkapital nicht anzugreifen. Hier begegnet uns zum ersten Mal die nahezu totale Übereinstimmung von Familie im weiteren Sinne und dem Kapital, auch diesem im weiteren Sinne, d. h. nicht nur dem ökonomischen, sondern auch dem kulturellen, sozialen, symbolischen Kapital, dem absoluten Wert ihrer Existenz. Auch hier gibt uns Mann zu verstehen, dass derjenige, der jenes dünne Blatt geschrieben hat, Gotthold Buddenbrook, in Wirklichkeit ein Eindringling ist: Selbst in dieser Handschrift schien Abtrünnigkeit und Rebellion zu liegen, denn während die Zeilen der Buddenbrooks sonst winzig, leicht und schräge über das Papier eilten, waren diese Buchstaben hoch, steil und mit plötzlichem Drucke versehen; viele Wörter waren mit einem raschen, gebogenen Federzug unterstrichen. (49)

Schreiben ist ein wichtiger Bestandteil des Erziehungsprozesses: Es resultiert aus unserer Körperbeherrschung und gibt wieder, ob wir uns an die Regeln und die erworbenen Dispositionen halten, es ist Teil der korrekten Hexis. Gottholds Handschrift ist unregelmäßig, aggressiv, sie verstößt gegen das von den Buddenbrooks verinnerlichte Modell, macht ihn für den Leser zu einem Akteur, der sich, wie es auch Christian tun wird, den für ihn vorgesehenen Dispositionen 141 So wie das Modell, an dem Mann sich inspirierte: Onkel Friedrich Wilhelm Mann, der sich schwer verschuldet hatte und den Rest seines Lebens in einer Nervenheilanstalt verbrachte. Vgl. dazu Buddenbrooks-Handbuch, S. 21.

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entzieht. Er hat weder den Habitus noch die Hexis der Buddenbrooks geerbt. Warum sollte er ihr ökonomisches Kapital erben? Die ökonomische ist eine automatische Folge der symbolischen Ausschließung, durch welche sie im Namen des obersten Familieninteresses legitimiert und gerechtfertigt wird, auch wenn es nicht ganz gelingt, die Willkür zu verbergen, mit der die Familie sich selbst ihre eigenen Grenzen zieht, und zwar nicht die der Blutsverwandtschaft, sondern die einer gemeinsamen symbolischen Ordnung.

III.

Buddenbrooks und das protestantische Bürgertum: eine implizite Soziologie?

Die Analyse, die ich in diesem Kapitel vornehmen werde, geht von dem zum Teil schon im vorigen Kapitel dargelegten Grundsatz aus, dass der Roman Buddenbrooks als eine »implizite Soziologie«142 gelesen werden kann. Wenn man bedenkt, mit welcher Meisterschaft gewisse Autoren das Soziale darzustellen wissen, kann man durchaus behaupten, dass die Literatur der Soziologie im größeren Rahmen einer interdisziplinären Ideengeschichte Ansatzpunkte liefert, die die eigentliche soziologische Analyse vorwegnehmen und begleiten können. Der Autor Mann verfügt über einen ausgeprägten Sinn für das Soziale und die kluge Einsicht in die soziale Dimension seiner Gestalten, was ihm erlaubt, die soziale Welt zu beobachten und zu beschreiben, auf die feineren Unterschiede, die Lebensstile, die Machtverhältnisse und die symbolische Bezugsordnung einzugehen. Er entfaltet, wahrscheinlich ohne sich dessen voll bewusst zu sein, ungeahnte Fähigkeiten soziologischer Analyse: Er will »nur« die Geschichte einer Familie und einer Klasse erzählen, aber er tut das auf eine Art und Weise, die sich leicht in die Sprache und analytische Praxis der zeitgenössischen Soziologie übertragen lässt: Distinktion als Klassifizierung und Besetzung des sozialen Raums, das Vorgehen bei der Aneignung des Habitus und der Hexis (mit all den daraus resultierenden Folgen), die Fähigkeit, mithilfe einer tief verankerten praktischen Veranlagung Positionen im Handlungsfeld einzunehmen, sowie die Begriffe illusio und conatus, wenn die eigenen Karten ins Spiel (oder nicht ins Spiel) gebracht werden sollen. Ich versuche z. B. zu zeigen, wie Mann in der Anfangsszene des Romans mit Bedacht und feinem soziologischem Einfühlungsvermögen beschreibt, wie die Struktur und der soziale Raum der kleinen Welt von Lübeck funktionieren, wie er die dort vorhandenen sozialen Schichten kennzeichnet, indem er die Distinktion im Ver142 Der Begriff der impliziten Soziologie wird von David Ledent dargelegt: Les enjeux d’une sociologie par la litt8rature, in »COnTEXTES«, Varia, April 2013. URL: http://journals.open edition.org/contextes/5630 (eingesehen am 4. Juli 2019). Vgl. Auch Jacques Dubois, Pour Albertine. Proust et le sens du social, Paris, Seuil 1997; derselbe, Le roman de Gilbert Swann. Proust sociologue paradoxal, Paris, Seuil 2018.

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Buddenbrooks und das protestantische Bürgertum: eine implizite Soziologie?

halten der Akteure schildert. Aber Mann bemüht sich auch im Rest des Romans darum, die Unterschiede zwischen den Akteuren in Bezug auf die Rolle, die sie in der sozialen Welt spielen, aufzuspüren und ihre Trajektorien im Raum des Möglichen nachzuzeichnen. Seine außergewöhnliche Befähigung, die Unterschiede zu sehen und zu klassifizieren, ermöglicht es uns, seinen Roman aus einer Perspektive zu lesen, die auch als eine vom konkreten Verhalten der Akteure ausgehende Analyse der Gesellschaftsschichten bezeichnet werden kann. In dieser Hinsicht leistet der Roman, in gewisser Weise unerwartet, einen wichtigen Beitrag zur Möglichkeit, das Verhältnis von Literatur und soziologischer Analyse neu zu definieren. Im Allgemeinen wird eine klare Trennung von Literatur (als dem Reich des Subjektiven und Imaginären) und Soziologie (als dem Reich der wissenschaftlichen Objektivität) vorausgesetzt. Ich glaube, dass die Literatur und die Arbeit des Literaturkritikers einen Vorteil daraus ziehen können, wenn die starren Grenzen, die zur Verteidigung der beiden Pole (des Subjektivismus und des Objektivismus) gezogen wurden, überschritten werden, indem alle Mittel, die dem Soziologen zur Verfügung stehen, für die Interpretation des Narrativen genutzt werden. Abgesehen von diesen grundsätzlichen Feststellungen gibt es dann auch besonders interessante Fälle, wo die soziologische Forschung ihrerseits mithilfe der Kategorien des Narrativen die Wirklichkeit hinterfragt bzw. analysiert und sozusagen parallel zum Schriftsteller an den gleichen Themen arbeitet. Ich beziehe mich dabei im Besonderen auf zwei große »Narrationen« der Soziologie, die man aufgrund ihrer hohen Qualität und wegen der behandelten Themen als Werke lesen kann, die zahlreiche Parallelen und in gewisser Weise Analogien zu Buddenbrooks aufweisen: auf Max Webers Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904–1905)143 und auf den langen Aufsatz Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen (1913) von Werner Sombart.144 Es handelt sich um außergewöhnliche soziologische Narrationen, in denen der objektive Diskurs der Soziologie häufig dem narrativen Aspekt weicht. Beide Werke entstehen und erscheinen zu einem historischen Zeitpunkt (Anfang des 20. Jahrhunderts), in dem mehr als zu anderen Zeiten die Bereitschaft spürbar ist, die Wissenschaft, die Geschichtsphilosophie, die Künste, die Religion und die Grenzen zwischen den Wissenschaften in Frage zu stellen; kurz gesagt: Die gesamte symbolische Ordnung der Welt, wie sie sich bis dahin gestaltet hat, ist zu revidieren. Auf das drohende Gespenst der Geschichtsphilosophie, den Marxismus, von dem es schien, er könne in Europa zur Vorherrschaft gelangen, reagiert die Bourgeoisie mit der Narration ihrer eigenen edlen Geschichte, die ihre Rolle in der Welt der Gegenwart und der Zukunft aufzeichnet. Dies geschieht im Werk eines Sozio143 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 144 Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen.

Buddenbrooks und das protestantische Bürgertum: eine implizite Soziologie?

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logen, der zu Recht oder Unrecht, lange als der Denker des Widerstands der Bourgeoisie gegen den heraufkommenden Marxismus galt: Max Weber. Daneben spielt ein weiterer, heute nahezu in Vergessenheit geratener Denker von ungewöhnlichem Format eine nicht zu unterschätzende Rolle, nämlich Werner Sombart. Nach einer langen polemischen Auseinandersetzung mit Weber, in der es unter anderem um Die protestantische Ethik ging, macht auch Sombart deutlich, welchen Standpunkt er zur Genese und zur Anschauung des bürgerlichen Kapitalismus vertritt: einen anderen als Weber, aber ebenso wirkungsvollen. Manns Roman und die Werke von Weber und Sombart sind, jeweils auf ihre Weise, in jeder Beziehung »Narrationen« vom Aufstieg und Schicksal der Bourgeoisie in ihrem engen Verhältnis zum Geist oder zur Seele des Kapitalismus. Buddenbrooks und Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus wurden mehr oder weniger zur gleichen Zeit (1897) konzipiert und in den folgenden Jahren vollendet. In demselben Zeitraum erzählen also ein großer Schriftsteller und zwei große Soziologen die Geschichte der Bourgeoisie, ihre Ethik und ihren Versuch, die unbesiegbare »Rationalität des Kapitals« und seiner Produktionsweisen zu beweisen. Mit polyphonischen Unterschieden schildern drei Autoren in drei Werken (Buddenbrooks, Die protestantische Ethik, Der Bourgeois) die Bourgeoisie als die Klasse, die den absoluten Wert der Rationalität der Geschichte verwirklicht (verwirklichen sollte).145 Mann und Weber unterstreichen auf verschiedene Weise die enge Beziehung von protestantischer Ethik und Entwicklung des Kapitalismus, Sombart dagegen teilt diese Ansicht nicht und entwickelt – in Polemik mit Weber – eine Theorie, die die Genese des Kapitalismus zu anderen historischen Zeitpunkten und an anderen Orten ansiedelt: etwa im Florenz des 15. Jahrhunderts und in den Theorien von Leon Battista Alberti, auf dessen Libri della famiglia (1433–1440) er besonders eingeht. In allen drei Werken stehen jedoch die gleichen Themen im Mittelpunkt, die Akzente und die Methoden unterscheiden sich, aber das Ziel ist dasselbe: aufzuzeigen, wie der Geist des Kapitalismus entsteht und funktioniert, wie er die Weltanschauung und den praktischen Sinn der Bourgeoisie beeinflusst. Alle drei Autoren versuchen, eine in geistiger und ethischer Hinsicht »gehobene« Antwort auf die Frage nach der Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Welt zu geben. Alle gehen jedenfalls näher auf besondere Merkmale und auf die erworbenen Dispositionen ein, darauf, was letzten Endes den Habitus und den praktischen Sinn des Bourgeois’ ausmacht.146

145 Weber nennt den Kapitalismus »ein stahlhartes Gehäuse«, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 201; Sombart vergleicht ihn mit einem Riesen, »alles niederrennend, was sich ihm in den Weg stellt«, Der Bourgeois, S. 462. 146 Ein neuerer Beitrag zum Thema des Bourgeois ist der bedeutende Aufsatz von Franco Moretti, The Bourgeois. Between History and Literature, London/New York, Verso 2013.

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Im ersten Teil des Romans beschreibt Mann dem Leser, in welcher Weise einige der Akteure den sozialen Raum besetzen, der nach einer symbolischen Ordnung dargestellt ist, die ihrerseits von der Distribution der verschiedenen Formen des Kapitals im sozialen Mikrokosmos des Lübecker Handelsbürgertums bestimmt ist. Die Zugehörigkeit zur Klasse in all ihren Erscheinungsformen erfolgt nach gewohnheitsmäßigen, verinnerlichten und dauerhaften Normen, die allgemeine Handlungsdispositionen hervorbringen und die Protagonisten dazu veranlassen, aufgrund ihres erworbenen (oder eben nicht erworbenen) praktischen Sinns zu agieren. Es ist zu betonen, dass in dem allgemeinen von Mann dargestellten Rahmen der Verinnerlichungsprozess des Habitus über Gewohnheit und Imitation zustande kommt, also ohne dass bestimmte institutionalisierte repressive Disziplinarmaßnahmen angewandt würden.147 Ich bestehe auf dieser Einzelheit, weil sich die Lage für den kleinen Hanno, den Letzten der Buddenbrooks, ganz anders darstellen wird. Aufgrund seines Jahrgangs ist er gezwungen, eine Schule zu besuchen, die auf den Regeln von »Zucht und Ordnung« basiert, wie sie sich unter der preußischen Herrschaft im Deutschen Reich etabliert hatte. Der Roman schildert die Dispositionen und das gewohnheitsmäßige Verhalten im sozialen Raum und erzählt damit die Geschichte einer bestimmten Klasse, der Mann angehörte und der er sich tief verbunden fühlte: die Geschichte des deutschen Bürgertums in seiner protestantischen Variante in Lübeck – nur das war für ihn von Interesse. Um überzeugend zu sein, braucht Mann Akteure, die »Idealtypen« sind. Er geht antithetisch vor oder setzt thematische Kontraste ein, die sich im sozialen Raum um Figuren polarisieren, die verschiedene Dispositionen und Verhaltensmuster aufweisen, aber in jedem Fall einer symbolischen Ordnung unterstehen, die sich um die Werte des protestantischen Bürgertums gebildet hat. Die ersten beiden Akteure, an denen sich unterschiedliche, gegensätzliche Modalitäten der Zugehörigkeit zur »orthodoxen« symbolischen Ordnung ablesen lassen, sind die Brüder Thomas und Christian Buddenbrook. Schon seit ihrer Schulzeit konnte man ihre unterschiedliche Disposition in Bezug auf die Aneignung des korrekten Habitus, der korrekten Hexis usw. erkennen. Der andere Unterschied in der Welt- und Lebensanschauung, der im Laufe des Romans immer mehr den Charakter eines Wertkontrastes annimmt, ist der zwischen den Buddenbrooks und den Hagenströms, den Mann mit leidenschaftlicher Hingabe und allen gebotenen Nuancen und Einzelheiten schildert. Der Konflikt betrifft auch in diesem Fall die Modalitäten der Besetzung des sozialen Raums, den Habitus, den praktischen Sinn, die Fähigkeit, ins Spiel 147 Auch der Druck, der auf Tony ausgeübt wird, um sie zur Heirat zu »überreden«, ist letzten Endes moralischer und psychologischer Druck, also eine Form symbolischer Gewaltausübung und kein direkter Zwang.

Thomas und Christian: Annahme und Ablehnung der innerweltlichen Askese

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einzusteigen (die illusio), die Möglichkeit und/oder den Willen, am Bestehenden festzuhalten. Es geht mit anderen Worten darum, die eigene Rolle als Bürger zu interpretieren, und zwar in der Wertekonstellation, in der sich ihre Entwicklung in der Geschichte vollzieht. Dieser Umwandlungsprozess, den Mann beschreibt, findet zu demselben Zeitpunkt statt, an dem Soziologen wie Weber und Sombart, deren Arbeiten Parallelen zu Manns Erzählung aufweisen, sich darum bemühen, eine überzeugende Definition davon zu geben, was sie »die Seele« oder »den Geist« des Kapitalismus nennen. Der letzte der Gegensätze, in dem eine andere Modalität der Besetzung des sozialen Raums als Ausdruck eines »Klassenunterschieds« auftritt, ist schließlich der Gegensatz, der Hanno und Kai von Mölln auf der einen Seite den Hagenströms auf der anderen gegenüberstellt. Mann verdeutlicht, wie in der neuen Schule des von den Preußen geeinten Deutschlands seit 1871 ein qualitativer Kontrast neuer Art auftritt: der Kontrast zwischen denjenigen, die sich der neuen Weltanschauung und dem daraus resultierenden Schulsystem mit seinen strengen Disziplinarmaßnahmen anpassen (alle vier Kinder der Hagenströms), und dem, der nicht Schritt halten kann (Hanno, dem Letzten der Buddenbrooks) oder will (Kai von Mölln). In diesem nach neuen Werten völlig umstrukturierten sozialen Raum verändern sich die Positionen der Akteure und führen zu »seltsamen« Allianzen wie der von Hanno und Kai.

1.

Thomas und Christian: Annahme und Ablehnung der innerweltlichen Askese

In dem ersten und augenscheinlichsten Kontrast des Romans, der offen und in mehreren Phasen ausgetragen wird, dem Kontrast zwischen Thomas und Christian, geht es um die Arbeitsethik. Die erste erworbene Disposition, die Thomas Buddenbrook seit seiner frühen Jugend zeigt, ist seine nüchterne und »rationale« Lebensführung, eine unerlässliche Voraussetzung dafür, das an den ethischen Normen der Gründer ausgerichtete Hauptziel seines Lebens zu erreichen, nämlich Geld zu akkumulieren und das Vermögen zu vermehren. Mann verkörpert in der Person von Thomas die These, dass der kapitalistische Geist aus der protestantischen Ethik entspringt, genau wie Weber es beschrieben hat. Tatsächlich muss man jedoch feststellen, dass Weber mit seinem Aufsatz über die protestantische Ethik nur die Bedeutung herausstreichen wollte, die bestimmte religiöse Inhalte für die Entwicklung einer Moral und einer Lebensweise haben, die der kapitalistischen Entwicklung angemessen sind, ohne dass er damit eine mechanische Beziehung zwischen protestantischem Geist und ka-

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pitalistischer Ethik herstellen wollte. Lesen wir, was Ephraim Fischoff in diesem Zusammenhang zu sagen hat: Weber made it clear that it was his intention to analyze just one component of the generic Lebensstil of our rationalized civilization, among the many which stood at the cradle of modern capitalism, and to trace its changes and its ultimate disappearance. He warned against exclusive concentration on the religious factor, as exerted through the inner psychological motivations and the powerful educational force and discipline provided by the Protestant sects. It was, he insisted, only one factor, and he rejected all attempts to identify it with the spirit of capitalism, or to derive capitalism from it. Taking the religious ethic of Protestantism as a constant, and assuming temporarily that it was predominantly a religious product, he proposed to trace the congruence between it and the characterological type requisite for capitalism. It was his intention, however, to return to the problem and investigate the nonreligious components of the religious ethic.148

Weber konzentriert sich auf die Definition eines bestimmten Habitus, der auf verschiedene Komponenten der religiösen Stilisierung des Lebens zurückgreift, wie sie im asketischen Protestantismus zu finden ist. Ein derartiger Habitus gilt als funktional in der Anfangsphase der kapitalistischen Entwicklung, wo Verhaltensmuster eines rational geordneten Lebens dazu dienen, das gesetzte Ziel zu erreichen, und jegliches Abweichen in die Welt der Magie, der Spekulation oder des Abenteuers vermieden wird.149 Weber beschränkt sich darauf zu zeigen, dass es gewisse Zusammenhänge geben »kann« zwischen der Entwicklung einer rational in innerweltlich-asketische Verhaltensformen übertragenen Existenz, die zweifellos religiösen Ursprungs ist, und der Entwicklung eines modernen kapitalistischen Systems. In jedem Fall stellt Weber eine überzeugende Beziehung zwischen einem Wertesystem und den daraus resultierenden Verhaltensweisen sowie der Entstehung der kapitalistischen Akkumulation in der westlichen Welt her. Nach ähnlichen, von Weber als »typisch« bezeichneten Parametern hat Mann die Gestalt von Thomas Buddenbrook geschaffen, ein Idealmodell von Dispositionen und Verhaltensformen, die der symbolischen Ordnung des protestantischen Bürgertums und dem Handelskapitalismus einer Hansestadt verhaftet sind. Sein Leben verläuft nach den starren Normen der protestantischen Ethik, die in nichts von denen abweichen, die Weber oder Sombart in ihren soziologischen Analysen definiert haben: Darin ist er der würdige Erbe seines Vaters, Johann/ 148 Ephraim Fischoff, The History of a Controversy, in Protestantism and Capitalism, The Weber Thesis and Its Critics, Robert W. Green (Ed.), Boston et al., Heat and Company 1967, S. 107– 114, hier S. 109. 149 Weber unterscheidet in der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus verschiedene Typen: den Kapitalismus der Abenteurer, den der Piraten, den der Wucherer, den spekulativen usw. Vgl. dazu Weber, S. 90.

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Jean, dessen ständig betonte Gläubigkeit als unverzichtbare Voraussetzung für den materiellen Profit des Unternehmens gilt. Beispielhaft wie in Webers kulturellem Modell bedeutet der Erfolg seiner Geschäfte für ihn, dass er gottgefällig ist, zugleich ist sein Erfolg ein Zeichen für Gottes Gnade, was im Übrigen auch beredt aus dem »Spruch, der überm Eingang in altertümlichen Lettern gemeißelt stand: ›Dominus providebit.‹« (47) hervorgeht. Vergessen wir jedoch nicht, dass es sowohl bei Weber als auch bei Sombart verschiedene Arten von Kapitalismus oder Entwicklungsphasen gibt, an die jeweils spezifische Ethiken oder Verhaltensformen gebunden sind. Es gibt kein abstraktes Ethikmodell des Kapitalismus, sondern Ethiken, die sich je nach dem Entwicklungsgrad der in Betracht gezogenen ökonomischen Systeme unterscheiden, oder wie Sombart ausdrücklich erklärt: »[…] nicht einen Typ für alle Zeiten, sondern je einen besonderen für verschiedene Zeiten.«150 Tatsächlich geht für Sombart eines der Gründungsmodelle auf Leon Battista Alberti zurück, der der hohen Weltanschauung des Kapitalismus in seiner Anfangsphase den höchsten Ausdruck verliehen hat. In seinem Werk und in seinen Grundsätzen einer geordneten, angesehenen und anständigen Existenz, in seinem Begriff der »sancta cosa la masserizia« (die heilige Wirtschaftlichkeit)151 sind schon die Werte und Normen für das Leben enthalten, die in den folgenden Jahrhunderten zum Erbe des protestantischen Bürgertums werden sollten und in englischer Fassung mit Daniel Defoe und Benjamin Franklin Berühmtheit erlangten.152 Sombarts Analyse zufolge legt Alberti die Grundsätze für die »Rationalisierung der Wirtschaftsführung«153 im Alltagsleben fest und besteht auf »eine[r] grundsätzliche[n] Verwerfung aller Maximen seigneuraler Lebensgestaltung«154. Die Wirtschaft des Feudalherrn basierte nur auf den Ausgaben und darauf, dass jede rationale Verwaltung der Lebensführung fehlte. Das Handelsbürgertum betont dagegen seit seinem Aufkommen die Notwendigkeit, das Leben im Geiste des Kapitalismus zu leben. Auf der Grundlage dieser Parameter verkörpert Thomas Buddenbrook einen Idealtyp, nüchtern und beständig, der für sein Leben und sein Verhalten im Alltag ein Modell anstrebt, das Weber wiederum »innerweltliche Askese«155 nennt. Mit diesem Ausdruck will Weber unterstreichen, dass der asketische Protestantismus für die Geschäftswelt eine Rationalisierung der asketischen mönchischen Handlungsweisen bedeutet.

150 151 152 153 154 155

Sombart, Der Bourgeois, S. 194. Ebd., S. 137. Ebd., S. 152ff. Ebd., S. 137. Sombart, S. 138. Weber, Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese, in Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 138–181.

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Zumindest in einer ersten Phase seines Werdegangs scheint Thomas sich gänzlich auf einer Linie mit der hypothetischen Rationalisierung aller Aspekte des Alltagslebens zu befinden. Er reduziert alle nicht rational berechenbaren Elemente, wie das Magische der Existenz, die Unordnung und die Energieverschwendung, auf ein Minimum. Er wirkt völlig konzentriert auf das Ziel, das es zu erreichen gilt, und auf die Regeln, die zu befolgen dafür notwendig sind. Das Ziel ist die Akkumulierung von Reichtum, die als Maßstab für sein Bestehen vor Gott und den Menschen dient. Im Fall von Thomas erscheint die religiöse Legitimierung, die für die protestantische Ethik der Anfänge so bedeutend und im Verhalten seines Vaters ein hervorstechendes Merkmal war, säkularisiert im Vergleich zum Parameter seiner Fähigkeit, durch eine angemessene Lebensführung symbolisches Kapital und Ansehen zu akkumulieren. Seine anfängliche Trajektorie im »Feld des Möglichen« erscheint wie der exakte Beweis für eine enge Verbindung von kapitalistischem Geist und protestantischer Ethik. Er trägt viele der Merkmale, die Weber aufgelistet hat: methodisches Verhalten, Kalkulationsvermögen, Gefühlskontrolle, Rationalität und Nüchternheit der Lebensführung, Kontrolle des ausschließlich der Fortpflanzung dienenden Geschlechtstriebs, republikanische Einstellung in der Politik, Ethos im Geschäftsleben, Selbstkontrolle, Akzeptieren der Profession, rationaler Gebrauch der materiellen Güter (keine Zurschaustellung von Luxus, sondern kohärenter, solider Lebensstil), Vermehrung des Besitzes und Erwerb von Reichtum als Resultat der Berufsarbeit bzw. einer lukrativen, rechtmäßigen, mit gutem Gewissen verrichteten Tätigkeit. Sein bürgerlicher Habitus entspricht in jeder Hinsicht den Zielen, die im Feld, in dem er wirkt, erreicht werden sollen. Mann liefert hier das beispielhafte Portrait eines kapitalistischen Unternehmers, der die Eigenschaften aufweist, die Weber, und zum Teil Sombart, diesem »Typen« zugeschrieben hat. Thomas’ Bruder Christian hat hingegen, wie schon angedeutet, seit seiner Kindheit ein Unbehagen gezeigt und immer Schwierigkeiten gehabt, sich dem vorgegebenen Modell anzupassen. In der Tat verfügt er über viele der Eigenschaften, die Mann, Weber und Sombart für unvereinbar mit einer bürgerlichprotestantischen Lebensführung halten – und die es tatsächlich auch sind. Nicht nur das Nachäffen, der Dilettantismus und die Störungen der körperlichen Hexis sind eindeutige Symptome dafür, dass es ihm schwerfällt, sich im sozialen Feld der Buddenbrooks den für ihn vorgesehenen Habitus anzueignen. Im weiteren Verlauf seines Lebens legt Christian andere abweichende Verhaltensweisen an den Tag. Zweifellos ist die schlimmste davon der Müßiggang, eine Form des Boykotts des rationalen, produktiven Lebens, eine »Gegenmacht«: Das sittlich wirklich Verwerfliche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz, der Genuß des Reichtums mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Fleischeslust, vor allem von

Thomas und Christian: Annahme und Ablehnung der innerweltlichen Askese

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Ablenkung von dem Streben nach »heiligem« Leben. Und nur weil der Besitz die Gefahr dieses Ausruhens mit sich bringt, ist er bedenklich. Denn die »ewige Ruhe der Heiligen« liegt im Jenseits, auf Erden aber muß auch der Mensch, um seines Gnadenstands sicher zu werden, »wirken die Werke dessen, der ihn gesandt hat, solange es Tag ist«. Nicht Muße und Genuß, sondern nur Handeln dient nach dem unzweideutig geoffenbarten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhms. Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden. Die Zeitspanne des Lebens ist unendlich kurz und kostbar, um die eigene Berufung »festzumachen«. Zeitverlust durch Geselligkeit, »faules Gerede«, Luxus, selbst durch mehr als der Gesundheit nötigen Schlaf – 6 bis höchstens 8 Stunden – ist sittlich absolut verwerflich.156

Christian wird in religiöser, moralischer und sozialer Hinsicht verurteilt, weil sein Leben kein Ziel und keinen Sinn hat. Er führt das »Leben des Berufslosen«,157 er hat keine »Berufung« oder einen Beruf, zu dem er sich nicht berufen fühlt. »Der paulinische Satz: ›Wer nicht arbeitet, soll nicht essen‹«, gilt bedingungslos und für jedermann.«158 Aber er gilt besonders für ihn. Die Abneigung vor der Arbeit ist auch bei Sombart negativ besetzt als Zeichen für das Fehlen von Gnade: »Der Müßiggänger sündigt, weil er die Zeit, dieses kostbarste Gut vergeudet; er steht tiefer als alle Kreatur; denn alle Kreatur arbeitet in irgendeiner Weise: nichts geht müßig.«159 Mann verleiht der Figur von Christian keinerlei Gewissenhaftigkeit, Methodik oder Rationalität bei der Arbeit. In dem ganzen Roman gibt es keine einzige Szene, wo wir ihn mit Energie in die Arbeit vertieft sähen. Auch die Zeit, die er in der Firma verbringt, »vergeude« er in faulem Müßiggang: Es kann nicht als beständige, ordentliche Arbeit bezeichnet werden, was nicht einer korrekten Zeiteinteilung nach protestantischem Muster folgt. Er produziert weder Güter noch Profite. Kurz, er beschränkt sich darauf, die ihm zur Verfügung stehenden Talente und Reichtümer zu verschwenden. Oder vielleicht besitzt er kein Talent, aber dann ist er ebenso schuldig, weil er nicht vorbestimmt ist. Sein Schicksal ist gezeichnet, denn, wie Weber schreibt: »Wer sich in seiner Lebensführung den Bedingungen kapitalistischen Erfolges nicht anpaßt, geht unter oder kommt nicht hoch.«160 Thomas dagegen hat, wie wir gesehen haben, den Habitus der protestantischen Ethik restlos verinnerlicht, und das erlaubt ihm, sich in der Rolle, die er spielt, vollkommen wohl zu fühlen. Allerdings offenbart er mit der Zeit eine Reihe von beunruhigenden Symptomen, die seine Sicherheit beeinträchtigen und ihn daran hindern, sich an die korrekten asketischen Ideale der Berufswelt zu halten. 156 157 158 159 160

Ebd., S. 183–184. Ebd., S. 186. Ebd., S. 184. Sombart, S. 310. Weber, S. 92.

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Das erste Zeichen, dass etwas in seiner Lebensführung nicht völlig mit der innerweltlichen Askese übereinstimmt, taucht auf, als wir von seiner Liebesgeschichte mit Anna, der bezaubernden Blumenhändlerin, erfahren, von der er am Ende des dritten Teils Abschied nimmt: Anna trug eine weiße Schürze über ihrem schwarzen, schlichten Kleide. Sie war wunderbar hübsch. Sie war zart wie eine Gazelle und besaß einen beinahe malayischen Gesichtstypus: ein wenig hervorstehende Wangenknochen, schmale, schwarze Augen voll eines weichen Schimmers und einen mattgelblichen Teint, wie er weit und breit nicht ähnlich zu finden war. Ihre Hände, von derselben Farbe, waren schmal und für ein Ladenmädchen von außerordentlicher Schönheit. (182)

In erster Linie erinnert sich Thomas im Augenblick des endgültigen Abschieds an den Ort ihrer ersten Zusammenkunft: einen Park, der als solcher schon »gewissen volkstümlichen Vergnügungen« diente und nach der strengen ethischen Askese eine Abweichung von der ordentlichen, methodischen Lebensweise darstellte,161 einen Ort, an dem man sich eher Christian vorstellen könnte. Dann fordert er Anna auf, sich vernünftig zu zeigen: »Einmal mußte es doch herankommen, Anna … So! nicht weinen! Wir wollten doch vernünftig sein, wie? – Was ist da zu thun? Dergleichen muß durchgemacht werden.« (182) Sein praktischer Sinn verleitet Thomas dazu, fast automatisch zu handeln, und lässt ihm keinen anderen Ausweg, als mit der Liebesaffäre Schluss zu machen. »Man wird getragen, siehst du … Wenn ich am Leben bin, werde ich das Geschäft übernehmen, werde eine Partie machen …« (184) Gefühle und Triebe müssen dem Zuwachs und Erhalt des Profits untergeordnet werden. Thomas verlässt Lübeck für seine Lehrzeit und setzt der Liebesgeschichte mit einer nicht standesgemäßen Frau ein Ende. In dieser Lage zeigt der junge Mann eine absolute Kontrolle der Emotionen und Gefühle, die Möglichkeit eines anderen Lebens ist nicht vorgesehen, weil das gegen seinen obersten Lebenszweck verstoßen könnte: nämlich die rationale Konformation seines Innenlebens. Auch in diesem Fall können wir mit Webers Worten den praktischen Sinn dieser Entscheidung erklären: »Ein waches bewußtes helles Leben führen zu können, war, im Gegensatz zu manchen populären Vorstellungen, das Ziel, – die Vernichtung der Unbefangenheit des triebhaften Lebensgenusses die dringendste Aufgabe, – Ordnung in die Lebensführung derer, die ihr anhingen, zu bringen, das wichtigste Mittel der Askese.«162 Mit anderen Worten: Thomas vermeidet ganz korrekt eine unangemessene und nicht funktionale Liebesbeziehung, die nicht zur 161 Zu den Begriffen »geordnete Lebensführung«, »Sport« und »gewisse volkstümliche Vergnügungen« vgl. Weber, 190f. 162 Ebd., S. 156.

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Ehe führen kann, weil diese nur auf homogame Weise entstehen darf, also nur innerhalb von Kaufmannsfamilien und mit dem Ziel, das Vermögen der Buddenbrooks durch die Mitgift der Braut zu vermehren. So ist die Beziehung zu der schönen Floristin »nur« Liebe und damit überflüssige Vergeudung, letztendlich irrational. Sie kann nicht zur »sexuellen Askese« und zur Ehe führen, in der nach dem Gebot »Seid fruchtbar und mehret euch!« ebenfalls die »sexuelle Askese« herrscht.163 Obwohl der gefühlvolle Abschied zeigt, dass es Thomas um mehr als nur unbekümmerte sexuelle Zerstreuung geht, gehört die Beziehung zu der Frau mit den exotischen Zügen deshalb in die Kategorie der »Concupiscenz«164 und steht in Widerspruch zu dem Grundsatz, dass »der Geschlechtsverkehr ausschließlich der Kindererzeugung« dient.165 Auch die Wahl seiner Braut ist deshalb unter dem gestrengen Blickwinkel der moralischen Vorschriften zu sehen. Dennoch ist die Entscheidung, Gerda Arnoldsen zu heiraten (aus erotischen oder ästhetischen Gründen?) ein bedrohliches Anzeichen für das Streben nach Distinktion und Selbstbehauptung. Tatsächlich schreibt Thomas an die Mutter, um seine exzentrische Wahl zu rechtfertigen: »Du wirst wohl niemals angenommen haben, hoffe ich, daß ich irgend einen Backfisch aus dem Kreise Möllendorpf-Langhals-Kistenmacher-Hagenström heimführen würde.« (317) Er verehrt »Gerda Arnoldsen mit Enthusiasmus« (317), was sicher nicht den Vorgaben für ein geordnetes Eheleben entspricht, in dem es keine Unzucht oder Sinneslust geben darf, sondern nur eine angemessene Fortpflanzung. Man muss freilich zugeben, dass Gerda in ökonomischer Hinsicht die richtigen Garantien mitbringt: Sie ist eine ausgezeichnete Partie und hat eine »hohe Mitgift«. (317) Es springt jedoch sofort in die Augen, dass ihre verführerische Erscheinung nicht mit den üblichen Kriterien des Lübecker Bürgertums konform geht: Gerda, die mit freier und stolzer Anmut auf dem hellen Teppich dahinschritt, war hoch und üppig gewachsen. Mit ihrem schweren dunkelroten Haar, ihren nahe bei einander liegenden, braunen, von feinen bläulichen Schatten umlagerten Augen, ihren breiten, schimmernden Zähnen, die sie lächelnd zeigte, ihrer geraden, starken Nase und ihrem wundervoll edel geformten Munde war dieses siebenundzwanzigjährige Mädchen von einer eleganten, fremdartigen, fesselnden und rätselhaften Schönheit. Ihr Gesicht war mattweiß und ein wenig hochmütig; […]. (319–320)

Gerdas Figur passt kaum in die Wertvorstellungen dieser kleinen Welt. Nicht umsonst verschlägt es ihren zahlreichen Bewunderern bei ihrem Anblick die 163 Ebd., S. 184. 164 Ebd., S. 253, Anm. 216 zitiert die Theologen R. Baxter und Ph. J. Spener : »Die Concupiszenz ist als Begleiterscheinung der Begattung auch in der Ehe sündlich.« 165 Ebd., S. 253. Hier zitiert Weber die Auffassung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs, wie sie von den puritanischen Rationalisten einiger pietistischer Strömungen vertreten wurde.

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Sprache, wenn sie sich nicht anzüglicher, verunsicherter Ausdrücke bedienen, so als ob sie etwas beurteilen müssten, das in seiner Qualität nicht einzuschätzen ist: »Tip-top«, sagten die Suitiers und schnalzten mit der Zunge, denn das war der neueste Hamburgische Ausdruck für etwas auserlesen Feines, handelte es sich nun um eine Rotweinmarke, um eine Cigarre, um ein Diner, oder um geschäftliche »Bonität«. Aber unter den soliden, biederen und ehrenfesten Bürgern waren Viele, die den Kopf schüttelten … »Sonderbar … diese Toiletten, dieses Haar, diese Haltung, dieses Gesicht … ein bißchen reichlich sonderbar.« Kaufmann Sörensen drückte es aus: »Sie hat ein bißchen was Gewisses …« und dabei wand er sich und machte ein krauses Gesicht, wie wenn ihm an der Börse eine faule Offerte gemacht wurde. (322)

Eine faszinierende Frau zu heiraten, die bei vielen Männern Begehrlichkeiten weckt und sich vor allem nicht in den Bezugsrahmen der herrschenden Werte einordnen lässt, so dass sie dieselben Reaktionen bewirkt wie die »falschen Angebote« an der Börse, wird zum Selbstzweck und geht am Zweck der Existenz vorbei, der doch darin besteht, ein geordnetes Leben zu führen und Kinder in die Welt zu setzen. Thomas hat eine vollkommen »irrationale« und (trotz der ansehnlichen Mitgift) unökonomische Entscheidung getroffen und wird den Preis dafür zahlen müssen mit einem »unpassenden« Nachkommen (dem kleinen Hanno), der daraus folgenden Unterbrechung der Generationenfolge und der endgültigen Auflösung der Firma. Im Übrigen ist sein Wagnis, Schönheit und protestantische Ethik in der Ehe auf einen Nenner bringen zu wollen, für den modernen Wirtschaftsmenschen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es ist interessant zu sehen, dass dieses Thema damals Gegenstand tiefschürfender Überlegungen war, wie ein Passus von Sombart bezeugt, der in seiner Verallgemeinerung allerdings sicherlich etwas zu weit geht: Besonders deutlich tritt diese Zerrüttung des Seelenlebens im modernen Wirtschaftsmenschen zutage, wo es sich um den Kern des natürlichen Lebens: um die Beziehung zu den Frauen handelt. Zu einem intensiven Erfülltsein mit zarten Liebesgefühlen fehlt diesen Männern ebenso die Zeit, wie zu einem galanten Liebesspiel, und die Fähigkeit der großen Liebesleidenschaft besitzen sie nicht. Die beiden Formen, die ihr Liebesleben annimmt, sind entweder die völlige Apathie oder der kurze äußerliche Sinnenrausch. Entweder sie kümmern sich um Frauen überhaupt nicht, oder sie begnügen sich mit den äußeren Liebesgenüssen, die die käufliche Liebe zu bieten vermag.166

Außer seiner »irrationalen« Eheschließung lassen sich weitere vielsagende Schwankungen im Verhalten von Thomas beobachten. Mit der Zeit erfahren sein Habitus und sein modus operandi eine Veränderung. Er beginnt, eine »auffallend elegante Erscheinung« (256–257) an den Tag zu legen, die »einen beinahe mi166 Sombart, S. 229.

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litärischen Eindruck« (257) hinterließ. Das ist ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass er die einfache, entspannte Nüchternheit aufgibt und vorzieht, sich »irrationalen« Formen des Luxus hinzugeben. Ein Lebensstil, der sich immer mehr am individuellen ästhetischen Genuss und am Schein orientiert, tritt an die Stelle »der von Gott gewollten rationalen und utilitaristischen Verwendung für die Lebenszwecke des einzelnen und der Gesamtheit«167. Der Bau eines neuen, luxuriösen Hauses ist zwar auf den ersten Blick durch den Moment des Wohlstandes und den politischen Erfolg gerechtfertigt, trägt aber dann dazu bei, die Firma in eine Liquiditätskrise zu stürzen, und ist deshalb auf einer Linie zu sehen mit der Heirat, nämlich als ein irrationales Erliegen vor den Verlockungen des Scheins und der überflüssigen ästhetischen Dimension des Lebens. Nicht von ungefähr ist Gerda eine begeisterte Musikerin, und das Musikzimmer bzw. die Musik, die daraus erklingt, gehören zu den Besonderheiten des neuen Heims, die am meisten hervorgehoben werden. Ein weiterer zeitgenössischer Soziologe, in diesem Fall der Amerikaner Thorstein Veblen, hat dieses Phänomen in seinem berühmten Buch The Theory of the Leisure Class (1899)168 als »conspicuous consumption« beschrieben: zur Schau gestellten Luxus. Veblen beschrieb die Verhaltensformen des Bürgertums in den USA an der Schwelle zu einer neuen Phase des Kapitalismus, die durch die Produktion von Konsumgütern gekennzeichnet war und in der sich ein Massenkonsum von Genussmitteln ankündigte (während die Buddenbrooks mit dem Grundnahrungsmittel Getreide handelten). Für Veblen, einen strengen Befürworter der technologischen Rationalität des Kapitalismus, der sich in der Produktion ausdrückt, war der unproduktive Konsum (der tatsächlich in vieler Hinsicht der Logik des Kapitalismus in seiner reinsten Form entspricht) ebenso wie die humanistische Kultur ein Anzeichen für eine irrationale, magische, primitive und überholte Disposition. Und wieder registriert Mann diese doppelte Valenz mit seismografischem Gespür. Mit seiner Neigung zum ostentativen Konsum, mit seiner Brautwahl, mit dem Haus und der Begeisterung für die zur Schau gestellte Eleganz verkörpert Thomas eine im Bürgertum aufkommende Tendenz, aber er enthüllt zugleich auch seine unterschwellige Bereitschaft, sich auf »magische« oder historisch überholte Verhaltensformen und auf ästhetische Dimensionen einzulassen, die wir dann in ihrer Entwicklung bei seinem Sohn Hanno beobachten können. Auch die Irrationalität und die Verschwendung, die Thomas selbst bei Christian verurteilt, ziehen ihn an. Mit Christian hat er, wie sich später herausstellt, tatsächlich mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Je mehr er an Selbstvertrauen verliert, je mehr er einsieht, dass er sein Schicksal nicht wenden kann (hier 167 Weber, S. 193. 168 Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class, An Economic Study of Institutions, New York, Macmillan 1899. Vgl. Cap. IV: Conspicuous Consumption, S. 68–101.

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kommt eine Art abergläubisches, magisches Gedankengut unter der Rationalität des Unternehmers zum Vorschein), desto mehr wird sein raffiniert-elegantes Aussehen zur Maske: Im Zeichen der Maskerade und der Nichtauthentizität enthüllt sich eine unvorhergesehene Verbindung zu Christian. Wie wir gesehen haben, heißt es im Roman, dass die Eleganz von Thomas einen gewissen »militärischen« Zug an sich hatte. Vielleicht steckt dahinter ein weiteres neues Merkmal, das sich zusammen mit den eben dargestellten Entwicklungen einschleicht: eine Art Machtwille in der Geschäftswelt. Thomas erliegt der Verlockung, auf eine neue Weise Geschäfte zu machen und das Kapital zu vermehren. Auch in diesem Fall gelingt Sombart eine eigenartige, aber treffende Definition für die Form von libido, die den modernen Wirtschaftsmenschen beherrscht: Der Machtkitzel, den ich als viertes Wahrzeichen modernen Geistes bezeichnen möchte, ist die Freude daran, uns anderen überlegen zeigen zu können. Er ist im letzten Grunde ein Eingeständnis der Schwäche; weshalb ja auch, wie wir sahen, er einen wichtigen Bestandteil der kindlichen Wertewelt bildet. Ein Mensch mit wahrer innerer und natürlicher Größe wird niemals der äußeren Macht einen besonders hohen Wert beimessen.169

Von dem Augenblick an, wo er die Firma und das Kapital erbt, entwickelt sich in Thomas ein ganz eigenes und unerwartetes Gefühl der Selbstüberschätzung. Mann unterstreicht das Irrationale daran, das in auffallendem Kontrast zur zweckorientierten asketischen Disposition seines Berufs steht: Die Sehnsucht nach That, Sieg und Macht, die Begier, das Glück auf die Kniee zu zwingen, flammte kurz und heftig in seinen Augen auf. Er fühlte die Blicke aller Welt auf sich gerichtet, erwartungsvoll, ob er das Prestige der Firma, der alten Familie zu fördern oder auch nur zu wahren wissen werde. An der Börse begegnete er diesen musternden Seitenblicken aus alten jovialen, skeptischen und ein bißchen moquanten Geschäftsmannsaugen, welche zu fragen schienen: »Wirst de Saak ook unterkregen, min Söhn?« Ich werde es! dachte er … (280)

Thomas entdeckt eine neue symbolische Werteordnung und die Folge davon ist, dass »ein genialerer, ein frischerer und unternehmenderer Geist den Betrieb beherrschte. […] Hie und da ward etwas gewagt, hie und da ward der Kredit des Hauses, der unter dem früheren r8gime eigentlich bloß ein Begriff, eine Theorie, ein Luxus gewesen war, mit Selbstbewußtsein angespannt und ausgenützt …« (292) Thomas bezieht sich zwar weiterhin auf die Maxime »Aber wir sind bloß einfache Kaufleute« (290), aber er scheint sich immer weiter von den gewohnheitsmäßigen Dispositionen einer rationalen Existenz zu entfernen: In seiner Lebensführung, die früher auf Planung und Methode basierte, gibt er immer 169 Sombart, S. 225–226.

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mehr »seinem sicheren und eleganten Auftreten« (293) den Vorrang. Es kommt sogar so weit, dass er denkt, der Erfolg in den Geschäften könne das Ergebnis von einem besonderen individuellen Auftreten sein und nicht aus der beruflichen Tüchtigkeit resultieren: Es gehört Persönlichkeit dazu, das ist mein Geschmack. Ich glaube nicht, daß ein großer Erfolg vom Comptoirbock aus zu erkämpfen ist […] ( 293) Ich habe stets das Bedürfnis, den Gang der Dinge ganz gegenwärtig mit Blick, Mund und Geste zu dirigieren … ihn mit dem unmittelbaren Einfluß meines Willens, meines Talentes, meines Glückes, wie du es nennen willst, zu beherrschen. (294)

Thomas’ Bedürfnis nach Distinktion zeigt sich auch darin, dass er allmählich auf seinen Habitus verzichtet, indem er sich einer Eleganz hingibt, die mit den strengen Prinzipien der innerweltlichen Askese nicht mehr zu vereinbaren ist. Die Art und Weise, wie er den sozialen Raum besetzt, ist gekennzeichnet von einer »persönlichen Neigung zum Superfeinen und Aristokratischen« (322) und damit wird seine langsame Entfernung von den nüchternen, diskreten Verhaltensnormen der protestantischen Ethik besiegelt. In diesem Distinktionsprozess taucht im Frühjahr 1868 ein weiteres bemerkenswertes Element auf. Es ist Tony, die bei ihrer Rückkehr von dem Gut Pöppenrade den Bruder bittet, ein Grundprinzip der Buddenbrookschen Ethik zu verletzen: Er soll dem adligen Grundbesitzer von Maiboom Geld leihen. Maiboom war der Ehemann ihrer Freundin und Schulkameradin aus Pensionatszeiten Armgard von Schilling, die das »erste adelige Mädchen [war], mit dem sie in Berührung kam«. (95) Übrigens war Tony anfangs von Armgards Adel nicht sonderlich beeindruckt, denn er schien ihr nicht ausreichend zur Schau gestellt: denn Armgard, mein Gott, sie wußte ihr Glück nicht einmal zu schätzen, sie ging umher mit ihrem dicken Zopf, ihren gutmütigen blauen Augen und ihrer breiten mecklenburgischen Aussprache und dachte nicht daran; sie war durchaus nicht vornehm, sie machte nicht den geringsten Anspruch darauf, sie hatte keinen Sinn für Vornehmheit. (95)

Armgard befolgt die ungeschriebene – von den Buddenbrooks jedoch fast immer eingehaltene – Regel einer standesgemäßen Heirat. Sie wird die Frau eines Grundbesitzers, der die typischen Merkmale seiner Klasse hat: Er ist liebenswürdig und das, was man als einen »echten Gentleman« bezeichnen könnte. Aber genau deshalb verfügt er nicht über die grundlegenden bürgerlichen Tugenden, nämlich Einnahmen und Ausgaben kalkulieren zu können sowie sein Vermögen umsichtig zusammenzuhalten und zu verwerten: Ralf von Maiboom ist ein liebenswürdiger Mann, Thomas, aber er ist ein Junker Leichtfuß, ein Daus. Er spielt in Rostock, er spielt in Warnemünde, und seine Schulden sind wie Sand am Meer. Man sollte es nicht glauben, wenn man ein paar Wochen auf Pöppenrade lebt! Das Herrenhaus ist vornehm, und alles ringsumher gedeiht, und an

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Milch und Wurst und Schinken ist kein Mangel. Man hat auf so einem Gute manchmal gar keinen Maßstab für die thatsächlichen Verhältnisse … (497)

Was ihm fehlt, ist vor allem die wichtigste Tugend eines Bürgers: Sombart nennt sie die »santa masserizia«, die heilige Wirtschaftlichkeit. Aber es ist Weber, der eine einleuchtende Erklärung für das idealtypische Verhalten dieser Gestalt liefert. In seiner Eigenschaft als Junker verkörpert er die vorkapitalistische Rückständigkeit, die Weber als »Traditionalismus« bezeichnet: »Der Mensch will ›von Natur‹ nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist.«170 Ralf von Maiboom ist also ein Vertreter der zähen, starrköpfigen Gegenmacht des Adels, die sich zusammen mit Nichtstuern und Landstreichern171 aktiv und passiv gegen die produktive Rationalität des kapitalistischen Bürgertums zu schaffen macht. Er ist somit der Ausdruck einer Weltanschauung, die Thomas verachtet und von der er seinerseits verachtet wird.172 Thomas würde sich nie auf Geschäfte mit einer derartig unzuverlässigen Person, die keinen Sinn für die Arbeit hat, einlassen. Außerdem, und das hat effektiv eine negative Wirkung auf Thomas und seine Ethik als Geschäftsmann, geht es bei Tonys Ansuchen darum, eine Summe vorzustrecken, die für die nächste Ernte gebraucht wird, und – so Thomas – Geld im Voraus zu verleihen ist eine Spekulation von »Juden« und »Halsabschneidern«, wie sie hauptsächlich in Hessen vorkommt. (499) Er lässt sich trotz starker Widerstände von seiner Schwester überreden, die Summe vorzustrecken, wobei er trotzdem auf seiner Erfahrung mit den Adligen besteht: Du weißt, unter ihnen ist Dieser und Jener, der den Kaufleuten, obgleich sie ihm doch so nötig sind, wie er ihnen, nicht allzu viel Hochachtung entgegenbringt, die – bis zu einem gewissen Grade anzuerkennende – Überlegenheit des Produzenten über den Zwischenhändler im geschäftlichen Verkehre allzu sehr betont und, kurz, den Kaufmann mit nicht sehr anderen Augen ansieht, als den hausierenden Juden, dem man, mit dem Bewußtsein, übervorteilt zu werden, getragene Kleider überläßt. (503)

Er gibt dem »Machtkitzel« nach und schließt das Geschäft ab – eine fatale Missachtung der Verhaltensregeln, die er immer gewissenhaft befolgt hatte im Angedenken an die väterliche Maxime: »Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können.« (530) Es wird der Hagel sein, der den Versuch der Spekulation auf die Getreideernte in Pöppenrade zunichtemacht, und »der Rittergutsbesitzer Ralf von Maiboom [wird] im Arbeitszimmer des Herrenhauses von Pöppenrade sich 170 Weber, S. 83. 171 Vgl. Foucault, Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am CollHge de France 1972–1973, S. 80. 172 Siehe das im Folgenden zitierte Gespräch mit Tony.

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vermittels eines Revolverschusses« (680) das Leben nehmen, wie es seinen Standesgewohnheiten entspricht. »›Mit einem Revolver?‹ fragte er [Thomas] […] Und wiederum nach einer Pause sprach er leise, langsam und spöttisch: ›Ja, ja, so ein Rittersmann!‹ …« (681) Im Grunde genommen kann ein Aristokrat das Problem eines wirtschaftlichen Ruins ziemlich einfach lösen: mit einem Revolverschuss. Für Thomas hingegen liegt der Fall sehr viel komplizierter. Er erweist sich als immer unfähiger, die erworbenen Eigenschaften zu bewahren: Er zeigt sich in der Öffentlichkeit zwar noch mit seinem Habitus und seiner Hexis, aber es kostet ihn im Laufe der Zeit eine unsägliche Mühe. Der Habitus ist kein Anzug, den man anzieht und ablegt, sondern ein Bestand an verinnerlichten Verhaltensdispositionen, eine unentwirrbare Kombination von Seele und Körper, Gefühlen und Geist, Ethik und praktischem Sinn. Er funktioniert wie eine langsam und für die Dauer erworbene natürliche Anlage. Bei Thomas haben der Habitus wie die Hexis an einem bestimmten Punkt seines Lebens ihren »natürlichen« Charakter verloren und sind das Ergebnis »einer unaufhörlichen Willensanstrengung« (511) geworden, während sein Gesicht »längst nur noch künstlich festgehaltene Miene« (511) ist. Auch seine Sparsamkeit (die frugale Askese seines Lebensstils) verkümmert im Privatleben auf jämmerliche Weise und die überlegte Rationalität seiner Handlungen wird zu »Pedanterie« und »zur vollständigen Wunderlichkeit«. (514) Die Wende, die sich mit Thomas vollzieht, sein Interesse für Musik, Philosophie und Selbstbetrachtung, wird oft als Verzicht auf die Formen der innerweltlichen Askese betrachtet. Auch in seinem Interesse für den Katholizismus äußert sich eine Metamorphose oder eine regressive Tendenz in Richtung einer Frömmigkeit, die in der protestantischen Welt mit ihrer kapitalistischen Säkularisierung überwunden war. Man kann die Bedeutung dieser Umwandlung verstehen, wenn man noch einmal bei Weber nachliest. In seiner unerbittlichen Analyse des Katholizismus vor der Reformation beobachtet der Autor der Protestantischen Ethik folgende religiöse Phänomene: Der normale mittelalterliche katholische Laie lebte in ethischer Hinsicht gewissermaßen »von der Hand in den Mund«. Er erfüllte zunächst gewissenhaft die traditionellen Pflichten. Seine darüber hinausgehenden »guten Werke« aber blieben normalerweise eine nicht notwendig zusammenhängende, zum wenigsten eine nicht notwendigerweise zu einem Lebenssystem rationalisierte Reihe einzelner Handlungen, die er je nach Gelegenheit etwa zur Ausgleichung konkreter Sünden oder unter dem Einfluß der Seelsorge oder gegen Ende seines Lebens gewissermaßen als Versicherungsprämie vollzog. Natürlich war die katholische Ethik eine »Gesinnungs«ethik.173

173 Weber, S. 154.

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Weber fügt hinzu, dass die Beichte die »unsystematische« Lebensführung erleichtert, »ferner, daß […] der grundlegende rigoristisch kalte Stimmungsgehalt […] dem mittelalterlichen Laienkatholizismus dauernd fehlen mußten«.174 Der katholischen Welt verbleibt die »Magie als Heilsmittel«175 und in der Lebensführung des Alltags fehlt der rationale, kohärente Charakter. Während der Krankheit seiner Mutter wird deutlich, dass Thomas den katholischen Schwestern (den »Grauen Schwestern«) den Vorzug vor den »Schwarzen protestantischen Schwestern« gibt. Er ist davon überzeugt, »dass die Grauen Schwestern treuer, hingebender, aufopferungsfähiger sind, als die Schwarzen. Diese Protestantinnen, das ist nicht das Wahre. Das will sich Alles bei erster Gelegenheit verheiraten … Kurzum, sie sind irdisch, egoistisch, ordinär … Die Grauen sind d8gagierter, ja, ganz sicher, sie stehen dem Himmel näher.« (616) Tatsache ist, wie Weber feststellt, dass die Beziehungen zwischen den Menschen im Katholizismus persönlich und nicht wie bei den Protestanten (die ein Dreiecksverhältnis zu Gott haben) unpersönlich sind. Der Katholizismus vermittelt den Menschen über seine Schwestern »jene freundlichen und menschlichen Tröstungen«176, während die protestantischen Schwestern nicht trösten können, weil sie in ihrem bis ins Kleinste rationalisierten Zustand der Gnade der Ethik des gelebten Lebens verpflichtet sind. »Dem Katholiken stand die Sakramentgnade seiner Kirche als Ausgleichmittel eigner Unzulänglichkeit zur Verfügung: der Priester war ein Magier, der das Wunder der Wandlung vollbrachte […] Er spendete Sühne, Gnadenhoffnung, Gewißheit der Vergebung […]«177 In der Welt der Protestanten war dagegen »von dem katholischen, echt menschlichen Auf und Ab zwischen Sünde, Reue, Buße, Entlastung, neuer Sünde oder von einem durch zeitliche Strafen abzubüßenden, durch kirchliche Gnadenmittel zu begleichenden Saldo des Gesamtlebens […] keine Rede«178. In der rationalen Askese von Thomas tauchen an einem gewissen Punkt Züge einer gefühlsbetonten Frömmigkeit auf, die ihm eine jenseitige Welt zeigen, die nicht auf ständigem kontrolliertem Aufstieg gegründet ist, sondern auf einem »Auf und Ab«, das Stunden des Leichtsinns und der Schwäche zulässt und trotzdem den »Saldo des Gesamtlebens« begleicht.

174 175 176 177 178

Ebd., S. 221, Anm. 69. Ebd., S. 154. Ebd., S. 154. Ebd. Ebd., S. 155.

Christian oder die Verschwendung

3.

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Christian oder die Verschwendung

Der Konflikt mit Christian wird im Roman lange vorbereitet, um schließlich bei der Beerdigung der Mutter zu explodieren. Die Auseinandersetzung beginnt mit der Etikette und endet bei der Ethik. Thomas bemängelt, dass sein Bruder zu diesem Traueranlass unangemessen gekleidet ist: Dabei aber blieben seine Augen auf den weißen Knöpfen haften, mit denen Christians Hemd geschlossen war. Er selbst war in tadelloser Trauerkleidung, und auf seinem Hemdeinsatz, welcher, am Kragen von der breiten, schwarzen Schleife abgeschlossen, blendend weiß aus der Umrahmung des schwarzen Tuchrockes hervortrat, saßen statt der goldenen, die er zu tragen pflegte, schwarze Knöpfe. Christian bemerkte den Blick, denn während er einen Stuhl herbeizog und sich setzte, berührte er mit der Hand seine Brust und sagte: »Ich weiß, daß ich weiße Knöpfe trage. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir schwarze zu kaufen, oder vielmehr, ich habe es unterlassen. […] Übrigens sind schwarze Knöpfe in der Welt ja nicht die Hauptsache. Ich liebe die Äußerlichkeiten nicht. Ich habe nie Wert darauf gelegt.« (630)

Der entscheidende Konflikt zwischen den Brüdern beginnt also mit einer Kleidungsfrage, aber das ist keine äußerliche Formalität, als die Christian sie hinstellen möchte, sondern eine Frage des Habitus und der Lebensführung. Der jüngere der beiden Brüder ist inzwischen 43 Jahre alt und hat immer im Müßiggang gelebt. Das ist eine schwere Schuld, die ihm Thomas, der die Ethik der Arbeit vertritt und interpretiert, nicht verzeihen kann. Bei zahlreichen früheren Gelegenheiten wurde Christian als »Affe«, Nachahmer und Dilettant, als Person »voll von Leidenschaft und Charlatanerie, voll von unwiderstehlicher Komik, die den burlesken und excentrischen englisch-amerikanischen Charakter trug […]« (288), bezeichnet. Aber was Thomas ihm vorwirft, was wirklich ausschlaggebend ist, ist sein Verhältnis zur Arbeit: »Und du begreifst nicht, Mensch«, rief Thomas Buddenbrook leidenschaftlich, »daß alle diese Widrigkeiten Folgen und Ausgeburten deiner Laster sind, deines Nichtsthuns, deiner Selbstbeobachtung?! Arbeite! Höre auf, deine Zustände zu hegen und zu pflegen und darüber zu reden! … Wenn du verrückt wirst – und ich sage dir ausdrücklich, daß das nicht unmöglich ist – ich werde nicht im Stande sein, eine Thräne darüber zu vergießen, denn es wird deine Schuld sein, deine allein …« (637)

Es ist offensichtlich, dass Christian ein ergänzendes Doppel von Thomas ist: Während der eine die bürgerlichen Tugenden verkörpert, erscheint der andere von Anfang an als unzuverlässig und, wie es ausdrücklich heißt, als »incroyable«. (17) Thomas lebt, das ist nicht zu übersehen, mit der Angst, so zu werden wie Christian, und drückt das schließlich in dramatischen Worten aus: »Ich bin geworden wie ich bin, […] weil ich nicht werden wollte wie du.« (638) Die beiden Brüder können also als die zwei Seiten einer Medaille gesehen werden. Aber

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gegenüber seinem Bruder vertritt Thomas bis zum Ende das absolute Prinzip der protestantischen Moral: Müßiggang ist das schlimmste aller Laster, das alle anderen nach sich zieht, die Christian ins Elend stürzen werden (Verschwendung, Dilettantismus, Mangel an Ethik, neurotische Selbstbezogenheit, Unfähigkeit, mit dem eigenen Leben und dem Alltag fertig zu werden). Die Ursache für seine Leiden ist nicht sein ausschweifendes Leben, sondern vielmehr die »Zeitverschwendung«, etwas, das Christian meisterhaft beherrscht. Er hält sich z. B. nie an die Mahnung, die sein älterer Bruder ihm mit auf den Weg gegeben hat, als er ihm eine Stelle in der Firma zuwies: »Also die Comptoirstunden innehalten und immer die dehors wahren, wie? …« (291) Christian gehört ein Teil der Firma. Aber es gelten für ihn die gleichen Regeln wie für alle anderen. Wie Weber in seiner Protestantischen Ethik sagt: »Auch der Besitzende soll nicht essen ohne zu arbeiten […].«179 Sich auf dem Besitz auszuruhen und den Reichtum in Müßiggang und Wollust zu genießen, versperrt den Weg zu einem »heiligen« Leben. Das geschieht auf religiöser Ebene. Auf der Ebene des in innerweltlicher Askese gelebten Lebens steht die Zeitverschwendung jedenfalls in eindeutigem Kontrast zur »rationalen« Ethik des Kapitalismus. Michel Foucault arbeitet in seinem Essay Die Strafgesellschaft zwei Hauptkategorien von Feinden der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Anfängen heraus: Es sind die Landstreicher, die die Produktion behindern und sich ihr verweigern, und der Adel. Beide bilden eine Gegenmacht, die sich der Produktion widersetzt, und werden daher als Feinde der neuen, auf dem rationalen Nutzen der Ressourcen beruhenden Gesellschaft gesehen.180 Und so steht Christian auf einer Ebene mit den Landstreichern oder den Großgrundbesitzern, den Typen, die sich nicht mit den Werten der protestantischen Ethik und des Kapitalismus im Allgemeinen identifizieren, weil sie die Maximierung der Produktion ablehnen. Erschwerend wirkt für Christian, dass er buchstäblich entartet ist, da er der Klasse der Kaufleute und nicht der des Adels oder der Landstreicher entstammt. Die schwere Schuld Christians ist, dass er sich dem Müßiggang »als aller Laster und damit als aller Verbrechen Anfang«181 hingegeben hat. Die Sache lässt sich kurz so zusammenfassen: Seit dem Moment, in dem sich die Gesellschaft auf ein System von Beziehungen stützt, die die Produktion im Sinne der kapitalistischen Rationalität möglich und notwendig machen, gibt es keinen Ausweg mehr. Wer sich widersetzt, wer ihre konsekrierte Ethik nicht befolgt, wird ausgeschlossen und als gefährlicher Feind bekämpft.

179 Weber, S. 185. 180 Foucault, Die Strafgesellschaft, S. 80. 181 Ebd., S. 72.

Die Hagenströms: neuer Kapitalismus oder Variante des alten?

4.

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Die Hagenströms: neuer Kapitalismus oder Variante des alten?

In der soziologischen Lektüre von Manns Roman gebührt der Familie Hagenström ein wichtiger Platz. Von Anfang an steht sie in Konkurrenz zu den Buddenbrooks, weil sie eine Alternative im Geschäftsgebaren darstellt. Die Hagenströms haben besondere Charakteristiken: In erster Linie kommen sie von außerhalb. Außerdem ist ihr wirtschaftlicher und politischer Aufstieg kontinuierlich, ohne Unterbrechung. Schließlich sollten sie auch imstande sein, ihr Tätigkeitsfeld zu diversifizieren: Einer der beiden Brüder, Moritz, wird ein geschickter und kompetenter Staatsanwalt. Auch in Hinsicht auf die Erzeugung von Nachkommenschaft erweisen sich die beiden Hagenströms als viel fähiger, indem sie nicht weniger als neun Kinder zeugen, während Thomas nur den unglückseligen Hanno vorweisen kann und Christian einen unehelichen Sohn mit zweifelhafter Vaterschaft. Als Erstes gilt es zu betonen, dass die Kritik sich einig ist, dass in den von Mann dargestellten Hagenströms die somatischen Züge zu erkennen sind, die damals in Lübeck den jüdischen Kaufmannsfamilien zugeschrieben wurden.182 Sehen wir uns etwa an, wie die Hagenströms schon in den ersten Szenen des Romans auftreten: Tony blieb ein bißchen stehen, um auf ihre Nachbarin Julchen Hagenström zu warten, mit der sie den Schulweg zurückzulegen pflegte. Dies war ein Kind mit etwas zu hohen Schultern und großen, blanken, schwarzen Augen, das nebenan in der völlig von Weinlaub bewachsenen Villa wohnte. Ihr Vater, Herr Hagenström, dessen Familie noch nicht lange am Orte ansässig war, hatte eine junge Frankfurterin geheiratet, eine Dame mit außerordentlich dickem schwarzem Haar und den größten Brillanten der Stadt an den Ohren, die übrigens Semlinger hieß. Herr Hagenström, welcher Teilhaber einer Exportfirma – Strunck & Hagenström – war, entwickelte in städtischen Angelegenheiten viel Eifer und Ehrgeiz, hatte jedoch bei Leuten mit strengeren Traditionen, den Möllendorpfs, Langhals’ und Buddenbrooks, mit seiner Heirat einiges Befremden erregt und war, davon abgesehen, trotz seiner Rührigkeit als Mitglied von Ausschüssen, Kollegien, Verwaltungsräten und dergleichen nicht sonderlich geliebt. Er schien es darauf abgesehen zu haben, den Angehörigen der alteingesessenen Familien bei jeder Gelegenheit zu opponieren, ihre Meinungen auf schlaue Weise zu widerlegen, die seine dagegen durchzusetzen und sich als weit tüchtiger und unentbehrlicher zu erweisen, als sie. (66–67)

Wer mit den Stereotypen des Antisemitismus vertraut ist, erkennt die unzweideutigen Merkmale: die Namen, die somatischen Züge, das ständig betonte skrupellose Geschäftsgebaren, die Schläue verleihen den Hagenströms eindeutig 182 Yahya Elsaghe, Die »Judennasen«, in Thomas Manns Erzählwerk, in »Journal of English and Germanic Philology«, 1 (2003), S. 88–104.

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die Konnotation von Juden. Auch Mann greift hier auf die Gemeinplätze zurück, die in der damaligen Soziologie tief verankert waren: Nicht so sehr bei Weber, aber sicher bei Sombart gibt es ausgesprochen antisemitische Stereotypisierungen.183 Mann zeigt uns außerdem, dass der praktische Sinn der Hagenströms sich durch eine größere Gelassenheit im Verhalten auszeichnet: Es ist etwa bezeichnend, dass Hermann (auf dessen ein wenig platter, auf der Oberlippe liegender Nase Mann leitmotivisch besteht, auch dies ein Zeichen für die Zugehörigkeit zum Judentum), ein Schulkamerad von Tony, versucht, ihr als Gegenleistung für ein Brötchen einen Kuss zu »rauben«, und zur Abwehr ihrer Reaktion eilt ihm »Schwester Julchen wie ein schwarzes Teufelchen« (69) zu Hilfe. Die Hagenströms sind unbeugsame Rivalen der Buddenbrooks, und zwar nicht nur auf geschäftlicher und politischer Ebene, sondern auch auf rechtlicher : Es ist ein Hagenström, der, in seiner Funktion als Staatsanwalt, Weinschenk, den Mann von Tonys Tochter Erika Grünlich verurteilen lässt. Dessen aus Berlin stammenden Verteidiger, den gerissenen Dr. Breslauer, hält Thomas allerdings für »einen rechten Teufelsbraten, einen geriebenen Redner, einen raffinierten Rechtsvirtuosen, dem der Ruhm vorangeht, so und so vielen betrügerischen Bankerottiers am Zuchthaus vorbeigeholfen zu haben«. (579) Sowohl der Staatsanwalt als auch der Verteidiger im Prozess sind Juden, was besagt, dass die formale Verwaltung der Justiz Sache der Rechtsverdreher ist, also nichts zu schaffen hat mit der protestantischen Ethik, die ihre eigenen Gesetze hat. Der unaufhaltsame Aufstieg der Hagenströms zu Lasten der Buddenbrooks wird als die Bekräftigung einer moderneren Form von »Kapitalismus ohne Ethik«, ohne Seele und ohne Geist hingestellt. Er schwimmt auf der Welle der Moderne und hat es leicht, den von den Buddenbrooks verkörperten Kapitalismus zu ersetzen, zumal diese in ihrem Geschäft durch den Druck der protestantischen Ethik beeinträchtigt sind. Dies alles geschieht in einem historischen Moment, wo der endgültige Übergang vom (vorgeblich) ethischen Status des Kapitalismus (Buddenbrooks) zu seiner freien Entfaltung in einer selbständigen Logik des Profits, zum Finanzkapitalismus (Hagenströms), stattfindet. Mann beschreibt diesen symbolischen Übergang mit der üblichen Genauigkeit. Es ist die Szene, in der der Verkauf des Buddenbrookschen Hauses an die Hagenströms zustande kommt. Mann zeigt uns erneut verschiedene Habitus, die von Beginn des Romans an als unvereinbar erscheinen. Hermann Hagenström, der Käufer, tritt unbeschwert und skrupellos auf: Hermann Hagenström, in einem fußlangen, dicken und schweren Pelze, der vorne offen stand und einen grüngelben, faserigen und durablen englischen Winteranzug sehen ließ, war eine großstädtische Figur, ein imposanter Börsentypus. Er war so außerordentlich fett, daß nicht nur sein Kinn, sondern sein ganzes Untergesicht dop183 Nicht zu vergessen: Sombart trat 1930 der NSDAP bei.

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pelt war, was der kurz gehaltene, blonde Vollbart nicht verhüllte, ja, daß die geschorene Haut seiner Schädeldecke bei gewissen Bewegungen der Stirn und der Augenbrauen dicke Falten warf. Seine Nase lag platter als jemals auf der Oberlippe und atmete mühsam in den Schnurrbart hinein; dann und wann aber mußte der Mund ihr zur Hülfe kommen, indem er sich zu einem ergiebigen Atemzuge öffnete. Und das war noch immer mit einem gelinde schmatzenden Geräusch verbunden, hervorgerufen durch ein allmähliches Loslösen der Zunge vom Oberkiefer und vom Schlunde. (662)

Konsul Hagenström fühlt sich durchaus wohl in seiner Rolle: »Sein Gehaben war frei, sorglos, behaglich und weltmännisch.« (663) Vor dem Abschluss des Kaufvertrags sehen wir ihn liebenswürdig plaudernd im Gespräch. Aber trotzdem muss Thomas anmerken, dass den Hagenströms etwas fehlt: Die Leute sind emporgekommen, ihre Familie wächst, sie sind mit Möllendorpfs verschwägert, und an Geld und Ansehen den Ersten gleich. Aber es fehlt ihnen etwas, etwas Äußerliches, worauf sie bislang mit Überlegenheit und Vorurteilslosigkeit verzichtet haben … Die historische Weihe, sozusagen, das Legitime … Sie scheinen jetzt Appetit danach bekommen zu haben, und sie verschaffen sich etwas davon, indem sie ein Haus beziehen wie dieses hier … Paß auf, der Konsul wird hier alles möglichst konservieren, er wird nichts umbauen, er wird auch das »Dominus providebit« über der Haustür stehen lassen, obgleich man billig sein und ihm zugestehen muß, daß nicht der Herr, sondern er ganz allein der Firma Strunck & Hagenström zu einem so erfreulichen Aufschwung verholfen hat … (660–661)

Thomas ist sich bewusst, dass der Kapitalismus der Hagenströms keinem göttlichen Plan mehr folgt und daher an keinerlei Ethik oder an irgendeine Form innerweltlicher Askese gebunden ist. Er hat sich völlig in auri sacra fames umgewandelt, wobei sacra für den heiligen, aber auch den geächteten Charakter der kapitalistischen Akkumulation steht. Gibt es, fragt sich Thomas, bzw. kann es eine neue Form der Akkumulation des Kapitals geben, die von der protestantischen Ethik absieht? Ist es möglich, zwei Formen des Kapitalismus unter einen Hut zu bringen, die eine ethisch (protestantisch) und die andere, die dem Prinzip des skrupellosen Profits gehorcht? Mann lässt die Frage offen und gibt dem Leser zu verstehen, dass mit den Buddenbrooks auch die ethische Disposition untergehen muss, die diese Klasse – für die er eine tiefe Nostalgie hegt – bei ihren Geschäften an den Tag legte. Es ist interessant, welchen Standpunkt Weber und Sombart zu der Erscheinung einnehmen, die ich der Einfachheit halber Kapitalismus ohne Ethik genannt habe. Beide vertreten Ansichten, die damals dem Zeitgeist entsprachen, und zwar kritische Anschauungen gegenüber dem Judentum. Im Falle Webers kann nie von Antisemitismus die Rede sein, während Sombart, wie schon erwähnt, 1930 zum Nationalsozialismus überwechselte. Betrachten wir also, wie Weber die Beziehung zwischen Kapitalismus und Judentum darlegt. Er unter-

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scheidet zwischen dem »nüchternen bürgerlichen Selfmademan«,184 dem idealen Vertreter des kapitalistischen Ethos, und einem Modell von Kapitalismus ohne Ethos. Bei dieser Polarisierung, so Weber, stand das »Judentum […] auf der Seite des politisch oder spekulativ orientierten ›Abenteurer‹-Kapitalismus: sein Ethos war, mit einem Wort, das des Paria-Kapitalismus,– der Puritanismus trug das Ethos des rationalen bürgerlichen Betriebs und der rationalen Organisation der Arbeit.«185 Und er fügt als Anmerkung weitere Details hinzu: »Den englischen Puritanern waren die Juden ihrer Zeit Vertreter jenes an Krieg, Staatslieferungen, Staatsmonopolen, Gründungsspekulationen und fürstlichen Bauund Finanzprojekten orientierten Kapitalismus, den sie selbst perhorreszierten. In der Tat läßt sich der Gegensatz im ganzen, mit den stets unvermeidlichen Vorbehalten, wohl so formulieren: daß der jüdische Kapitalismus spekulativer Paria-Kapitalismus war, der puritanische: bürgerliche Arbeitsorganisation.«186

Mit dem Begriff Paria meint Weber eine nur auf die Maximierung des Profits ausgerichtete Form des Kapitalismus ohne soziales Kapital, ohne Ansehen und ohne Ethik. Es ist einfach das Finanzkapital der Spekulanten aus der Kolonialzeit oder noch einfacher ein Kapitalismus, der sich immer jenseits von Gut und Böse befunden hat und daher keine Entwicklungs- (oder Rückentwicklungs-)stufe des ethischen Kapitalismus darstellt, sondern eine andere Bezeichnung, die, so Weber, kaum berechtigt ist, sich Kapitalismus zu nennen. Die Hagenströms wären nach Webers Ansicht also Vertreter des spekulativen Paria-Kapitalismus. Sombart hat hier eine entschiedenere Meinung. Einerseits stellt auch er den amoralischen Charakter des Kapitalismus als solchen heraus: Als Beispiel für einen skrupellosen Kapitalismus zitiert er das Credo eines berühmten Vertreters des modernen Kapitalismus, John D. Rockefellers, der erklärt habe, »er sei bereit, einem Stellvertreter eine Million Dollar Gehalt zu zahlen: der aber müsse (natürlich neben mancher positiven Begabung) vor allem ›nicht die geringsten Skrupel haben‹ und bereit sein, ›rücksichtslos Tausende von Opfern hinsterben zu lassen‹«187. Auf der anderen Seite stellt er fest, als er die Bestimmungen der Völker in Bezug auf den Kapitalismus untersucht, dass das jüdische Religionssystem und besonders »die fremdenfeindlichen Bestimmungen des jüdischen Gewerbe- und Handelsrechts« dazu führten, dass bei den Geschäften mit Fremden »die Geschäftsmoral […] gelockert wurde«188. Genau an diesem Umstand erkennt Sombart die Ursachen dafür, dass »ganz allgemein die Auffassung von dem Wesen des Handels- und Gewerbebetriebes sich umgestaltete, und zwar 184 185 186 187 188

Weber, S. 188. Ebd., S. 189. Ebd., S. 262, Anm. 252. Sombart, S. 235–236. Ebd., S. 344.

Im stählernen Käfig: Hanno und die Schule

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frühzeitig in der Richtung, wie wir sagen würden, der Gewerbefreiheit und des Freihandels«189. Es ist hier nicht der Rahmen zu entscheiden, ob und wie sehr die Behauptungen von Weber und Sombart antisemitischen Vorurteilen entspringen. Sombart ergänzt, wie um seine Überlegungen etwas zu mildern: »Wir werden nicht so kritiklos sein wollen und die gesamte Eigenart des modernen Wirtschaftsmenschen dem Einflusse der jüdischen Moral zuschreiben (so beträchtlich dieser Einfluß auch immerhin gewesen sein mag).«190 Tatsache ist, dass beide Fälle mehr oder weniger übereinstimmend beweisen, dass zur damaligen Zeit die Vorstellung herrschte, dass im jüdischen Recht und Handelsbetrieb die Möglichkeit für eine radikale Umformung des kapitalistischen Geistes angelegt war. Um auf unser Thema zurückzukommen: Mann macht sich nicht frei von den über die jüdische Geschäftsethik herrschenden Vorurteilen; er widmet ihnen große Aufmerksamkeit und führt uns mit den Hagenströms ideale Vertreter dieser Arbeits- (nicht Berufs-!)Auffassung vor Augen.

5.

Im stählernen Käfig: Hanno und die Schule

Wenn der Verkauf des Hauses an die Hagenströms für Thomas eindeutig eine symbolische Niederlage bedeutet, dann ist das äußere Zeichen für seine Kapitulation das Schicksal seines einzigen Nachkommen, Hanno. Das Kind, das seit der Geburt sehr zart ist, wird das Ende der Familie Buddenbrook, das Ende ihrer Moral und ihrer Geschichte besiegeln. Mann vermag es auch in diesem Fall, das Geschehen mit einem besonderen Moment der deutschen Geschichte zu verbinden. Hanno besucht im Jahr 1872 eine Schule, die sich vollständig verändert hat. Während uns die Schule von Thomas und Christian ausführlich als menschlich und tolerant beschrieben wurde, als eine Institution, in der sich die Sozialisation der Kinder ohne Traumata und mit Hilfe des Elternhauses vollziehen konnte, ist Hannos Schule eine Einrichtung, die einen entscheidenden Qualitätssprung gemacht hat: Es ist eine Erziehungsanstalt des vereinigten, preußisch gewordenen Deutschlands, die sich das Ziel setzt, Körper und Geist auf die schnellste Weise zu disziplinieren, um die Individuen möglichst bald zu brauchbaren Untertanen zu machen. Der Prozess, der bei Thomas und Christian (mit mehr oder weniger Erfolg) zur Herausbildung des Habitus geführt hatte, nämlich über die Gewohnheit und Nachahmung von Vorbildern, wird hier zur Prozedur strenger Disziplinierung. Es sei daran erinnert, wie oft die damalige 189 Ebd., S. 346. 190 Ebd., S. 359–360.

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Pädagogik zu Begriffen wie Zucht oder Züchtigung greift, als ob es sich um Hunde oder Pferde handelte. Es ist also eine Schule, die alle möglichen »Abweichungen« der Kinder zu korrigieren versucht. Hanno besucht die vierte Klasse, und seine Leistungen sind gerade eben ausreichend. Das für ihn vorbestimmte Los ist, dass er die Verantwortung für die Firma übernehmen soll. Sein Vater Thomas versucht, aus ihm einen starken, robusten Mann zu machen. Eben zu diesem Zweck, nämlich eine körperlich starke und gut ausgebildete Jugend heranzuziehen, verfügt die Schule über neuartige Erziehungsmittel, z. B. über die Leibesübungen, die – auch in der Ferienzeit – dazu dienen sollen, dass Kinder und Jugendliche die Gelegenheit ergreifen, sich aneinander zu messen, Mut, Kraft und Kühnheit zu beweisen. Hanno zeigt, wie sehr er diese Art der Abrichtung verabscheut, und entzieht sich dem neuen Kampfgeist: Aber zum Zorne seines Vaters legte Hanno nichts als Widerwillen, einen stummen, reservierten, beinahe hochmütigen Widerwillen gegen solche gesunden Unterhaltungen an den Tag … Warum hatte er so gar keine Fühlung mit seinen Klassen- und Altersgenossen, mit denen er später zu leben und zu wirken haben würde? Warum hockte er beständig nur mit diesem kleinen, halb gewaschenen Kai zusammen, der ja ein gutes Kind, aber immerhin eine etwas zweifelhafte Existenz und kaum eine Freundschaft für die Zukunft war? Auf irgendeine Weise muß ein Knabe sich das Vertrauen und den Respekt seiner Umgebung, die mit ihm aufwächst und auf deren Schätzung er für sein ganzes Leben angewiesen ist, von Anfang an zu gewinnen wissen. Da waren die beiden Söhne des Konsuls Hagenström: vierzehn- und zwölfjährig, zwei Prachtkerle, dick, stark und übermütig, die in den Gehölzen der Umgegend regelrechte Faustduelle veranstalteten, die besten Turner der Schule waren, schwammen wie Seehunde, Cigarren rauchten und zu jeder Schandthat bereit waren. Sie waren gefürchtet, beliebt und respektiert. Ihre Cousins, die beiden Söhne des Staatsanwaltes Doktor Moritz Hagenström andererseits, von zarterer Konstitution und sanfteren Sitten, zeichneten sich auf geistigem Gebiete aus und waren Musterschüler, ehrgeizig, devot, still und bienenfleißig, bebend aufmerksam, und beinahe verzehrt von der Begier, stets Primus zu sein und das Zeugnis Numero Eins zu erhalten. Sie erhielten es und genossen die Achtung ihrer dümmeren und fauleren Genossen. (685–686)

In Hannos Schule dominieren also sehr unterschiedliche Idealtypen: Mann beschreibt eine Jugend, die bereit ist, die Disziplinierung hinzunehmen, sei es durch die Leibesübungen, die ein Training für kontrollierte, korrekte körperliche Leistungen waren, sei es durch den intellektuellen Wettkampf, der auf Leistung gegründete Hierarchien schuf, die es zu respektieren galt. Letzten Endes geht es hier um den Moment, in dem die Macht von der Phase der Formierung des Habitus (der sich in der Gewohnheit und der Nachahmung in den von Bourdieu aufgezählten Formen symbolischer Macht ausdrückt) in eine neue Form der Mikrophysik der Macht übergeht, die auf neuen Disziplinierungstechniken beruht (wie sie Foucault ausführlich beschreibt). Während sich bei

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Bourdieu der Begriff der symbolischen Gewalt auf die Gewohnheit und die Prädisposition des Verhaltens stützt, erkennt Foucault in seiner Analyse der Disziplinarmacht gerade in der Gewohnheit das Überbleibsel einer veralteten Form der Machtausübung. Die Disziplinarmacht setzt sich – so Foucault – gegen die Macht der Gewohnheit als eine neue, für die moderne kapitalistische Gesellschaft geeignetere Form der Macht durch. Die Disziplinarmacht behauptet sich durch eine Mikromechanik oder Mikrophysik der Macht, die über Zwänge, Strafen und Disziplinierungstechniken im Allgemeinen ein gewohnheitsmäßiges diszipliniertes Verhalten erwirkt. Die von Mann geschilderte Phase betrifft den von Bourdieu analysierten Übergang von der Aneignung des Habitus zur Gefügigkeit der Körper als Folge der Disziplinarmethoden.191 In Hannos Schule werden durchgängig Methoden praktiziert, mit denen die Körper und das Verhalten systematisch zur Unterwerfung gezwungen werden. Das Ziel ist nicht mehr einfach ein langsames Einimpfen eines dauerhaften Verhaltens (Habitus) oder einer spezifischen Körpersprache (Hexis). Jetzt geht es darum, die Körper gefügig zu machen und Automatismen zu erzeugen, die zu größerer Geschicklichkeit und dadurch zu besserer Wirksamkeit, höherer Produktivität und einer inneren Organisation führen. Die Disziplinarmethoden sollen eine dauernde, umfassende und kapillare Herrschaftsbeziehung herstellen, die darauf beruhen, sich dem individuellen Willen des Meisters, des Lehrers oder generell des Erziehers zu unterwerfen. Die innerweltliche Askese hatte individuell auf die Kontrolle des eigenen Körpers und seiner Leistungen abgehoben, nun treten wir in eine historische Phase der Disziplin ein, die einen neuen Körper will, der gleichzeitig nützlich und in einer umfassenden kapillaren, sozialen Organisation untergeben und gehorsam sein soll. Wir gelangen damit zum Prinzip der »Mechanik der Macht«,192 dessen Ziel es ist, gefügige, produktive und funktionale Körper zu schaffen, die einer andauernden Kontrolle unterliegen: Die Schule wird als Disziplinarinstitution zum Vorläufer und Ebenbild der Fabrik und der Kaserne, wo die Individuen perfekt den Bedürfnissen der Produktion und zugleich der Kriegsmaschinerie angepasst werden. Je mehr sie dieser Mechanik entsprechen, desto höher ist ihr Stellenwert. Den Schülern wird mit Disziplin der richtige »Paradeschritt« eingedrillt, eine Voraussetzung für ein effizientes Heer auf der Höhe der Zeit. Das geeinte Deutschland musste sich auf seine Rolle in Europa vorbereiten und sich »diszipliniert« in seine Kolonialunternehmen stürzen. Die beiden Söhne Hagenström erscheinen als stolze, tapfere Vertreter dieser neuen disziplinierten Jugend. Auf der anderen Seite stehen die 191 Vgl. Foucault, Die Strafgesellschaft, S. 322ff. 192 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt/M., Suhrkamp 1979, S. 176 (Originalausgabe: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris, Gallimard 1975).

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Söhne von Dr. Moritz, denen Mann die Rolle der konformistischen, gehorsamen Jugend zugedacht hat, die weniger bereit ist, Manneskraft zu demonstrieren, aber ebenso diszipliniert und unterwürfig auftritt: die zukünftigen Beamten. Die Schule ist zu einer regelrechten Schmiede von gefügigen Körpern und Geistern geworden, sie fabriziert Untertanen, die zu allem bereit sind. Was daraus entsteht, ist ein aggressives Bürgertum, das keine Grenzen kennt: Es vereint in sich Unternehmergeist und Untertanenmentalität, die beide auf dem Willen zur Herrschaft und zum Besitz beruhen. Weber sagte in Bezug auf den Bürger : »In der für die Menschen der Reformationszeit entscheidendsten Angelegenheit des Lebens: der ewigen Seligkeit, war der Mensch darauf verwiesen, seine Straße einsam zu ziehen, einem von Ewigkeit her feststehenden Schicksal entgegen.«193 Jetzt hat ein Epochenwechsel stattgefunden: Der Geist des Kapitalismus spricht nicht mehr zum Einzelnen, sondern überträgt einer transzendentalen Macht (der Nation, dem Staat und dann der Rasse) die kollektive Verwirklichung des eigenen Unternehmens und zwingt das Individuum, das einmal Subjekt gewesen ist und sowohl seine geistige Erlösung wie auch seinen materiellen Reichtum betrieben hat, zu einem disziplinierten Rädchen im unerbittlichen überpersönlichen Getriebe zu werden. Es ist kein Zufall, dass Weber auf den letzten Seiten seines Buches über die Protestantische Ethik »ein stahlhartes Gehäuse«194 als Ergebnis der modernen Wirtschaftsordnung zeichnet. Der Bourgeois von Sombart schließt dagegen mit der Vision eines blind gewordenen Riesen und einer »Götterdämmerung«195 ab. Beide evozieren eine Zukunft, in der der Geist des Kapitalismus aus dem Käfig entflohen ist und darin nur eine Art »mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt«196 hinterlässt.

6.

Freundschaft und Anomie: Hanno und Kai

Mann, der aufmerksame und sensible Beobachter, versteht und teilt die Schwierigkeiten, die Hanno mit der Anpassung an diese Form der Transzendenz hat. Und an diesem Punkt stellt er ihm, sicher nicht von ungefähr, als einzigen Freund den abgerissenen, armen Vertreter einer von der Geschichte überholten Klasse zur Seite, einer Klasse, die sich mit Werten identifizierte, die für die bürgerliche Welt der Buddenbrooks und Hagenströms inakzeptabel sind. Der

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Weber, S. 145. Ebd., S. 201. Sombart, S. 464. Weber, S. 201.

Freundschaft und Anomie: Hanno und Kai

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Freund, Kai von Mölln, ist ein junger, verarmter Graf, der folgendermaßen eingeführt wird: Es war ein Junge von Hannos Statur, aber nicht wie dieser, mit einem dänischen Matrosenhabit, sondern mit einem ärmlichen Anzug von unbestimmter Farbe bekleidet, an dem hie und da ein Knopf fehlte, und der am Gesäß einen großen Flicken zeigte. Seine Hände, die aus den zu kurzen Ärmeln hervorsahen, erschienen imprägniert mit Staub und Erde und von unveränderlich hellgrauer Farbe, aber sie waren schmal und außerordentlich fein gebildet, mit langen Fingern und langen, spitz zulaufenden Nägeln. Und diesen Händen entsprach der Kopf, welcher, vernachlässigt, ungekämmt und nicht sehr reinlich, von Natur mit allen Merkmalen einer reiner und edlen Race ausgestattet war. (567)

Kais Familie besteht nur noch aus seinem Vater, einem mürrischen, seltsamen alten Grafen, der seinen Sohn »wild wie ein Tier unter den Hühnern und Hunden« (569) aufwachsen lässt. Hanno beobachtet ihn, »wie er gleich einem Kaninchen im Kohle umhersprang, sich mit jungen Hunden balgte und mit seinen Purzelbäumen die Hühner erschreckte«. (569) Er überwindet seine anfängliche Abneigung, und es entsteht eine enge Freundschaft zwischen den beiden. Kai, undiszipliniert und frei, wie er ist, kann Hanno zwar nicht helfen, wenn er das Einmaleins lernen muss, das in der durchkalkulierten Welt der Buddenbrooks ein unentbehrliches Werkzeug darstellt, aber er ist dafür zu Gesten fähig, die einem Buddenbrook völlig unverständlich und irrational vorkommen müssen: »er hatte ihn mit allem beschenkt, was sein gewesen war, mit Glaskugeln, Holzkreiseln und sogar mit einer kleinen, verborgenen Blechpistole, obgleich sie das Beste war, was er besaß …«(569) Es sind unbedeutende Dinge, die aber eine große Symbolkraft besitzen: Kai bringt in eine ganz der Produktion und dem Güteraustausch verschriebene Welt eine Ökonomie des Geschenks ein, die die Logik des Profits übersteigt und genau dadurch die Grenzen aufzeigt, die der scheinbaren Allmacht und Allgegenwärtigkeit des Profits gesetzt sind. In einer auf das Profitdenken, auf die Produktion und Akkumulation abgestellten Welt, in der auch die »Verschwendung« (die Eleganz und die neue Villa von Thomas) Veblens Prinzip vom ostentativen Luxus entspricht, bedeutet ein »unentgeltliches« Geschenk von Dingen, die nicht auf einen ökonomischen Umlauf zurückgeführt werden können, eine Verschwendung, die der kapitalistischen Ethik fremd ist. Mit der Figur von Kai wird gegen Ende des Romans ein offensichtlicher Widerspruch eingeführt. Die Welt von Buddenbrooks war bisher von den Werten des Bürgertums durch und durch gesättigt. Wenn sich nun auf der einen Seite die Werte der protestantischen Ethik als gänzlich unwirksam erweisen, steigen auf der anderen Seite die gesunden Vertreter eines skrupellosen Kapitalismus auf: die Hagenströms, die – die Generation der Eltern wie der Söhne – sicher eher imstande sind, sich den neuen Existenzbedingungen anzupassen, weil sie fle-

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xibler und differenzierter sind und auf verschiedenen Ebenen agieren können. Also stellt sich an diesem Punkt die berechtigte Frage: Warum bringt Mann am Ende dieser großen Narration eine Figur wie Kai ins Spiel (die übrigens merkwürdigerweise von der Kritik ziemlich vernachlässigt wurde)? Der Junge besitzt Eigenschaften, die für das kapitalistische Bürgertum negativ sind: Er ist ein verarmter Adliger, er genießt höchstens einen gewissen Respekt wegen seiner »Wildheit und zügellosen Unbotmäßigkeit«. (793–794) Als es um den unproduktiven Müßiggang Christians ging, war schon davon die Rede, dass in der »Gesellschaft der Normalisierung«, wie sie von Foucault beschrieben wird, der Landstreicher als neue Figur auftritt, die eine Grundkategorie des Verbrechertums verkörpert.197 Derselbe kriminelle Charakter wird auf die Reste der Aristokratie übertragen, die es nicht geschafft hat, ihre individuellen Reichtümer in die Produktionssphäre einzubringen und sich so einen Platz im Wirtschaftsprozess zu sichern. Zum System der allgemeinen Unterwerfung unter eine allgegenwärtige kapillare Macht gehört die Notwendigkeit, alle diejenigen zu bestrafen, die eine Art subversive Gegenmacht oder eine »Gegengesellschaft«198 darstellen, weil das Bürgertum sich ihrer entledigen muss. Die von Foucault vorgenommene Analyse des Landstreichertums und des Adels, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, führt ein qualitativ neues Element ein: Wenn Christian etwa als Müßiggänger auf der ethischen Ebene gegen die innerweltliche Askese verstoßen hat, so kann man dem Landstreicher in der »Gesellschaft der Normalisierung« ein Vergehen nachweisen und ihn strafrechtlich verfolgen. In diesem Fall wird die »Vergeudung« bestraft, ein neues Vergehen, das in Form des gewohnheitsmäßigen Fernbleibens von der Arbeit, der Unpünktlichkeit, der Trunkenheit, des Herumtreibens, kurz, in allen Formen auftreten kann, die man der Unregelmäßigkeit und der räumlichen Mobilität zurechnet. Das Ziel der »Gesellschaft der Normalisierung« ist, eine Industriearmee zu schaffen, die wie eine gut gedrillte, disziplinierte Waffengattung nach dem Vorbild des preußischen Heers funktioniert. Foucault greift in Überwachen und Strafen gern auf dieses Bild zurück, er spricht von der »Kunst der guten Ausrichtung«.199 Und auch die Präzision, mit der Mann schildert, wie alle Schüler – mit Ausnahme von Hanno und Kai – begeistert an den Normalisierungsoperationen teilnehmen, ist beeindruckend: Es war ein wackeres und ein bißchen ungehobeltes Geschlecht, die laute Menge, in der Kai und Hanno hin und wieder wanderten. Herangewachsen in der Luft eines krie197 Foucault, Die Strafgesellschaft, S. 72ff. 198 »Der Landstreicher und der Feudalherr stellen zwei Instanzen der Anti-Produktion, Feinde der Gesellschaft dar«, ebd., S. 72. 199 Foucault, Überwachen und Strafen, besonders Kapitel Die Kunst der guten Ausrichtung, S. 220ff.

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gerisch siegreichen und verjüngten Vaterlandes, huldigte man Sitten von rauher Männlichkeit. Man redete in einem Jargon, der zugleich salopp und schneidig war und von technischen Ausdrücken wimmelte. Trink- und Rauchtüchtigkeit, Körperstärke und Turnertugend standen sehr hoch in der Schätzung, und die verächtlichsten Laster waren Weichlichkeit und Geckenhaftigkeit. Wer mit emporgeklapptem Rockkragen betroffen wurde, durfte der Pumpe gewärtig sein. Wer sich aber gar auf der Straße mit einem Spazierstock hatte sehen lassen, an dem wurde in der Turnhalle auf ebenso schimpfliche wie schmerzhafte Art eine öffentliche Züchtigung vollzogen … (793)

Es tut sich eine soziale, durchdisziplinierte Welt auf, in der die Disziplinierungstechniken und der Zwang auch von den Schülern selbst verwaltet werden. Nicht nur die schulische Sozialisation beruht auf Rivalität und erbitterter Konkurrenz, sondern auch die Macht hat völlig neue Züge angenommen: Die hierarchisierte, stetige und funktionelle Überwachung gehört gewiß nicht zu den großen technischen »Erfindungen« des 18. Jahrhunderts – vielmehr beruht ihre schleichende Ausweitung auf den neuen Machtmechanismen, die sie enthält. Mit ihr wird die Disziplinargewalt ein »integriertes« System, das von innen her mit der Ökonomie und den Zwecken der jeweiligen Institution verbunden ist und das sich so zu einer vielfältigen, autonomen und anonymen Gewalt entwickelt. Denn die Überwachung beruht zwar auf Individuen, doch wirkt sie wie ein Beziehungsnetz von oben nach unten und bis zu einem gewissen Grade auch von unten nach oben und nach den Seiten. Dieses Netz »hält« das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig stützen: pausenlos überwachte Überwacher. In der hierarchisierten Überwachung der Disziplinen ist die Macht keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert. Zwar gibt ihr der pyramidenförmige Aufbau einen »Chef«; aber es ist der gesamte Apparat, der »Macht« produziert und die Individuen in seinem beständigen und stetigen Feld verteilt. Das erlaubt es der Disziplinarmacht, absolut indiskret zu sein, da sie immer und überall auf der Lauer ist, da sie keine Zone im Schatten läßt und da sie vor allem diejenigen pausenlos kontrolliert, die zu kontrollieren haben; und zugleich kann sie absolut »diskret« sein, da sie stetig und zu einem Gutteil verschwiegen funktioniert. Die Disziplin hält eine aus Beziehungen bestehende Macht im Gang, die sich durch ihre eigenen Mechanismen selber stützt und aufsehenerregenden Kundmachungen ein lückenloses System kalkulierter Blicke vorzieht. Dank den Techniken der Überwachung vollzieht die »Physik« der Macht ihren Zugriff auf den Körper nach den Gesetzen der Optik und der Mechanik und in einem Spiel von Räumen, Linien, Schirmen, Bündeln, Stufen und verzichtet zumindest im Prinzip auf Ausschreitung und Gewalt. Diese Macht ist scheinbar um so weniger körperlich und physisch, je gelehrter und physikalischer sie ist.200

Das oberste Ziel ist die Kontrolle über die untergebenen Körper, um Abweichungen zu verhindern oder einzudämmen. In einem solchen Überwachungskontext wird auch die Freundschaft zwischen Hanno und Kai in die weite Ka200 Ebd., S. 228–229.

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tegorie des Abnormalen gesteckt, mit dem entsprechenden Misstrauen betrachtet und ausgegrenzt: Diese Freundschaft war seit Langem in der ganzen Schule bekannt. Die Lehrer duldeten sie mit Übelwollen, weil sie Unrat und Opposition dahinter vermuteten, und die Kameraden, außer stande, ihr Wesen zu enträtseln, hatten sich gewöhnt, sie mit einem gewissen scheuen Widerwillen gelten zu lassen und die beiden Genossen als outlaws und fremdartige Sonderlinge zu betrachten, die man sich selbst überlassen mußte. (793)

Diese seltsame Freundschaft unter »outlaws« hat einen homoerotischen Beigeschmack, sie ist buchstäblich »illegal«, gemessen an den geschilderten rüden Männlichkeitsmodellen und der strengen Heteronormativität, die Voraussetzung für die Übertragung des Erbes einer patriarchalischen Familie ist. Aber das »unmoralische und subversive« Wesen dieser Freundschaft zeigt sich nicht nur hier, und wir wollen uns nicht länger dabei aufhalten. Was aus soziologischer Sicht interessiert, ist vor allem, dass zwei auf sozialer Ebene offensichtlich so ungleiche Personen gemeinsam isoliert sind und auf derselben Seite stehen. Warum gelingt es Hanno, Verständnis und Freundschaft nur außerhalb der eigenen Welt zu finden, die fest auf den protestantischen Werten und auf dem rationalen Schutz des rechtmäßigen Interesses gründet? Hanno, dem Bürgertum entstammend, hat keine Form von illusio mehr in dem Spiel, das seine Vorfahren immer gespielt haben. Er treibt Tendenzen, die in der Familie schon aufgetaucht waren (bei seinem Onkel Christian und sogar bei seinem Vater Thomas) auf die äußerste Spitze, aber seine kurze Existenz ist das eindeutige Symptom für den Verlust des conatus, des Lebenswillens. Er ist der rechtmäßige Erbe eines symbolischen (und ökonomischen) Kapitals, das er nicht erben will, weil er nicht geerbt werden will. Wer erbt, erklärt Bourdieu, wird nämlich geerbt, d. h., er wird kooptiert und an einen sozialen Körper »gekettet«, dessen Habitus er annehmen muss. Zu den Verpflichtungen des Erbes gehört die Reproduktion des Bestehenden, das Akzeptieren der Prozeduren, die die Kooptation verlangt, und alles, was daraus folgt. Aber im Bestehenden zu verbleiben ist nicht vom Schicksal vorgegeben. Hanno liefert den symbolischen Beweis dafür, indem er sich aus der Familiengenealogie streicht: Er […] nahm mit nachlässigen Bewegungen Lineal und Feder zur Hand, legte das Lineal unter seinen Namen, ließ seine Augen noch einmal über das ganze genealogische Gewimmel hingleiten: und hierauf, mit stiller Miene und gedankenloser Sorgfalt, mechanisch und verträumt, zog er mit der Goldfeder einen schönen, sauberen Doppelstrich quer über das ganze Blatt hinüber, die obere Linie ein wenig stärker als die untere, so, wie er jede Seite seines Rechenheftes verzieren mußte … Dann legte er einen Augenblick prüfend den Kopf auf die Seite und wandte sich ab. (575)

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Hanno weigert sich also, geerbt zu werden. Alle nur möglichen Transaktionen (Identifikationen, Projektionen, Transfers) und die Versuche der Kooptation, die von allen Familienmitgliedern unterstützt worden waren, bringen ihn zwar in Schwierigkeiten, zeitigen aber keinerlei positives Ergebnis angesichts seiner überzeugten Verneinung der alten Welt mit ihrer protestantischen Ethik, an die er nicht glaubt, ganz zu schweigen von der neuen Welt, die sich aus der »Gesellschaft der Normalisierung« herausschält und noch unerträglicher erscheint. Hannos Welt ist dominiert vom Interesse, vom rationalen, nüchternen Kalkül, dazu kommt Tag für Tag der Druck der schulischen Normalisierung. Die Wirklichkeit, die Kai dagegen für ihn darstellt, sieht ganz anders aus: verzaubert, magisch, ohne die absurden, willkürlichen Schindereien der Schule. Mann bedient sich der Figur von Kai, um eine Reihe von dissonanten, unzeitgemäßen Elementen wieder einzuführen, die aus der Welt der innerweltlichen Askese verbannt worden waren. Auf fast programmatische Weise schleust er den Zauber in die durchrationalisierte Welt der Buddenbrooks ein. Kai erzählt Geschichten, die in einem geheimnisvollen Licht erstrahlen, Geschichten von Zauberern und Prinzen, denen Hanno fasziniert folgt. Kai ist außerdem wild (nicht gezähmt) und hat keine materiellen Interessen (er kann sein Interesse nicht berechnen, bzw. er bemisst sein Interesse an Kriterien, die nicht dem von der reinen Ökonomie vorgesehenen Kalkül von Einnahmen und Ausgaben entsprechen). Er verfügt über eine Eigenschaft, die in der Familie Buddenbrook nie hoch geschätzt war, weil sie der rationalen Kaufmannsexistenz nicht von Nutzen ist: Er ist körperlich mutig. Tatsächlich ist er der Einzige, der sich ungeachtet der Gefahr im Schwimmbad tapfer auf die beiden robusten, athletischen Hagenströms stürzt, die Hanno gemein belästigen. Kai weiß, dass er den Kürzeren ziehen kann, was auch so kommt, aber er zieht sich nicht zurück. Und vor allem leistet er Widerstand, um seinen kleinen Freund zu verteidigen. Wie ich oben angemerkt habe, wird die Freundschaft der beiden Jungen als anomisch angesehen. Ich rufe auch noch einmal ins Gedächtnis, dass eines der Merkmale der Disziplinarmacht darin besteht, ein diszipliniertes und normalisiertes Individuum zu schaffen, aber gleichzeitig eine gewisse Anzahl von Individuen auszugrenzen: Die Macht ist ständig darum bemüht, zu normalisieren und zugleich Anomien herzustellen, die Unverbesserlichkeit zu unterstreichen. Für die Disziplinarmacht, der in der »Gesellschaft der Normalisierung« die Aufgabe übertragen ist, de iure et de facto den Zusammenhalt und das Überleben des Gemeinwesens zu garantieren, erweist Kai sich als unverbesserlich. Der »Landstreicher« und der »Adlige« sind Instanzen der Antiproduktion und Antagonisten der »Gesellschaft der Normalisierung«. Mann verkörpert in Kai die Widerstandskraft gegen das Bestehende. Aber er verleiht ihm vor allem eine Eigenschaft, einen Antiwert, der für seine Art und Weise, im sozialen Raum zu existieren, bezeichnend ist: die Interessefreiheit,

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eine Eigenschaft, die in der Buddenbrookschen Welt unvermittelt und unerwartet auftaucht und im Rahmen der bürgerlich-protestantischen Ethik nicht einzuordnen ist. Kais Stellung kann aus dem Gesichtspunkt der »Anthropologie des Adels« gesehen werden. Er verfügt über einen Restbestand an adligem Habitus, den man auf die Formel »Noblesse oblige« bringen könnte. Es ist sicher schwierig, gibt Bourdieu zu, sich ein völlig interessefreies Verhalten vorzustellen. Auch der Adel hat wie alle Akteure im sozialen Raum bestimmte Dispositionen oder Habitus verinnerlicht, die ihn zwingen, nach bestimmten Regeln, also »edel« zu handeln. Und wie Norbert Elias und Pierre Bourdieu nachgewiesen haben, bedeutet das, sein Handeln am symbolischen Interesse (Mut, Ehe, Mitleid, Solidarität) und weniger am ökonomischen zu orientieren.201 Mit anderen Worten könnte man sagen, dass der Adel eine bestimmte Art von Interesse pflegt, die »Uninteressiertheit«. Ein »uninteressiertes« Verhalten garantiert keine ökonomischen Profite, sondern Distinktion, macht die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse erkennbar, deren Reichtum das symbolische Kapital ist, und kann sich in gewissen Fällen die edle und uneigennützige Geste leisten: »Noblesse oblige« bedeutet, dass dem Adligen bestimmte Dinge aufgrund seines Adels verboten, andere zur Pflicht gemacht werden. Weil es zu seiner Definition, zu seinem – höheren – Wesen gehört, dass er uneigennützig ist, großherzig, kann er es nicht nicht sein, ist es »stärker« als er […] Das Ehrenverhalten der aristokratischen oder vorkapitalistischen Gesellschaften folgt dem Prinzip einer Ökonomie der symbolischen Güter, die auf der kollektiven Verdrängung des Interesses und, allgemeiner, der Wahrheit von Produktion und Zirkulation beruht und tendenziell »interessenfreie« Habitus produziert, anti-ökonomische Habitus, die, ganz besonders in den familialen Beziehungen, zur Verdrängung des Interesses im engeren Sinn (das heißt im Sinne der Verfolgung des ökonomischen Profits) neigen.202

Beide Jungen – Hanno, der das Familienerbe ablehnt, Kai, der in Armut seinen aristokratischen Habitus pflegt – handeln interessefrei. Es sei hinzugefügt, dass weder der eine noch der andere irgendein Interesse für die Schule hegen, die, wie wir gesehen haben, ein Spiegel und ein Instrument der gesamten sozialen Organisation ist. Interessiert sein bedeutet beteiligt sein, im Spiel sein bedeutet, dass man den Einsatz kennt, um den gespielt wird. Es bedeutet auch, dass es eine auf Einverständnis und Beteiligung beruhende Beziehung zwischen den mentalen Strukturen der Akteure und den Strukturen des sozialen Raums, in dem sie agieren, in unserem Fall der Schule, gibt. Die beiden Jungen unterscheiden sich in ihrem Handeln: Hanno scheint gänzlich gleichgültig gegenüber allem, was vor 201 Bourdieu, Ist interessefreies Handeln möglich?, in Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Bourdieu bezieht sich auf den Aufsatz von Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft: Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Neuwied/Berlin, Luchterhand 1969. 202 Bourdieu, ebd., S. 152.

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sich geht, er verfällt quasi in eine Form von stoischem Gleichmut. Kai dagegen hat andere Interessen als die, welche die »Gesellschaft der Normalisierung« ihm durch die Schule aufzwingen will. Vielleicht ist sein aristokratischer Habitus, der, wie seine Herkunft es will, auf der Ablehnung der Suche nach dem Interesse besteht, der Grund dafür, dass ihm jeglicher schulischer Erfolg gleichgültig ist, sei es das Turnen, seien es andere Fächer: Bekanntlich wetteifert ein Adliger nicht mit anderen, um materiellen Erfolg zu erreichen. Aber für ihn ist das nicht gleichbedeutend mit Ataraxie gegenüber der Welt. Es heißt nur, dass für ihn das Prinzip der bestmöglichen Verwendung der Zeit und des Profits keine Gültigkeit besitzt. Sein Umgang mit der Zeit gehorcht nicht den Gesetzen der Zweckmäßigkeit. Ebenso hält es sein Vater, Graf Eberhard, »ein Bild trotziger Vereinsamung« (570), der seine Zeit verächtlich im unproduktiven Müßiggang der Lektüre vergeudet. Nicht umsonst lebt Kai – als fast einzige Ausnahme des Romans203 – im engen Kontakt mit der Natur, wo er sich spielerisch und nicht zweckgerichtet bewegt. Wir sehen ihn noch gleich den Kaninchen im Kohl. Kai wird immer wieder in Verbindung mit der Tierwelt gebracht, deshalb ist es nahezu unmöglich, dass er in den Augen einer Welt, die das Menschliche auf der Basis der Geschäfte und des Produktionsvermögens definiert, als Mensch wahrgenommen wird. Was also am Ende des großen bürgerlichen Epos im Vordergrund steht, sind die »interessefreien Praktiken« von Kai, die das genaue Gegenteil von dem darstellen, was das Grundgesetz des ökonomischen Interesses und der damit verbundenen Ethik der Buddenbrooks ist. Mann hätte sicherlich nicht den Gedanken in Betracht gezogen, die Welt »seines« protestantischen Bürgertums in Frage zu stellen, besonders nicht in dem historischen Moment, als er Buddenbrooks schrieb. Aber legt er uns mit der Figur von Kai nicht nahe, dass die Rettung des Individuums in der Gesellschaft, die von der protestantischen Ethik in die »Gesellschaft der Normalisierung« übergeht, nur in der Verweigerung und Negation zu finden ist? Kann es nicht sein, dass Kai, »wild wie ein Tier«, der Antagonist des »stahlharten Gehäuses« ist, wie Weber den siegreichen Kapitalismus definiert? Nur Kai, unvorhergesehener und unvorhersehbarer Akteur, scheint die Fähigkeit zu besitzen, sich der Rolle des »eindimensionalen Menschen« zu entziehen und Widerstandskräfte gegen das Gehäuse zu entwickeln, das sich, zuerst nur unmerklich, um die westliche Welt und um die gesamte Menschheit schließt. Vielleicht will Mann uns sagen, dass die unendlichen Möglichkeiten der menschlichen Emanzipation in der »Uninteressiertheit« als einziger Form des Widerstands gegen das Sein-Müssen bestehen.

203 Die andere Ausnahme, Morton Schwarzkopf, ist ebenfalls bezeichnend, weil auch er der Welt der Rebellion gegen das Bestehende angehört. Morton wird oft mit dem Meer in Verbindung gebracht.

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Bibliographie

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Namenregister

Alberti, Leon Battista

87, 91

Bahr, Hermann 37f. Balzac, Honor8 de 34, 43, 50 Bartels, Adolf 47 Bavaj, Ursula 11 Berg, Leo 28 Bierbaum, Otto Julius 28 Bismarck, Otto von 29f., 34 Björnson, Biörnstierne 34 Bleibtreu, Karl 29 Bölsche, Wilhelm 28 Bossuet, Jacques B8nigne 26 Bourdieu, Pierre 9–11, 13, 18f., 21–26, 39–41, 46, 52–55, 58, 61, 63, 65f., 71f., 74, 77, 79, 110f., 116, 118 Bourget, Paul 37, 43 Brahm, Otto 28 Brandes, Georg 36 C8line, Louis-Ferdinand 45 Conrad, Michael Georg 28–30, 33f., 36 Conradi, Hermann 28 Daudet, Alphonse 34 Defoe, Daniel 91 Dehmel, Richard 28, 36, 38 Dickens, Charles 42 Dostojewski, Fedor Michailowitsch Dubois, Jacques 50f. Durkheim, Pmile 71f. Elias, Norbert

63, 72, 118

36

Fischer, Samuel 32f. Fischoff, Ephraim 90 Flaubert, Gustave 10, 12, 19, 34, 40, 50f., 63 Fontane, Theodor 50 Foucault, Michel 15, 40, 104, 110f., 114 Franklin, Benjamin 91 Friedrich, Wilhelm 32 George, Stefan 46 Gide, Andr8 26, 45 Goethe, Johann Wolfgang von Grautoff, Otto 42–46 Halbe, Max 28 Hart, Heinrich und Julius 28 Hauptmann, Gerhart 28, 38 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Holz, Arno 28, 35, 38 Huizinga, Johan 41 Ibsen, Henrik

34, 36

James, Henry

12, 26, 45

Kretzer, Max

28

Lörke, Tim 46 Lublinski, Samuel 24, 31, 49f. Magerski, Christine 30 Mann, Heinrich 45–47 Marcuse, Herbert 15

56

13, 54

128

Namenregister

Marx, Karl 13, 15, 53, 71f. Maupassant, Guy de 43 Mauss, Marcel 13 M8rim8e, Prosper 43

Sombart, Werner 14f., 86f., 89–93, 96, 98, 100, 106–109, 112 Stendhal (Marie-Henri Beyle) 34, 43, 63 Sudermann, Hermann 28

Nietzsche, Friedrich Nordau, Max 38

Taine, Hippolyte Tolstoi, Leo 36

Proust, Marcel

28f., 33, 38

26, 45, 50, 58, 63

Renan, Ernst 34 Renner, Rolf G. 43 Rockefeller, John D. 108 Scherer, Wilhelm 23 Schlaf, Johannes 28, 38 Soergel, Albert 38

Veblen, Thorstein

23, 34

97, 113

Wagner, Richard 29, 41, 43f., 46 Weber, Max 13f., 66, 71f., 86f., 89–94, 100–102, 104, 106–109, 112, 119 Wolf, Norbert Christian 10 Zola, Pmile

29f., 35, 37f., 44, 51

Passages – Transitions – Intersections Paola Partenza, Andrea Mariani (eds.) Volume 5: Paola Partenza (ed.) Sin’s Multifaceted Aspects in Literary Texts

Volume 2: Andrea Mariani Italian Music in Dakota

2018. 140 Seiten, paperback € 25,– D ISBN 978-3-8471-0852-8

The Function of European Musical Theater in U.S. Culture 2017. 250 Seiten, paperback € 35,– D ISBN 978-3-8471-0655-5

Volume 4: Alessandro Giovannucci Perspectives historicoesthétiques dans l’œuvre de Fernando Liuzzi

Volume 1: Paola Partenza (ed.) Dynamics of Desacralization

2018. 118 Seiten, paperback € 25,– D ISBN 978-3-8471-0841-2

Disenchanted Literary Talents 2015. 179 Seiten, paperback € 35,– D ISBN 978-3-8471-0386-8

Volume 3: Greta Colombani A gordian shape of dazzling hue Serpent Symbolism in Keats’s Poetry 2017. 126 Seiten, paperback € 25,– D ISBN 978-3-8471-0775-0

www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com