Alexandreis: Lateinisch - deutsch 9783111006949, 9783110795721

What no ancient poet succeeded in doing – intoning of the deeds of Alexander the Great in an epic – Walter of Châtillon

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German Pages 1040 Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
EINLEITUNG
1. Die Renaissance des 12. Jahrhunderts
2. Autor und Werk
3. Walters Quellen
4. Sprache und Stil
5. Der Götterapparat
6. Walters poetologisches Selbstverständnis
7. Die Alexandreis und der vierfache Schriftsinn
8. Zeitgenössische Bezüge
9. Handschriftliche Überlieferung und Textgestalt
GLIEDERUNGSÜBERSICHT
TEXT UND ÜBERSETZUNG
Prolog
Buch I
Buch II
Buch III
Buch IV
Buch V
Buch VI
Buch VII
Buch VIII
Buch IX
Buch X
KOMMENTAR
Prolog
Buch I
Buch II
Buch III
Buch IV
Buch V
Buch VI
Buch VII
Buch VIII
Buch IX
Buch X
LITERATURVERZEICHNIS
INDEX NOMINUM ALEXANDREIDOS CUM ANNOTATIONIBUS
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Alexandreis: Lateinisch - deutsch
 9783111006949, 9783110795721

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SAMMLUNG TUSCULUM

Herausgeber: Niklas Holzberg Bernhard Zimmermann

Wissenschaftlicher Beirat: Kai Brodersen Günter Figal Peter Kuhlmann Irmgard Männlein-Robert Rainer Nickel Christiane Reitz Antonios Rengakos Markus Schauer Christian Zgoll

WALTER VON CHÂTILLON ALEXANDREIS Lateinisch-deutsch

Herausgegeben und übersetzt von Martin Lehmann

DE GRUY TER

ISBN 978-3-11-079572-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-100694-9 Library of Congress Control Number: 2023934960 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Für Einbandgestaltung verwendete Abbildungen: Cologny (Genève), Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 5: 3v/4r (www.e-codices.unifr.ch) Satz im Verlag Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Lavinia

Vorwort Der mit Walter von Châtillon befreundete Johannes von Salisbury, als Bischof von Chartres (1176–1180) einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit, zitiert in seinem Metalogicon den frühscholastischen Gelehrten Bernhard von Chartres folgendermaßen: Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea (Johannes von Salisbury, Metalogicon 3, 4, 47–50). Bernhard von Chartres sagte, wir seien wie Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen: So können wir mehr als diese und auch entferntere Dinge sehen, freilich nicht aufgrund der eigenen Sehkraft oder der eigenen Körpergröße, sondern weil wir durch die Größe der Riesen weit emporgehoben werden.

Das Gleichnis von den Zwergen auf den Schultern von Riesen soll zum einen deutlich machen, dass ohne die herausragenden Leistungen vergangener Zeiten die Weiterentwicklung des Wissens nicht möglich wäre, da wir nur auf Grundlage der vorhandenen Forschungen überhaupt die Möglichkeit besitzen, Erkenntnisfortschritte zu erzielen, zum anderen aber auch der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die eigene Tätigkeit tatsächlich einen Beitrag zum Erkenntnisfortschritt zu leisten imstande ist und das Wissen der Alten an der einen oder anderen Stelle zu übertreffen vermag. In diesem Sinne sind an dieser Stelle insbesondere die herausragenden Forschungsarbeiten von Claudia Wiener, Jakob Maximilian Gartner und Hartmut Wulfram hervorzuheben, die dem Autor zu tieferen Einsichten verholfen haben und ohne die eine umfassende Kommentierung der Alexandreis des Walter von Châtillon in dieser Form nicht möglich gewesen wäre.

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Vorwort

Ein herzlicher Dank gebührt außerdem dem promovierten Germanisten Klaus Thonack für seine unermüdliche Bereitschaft, dem Autor jederzeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden zu haben. Ebenso ist der Autor dem klassischen Philologen Dr. Stefan Faller (Seminar für Griechische und Lateinische Philologie Freiburg) sowie dem Theologen Bernhard Löbbert, die mit ihrer Expertise ebenfalls zum Gelingen des vorliegenden Bandes beigetragen haben, zu Dank verpflichtet.

Inhalt VORWORT  7 EINLEITUNG

1. Die Renaissance des 12. Jahrhunderts 11 2. Autor und Werk 14 3. Walters Quellen 17 4. Sprache und Stil 20 5. Der Götterapparat 22 6. Walters poetologisches Selbstverständnis 26 7. Die Alexandreis und der vierfache Schriftsinn 29 7.1. Die historische Dimension der Alexandreis 30 7.2. Die heilsgeschichtliche Dimension der Alexandreis 30 7.3. Die eschatologische Dimension der Alexandreis 35 7.4. Die moralische Dimension der Alexandreis 38 8. Zeitgenössische Bezüge 47 9. Handschriftliche Überlieferung und Textgestalt 49

GLIEDERUNGSÜBERSICHT  53 TEXT UND ÜBERSETZUNG

Prolog 68/69 Buch I 72/73 Buch II 128/129 Buch III 176/177 Buch IV 224/225 Buch V 286/287 Buch VI 328/329 Buch VII 374/375 Buch VIII 416/417

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Inhalt Buch IX 458/459 Buch X 502/503

KOMMENTAR

Prolog Einführung 543 Kommentar 547 Buch I Einführung 556 Kommentar 568 Buch II Einführung 637 Kommentar 641 Buch III Einführung 699 Kommentar 704 Buch IV Einführung 743 Kommentar 747 Buch V Einführung 791 Kommentar 796 Buch VI Einführung 832 Kommentar 836 Buch VII Einführung 865 Kommentar 869 Buch VIII Einführung 898 Kommentar 903 Buch IX Einführung 933 Kommentar 939 Buch X Einführung 966 Kommentar 971

LITERATURVERZEICHNIS  1003 INDEX NOMINUM ALEXANDREIDOS CUM ANNOTATIONIBUS  1011

Einleitung 1. Die Renaissance des 12. Jahrhunderts Der von Hastings Rashdall im Jahre 1895 in der Überschrift zu seinem Einleitungskapitel seines Buchs über die europäischen Universitäten des Mittelalters in die Fachliteratur eingeführte und im Jahre 1927 von Charles Homer Haskins einem breiteren Publikum vorgestellte Begriff der Renaissance des 12. Jahrhunderts wurde lange Zeit insbesondere vonseiten der Forschung zur italienischen Renaissance des 14. und 15. Jahrhunderts kritisiert und in Frage gestellt (vgl. Lehmann 2018, 11, Anm. 1). Haskins konnte jedoch aufzeigen, dass bereits unter den Gelehrten des 12. Jahrhunderts die Ausrichtung auf die klassische Antike ein bestimmendes Merkmal ihres Denkens und Handelns war, das sich mit der leidenschaftlichen Hinwendung zu lateinischen Texten antiker Autoren insbesondere in den Fachbereichen der Philosophie, Theologie und Jurisprudenz kennzeichnen lässt. Seitdem sich die Geschichtswissenschaft den Denkformen und Handlungsmustern dieser Zeit stärker zuwandte und sich die Erkenntnis durchsetzen konnte, dass sich der Wandel in der Gesellschaft des 12. Jahrhunderts in nahezu allen Bereichen des menschlichen Lebens vollzog und seinerseits einen nicht unerheblichen Einfluss auf spätere Jahrhunderte – im Übrigen gerade auch auf die italienische Renaissance – ausüben konnte, besteht in der heutigen Forschung inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass nach dem oft als Aufbruchsperiode bezeichneten 11. Jahrhundert in den beiden darauf folgenden Jahrhunderten neue Ordnungen und neue Vorstellungen über das Zusammenleben der Menschen in der mittelalterlichen Gesellschaft erkennbar Gestalt annahmen und der dieses Jahrhundert beschreibende Begriff der »Renaissance des 12. Jahrhunderts« innerhalb der mittelalterlichen Epocheneinteilung

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Einleitung

aus diesen Gründen seine Berechtigung nachgewiesen hat (vgl. Vollrath 2001, 74). Wesentliche Merkmale dieser hochmittelalterlichen Renaissance stellen im Bereich der Literatur dabei die Wiederbelebung lateinischer Klassiker und die Wiederbeschäftigung mit der griechischen Philosophie dar, insbesondere mit Aristoteles und dem Timaios Platons. In diesem Kontext spielten die Kreuzzüge – im Mittelalter über viele Jahrhunderte in vielfacher Hinsicht eine politische Wirklichkeit – eine wesentliche Rolle, da die dauerhafte Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen einen Austausch von Waren, Ideen und Wissen zwischen Ost und West mit sich brachte, infolge dessen die nach dem Untergang des Römischen Reichs verloren geglaubten Schriften zahlreicher antiker Autoren unmittelbar aus dem Griechischen oder auf dem Umweg über das Arabische wieder den Weg in den Westen zurückfanden. Zugleich begann auch die Übersetzungsarbeit an Schriften beinahe aller Fachbereiche, die als Grundpfeiler für die Wissenschaft fast aller Fakultäten für die kommenden Generationen angesehen werden muss (vgl. Classen 1983, 332–333). In der Wissenschaft insgesamt und insbesondere in der Theologie, die sich zuvor noch primär an der wörtlichen Auslegung der Bibel orientierte, konnte sich ein Denken durchsetzen, das sich jenseits kirchlicher Dogmen in erster Linie der menschlichen Vernunft verpflichtet sah. Wie Vollrath (2001) 74–77 am Beispiel von Petrus Abaelard deutlich macht – der berühmte französische Theologe und Philosoph wandte sich mit seiner unter dem Titel Historia Calamitatum veröffentlichten Autobiographie als erster Gelehrter des Mittelalters der eigenen Person zu –, lässt sich beginnend mit dem 12. Jahrhundert ein dem intellektuellen Klima der Zeit geschuldetes ausgeprägtes Selbstbewusstsein der mittelalterlichen Gelehrten ausmachen, die im Zuge einer zunehmenden Individualisierung nicht nur ihre eigene Persönlichkeit und ihre ganz eigene Beziehung zu Gott, sondern generell auch das menschliche Subjekt als Thema der Moral und der wissenschaftlichen Erforschung entdeckten. Begleitet wurde diese Entwicklung



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vom Aufblühen der Städte, die als schnell wachsende Zentren des Handels und der Kommunikation – auch bedingt durch eine verbesserte Verkehrsinfrastruktur – nicht nur die Grundlage für die ersten aus den Kathedralschulen herauswachsenden Universitäten darstellten, sondern in denen sich auch ein neu entstehendes Bürgertum zunehmend gegen die alten Machtstrukturen durchzusetzen begann. Zugleich erlebten die volkssprachlichen Literaturen ihre erste Blüte. Mit dem Chanson de Roland – einem altfranzösischen Versepos über die Kriegszüge Karls des Großen gegen die Sarazenen in Spanien – setzte an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert die große französische Dichtung ein. Chrétien de Troyes schrieb seine großen Epen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in der sich unter französischem Einfluss auch in Deutschland die weltliche Dichtung entfalten konnte, die mit dem Nibelungenlied, der Lyrik eines Walther von der Vogelweide, der Epik eines Wolfram von Eschenbach sowie den Versromanen eines Gottfried von Straßburg und Hartmann von der Aue an der Wende zum 13. Jahrhundert ihren Gipfel erreichte (vgl. Classen 1983, 328). Auch die von Bologna ausgehende Wiederbelebung des Römischen Rechts, dessen systematische Ordnung schon in Justinians Zeit stattgefunden und in nur einer einzigen Handschrift im Süden Italiens die Zeiten überdauert hatte, kann als Teil dieser Entwicklung betrachtet werden (vgl. Classen 1983, 338). Vor dem Hintergrund dieser bedeutenden gesellschaftlichen Veränderungen entstand in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mit der Alexandreis des französischen Gelehrten Walter von Châtillon ein christliches Epos über den heidnischen König und Feldherrn Alexander den Großen, das die genannten Entwicklungen aufnimmt und in geradezu paradigmatischer Art und Weise widerspiegelt.

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Einleitung 2. Autor und Werk

Walter Berschin bezeichnet Walter von Châtillon nicht zu Unrecht als den vielseitigsten, formal gewandtesten, klassischsten und zugleich emphatischsten Dichter seiner Zeit (vgl. Streckenbach 1990, 9). Gleichwohl ist über das Leben des mittelalterlichen Autors ungeachtet einiger aus dem 13. Jahrhundert stammender Kurzviten (abgedruckt bei Colker 1978, XII–XVIII) wenig bekannt, so dass den meisten biographischen Angaben über einen der wohl prominentesten Dichter des Mittelalters in der Forschungsliteratur bis zum heutigen Tag eine gewisse Unsicherheit anhaftet. In den 1130er Jahren nach eigenen, aus seinem Tractatus contra Iudaeos stammenden Angaben in Lille geboren, soll er nach einem Studium in Paris und Reims die Schule von Laon geleitet haben, bevor er Kanoniker in Reims wurde. Ob Walter tatsächlich – wie Haye (2009) 171 annimmt – in Diensten Heinrichs II. von England stand und England erst wegen des Streits um Thomas Becket wieder verließ, ist in der Forschung umstritten, da es sich bei der Erwähnung eines magister Galterius de Insula in der Briefsammlung des Johannes von Salisbury auch um eine einfache Namensverwechslung handeln könnte, zumal die Viten keinen Hinweis auf eine derartige Anstellung Walters geben (vgl. Streckenbach 1990, 10). Nach einigen Jahren als Lehrer in Châtillon begann Walter ein Studium des kanonischen Rechts in Bologna und wurde nach einem Aufenthalt in Rom schließlich bepfründeter Notar des Reimser Erzbischofs Wilhelm von Blois (vgl. Haye 2009, 171; zu Wilhelm von Blois vgl. auch Komm. I, 12–26). Als überaus produktiver und vielgelesener Autor verfasste Walter in lateinischer Sprache moralisch-satirische Gedichte im Stil der Goliarden, die ihren Weg in die Sammlung der Carmina Burana fanden, sowie den oben bereits erwähnten Tractatus contra Iudaeos, einen antisemitischen Prosadialog über Streitfragen zwischen Christen und Juden. Neben drei Heiligendichtungen in Vagantenstrophen ist Walter vermutlich auch der Autor einer anonym überlieferten Lebens-



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beschreibung des Heiligen Brendan, die er dem in den Jahren 1163/64 in Frankreich weilenden Papst Alexander III. dedizierte (vgl. Haye 2009, 171; zu den Mor.-sat. Gedichten Walters vgl. Strecker 1929). Besonderen Ruhm konnte sich Walter jedoch mit der aus zehn Büchern bestehenden Alexandreis erwerben, die vom Leben und von den Taten des antiken Feldherrn und makedonischen Königs Alexanders des Großen berichtet. Auch wenn der ebenso wie Walter aus Lille stammende Alanus ab Insulis in seinem wohl unmittelbar nach der Alexandreis erschienenen Anticlaudianus den Versuch unternahm, das Alexanderepos seines Intimfeinds mit bissigem Spott herabzuwürdigen, konnte dessen Invektive die Wertschätzung des Mittelalters für die in der Literaturgeschichte erste epische Dichtung in lateinischer Sprache über den legendären makedonischen Eroberer nicht schmälern (vgl. Streckenbach 1990, 12, Anm. 15). Dies bezeugen weit mehr als 200 überlieferte Handschriften – die meisten stammen aus dem 13. und 14. Jahrhundert – sowie die Tatsache, dass die Alexandreis bereits im Jahrhundert nach ihrer Entstehung als Schullektüre aus dem mittelalterlichen Lehrbetrieb kaum mehr wegzudenken war und teilweise bis in das 17. Jahrhundert hinein elementarer Bestandteil des Lektürekanons blieb. Zeitweise konnte das in reichem Maße an antiken Vorbildern orientierte Epos sogar antike Klassiker wie die Aeneis Vergils aus dem mittelalterlichen Schulunterricht verdrängen. Als erster in einer langen Reihe von Glossatoren legte noch vor dem Jahr 1200 Gaufridus von Vitry einen Kommentar zur Alexandreis vor (vgl. Streckenbach 1990, 12; zu den Nachahmern Walters vgl. Christensen 1905, 165–194). Die Popularität der Alexandreis ist dabei weniger mit der Wahl des Stoffes zu erklären, da dem Mittelalter mit den Historiae Alexandri Magni Macedonis des antiken Historikers Curtius Rufus bereits nicht nur eine lateinische Alexandergeschichtsschreibung, sondern auch ein um die Mitte des 10. Jh.s ins Lateinische übersetzter griechischer Alexanderroman zur Verfügung standen. Vielmehr dürften hierfür die ausgewiesene literarische Qualität – auch bedingt durch

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Einleitung

die intertextuelle Mehrdeutigkeit der Alexandreis – sowie die überaus gelungene Einbindung des Epos in den zeitgenössischen Horizont die ausschlaggebenden Gründe gewesen sein (vgl. Lehmann 2018, 11–12; vgl. auch Streckenbach 1990, 9–23; vgl. auch die Einführung zum Prolog). Gewidmet ist das Werk Wilhelm von Blois, dem Erzbischof von Reims, den Walter nicht nur mit einem aus den Anfangsbuchstaben der einzelnen Bücher bestehenden Akrostichon (GUILLERMUS) ehrt, sondern auch an der für die gesamte Alexandreis zentralen Stelle am Ende von Buch V als denjenigen preist, der eigentlich die ganze Welt taufen müsste (vgl. Alex. V, 510–520; vgl. auch Komm. V, 491–520). Auch Walters auffällig an das Ende der Alexandreis gesetzte selbstbewusste Versprechen, mit seinem Epos sich selbst und seinem Gönner ewigen Ruhm zu verschaffen, spiegelt die enge Verbindung der beiden gelehrten Männer wider (vgl. Alex. X, 466– 469). Haye stellt die Vermutung an, dass Walter während seines Aufenthalts in Rom in seinem Bemühen um eine gut dotierte Pfründe oder auch ein bedeutendes Amt sein Alexanderepos ursprünglich möglicherweise Papst Alexander III. (1159–1181) widmen wollte und er davon erst wieder Abstand nahm, als sich seine diesbezüglichen Hoffnungen zerschlagen hatten und er daraufhin in die französische Heimat zurückgekehrt war. Haye (2009) 176 begründet seine These dabei nachvollziehbar wie folgt: Doch sind solche Spuren [gemeint sind diejenigen Stellen in der Alexandreis, an denen Wilhelm als Widmungsnehmer erwähnt wird] mühelos nachträglich einzufügen und ebenso leicht wieder zu tilgen. Bei nüchterner Betrachtung muss man feststellen, dass der Name und die historische Größe der Hauptfigur, die im Gedicht geäußerte Konzeption eines neuen Kreuzzuges und die Idee der christlichen Weltherrschaft sehr viel besser zu einem Papst als einem – wenn auch noch so bedeutenden – Erzbischof gepasst hätten.

Fünf Jahre arbeitete Walter nach eigenen Angaben an seiner Alexandreis, bis er sie nach einigem Zögern schließlich zu Beginn der



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1180er Jahre in Umlauf brachte (vgl. Alex. prol. 13–17; zu der in der Forschung umstrittenen Frage der Abfassungszeit vgl. Christensen 1905, 1–13). Nur wenige Jahre danach erkrankte der Dichter an der Lepra und starb um das Jahr 1185. Walters möglicherweise noch selbst verfasste Grabinschrift ist dabei an das berühmte Epitaph des augusteischen Dichters Vergil – zentrales Vorbild und wichtigster Orientierungspunkt seines epischen Schaffens – angelehnt (vgl. Lehmann 2018, 13; der Text auf Vergils Grabmal lautet: Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc | Parthenope; cecini pascua, rura, duces): Insula me genuit, rapuit Castellio nomen.  Perstrepuit modulis Gallia tota meis. Lille hat mich geboren, Châtillon den berühmten Namen geraubt.  Das ganze Frankenreich ertönte durch meine Dichtung.

3. Walters Quellen Sieht man von den zum unverzichtbaren Inventar auch und gerade eines mittelalterlichen Epos zählenden Schlachtschilderungen ab, deren Gestaltung sich vornehmlich an antiken Epikern orientiert, stellen die Hauptquelle für Walters Alexanderepos die ursprünglich in zehn Büchern überlieferten Historiae Alexandri Magni Macedonis des römischen Historikers Curtius Rufus dar, der mit seinem in der Antike wenig gelesenen und erst in Spätantike und Mittelalter verstärkt rezipierten Werk über Alexander den Großen den wesentlichen Bezugspunkt hinsichtlich der in der Alexandreis wiedergegebenen historischen Begebenheiten bildet (vgl. Wiener 2001, 19–32). Auch wenn Walter aus Curtius’ Alexandergeschichte zahlreiche historische Episoden in einer nahezu wortgetreuen Umsetzung von Prosa in Dichtung übernimmt, ist doch die Auswahl der Episoden insofern aufschlussreich, als er nach dem Perserkrieg als dem aus heilgeschichtlicher Perspektive entscheidenden Ereignis der

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Einleitung

Alexandergeschichte nur noch diejenigen Feldzüge des makedonischen Königs für seine eigene Darstellung verarbeitet, die entweder aufgrund ihrer allgemeinen Bekanntheit nicht ohne weiteres ausgespart werden konnten – zu nennen wäre dabei etwa Alexanders Kampf gegen den Inderkönig Porus – oder sich wie die Eroberung des Skythenreichs in besonderer Weise zur Inszenierung der aus christlicher Sicht nach dem Perserkrieg einsetzenden moralischen Depravation seines wichtigsten Protagonisten eigneten. Ebenso sieht Walter – wie im Kapitel über die moralische Dimension der Alexandreis noch näher ausgeführt – im Wesentlichen über die bei Curtius bereits in der ersten Werkhälfte oft sogar kontrastierend zu Darius dargestellten Schwächen Alexanders hinweg, um diesen im Unterschied zu seiner antiken Vorlage innerhalb der erzählten Zeit des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs vor einer unmittelbaren moralischen Kritik zu schützen. Da die von Curtius überlieferte Alexandergeschichte aufgrund der beiden fehlenden ersten Bücher erst mit der Ankunft seines wichtigsten Protagonisten in Phrygien einsetzt, war Walter insbesondere im Hinblick auf Alexanders Jugend über die Erhebung zum Hegemon des Korinthischen Bundes und zum makedonischen König bis hin zur ersten Schlacht am Granikus auf andere Quellen angewiesen. Bezogen auf diesen Zeitraum greift er für seine Darstellung zumeist auf die im Mittelalter vielgelesene Epitome des Pompeius Trogus des spätantiken Historikers Justin zurück, wofür der Briefwechsel zwischen Darius und Alexander als Beleg dienen kann (vgl. Komm. II, 18–44). Doch auch in späteren Episoden, für die ihm Curtius als Vorlage hätte dienen können, bedient sich Walter bisweilen bevorzugt jener Autoren, die ihm aufgrund der entsprechenden Schwerpunktsetzung für eine bestimmte Darstellungsabsicht des epischen Geschehens in der Alexandreis geeigneter erschienen. Ein eindrückliches Beispiel für dieses Vorgehen stellt in dieser Beziehung Walters in den Mittelpunkt gerückte außerordentliche Schnelligkeit Alexanders



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bei dessen Vorrücken zur Kilikischen Pforte dar, die – motivisch in den Historiae adversus paganos des spätantiken Historikers Orosius im Unterschied zur Darstellung bei Curtius bereits angelegt – auf ideale Weise den bestehenden Erfordernissen einer epischen Inszenierung entsprach (vgl. Komm. II, 91–102). Im heilgeschichtlichen Kontext konnte Walter auf die Historia scholastica des französischen Theologen Petrus Comestor zurückgreifen, der ihm etwa als Vorlage bei der Ekphrasis des Darius-Schildes hinsichtlich der praeteritio um Evilmerodachs Frevel diente (vgl. Komm. II, 484–529; vgl. auch Wiener 2001, 19). Einfache geographische Angaben oder auch ganze geographische Exkurse gehen wie die Beschreibung Asiens in der Alexandreis in der Regel auf die Etymologiae des Isidor von Sevilla zurück, der mit seiner im frühen 6. Jahrhundert entstandenen Enzyklopädie maßgeblich zum Weltwissen des Mittelalters beigetragen hat (vgl. Komm. I, 396–426). Mit der Aristoteles-Rede führt Walter in die Alexandreis einen in der Art mittelalterlicher Fürstenspiegel gestalteten Tugendkatalog ein, durch den der zu Beginn des Epos noch jugendliche Alexander aus dem Munde seines berühmten Lehrers in den für einen erfolgreichen König und Feldherrn notwendigen Tugenden unterwiesen wird (vgl. Alex. I, 82–183; zur Aristoteles-Rede vgl. auch die Einführung zu Buch I). Wie Gartner (2018) 40–42 nachweisen kann, orientiert sich Walter dabei insbesondere im Hinblick auf die für den makedonischen König bedeutsamen Feldherrntugenden an der Ethica Vetus des Burgundio von Pisa, die als überhaupt erste lateinische Übersetzung des zweiten und dritten Buchs von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik auch aufgrund ihrer großen Nähe zum griechischen Original dem Autor der Alexandreis einen guten Überblick über die Tugendlehre des antiken Philosophen bieten konnte. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Walter über seine freundschaftliche Verbindung zu Johannes von Salisbury, der als Bischof von Chartres enge Beziehungen zu Robert von Torigni,

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dem Abt der bei Avranches gelegenen Benediktinerabtei von Mont St. Michel, und zu Richard, dem Bischof von Avranches, pflegte, Zugang zu einer frühen Handschrift der aristotelischen Tugendlehre erhielt. Dabei ist es im Kontext dieser vielfältigen Beziehungen der Gelehrten untereinander von nicht unwesentlicher Bedeutung, dass gerade im Norden Frankreichs die erste mittelalterliche Aristoteles-Rezeption stattfand und es den dort tätigen Gelehrten ein besonderes Anliegen war, aristotelische Schriften zu interpretieren und zu verbreiten (vgl. Gartner 2018, 42–43, Anm. 13). Literarisches Vorbild für einen derartigen Fürstenspiegel stellt indes Claudians Panegyricus für Kaiser Honorius zum vierten Konsulat dar, in welchem Theodosius seinem zehnjährigen Sohn und späteren Kaiser die Richtlinien politischen Handelns vermittelt und ihm zudem die für einen Herrscher wichtigsten Tugenden ans Herz legt. Auch in manchen Teilen der Aristoteles-Rede, in denen Walter nicht wie bei den Feldherrntugenden auf die Ethica Vetus zurückgreifen konnte, ist eine auch inhaltliche Bezugnahme auf den spätantiken Dichter unübersehbar (vgl. Zwierlein 2004, 619–621). 4. Sprache und Stil Wie Zwierlein (2004) 663–674 ausführt, sind Sprache und Stil der Alexandreis im Wesentlichen durch das antike Epos geprägt, da der mittelalterliche Epiker vielfach nur das aufgreift, was bereits in der antiken Dichtung vorlag und sich auch vermeintliche Neuschöpfungen Walters bei genauer Betrachtung lediglich als eine Weiterentwicklung antiker Vorbilder erweisen. Über das von Christensen (1905) 54–56 angeführte rhetorische Stilmittel der Alliteration mit einem damit zugleich nicht selten einhergehenden Polyptoton hinaus ist zudem eine Vorliebe Walters für das Stilmittel des Hysteron-Proteron festzustellen, das in der Forschung hinsichtlich seiner Tragweite und seiner Bedeutung



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für das Verständnis wichtiger Textstellen der Alexandreis bisher weitgehend unerkannt geblieben ist. Walter bedient sich dieses Stilmittels insbesondere an jenen Stellen, an denen bestimmte Personen oder bestimmte Eigenschaften dieser Personen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden sollen. So gelingt es dem Autor der Alexandreis im Prooemium durch den Einsatz eines Hysteron-Proteron nicht nur, die zentrale Bedeutung der Tugend der Tapferkeit auffällig in Szene zu setzen, sondern auch das Augenmerk auf Alexanders aus heilsgeschichtlicher Perspektive wichtigsten Gegner Darius zu richten (vgl. Komm. I, 1–5). Ebenso schildert Walter die Zerstörung von Theben und die Verschonung Athens historisch betrachtet in umgekehrter Reihenfolge, um das Einlenken des geistigen Zentrums Griechenlands als das Ergebnis von Alexanders Tugendhaftigkeit zu inszenieren (vgl. Komm. I, 268–348). In derselben Weise verfährt Walter bei der Wiedergabe der Legitimierung von Alexanders Herrschaft in Griechenland, indem er historisch unkorrekt zuerst die Erhebung seines wichtigsten Protagonisten zum Hegemon des Korinthischen Bundes darstellt und erst dann dessen Krönung zum makedonischen König beschreibt. Damit versetzt er sich in die Lage, einen zeitgenössischen Bezug zum jungen französischen König Philipp II. herzustellen, auf dem als wiedererstandenem Alexander im späten 12. Jahrhundert die Hoffnungen der Christenheit im Kampf gegen die Muslime ruhten (vgl. Komm. I, 226–238). Auch im Hinblick auf die Darstellung der Landungsstelle des makedonischen Königs im Süden der kleinasiatischen Halbinsel und dem von Alexander daraufhin eingeschlagenen Weg von Kilikien über Phrygien nach Troja bedient sich der Autor der Alexandreis des oben genannten Stilmittels, um das zentrale Thema des Epos, den heilsgeschichtlich legitimierten Perserkrieg, innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis zu etablieren (vgl. Komm. I, 359–385). Ein wichtiger produktionsästhetischer Ansatz im Werk Walters stellt zudem das Streben nach intertextueller Mehrdeutigkeit dar, innerhalb derer nicht selten zugleich eine auf Kontrastierung ange-

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Einleitung

legte Bedeutungsumkehr zum Prätext impliziert ist (vgl. die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol. 1–13). Im Bereich der Metrik schließt sich Walter im Wesentlichen den seit den antiken Epen allgemein üblichen Regeln des Hexameters an, wobei der Bau seiner Verse in ihrem rhythmischen Gang und ihrer Gliederung durchaus auch höheren Anforderungen entspricht (vgl. Christensen 1905, 56–75). 5. Der Götterapparat Seit Homer und Vergil ist es ein Kennzeichen epischer Dichtung, dass das menschliche Handeln vom Eingreifen der Götter begleitet oder bisweilen sogar bestimmt wird. Auch Walter fühlt sich dieser antiken Tradition verpflichtet und installiert für die Alexandreis ungeachtet ihrer christlichen Prägung einen Götterapparat, der neben der als mittelalterliche Schöpfung geltenden Göttin Natura auch antike Gottheiten auftreten lässt, die ihren Beitrag zum Fortgang des epischen Geschehens leisten. Bereits im Prooemium macht Walter mit der Erwähnung der Parzen deutlich, dass auch Alexander als sein wichtigster Protagonist göttlichen Mächten unterworfen ist. Darüber hinaus finden die Parzen in der Alexandreis im Kontext der Schlacht bei Gaugamela und bei Alexanders Kampf mit dem Inderkönig Porus Erwähnung (vgl. Alex. V, 140–144; vgl. auch Alex. IX, 194–195). Möglicherweise geht die Verwendung dieses Motivs bei Walter auf Lucan zurück, der in seiner Pharsalia dem römischen Feldherrn Pompeius auf der Überfahrt von Italien nach Griechenland dessen frühere Gattin Julia im Traum erscheinen und diese darin bedeutungsschwanger verkünden lässt, dass sich die drei Schwestern aufgrund des hohen Blutzolls – angesprochen ist dabei die in Kürze anstehende Entscheidungsschlacht zwischen Caesar und Pompeius in Pharsalus – kaum in der Lage sehen, ihre Arbeit zu bewältigen (vgl. Zwierlein



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2004, 651–652; vgl. Luc., Phars. III, 18–19: Vix operi cunctae dextra properante sorores | sufficiunt, lassant rumpentis stamina Parcas). Aber auch der von Walter vielfach rezipierte spätantike Dichter Claudian bedient sich in seinem mythologischen Epos De raptu Proserpinae dieses Motivs, so dass Walter auch von dieser Seite her inspiriert gewesen sein kann (vgl. Claud., De raptu Pros. I, 51–53). Da sich das Parzenmotiv ungeachtet seines heidnischen Ursprungs abgesehen von Walters Alexandreis aber auch in anderen Werken des Mittelalters – wie die Verwendung bei Isidor von Sevilla oder bei Baldricus Burgulianus († 1130) für die Schlacht bei Hastings zeigt – nachweisen lässt, ist auch ein diesbezüglicher Einfluss denkbar (vgl. Isid. v. Sev., Etym., VII, cap. XI, 92–95; vgl. auch Burg., carm. 134, 455–458; vgl. auch Zwierlein 2004, 652). Ein unmittelbarer Versuch göttlicher Mächte, sich in den Handlungsablauf des Epos einzuschalten und diesen in ihrem Sinne zu beeinflussen, stellt die Episode um den Kriegsgott Mars und dessen Schwester Bellona dar, die dem makedonischen König die Botschaft mit auf den Weg geben, von der Verfolgung des Darius abzulassen, da es dem persischen König bestimmt sei, durch die Hand der eigenen Männer sein Ende zu finden (vgl. Komm. V, 205–255). Ein höchst wirkungsvolles Eingreifen der Götter schildert Walter zudem im Kontext der Schlacht bei Gaugamela (vgl. Komm. IV, 433–453). Als Alexander nämlich in der Nacht vor der Schlacht keinen Schlaf finden und seinem Gedankengefängnis im Hinblick auf die bevorstehende Auseinandersetzung mit den Persern aus eigener Kraft nicht entkommen kann, beauftragt die Siegesgöttin Victoria in dieser überaus schwierigen und bedrohlichen Situation den Schlafgott Somnus, dem makedonischen König in den Schlaf zu helfen. Diese Episode baut Walter zu einem epischen Meisterstück aus, indem er aus dem historischen Bericht des Curtius durch die Bezugnahme auf die Thebais des Statius und die Aeneis Vergils einen Alexander Epicus inszeniert (vgl. Harich 1987). Dabei erinnert die Episode hinsichtlich des verwendeten Motivs, dem epischen Helden

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Einleitung

in einem Moment der Schwäche oder der inneren Unruhe göttliche Hilfe zukommen zu lassen, an die Jerusalem-Episode, in der dem makedonischen König in einer vergleichbaren Situation über die Person des Hohepriesters Jaddus die Unterstützung des jüdischchristlichen Gottes zugesagt worden war (vgl. Komm. I, 502–538). Die Schicksalsgöttin Fortuna wird in der Alexandreis als integraler Bestandteil des Fatums dargestellt, die den makedonischen König trotz ihres grundsätzlich wankelmütigen Charakters so lange unterstützt, wie es ihrer Aufgabe als ausführender Gewalt innerhalb des göttlichen Heilsplans entspricht. Aus diesem Grund greift Fortuna am Kydnus nach anfänglichem Zögern letztlich doch im Sinne Alexanders ein, da er sich mit der Eroberung des Perserreichs zu diesem Zeitpunkt noch immer auf dem Weg zur Erfüllung seines heilsgeschichtlich legitimierten Auftrags befindet (vgl. Komm. II, 200–217). Erst als es Alexander jenseits des Perserreichs in seiner Maßlosigkeit dazu drängt, auch die Gefilde der Antipoden erkunden zu wollen, kann ihn auch Fortuna gerade wegen ihres zielgerichteten Wirkens innerhalb des göttlichen Heilsplans nicht mehr weiter unterstützen und demzufolge auch nicht vor dem epischen Tod retten (vgl. Komm. X, 1–5). Zu Beginn von Buch X lässt Walter mit der Göttin Natura eine für das 12. Jahrhundert charakteristische Gestalt auftreten (vgl. Komm. X, 6–107). Auch wenn bereits in der antiken Literatur eine oszillierende Doppelexistenz in der Darstellung der Natura zwischen naturphilosophischer Abstraktion und göttlichem Wesen festgestellt werden kann – der römische Dichter Lukrez ist dafür ein gutes Beispiel –, so lässt sich doch beobachten, wie Natura im 12. und 13. Jahrhundert weit über ihre ursprüngliche Rolle als abstrakte Vorstellung hinauswächst und aus spätantiken Umrissen einer beginnenden Vergöttlichung – man denke dabei insbesondere an Claudian – in das volle Licht einer Gottheit tritt (vgl. Modersohn 1995, 14). Die Vorstellung von Natura als Göttin entstammt dabei der Naturphilosophie der Schule von Chartres, die aus dem Schöpfungsmythos



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des biblischen Buchs Genesis und der in Platons Timaios entworfenen Kosmogonie – überliefert in der Kommentierung des Calcidius (Ende 3. Jh. n. Chr.) – ein neues Weltbild geformt hat (vgl. Streckenbach 1990, 16–17). Im Umfeld dieser Schule entstanden mit der Cosmographia des Bernardus Silvestris, mit De planctu Naturae und dem Anticlaudianus des Alanus ab Insulis sowie dem Architrenius des Johannes de Hauvilla bis 1184 vier große Dichtungen, in denen die personifizierte Göttin Natura in verschiedenen Funktionen auftritt, so dass Walter für sein Epos diesbezügliche Anregungen aus dem unmittelbaren zeitgenössischen Umfeld gewinnen konnte. Im Hinblick auf die von Walter verarbeitete Vorstellung einer Natura plangens etwa lässt Pfister (1911) 520–524 ungeachtet der Tatsache, dass das besagte Motiv innerhalb der antiken Literatur bereits von Lukrez vorgeprägt und auch schon von Claudian in seinem mythologischen Epos De raptu Proserpinae verarbeitet worden war, keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sowohl Bernardus Silvestris mit seiner Cosmographia als auch Alanus ab Insulis mit seiner Schrift De planctu naturae diesbezüglich einen bestimmenden Einfluss auf Walter ausgeübt haben (vgl. Komm. X, 82–107; vgl. Bern. Silv., Cosm. I, 1–4; vgl. Lucr., De rer. nat. III, 931–939; vgl. auch Claud., De raptu Pros. III, 33–45; vgl. auch Roling 2003, 183, Anm. 81). Auch Walters Hinweis auf die Funktion der Natura als Göttin, die den Schöpfungsprozess in Gang halten muss und sich für die creatio continua verantwortlich zeigt, stellt zweifellos eine unmittelbare Anleihe aus Alanus’ De planctu naturae dar (vgl. Komm. X, 6–30). Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich des in der Alexandreis verwendeten Götterapparats festhalten, dass Walter angesichts der mannigfaltigen und engen Verknüpfung des irdischen Geschehens mit der göttlichen Ebene der antiken Tradition epischer Schriftsteller treu bleibt und es ihm dabei auf beeindruckende Art und Weise gelingt, antike und mittelalterliche Vorstellungen über das Walten der Götter und ihren Einfluss auf das Leben der Menschen harmonisch miteinander zu verbinden.

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Einleitung 6. Walters poetologisches Selbstverständnis

Wie Wulfram (2000) 222–245 in seinem Beitrag zur expliziten Selbstkonstituierung in der Alexandreis überzeugend darlegt, zeichnet sich Walters Selbstverständnis als Dichter durch eine poetologische Doppeldoktrin aus, die – bezugnehmend auf Alexanders Rede an Achills Grab in Troja, an dem sich der makedonische König einen Dichter wie Homer für seine eigenen Taten wünscht – in ihrem ersten Teil von der Vorstellung geprägt ist, dass der Ruhm selbst des größten Herrschers an einen fähigen Dichter gebunden ist, der in der Lage sein muss, dessen Taten in angemessener Weise zu verherrlichen (vgl. Komm. I, 468–492). Indem Walter Alexanders Rede dabei absichtsvoll mit einer Episode aus Lucans Pharsalia – als historiographisches Epos insbesondere in inhaltlich-konzeptioneller Hinsicht der für den Autor der Alexandreis bestimmende Maßstab –, in Beziehung setzt – im antiken Epos stellt sich der römische Dichter in einer an Caesar gerichteten Apostrophe auf eine Stufe mit Homer, indem er dem verhassten römischen Feldherrn sarkastisch denselben Nachruhm verspricht, wie ihn die trojanischen Helden durch die Ilias genießen würden – macht er nicht nur den von Lucan indirekt Caesar zugewiesenen Rang neben Homer streitig, sondern beansprucht auch für sich selbst den Platz neben dem ersten Dichter des Abendlandes (vgl. Wulfram 2000, 235–236). Als konkreten Ausgangspunkt für diesen ersten Teil von Walters poetologischer Doppeldoktrin macht Wulfram den Anfang der Vita Sancti Hilarionis des Hieronymus aus, wo der in Walters Prolog neben Vergil ebenso prominent hervorgehobene Kirchenvater die Ansicht vertritt, dass der Ruhm historischer Gestalten von der Begabung derjenigen abhängt, die sie zu ihrem literarischen Gegenstand erheben (vgl. Hier., Vita S. Hilarionis I, 1–2: Scripturus vitam beati Hilarionis habitatorem eius invoco Spiritum sanctum, ut qui illi virtutes largitus est, mihi ad narrandas eas sermones tribuat, ut facta dictis exaequentur. Eorum enim qui fecere virtus, ut ait Crispus, tanta habetur, quantum



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eam verbis potuere extollere praeclara ingenia). Hieronymus berichtet im Anschluss daran zudem von Alexander, der an Achills Grab stehend den griechischen Helden beglückwünscht, mit Homer einen so gewaltigen Herold seiner Taten gefunden zu haben (vgl. Hier., Vita S. Hiliaronis I, 3: Alexander Magnus Macedo, quem vel aes vel pardum vel hircum caprarum Daniel vocat, cum ad Achillis tumulum pervenisset, ›Felicem te‹, ait, ›iuvenis qui magno frueris praecone meritorum!‹, Homerum videlicet significans; vgl. auch Wulfram 2000, 238–239). Eine zusätzliche Referenz für diesen Wunsch Alexanders, einen Dichter wie Homer für die Lobpreisung der eigenen Taten zu haben, könnte auch Valerius gewesen sein (vgl. Val., Res gestae Alexandri Macedonis I, 47: «O te beatum Achillem,» fertur saepe dixisse, «qui Homero praedicatore celebraris!»). Der zweite Teil von Walters poetologischer Doppeldoktrin ist von dem Gedanken getragen, dass der Erfolg eines historiographischen Epos entscheidend von der weltgeschichtlichen Bedeutung seines Helden abhängt. Dies wird insbesondere an der für die gesamte Alexandreis zentralen Stelle am Ende von Buch V deutlich, wo Alexanders herausragende Taten zu den in den Augen des mittelalterlichen Autors weniger bedeutenden Taten eines Caesar oder Honorius in Beziehung gesetzt werden. Damit wird zugleich auch Walters Überbietungsanspruch gegenüber den explizit genannten Dichtern Lucan und Claudian Ausdruck verliehen (vgl. Komm. V, 491–520). Wulfram leitet diesen zweiten Teil von Walters Doppeldoktrin ebenfalls aus der Vita Sancti Hilarionis des Hieronymus ab, in welcher der Kirchenvater seinen Überbietungsanspruch gegenüber Homer mit der vorbildlichen Lebensführung des christlichen Einsiedlers Hilarion begründet, während Walter diesen gegenüber Lucan in einem – wie Wulfram (2000) 240 überaus treffend formuliert – Vorgang der Resäkularisierung ausschließlich mit der überlegenen politisch-militärischen Stärke seines Helden Alexander in Verbindung bringt (vgl. Hier., Vita S. Hilarionis I, 4: Porro mihi tanti ac talis viri conversatio vitaque dicenda est, ut Homerus quoque si adesset, vel invideret materiae vel succumberet).

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Durch eine ausgesprochene Ambivalenz ist das Verhältnis Walters zu seinem im Prolog als unerreichbar apostrophierten Vorbild Vergil geprägt (vgl. Alex. prol. 19–23). Indem er mit verschiedenen Motiven aus der literarischen Tradition des antiken Dichters spielt, stellt sich der Autor der Alexandreis einerseits demonstrativ in die Nachfolge des Mantuaners, der im Mittelalter wie kein anderer antiker Dichter auch wegen seiner Rolle als vates Christianus eine außerordentlich hohe Wertschätzung genoss (vgl. Komm. prol. 13–23). Andererseits wird in zahlreichen Episoden der Alexandreis auch Walters aemulativer Anspruch gerade gegenüber Vergil und dessen Helden Aeneas sichtbar. Beispielhaft steht dafür der Zweikampf des Griechen Nicanor gegen den Perser Rhemnon, in welchem Walter über eine intertextuelle Kontrastimitation mit der Aeneis Vergils und der Thebais des Statius in einer aus drei Teilen bestehenden Klimax Aeneas als den am wenigsten heldenhaft agierenden Protagonisten inszeniert, der im Hinblick auf die Entschlossenheit und die Zielstrebigkeit im Kampf nicht nur von Tydeus übertroffen wird, sondern gemessen am Erfolg seines kriegerischen Handelns auch hinter dem siegreichen Nicanor zurückzustehen hat (vgl. Komm. V, 145–165; vgl. auch Komm. V, 166–182; vgl. auch Komm. V, 205–255). Eine noch tiefgreifendere Distanzierung Walters gegenüber Vergil lässt sich anhand der Porus-Episode aufzeigen, in welcher der Autor der Alexandreis im Kontext der Tugend der angemessenen Zürnkraft den Nachweis führt, dass das in der Aeneis mit den Worten parcere subiectis et debellare superbos formulierte Römerprogramm eine gegenüber dem aus dem Dreischritt parce humili, facilis oranti, frange superbum bestehenden aristotelisch begründeten Alexanderprogramm der Alexandreis eine zu starre Verhaltensregel und vollkommen unzureichende moralische Richtschnur darstellt (vgl. Verg., Aen. VI, 853; vgl. auch Komm. IX, 291–325). Insgesamt lässt sich festhalten, dass dem ersten Teil der von Wulfram geäußerten These, nach der Walter den Anspruch erhebt, die antik-lateinischen Klassiker eines im engeren Sinne historiographi-



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schen Epos zu überbieten – angesprochen sind dabei Claudian und vor allem Lucan – uneingeschränkt zuzustimmen ist, der zweite Teil seiner These, nach welcher der Autor der Alexandreis für sich einen gleichberechtigen Rang neben Vergil und Homer fordert, jedoch dahingehend erweitert werden sollte, als Walter auch gegenüber dem augusteischen Dichter immer wieder eine Vorrangstellung beansprucht (vgl. Wulfram 2000, 245; vgl. auch Komm. prol. 30–39). 7. Die Alexandreis und der vierfache Schriftsinn Einen wegweisenden Beitrag zur Gesamtinterpretation der Alexandreis hat Claudia Wiener geleistet, die aufzeigen konnte, dass der mehrdimensionale Charakter von Walters Epos ursächlich mit dessen Einbettung in die Lehre vom vierfachen Schriftsinn in Zusammenhang steht (vgl. Wiener 2001, 16). Dieser auf der mittelalterlichen Bibelauslegung beruhende und dem zeitgenössischen Leser vertraute interpretatorische Ansatz zeichnet sich durch das Vorhandensein verschiedener Bedeutungsebenen aus, die sich in einen grundlegenden historischen bzw. am Buchstaben oder am Wort orientierten Sinn (sensus historicus bzw. litteralis) und einen dreifachen geistigen Sinn (sensus spiritualis) unterscheiden lassen, der neben einer heilsgeschichtlichen (sensus allegoricus) und einer moralischen (sensus tropologicus) auch eine eschatologische Dimension (sensus anagogicus) besitzt. 7.1. Die historische Dimension der Alexandreis Mit Hilfe der oben beschriebenen Auswahl der Quellen gelingt es Walter auf der Ebene des sensus historicus, den geschichtlichen Ablauf – angefangen von Alexanders Inthronisierung in Griechenland über das zentrale Ereignis des Perserkriegs sowie die Eroberung In-

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diens bis hin zu Alexanders Tod – in den wichtigsten Stationen insbesondere auf Grundlage seiner historischen Hauptquelle Curtius nachzuzeichnen (vgl. Wiener 2001, 31–32). 7.2. Die heilsgeschichtliche Dimension der Alexandreis Beinahe allgegenwärtig sind über diesen historischen Sinn des Textes hinaus zahlreiche Hinweise auf die heilsgeschichtliche Relevanz von Alexanders Eroberungsfeldzug, die sich im Epos insbesondere daran aufzeigen lässt, dass Walter die durch den makedonischen König ins Werk gesetzte Eroberung des Perserreichs in die auf den Propheten Daniel zurückgehende biblische Lehre von den vier Weltreichen einbettet. Diese Lehre bezeichnet die insbesondere durch den Danielkommentar des spätantiken Kirchenvaters Hieronymus quasi kanonisch gewordene Abfolge von vier Weltreichen, die mit dem babylonischen Weltreich ihren Anfang nimmt, mit dem medischpersischen sowie dem Weltreich Alexanders weitergeführt wird und mit dem Weltreich der Römer endet. Dabei muss jedoch betont werden, dass der im Kontext dieser biblischen Lehre verwendete Begriff Weltreich nicht mit der in Walters Epos auch thematisierten Herrschaft über die ganze Welt gleichgesetzt werden darf, da mit Letzterem die Erweiterung der Herrschaft auf alle drei zum damaligen Zeitpunkt bekannte Kontinente Europa, Afrika und Asien zu verstehen ist. Bezogen auf die bei Walter geschilderte historische Situation ist damit entsprechend der von Hieronymus festgeschriebenen Reihenfolge der Übergang der Macht vom medisch-persischen Reich auf das Reich Alexanders angesprochen (vgl. Hier., Comm. in Dan. lib., VII, col. 530). Auch die von Walter in Anlehnung an die Visionen des biblischen Propheten Daniel für den makedonischen und den persischen König verwendeten bildhaften Begriffe – Alexander wird dabei als Panther (pardus) oder Ziegenbock (hircus) und sein Ge-



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genspieler Darius als Bär (ursus) oder Widder (aries) apostrophiert – eignen sich, die angesprochene Einbettung der Alexandreis in den Heilsplan Gottes deutlich zu machen. In dieselbe Richtung weisen auch die auf Alexander bezogenen Epitheta – Walter bezeichnet den makedonischen König als diluvium mundi Macedo, mundi fatale flagellum, fatalis malleus orbis oder auch als ultio caelestis –, die dessen Eroberungen als eine sich über den Osten ergießende und in den prophetischen Büchern des Propheten Daniel angekündigte Sintflut beschreiben. Auch das im Kontext der Jerusalem-Episode Alexander vonseiten des jüdischen Hohepriesters Jaddus gegebene Versprechen, diesem die Herrschaft über das Perserreich unter der Bedingung der späteren Verschonung Jerusalems zu verschaffen, macht die vom Autor der Alexandreis dem Perserfeldzug des makedonischen Königs zugeschriebene heilsgeschichtliche Relevanz auf beeindruckende Weise greifbar (vgl. Komm. I, 493–554; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Anhand dieser wenigen Beispiele dürfte deutlich geworden sein, dass man – will man der Vielschichtigkeit von Walters Epos gerecht werden – nicht umhin kommt, die Alexandreis insbesondere auch vor dem Hintergrund einer Allgegenwart der Danieloffenbarung zu lesen, die als Alexanders wichtigste Aufgabe die heilgeschichtlich legitimierte Ablösung des medisch-persischen Reichs vorsieht. Dieser Befund lässt sich auch dadurch erhärten, dass der Autor der Alexandreis den aus heilsgeschichtlicher Perspektive bedeutsamen Perserkrieg als eine innerhalb der Gesamtstruktur des Epos eigene und in sich konsistente Einheit ausweist. Dabei gestaltet Walter ausgehend von den drei wichtigsten und bewusst ins Zentrum der Darstellung gerückten Schlachten zwischen Persern und Griechen am Granikus, bei Issus und bei Gaugamela drei spiegelbildlich angeordnete kompositorische Klammern, die dem Perserkrieg als dem auf der Erzählebene des Epos aus christlicher Sicht entscheidenden Ereignis aufgrund der motivischen Übereinstimmung der einzelnen Episoden eine insgesamt symmetrische Struktur verleihen (vgl. Abb. 1).

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Der heilsgeschichtlich legimitierte

PERSERKRIEG

Alexanders des Großen

H K I

SCHLACHTEN

Alexander in Troja

GRANIKUS

L I K

Welteroberungspläne

I

Alexander nach dem Begräbnis des Darius

Jerusalem Episode

ISSUS GAUGAMELA

Darius Grabmal

Welteroberungspläne

Y R K A N I

E

Vorverweis

Vorverweis

E

N N

Abb. 1: Die Struktur des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs in der Alexandreis (vgl. Lehmann 2018, 23)

Dabei bildet innerhalb dieser Struktur des Perserkriegs die in Buch I wiedergegebene Jerusalem-Episode zusammen mit der Ekphrasis des Darius-Grabmals in Buch VII eine innere und unmittelbar um die zentralen Ereignisse der drei großen Schlachten herum aufgespannte kompositorische Klammer (vgl. Komm. I, 493–554; vgl. auch Komm. VII, 379–430; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Die motivische Übereinstimmung wird in diesem Fall über die heilsgeschichtliche Relevanz der beiden Ereignisse hergestellt, die sich zum einen darin zeigt, dass der jüdische Hohepriester Jaddus Alexander unter der Bedingung der Verschonung Jerusalems die Unterstützung des jüdisch-christlichen Gottes bei der Eroberung des Perserreichs verspricht, und die zum anderen dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass Apelles als jüdischer Künstler auf dem von ihm geschaffenen Darius-Grabmal explizit auf die heilsgeschichtlich bedeutsame Danielprophetie verweist.



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Darüber hinaus stellt Walter mit dem im Kontext der Troja-Episode im Sinne eines Vorverweises auf die Zeit nach dem Perserkrieg an Alexander gerichteten Hybris-Vorwurf – der makedonische König sinniert an Achills Grab über seine weit über das Perserreich hinausreichenden Welteroberungspläne – die Verbindung zu den nach Darius’ Bestattung geschilderten Ereignissen um den von Alexander gerade noch verhinderten Aufbruch seiner Soldaten in die griechische Heimat her – auch dort äußert sich Walters wichtigster Protagonist über seine weit über das Perserreich hinausgehenden Welteroberungspläne und beklagt sich darüber, von seinen Soldaten, die in die Heimat zurückkehren wollen, von einer zukünftigen Herrschaft über die ganze Welt ausgeschlossen zu werden – und gestaltet damit eine in struktureller Hinsicht mittlere kompositorische Klammer (vgl. Komm. I, 468–492; vgl. auch Komm. VII, 435–466; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Zudem lässt Walter eine äußere kompositorische Klammer im Hinblick auf das Motiv einer mühelosen Eroberung durch die Verbindung des als überaus klug beschriebenen Vorgehens Alexanders in Kilikien, das er ohne Waffengang unterwirft, mit der wenig aufwendigen Eroberung von Hyrkanien entstehen (vgl. Komm. I, 447–451; vgl. auch Komm. VIII, 1–5; vgl. auch Komm. I, C 6–9; vgl. auch Komm. I, 359–385; vgl. auch Komm. I, 447–451). Mit der Einbettung von Alexanders Perserfeldzug in die christliche Heilsgeschichte wird zugleich auch das von Walter für die Alexandreis zugrunde gelegte Geschichtsverständnis deutlich, das ausgehend von der Auslegungstradition der Bibel von der Einteilung in eine Zeit ante legem (vor Moses), in eine Zeit sub lege (von Moses bis Christi Geburt) und in eine Zeit sub gratia (von Christi Geburt bis an das Ende der Welt) charakterisiert ist. Wesentliches Merkmal sind dabei typologische Inbezugsetzungen einer Person oder eines Geschehens aus dem Alten Testament (seltener auch aus der antiken Mythologie) – als Typus bezeichnet – mit einer als Antitypus bezeichneten Person oder einem Geschehen aus dem Neuen Testa-

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ment. Dabei geht es in erster Linie um die im Neuen Testament eintretende Erfüllung bzw. um die Vollendung dessen, was im Alten Testament angekündigt bzw. verheißen worden war. Wie Wiener (2001) 61 bezogen auf die Alexandreis und den darin zugrunde gelegten sensus allegoricus deutlich macht, setzt Walter im Unterschied zur typologischen Bibelexegese jedoch bereits verschiedene Typen in der Zeit sub lege miteinander in eine typologische Beziehung, um über deren jeweilige Rolle innerhalb des geschichtsmächtigen Wirkens Gottes dem Leser den von der christlichen Heilsgeschichte bestimmten Ablauf der Geschichte näherzubringen. So etwa stellt der von Walter in der Alexandreis immer wieder mit Alexander in typologische Verbindung gebrachte Herkules in seiner Eigenschaft als Retter der olympischen Götter im Kampf gegen die Giganten eine Präfiguration des makedonischen Königs dar, der die typologisch mit den Giganten in Verbindung stehenden Perser mit einer aus der Heilsgeschichte gewonnenen Sicherheit ebenso besiegt, wie Herkules das Geschlecht der Giganten besiegt hat (vgl. Komm. II, 319–371; vgl. auch Komm. II, 494–529). Nicht anders verhält es sich mit der typologischen Inbezugsetzung des bei Walter im Unterschied zu Lucan positiv konnotierten römischen Feldherrn Caesar mit Alexander (vgl. Komm. II, 91–102). Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die typologische Bezugnahme auf einen zwar tapferen und im Felde unbesiegten, aber doch heidnischen Feldherrn wie Alexander, der aus christlicher Sicht natürlich nicht in allen Belangen den moralischen Anforderungen an einen christlichen Herrscher genügen kann, unbefriedigend ist. Wie Wiener (2001) 65 jedoch überzeugend darlegt, geht es bei derartigen Typologien weit weniger um die moralische Haltung des historischen Leitbilds, sondern sehr viel mehr um die konkreten facta der historischen Figur, die im Falle Alexanders historisch betrachtet zweifellos außergewöhnlich sind.



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7.3. Die eschatologische Dimension der Alexandreis Indem Walter über die heilsgeschichtliche Dimension hinaus seine typologischen Bezugnahmen auf die Zeit sub gratia ausdehnt, wendet sich der Autor der Alexandreis dem sensus anagogicus und damit einer weiteren Ebene seiner spezifischen Geschichtsdeutung zu. Diese ist von der Überzeugung geprägt, dass Alexander als Typus sub lege lediglich die Präfiguration zu einem Antitypus sub gratia darstellt, der in Walters Zeit erst noch als Anführer der Christenheit in Erscheinung treten und sich erst noch bewähren muss. Diese eschatologische Dimension im Werk Walters wird dabei insbesondere an der für das Verständnis der Alexandreis zentralen Stelle am Ende von Buch V deutlich, an der die Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im Kampf gegen die Muslime als vordringliche Aufgabe der zeitgenössischen Eliten explizit zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Komm. V, 491–520; vgl. auch Komm. II, 306–318). Wiener (2001) 64 fasst die von Walter an dieser Stelle vorgenommene Einbettung in den sensus anagogicus treffend wie folgt zusammen: Denn hier ist nun endlich der Punkt gekommen, an dem Walter den Bogen in seine eigene Zeit schlägt: Der Autorkommentar mündet schließlich in ein Gebet, in dem Walter endlich seine typologische Konstruktion von Alexander aus bis in die Zeit sub gratia und die Gegenwart fortführt: Mit Karl dem Großen, dem Ahnherrn der Kapetinger, und seinem Abwehrkampf gegen die Sarazenen ist der Geschichtsverlauf in seiner Richtung gekennzeichnet und weist damit auf Aufgabe und Bestimmung des französischen Königs voraus, der als ein zweiter Karl und als ein neuer Alexander den Kampf für das Christentum führen und die Ausbreitung des wahren Glaubens als gottgewollten Auftrag erkennen und demnach erfolgreich vollenden wird. Hier kann man kaum anders, als darin die Hoffnung, die in den jungen König Philipp II. Augustus gesetzt wurde, und die Aufbruchstimmung, die dem dritten Kreuzzug vorausging, zu spüren.

Die für Walters carmen heroicum grundlegende Bedeutung dieses Textabschnitts – der als Aufruf zum Kreuzzug zu verstehende Ap-

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pell an die Gelehrtenwelt Europas stellt inhaltlich betrachtet den Ausgangspunkt und zugleich auch das Zentrum des ganzen Werks dar – lässt sich dabei auch an dessen auffälliger Positionierung in der Mitte des Epos aufzeigen, die Walters aus zeitgenössischer Sicht ausschlaggebenden und für das Verständnis der Alexandreis als Ganzes maßgeblichen Worte als Spiegelachse zu der aus vier Teilen bestehenden und über das ganze Werk aufgespannten Rahmenstruktur ausweist und dem gesamten Epos damit eine auf motivischen Parallelen beruhende symmetrische Struktur verleiht (vgl. Abb. 2). Dabei stellen die Ekphraseis der beiden Grabmäler der persischen Königin Stateira in Buch IV und des persischen Königs Darius in Buch VII, die mit ihrer chiastischen Anordnung der Motive von Trauer und Krieg Alexanders wichtigsten Gegner und dessen in griechischer Gefangenschaft verstorbene Ehefrau in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, einen inneren und unmittelbar um Walters Kernaussage herum gestalteten kompositorischen Rahmen dar (vgl. Komm. IV, 176–274; vgl. auch Komm. VII, 379–430). Darüber hinaus bildet der Moralexkurs von Buch III zusammen mit den in Buch VIII in Szene gesetzten Episoden um die PhilotasVerschwörung und Alexanders Eroberungsfeldzug gegen das Reitervolk der Skythen mit dem auf Alexander bezogenen Motiv der Maßlosigkeit einen mittleren kompositorischen Rahmen (vgl. Komm. III, 242–257; vgl. auch Komm. III, 75–322 bzw. 358–495). In Verbindung mit dem Autorexkurs von Buch II, in welchem der Niedergang des einst bedeutenden persischen Königs Cyrus als Sinnbild der Zerbrechlichkeit menschlicher Macht inszeniert und über das konkrete Beispiel des einstigen Perserkönigs hinaus das Motiv der grundsätzlichen Unterworfenheit aller Menschen unter den christlichen Gott zur Sprache gebracht wird, gestaltet Walter zusammen mit Alexanders in Buch IX wiedergegebenen Gespräch mit dem Inderkönig Porus, in welchem dieser über den Hinweis, dass es immer einen Stärkeren gebe, ebenso die Abhängigkeit aller Menschen vom allmächtigen Gott als konkret an den makedonischen



EiNleitung lib. I

37 lib. X

Ende lib. V lib. IX

lib. II lib. III

lib. VIII

lib. IV

lib. VII

Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer für den Kampf gegen die Muslime

Trauer und Krieg Alexanders zukünftige Maßlosigkeit grundsätzliche Abhängigkeit des Menschen vom christlichen Gott Aristoteles-Rede Feldherrntugenden

Krieg und Trauer Alexanders gegenwärtige Maßlosigkeit fehlende Unterordnung Alexanders unter den christlichen Gott

Spiegelachse

Alexander-Rede Feldherrntugenden

Abb. 2: Die Gesamtstruktur der Alexandreis (vgl. Gartner 2018, 78)

König gerichtete Mahnung zum Ausdruck bringt, einen weiteren mittleren kompositorischen Rahmen (vgl. Komm. II, 530–544; vgl. auch Komm. IX, 291–325). Zuletzt bildet die in Buch I angelegte Aristoteles-Rede zusammen mit der in Buch X geschilderten Ansprache Alexanders, mit welcher der makedonische König retrospektiv die wichtigsten, von ihm selbst an den Tag gelegten Feldherrntugenden noch einmal aufgreift, um seine Männer von der Sinnhaftigkeit seines weiteren Vorgehens zu überzeugen, einen unter dem Motiv der für einen

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erfolgreichen Feldherrn notwendigen Tugendhaftigkeit stehenden äußeren kompositorischen Rahmen (vgl. Komm. I, 82–183; vgl. auch Komm. X, 282–329). Insgesamt dient diese ausgefeilte, aus mehreren kompositorischen Rahmen bestehende Struktur der Alexandreis dem aus zeitgenössischer Perspektive grundlegenden Zweck, das thematische Zentrum des Epos – die Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer für einen bevorstehenden Kreuzzug gegen die Muslime – auch formal in den Mittelpunkt zu rücken. 7.4. Die moralische Dimension der Alexandreis In enger Verbindung mit dem sensus allegoricus und dem sensus anagogicus steht innerhalb der Geschichtsdeutung Walters der sensus tropologicus und die damit einhergehende moralische Beurteilung Alexanders in der Alexandreis. Denn notwendigerweise musste der Autor der Alexandreis entsprechend der grundsätzlichen und mit der Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im Kampf gegen die Muslime einhergehenden Ausrichtung des Epos den makedonischen König innerhalb der erzählten Zeit des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs auch aus christlicher Sicht – aus antik-paganer Perspektive erfährt Alexander innerhalb des Perserkriegs ohnehin eine ausnahmslos positive moralische Bewertung – als einen tugendhaften und seiner gewaltigen Aufgabe gewachsenen Feldherrn und König inszenieren, um ihn der gebildeten Leserschaft des 12. Jahrhunderts als moralisches Vorbild für einen zeitgenössischen französischen König anempfehlen zu können. Dieses Bestreben lässt sich insbesondere an zahlreichen, an den Vorgaben der Aristoteles-Rede orientierten Inszenierungen der Tugendhaftigkeit Alexanders – bisweilen durch gezielt eingesetzte intertextuelle Kontrastimitationen noch verstärkt – erkennen, welche dessen moralische Überlegenheit dokumentieren sollen.



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Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass die Aristoteles-Rede für alle innerhalb der Erzählung agierenden Personen unbedingten Programmcharakter besitzt, da die Handlungen der Eposfiguren immer dann von Erfolg gekrönt sind, wenn sich diese im Sinne des darin aufgeführten Tugendkatalogs verhalten, umgekehrt jedoch auch die negativen Konsequenzen zu gewärtigen haben, wenn sie die den Handlungsanweisungen zugrundeliegenden Tugenden nicht an den Tag legen (vgl. Alex. I, 82–183; vgl. Gartner 2018, 69). Indem Walter damit einen unmittelbaren und unauflösbaren Zusammenhang zwischen dem moralischen Verhalten der handelnden Personen und dem daraus resultierenden Ergebnis herstellt, bedient er sich paradoxerweise einer Sichtweise, die gar nicht der originären Tugendlehre des Aristoteles entspricht, sondern auf die diesbezüglichen Vorstellungen Platons zurückgeht. Denn für den Stagiriten stellt ein tugendhaftes Verhalten lediglich eine notwendige und keineswegs eine hinreichende Bedingung für den Erfolg eines Protagonisten dar, so dass diesem Verständnis zufolge ein tugendhaft handelnder Mensch zwar die Wahrscheinlichkeit für den eigenen Erfolg erhöht, unter für ihn ungünstigen Umständen jedoch durchaus auch scheitern kann. Patzig (1994) 49 bringt diesen Sachverhalt auf eindrückliche Weise wie folgt auf den Punkt: Wenn es auf einen hohen Gipfel nur einen einzigen, sehr gefährlichen Weg gibt, so muß und darf man allen, die den Gipfel erreichen wollen, diesen Weg weisen. Nicht alle, die den Weg gehen, werden ankommen, aber jeder, der ankommt, wird auf diesem Weg gekommen sein. Das Wagnis der menschlichen Existenz kann nicht durch eine metaphysische Erfolgsgarantie aufgefangen werden. Wenn der Weg der Rechtschaffenheit auch gelegentlich ins Unglück führt: jeder andere Weg führt eher in den Abgrund. Der rechtschaffene Mensch wird auch unter widrigen Umständen noch eher ein menschenwürdiges Glück erreichen können als ein sittlich Schwacher unter günstigen Bedingungen, so wie, nach dem Gleichnis des Aristoteles, ein tüchtiger Kommandeur mit dezimierten und im Kampf mitgenommenen Truppen doch mehr leisten wird als ein unfähiger General, dem frische Streitkräfte zur Verfügung stehen.

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Auch an jenen Episoden des Perserkriegs, in denen Walter in seiner Darstellung in auffälliger Art und Weise von seiner wichtigsten historischen Vorlage Curtius abweicht, um eine beim antiken Autor vorgebrachte moralische Kritik an Alexander so weit wie möglich auszublenden, ist die grundsätzliche Intention des Autors der Alexandreis abzulesen, die moralische Integrität seines wichtigsten Protagonisten herauszustellen. Dabei bedient sich Walter einer Vorgehensweise, die darauf abzielt, all jene Begebenheiten, die innerhalb der erzählten Zeit des Perserkriegs ein schlechtes Licht auf den makedonischen König werfen könnten, abzuschwächen, auszublenden oder die Episode als solche erst gar nicht in die eigene Darstellung aufzunehmen. Beispiele dieser auf einem selektiven Ansatz beruhenden literarischen Strategie sind dabei die Abschwächung von Alexanders Rolle bei der Hinrichtung des Sisines, die im Kontext der Eroberung von Gaza vorgenommene Ausblendung der Schleifung des Betis um die Mauern der besiegten Stadt sowie die völlige Auslassung der für Alexander wenig schmeichelhaften sogdischen Revolte (zur Sisines-Episode vgl. Komm. II, 269–271; zur Eroberung von Gaza vgl. die Einführung zu Buch III; zur sogdischen Revolte vgl. die Einführung zu Buch VIII). Im Kontext der moralischen Beurteilung Alexanders innerhalb der erzählten Zeit des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs muss betont werden, dass sich die von Walter in der Alexandreis integrierten Ekphraseis – angesprochen sind dabei die Beschreibungen der Grabmäler der persischen Königin Stateira und des Perserkönigs Darius ebenso wie die Beschreibung des Darius-Schildes – nicht als moralische Kritik Walters an den Eposfiguren – und damit auch nicht an Alexander – missverstanden werden dürfen (vgl. Komm. II, 494–529; vgl. auch Komm. IV, 176–274; vgl. auch Komm. VII, 379–430). Als Adressaten dieser aus der Handlungs- und Bewusstseinsebene der Eposfiguren herausgehobenen Ekphraseis sind zum einen nämlich nicht – und darauf weist Wiener (2001) 78–90 in Distanzierung zu Forschungsansätzen wie denjenigen von Mau-



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ra K. Lafferty oder David Townsend hin, die den Protagonisten des Epos ihre vermeintliche Blindheit zum Vorwurf machen und die Ansicht äußern, dass diese nicht bereit seien, die intendierten Lehren und Warnungen aus der Geschichte zu erkennen – die handelnden Personen der Alexandreis angesprochen, sondern die Leser des Epos. Zum anderen haben diese Ausblicke in ihrer erzähltechnischen Funktion auch dem Leser gegenüber nicht die Aufgabe, eine moralische Kritik des Autors der Alexandreis an Alexander zum Ausdruck zu bringen, da sie dem eigentlichen Zweck dienen, das Gesamtgeschehen des Epos in den heils- und weltgeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen. Dennoch war für Walter als christlichem Autor mit einem heidnischen Feldherrn wie Alexander als wichtigstem Protagonisten des Epos natürlich die Schwierigkeit verbunden, dass ein antiker Held nicht ausnahmslos positiv gezeichnet werden konnte, sondern selbstredend insbesondere auch an christlichen und demzufolge sehr viel strengeren Maßstäben gemessen werden musste. Zu diesem Zweck bedient sich Walter noch innerhalb der Darstellung des Perserkriegs verschiedener Vorverweise und Ausblicke auf die Zeit nach dem Perserkrieg, um verständlich zu machen, dass der makedonische König unter moralischen Gesichtspunkten dann einer zunehmenden moralischen Depravation unterliegt und damit völlig zu Recht insbesondere den christlich motivierten Vorwurf der Hybris auf sich zieht. Am deutlichsten tritt dies im Moralexkurs von Buch III zu Tage, in welchem der Autor der Alexandreis dem makedonischem König für die ganze Zeit des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs auf der Ebene der epischen Erzählung in moralischer Hinsicht eine über das bezeichnenderweise gleichzeitige Partizip candentem vermittelte weiße Weste bescheinigt, dem Leser über das Verb denigrare bezogen auf die Zeit nach dem Perserkrieg kontrastierend jedoch auch die zunehmend dunklen Schatten auf dieser ursprünglich weißen Weste überaus bildhaft vor Augen führt (vgl. Alex. III, 243–244). In diesem Sprachbild ist zugleich die für

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das Verständnis der moralischen Dimension des Alexanderbildes in der Alexandreis insgesamt bedeutsame Aussage enthalten, dass Alexander sich ungeachtet seiner nach dem Perserkrieg aus christlicher Sicht zunehmenden moralischen Depravation nach antik-paganen Maßstäben abgesehen von seinem Verhalten gegenüber einzelnen Generälen oder einzelnen Personen in seinem näheren Umfeld dennoch weiterhin weitgehend auch als tugendhafter Feldherr und König erweist. Allerdings reicht Alexanders antik-pagane Tugendhaftigkeit nach dem Sieg über das Perserreich am Ende des Epos nicht mehr aus, um der christlich motivierten Bestrafung zu entgehen. Denn Alexander verletzt mit seinem unstillbaren und mit dem Streben nach Gottgleichheit einhergehenden Eroberungsdrang doch an einem einzigen Punkt die Vorgaben der Aristoteles-Rede, die ihm mit den Worten divinos rimare apices unmissverständlich aufgetragen hatte, die göttlichen Schriften – gleichbedeutend mit der Warnung, mit seinen Eroberungen nicht über den durch die Danielprophetie vorgegebenen göttlichen Heilsauftrag hinauszugehen – zu durchforschen (vgl. Alex. I, 179; vgl. auch Komm. I, 164–182). So stellt die Missachtung der Grenzen des biblischen Heilsauftrags den eigentlichen Grund für den Tod des makedonischen Königs im Epos dar (vgl. Gartner 2018, 69–73). Nach der Eroberung von Hyrkanien und dem damit einhergehenden Ende des Perserkriegs beleuchtet Walter mit der PhilotasVerschwörung bezogen auf die erzählte Zeit des Epos erstmals in der Alexandreis auch die Schattenseiten seines wichtigsten Protagonisten. Auch wenn der Prozess gegen einen seiner wichtigsten Generäle als solcher keinen Anlass zur moralischen Kritik am makedonischen König bietet, so überschreitet Alexander mit seinem fragwürdigen Verhalten gegenüber Philotas an einem bestimmten Punkt innerhalb der Verhandlung – der makedonische König sieht sich dem von Philotas vorgebrachten Vorwurf ausgesetzt, als ungerechter Richter die Verhandlung in seinem Sinne zu beeinflussen – auch aus antik-paganer Sicht erstmals die moralisch vertretbaren Grenzen im



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Auftreten gegenüber einem seiner Generäle (vgl. die Einführung zu Buch VIII; vgl. auch Komm. VIII, 158–184). Ein weiteres und letztes Mal klingt die nach dem Perserkrieg auch aus antik-paganer Sicht vorgebrachte moralische Kritik an Alexander im Kontext der Ermordung des Clitus und der Hinrichtung des Hermolaus sowie des Kallisthenes an, ohne dass diese für Alexander wenig schmeichelhaften Begebenheiten vom Autor der Alexandreis weiter ausgebaut oder für die moralische Beurteilung des makedonischen Königs insgesamt eine besondere Bedeutung gewinnen würden (vgl. Komm. IX, 1–8). Sehr viel deutlicher und auch nachhaltiger bringt Walter die moralische Kritik an Alexander hingegen aus christlicher Sicht zum Ausdruck. Im Kontext der ausführlich in Szene gesetzten Skythen-Episode etwa – die Darstellung von der Eroberung des nomadischen Reitervolkes bildet den Auftakt für eine ganze Reihe von an Alexander gerichteten christlich motivierten moralischen Vorwürfen – brandmarkt Walter die grenzenlose Eroberungswut des makedonischen Königs und dessen frevelhaftes Streben nach Gottgleichheit (vgl. die Einführung zu Buch VIII; vgl. auch Komm. VIII, 358–495). Auch Alexanders Unterredung mit dem von ihm besiegten Inderkönig Porus dient ein weiteres Mal dem Zweck, dem Makedonenkönig mit mahnenden Worten Mäßigung und Zurückhaltung im Hinblick auf dessen unstillbaren Eroberungsdrang nahezulegen (vgl. die Einführung zu Buch IX; vgl. auch Komm. IX, 291–325). Zudem dringt auch aus den eigenen Reihen Kritik an die Ohren Alexanders, als dessen General Craterus seinem König die vorwurfsvolle Frage stellt, wann er seinen Eroberungen eigentlich ein Ende setzen wolle (Alex. IX, 515). Das auf Alexander bezogene und über den Kampf mit den Skythen und der Unterwerfung des Porus sukzessive aufgebaute Motiv der Hybris erfährt seinen Höhepunkt schließlich mit der in Buch X wiedergegebenen Episode der von Walter ohne jegliches literarisches Vorbild verfassten Antipodenfahrt des makedonischen Königs (vgl. Komm. X, 1–5; vgl.

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Einleitung

auch Komm. X, 249–282; vgl. auch die Einführung zu Buch X). Auch wenn die moderne Forschung bisweilen zu der Ansicht gelangt ist, Alexanders Fahrt zu den Gegenfüßlern sei bezogen auf die Handlung im Epos ohne Effekt geblieben und wäre eigentlich nicht mehr nötig gewesen, um die superbia des makedonischen Königs zu dokumentieren und der Göttin Natura ein Argument zu geben, gegen ihn vorzugehen, stellt sich aus konzeptioneller Sicht die Frage, wie Walter die Göttin Natura an dieser Stelle in die Handlung hätte integrieren können, wenn nicht über Alexanders unablässigen und immer weiter ausufernden Expansionsdrang (vgl. Kern 2009, 323). Immerhin ist das Auftreten der Natura in Buch X kompositorisch in die Antipodenfahrt eingebettet, so dass diese für eine glaubwürdige Bestrafung Alexanders ihre nachvollziehbare Berechtigung hat und dem Leser ungeachtet ihres Scheiterns noch einmal den auch zu diesem Zeitpunkt nach wie vor unbändigen und maßlosen Expansionsdrang Alexanders in ganz besonderer Weise vor Augen führt. Auch wenn mittelalterliche Enzyklopädien wie der Liber Floridus des Lambert von Saint Omer über das mögliche Vorhandensein von Antipoden jenseits der bekannten Ökumene spekuliert haben, war es auch in der Zeit Walters noch keinem Reisenden gelungen, den empirischen Nachweis für deren Existenz zu erbringen (zur Diskussion der Antipodenfrage unter den Gelehrten von der Antike bis in das europäische Entdeckungszeitalter vgl. Lehmann 2016, 167– 191). Insofern stellt Alexanders Versuch, zu den zum damaligen Zeitpunkt noch unbekannten Gegenfüßlern vorzudringen, bzw. Walters diesbezügliche Inszenierung qualitativ betrachtet noch einmal eine Steigerung zur Eroberung der Skythen oder der Unterwerfung des Inderkönigs Porus dar. Bedenkt man zudem, dass Alexanders Antipodenfahrt von der Göttin Natura gegenüber Leviathan in einem Atemzug mit der Entdeckung der Nilquellen und der Gefährdung des irdischen Paradieses genannt und sogar eine existenzielle Bedrohung der Unterwelt in den Raum gestellt wird, bleibt diese besondere Art der Grenzüberschreitung in ihrer Ungeheuerlichkeit



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literarisch betrachtet eben nicht ohne Effekt, da erst dadurch der Tod Alexanders im Epos aus christlicher Sicht moralisch nicht nur gerechtfertigt, sondern damit sogar unausweichlich erscheint. Im Kontext der moralischen Beurteilung des makedonischen Königs spielt auch die für die Alexandreis gültige Unterscheidung von wahrem und eitlem Ruhm eine nicht unwesentliche Rolle für das Verständnis des Epos und der darin handelnden Personen. Bisweilen wurde in der modernen Forschung Alexanders unzweifelhaft vorhandenes Streben nach Ruhm ausschließlich negativ beurteilt (vgl. Lafferty 1998, 100: „Aristotle also reinforces his desire for epic glory above all other goods. […] He places the acquisition of personal glory before any responsibility towards his patria, exemplified in his soldiers, and he fails to provide justice.“; vgl. auch Ratkowitsch 1996, 130). Diesem Forschungsansatz gegenüber ist jedoch festzuhalten, dass in Walters Epos Alexanders Streben nach Ruhm aus antik-paganer Sicht – die Aristoteles-Rede hatte im Kontext der Tugend des angemessenen Stolzes ausdrücklich darauf hingewiesen, dass unter der Bedingung eines tugendhaften Lebens, sprachlich treffend von Walter mit einem potentialen Bedingungssatz zum Ausdruck gebracht, ewiger Ruhm zu erwarten sei – grundsätzlich positiv konnotiert ist (vgl. Alex. I, 182–183: Si sic vixeris, eternum extendes in secula nomen; vgl. auch Komm. I, 182–183). Als Beispiele können dabei etwa das moralisch einwandfreie Verhalten des makedonischen Königs gegenüber der Darius-Gattin Stateira oder auch dessen Reaktionen auf verschiedene Vorschläge Parmenions zum weiteren Vorgehen im Krieg gegen die Perser und der daraus resultierende Ruhm angeführt werden (vgl. Komm. IV, 1–23; vgl. auch Komm. IV, 131–141; vgl. auch Komm. IV, 350–373). Eine differenziertere Beurteilung von Alexanders Streben nach Ruhm findet in der Alexandreis indes aus christlicher Perspektive statt. Solange sich der makedonische König im heilsgeschichtlich legitimierten Perserkrieg befindet, erfährt dessen Streben nach Ruhm durch das übergeordnete Ziel – der Erfüllung seines christlichen

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Heilsauftrags – auch aus christlicher Sicht eine durchweg positive Bewertung. Erst als nach der Eroberung des Perserreichs dieses übergeordnete Ziel nicht mehr vorhanden ist, wird aus christlicher Sicht nicht nur Alexanders immer weiter nach Osten reichender Eroberungsfeldzug moralisch diskreditiert, sondern auch der damit einhergehende Ruhm als eitel bezeichnet und demzufolge in ein schlechtes Licht gerückt (vgl. Alex. X, 436–438: Animae discrimine magno | dum queruntur opes, dum fallax gloria rerum mortales oculos vanis circumvolat alis; vgl. auch Komm. X, 433–454). Etwa ein Jahrhundert später hat Thomas von Aquin in der Rezeption der aristotelischen Tugendlehre das menschliche Streben nach wahrem Ruhm geadelt und vom eitlen Ruhm abgegrenzt. Dabei nimmt er mit seiner Bemerkung, dass Ruhm dann als eitel zu bezeichnen sei, wenn das Begehren des eigenen Ruhms sich nicht auf ein gebührendes Ziel – etwa die Ehre Gottes oder das geistliche Wohl des Nächsten – bezieht, dieselbe Differenzierung von wahrem und eitlem Ruhm vor wie Walter in der Alexandreis (vgl. Th. v. Aquin, S. Th. IIª–IIae, q. 132 a. 1 co: Et ideo appetitus gloriae de se non nominat aliquid vitiosum. Sed appetitus inanis vel vanae gloriae vitium importat, nam quidlibet vanum appetere vitiosum est, secundum illud Psalmi, ut quid diligitis vanitatem, et quaeritis mendacium? Potest autem gloria dici vana […]. Tertio modo, ex parte ipsius qui gloriam appetit, qui videlicet appetitum gloriae suae non refert in debitum finem, puta ad honorem Dei vel proximi salutem). 8. Zeitgenössische Bezüge Wie bereits dargelegt, besteht das zentrale politische Anliegen der Alexandreis darin, den Handlungsträgern in Staat und Kirche die unbedingte Notwendigkeit vor Augen zu führen, nach dem kata­ strophalen Verlauf des letzten Kreuzzugs (1147–1149) und der verheerenden Niederlage des byzantinischen Kaisers Manuel gegen die



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Seldschuken (1176) den Kampf gegen die muslimischen Feinde in einem erneuten Kreuzzug wiederaufzunehmen und zu diesem Zweck einen alexanderhaften christlichen Anführer zu finden, der dieser gewaltigen Aufgabe gewachsen ist (vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Komm. V, 491–520). Um dieses Ziel zu erreichen, bedient sich Walter einer bemerkenswerten Doppelstrategie, die zum einen darin besteht, über zeitgenössische Bezüge eine Verbindungslinie zwischen Alexander und dem jungen französischen König Philipp II. herzustellen und diesen in Anlehnung an den makedonischen Feldherrn als ebenso tugendhaften König und Hoffnungsträger der Christenheit in Stellung zu bringen. Schon im Prooemium wird Walters Bestreben erkennbar, über die Formulierung Qui si senio non fractus inermi | pollice fatorum nostros vixisset in annos eine typologische Verbindungslinie zwischen Alexander und Philipp II. von Frankreich herzustellen, der ebenso wie der tugendhafte antike Feldherr in möglichst kurzer Zeit die Feinde der Christenheit in die Schranken weisen soll (vgl. Komm. I, 5–8). Auch Walters Darstellung der Krönung Alexanders zum Hegemon des Korinthischen Bundes und zum makedonischen König erfüllt über die Erzählebene der Alexandreis hinaus mehrfach den Zweck, beim zeitgenössischen Leser Assoziationen zur Krönung Philipps II. zu wecken, um damit den jungen französischen König als geeigneten Anführer für den bevorstehenden Kreuzzug anzuempfehlen (vgl. Komm. I, 203–267). Zum anderen ist es Walter innerhalb seiner Doppelstrategie darum zu tun, kontrastierend zu dem als tugendhaft inszenierten jungen französischen König den herrschenden Eliten einen Spiegel vorzuhalten, indem er die verheerenden moralischen Zustände der mittelalterlichen Kirche und die schwelenden Konflikte zwischen Kirche und Staat vehement kritisiert, da sie in seinen Augen der eigentlichen Aufgabe der Christenheit – der Befreiung Jerusalems von den Muslimen – in untragbarer Weise im Wege stehen. Insbesondere beanstandet Walter dabei den unter dem Begriff der Simonie bekannten Ämterkauf und die damit einhergehende Be-

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Einleitung

stechlichkeit kirchlicher Würdenträger, die auch weniger befähigte Charaktere in wichtige Ämter bringt. Auch das päpstliche Schisma, das die Einheit der christlichen Kirche gefährdet und die Beziehungen zwischen der weltlichen und geistlichen Macht auf eine harte Probe stellt – mit der Unterstützung von Kaiser Friedrich Barbarossa waren Victor IV. und nach dessen Tod im Jahre 1164 Paschalis III. als Gegenpäpste zu Alexander III. eingesetzt worden –, wird von Walter einer heftigen Kritik unterzogen. Ebenso verurteilt der Autor der Alexandreis die Ermordung der Erzbischöfe Robert von Cambrai und Thomas Becket. Letzterer hatte sich wegen der Frage über die Machtverteilung zwischen Kirche und Monarchie mit König Heinrich II. von England überworfen, obwohl er anfangs gute Beziehungen zum englischen Monarchen gepflegt hatte und sogar für die Erziehung von dessen Kindern zuständig gewesen war. Als Becket nach einem selbstgewählten Exil nach England zurückgekehrt und der alte Streit wieder aufgeflammt war, ließ ihn der König am 29. Dezember 1170 von seinen Rittern am Altar der Kathedrale von Canterbury ermorden (vgl. Komm. VII, 306–343). Walter hatte den englischen Monarchen wegen dieses Verbrechens bereits in seinen moralisch-satirischen Gedichten mit harschen Worten attackiert und ihn als einen König bezeichnet, der noch mehr ein Nero sei als Nero selbst (vgl. Walter v. Châtillon, Mor.-sat. Ged. 16, str. 17: rex, qui perdit presulem in proditione | re vera neronior est ipso Nerone). 9. Handschriftliche Überlieferung und Textgestalt Grundlage für den Text der Alexandreis stellt in der vorliegenden Publikation die kritische Edition von Marvin L. Colker dar, in der im Wesentlichen 209 erhaltene Handschriften aufgeführt werden, von denen mit 175 Handschriften der größte Teil den Text ganz oder fast vollständig wiedergibt (vgl. Killermann 2000, 300; vgl. auch



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Putzo 2011, 27). Für die Erstellung des Textes hat Colker dabei die jeweils besten Lesarten aus den sechs frühesten Handschriften (um 1200) ausgewählt und zudem zwei frühe, zur selben Zeit entstandene Florilegien herangezogen (vgl. Colker 1987, XXIII–XXVIII). Dazu zählen namentlich: E (Codex Erfurtensis Amplon. 8° 90), G (Codex Genevensis lat. 98), H (Codex Hafniensis Gl. Kgl. S. 2146), M (Codex Princetonianus Garret 118), O (Codex Oxoniensis Bodl. Auct. F.2.16) und S (Codex Audomarensis 78). Die beiden von Colker benutzten Florilegien sind: B (Bern 710) und P (Paris BN lat. 15155). Colker macht deutlich, dass Beziehungen zwischen den von ihm benutzten Textzeugen (EGHMOS) untereinander schon innerhalb der frühen Überlieferung nur schwach zu erkennen sind und die durch den Erfolg des Epos als mittelalterlichem Schultext bedingte intensive Glossierung der Alexandreis zu keiner einheitlichen Textgestalt geführt hat. Infolgedessen scheint die Konstruktion eines Stemmas wenig sinnvoll zu sein (vgl. Colker 1987, XXIV– XXV). Auch wenn sich inzwischen einige weitere, bei Colker nicht aufgeführte Handschriften nachweisen lassen, bieten die Neufunde keinen wesentlichen kritischen Gewinn, so dass man zum heutigen Zeitpunkt davon ausgehen kann, dass mit der von Colker erstellten Textgestalt eine hinreichend zuverlässige Textbasis gegeben ist. Die im vorliegenden Band aus inhaltlichen Gründen vorgenommenen bzw. auf alternativen Handschriften beruhenden Änderungen zum Text Colkers einschließlich einiger Abweichungen in der Interpunktion lauten wie folgt:

Colker

Diese Ausgabe

Buch I 87 precipit 115 oranti frange

precepit oranti, frange

Buch II 318 fontis,

fontis.

50 318a–f

Einleitung qualiter Alpinis spumoso vertice saxis descendit Rodanus, ubi Maximianus eoos extinxit cuneos cum sanguinis unda meatum fluminis adiuvit fusa legione Thebea permixtusque cruor erupit in ethera spreto aggere terrarum totumque rigavit Agaunum.

 —

Buch III C 4–5 Tyroque, | funditus 223 legendo 255 credit 508 illa 540 Macedo ne 541 impetus. extimplo

Tyroque | funditus ligando excedit ille Macedo. Ne impetus, extimplo

Buch IV 431 aptant 438 quietis

optant Quietis

Buch V 390 Sic sic victorem

Et sic victorem

Buch VIII 85 triduo 158 reliquit

biduo relinquit

Buch X 249 quia 250 operiens 362 amorigerae

quod exspectans amoriferae

Um der besseren Lesbarkeit willen wird im lateinischen Text die Kleinschreibung an Satzanfängen durch Großschreibung ersetzt und die Versanfänge nur in Großschreibung wiedergegeben, wenn es sich dabei um einen Satzanfang oder einen Namen handelt. Die lateinischen Eigennamen personifizierter Gottheiten werden in der deutschen Übersetzung beibehalten und im Index näher erläutert.



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Die Tugenden werden im Deutschen grundsätzlich kursiv gesetzt, um zum einen deutlich zu machen, dass die deutsche Übersetzung bisweilen von der in der modernen Forschung gängigen Praxis abweicht, zum anderen aber auch um klarzustellen, dass dabei immer nur aristotelische Tugenden in ihrer spezifischen, durch die Mesotes-Lehre des antiken Philosophen vorgegebenen Ausprägung angesprochen sind. Die Verwendung eines Doppelpfeils [⇔] im Kommentar soll den Text inhaltlich gliedern oder auch innerhalb eines Kommentarpunkts den beschreibenden vom erklärenden Teil trennen.

Gliederungsübersicht Prolog 1–13

Die Problematik der Neider

13–23

Das Vorbild Vergil

24–29

Das Vorbild Hieronymus

30–36

Walters aemulativer Überbietungsanspruch

36–39

Walters Rezeptionsanweisung

39–42

Hinweis auf die Themenübersichten

Buch I 1–10

Themenübersicht

1–26

Prooemium Prooemium Teil 1 (1–11) 1–5 Antiker Musenanruf 5–8 Alexanders Ruhm 9–11 Die Strahlkraft der Taten Alexanders Prooemium Teil 2 (12–26) 12–18 Die Karriere des Wilhelm von Blois 19–23 Die Bildung des Wilhelm von Blois 24–26 Christlicher Musenanruf und Widmung an Wilhelm von Blois

27–58

Beginn der Erzählung 27–39 Klage und Zornesausbruch Alexanders 39–41 Alexander und Herkules 41–46 Alexander und Aristoteles 46–48 Alexander und Nektanabus 49–58 Alexanders Ungeduld

54

Gliederungsübersicht

59–81

Hinführung zur Aristoteles-Rede 59–71 Aristoteles als Gelehrter 72–81 Alexanders erneute Klage

82–183

Die Aristoteles-Rede 82–104 Definition des aristotelischen Tugendbegriffs 82–84 Entfaltung des Tugendpotenzials durch praktische Übung 85–91 Sklaven von Natur aus 92–104 Charakterstarke Personen 105–183 Die Einzeltugenden 105–114 Die Tugend der Gerechtigkeit 115 Die Tugend der angemessenen Zürnkraft 116–143 Die Tugend der Tapferkeit 116–117 Schnelligkeit und Entschlossenheit 118–127 Überzeugungskraft 128–132 Vorbildfunktion 133–136 Strategisches Vermögen 136–143 Handlungsschnelligkeit 144–151 Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 1 152–154 Die Tugend der angemessenen Zuwendung 155 Die Tugend der Wahrhaftigkeit 156–163 Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 2 164–182 Die Tugend der Besonnenheit 182–183 Die Tugend des angemessenen Stolzes

184–202 Ausleitung der Aristoteles-Rede 203–267 Die Legitimierung von Alexanders Herrschaft in Griechenland 203–238 Alexanders Erhebung zum Hegemon 203–206 Beschreibung von Korinth als Ort der Zeremonie 207–208 Paulus in Korinth 209–211 Die Zeremonie der Erhebung Alexanders zum Hegemon 212–225 Weise Berater und leidenschaftliche Krieger 226–238 Alexander als Herrscher im Wartestand 239–267 Alexanders Krönung zum makedonischen König



Gliederungsübersicht

55

268–348 Die Sicherung der Macht Alexanders in Griechenland 268–283 Alexander verschont Athen 284–348 Alexander bestraft Theben 349–395 Der Transfer von Europa nach Asien 349–358 Vorbereitungen 359–385 Alexanders Überfahrt nach Kleinasien 386–395 Alexanders Ankunft in Kleinasien – Der Perserkrieg beginnt 396–426 Asienexkurs 427–446 Alexander und die Schätze Kleinasiens 447–492 Alexanders Zug durch Kleinasien 447–451 Alexander in Kilikien 452–467 Alexander auf dem Weg von Kilikien nach Troja 468–492 Alexander in Troja 493–554 Die Jerusalem-Episode 493–501 Alexanders Siegesgewissheit 502–538 Alexanders Vision 539–554 Alexanders Einzug in Jerusalem

Buch II 1–10

Themenübersicht

1–63

Der Perserkönig Darius 1–17 Die Charakterzeichnung des Darius 18–44 Die Korrespondenz zwischen Darius und Alexander 45–63 Die Heerschau des Darius

64–68

Die Schlacht am Granikus

68–90

Alexander in Phrygien 68–70 Alexanders Ankunft in Phrygien 71–74 Die geographische Lage von Gordium 75–90 Der gordische Knoten

91–102

Von Phrygien nach Kilikien

103–139

Der Truppenaufmarsch der Perser

56 140–271

Gliederungsübersicht Alexander in Kilikien 140–144 Vom Lager des Cyrus nach Tarsus 145–152 Die Stadt Tarsus 153–171 Alexanders unheilvolles Bad im Kydnus 171–185 Die Reaktion der griechischen Soldaten 186–200 Die Reaktion der Fortuna 200–217 Die Reaktion Alexanders 218–256 Alexander – Philipp – Parmenion 257–268 Alexanders Ankunft in Issus 269–271 Alexander und Sisines

272–421 Darius vor der Schlacht bei Issus 272–305 Darius und Tymodes 306–318 Hinführung zur Feldherrnrede des Darius 319–371 Die Feldherrnrede des Darius 372–387 Der verhängnisvolle Irrtum der Perser 388–407 Perser und Griechen bringen sich in Stellung 408–421 Darius und das persische Heer 422–493 Alexander vor der Schlacht bei Issus 422–449 Hinführung zur Feldherrnrede Alexanders 450–486 Die Feldherrnrede Alexanders 486–493 Die Schlacht beginnt 494–529 Der Schild des Darius 530–544 Autorexkurs zur Vergänglichkeit irdischer Macht

Buch III 1–10

Themenübersicht

1–214

Die Schlacht bei Issus 1–3 Das Aufeinandertreffen der feindlichen Heere 4–10 Alexanders Schnelligkeit und Entschlossenheit 11–27 Alexander gegen Arethas 28–47 Ptolemäus gegen Dodontes; Clitus gegen Androphilus 48–49 Iollas gegen Mazaeus 50–52 Philotas gegen Ochus 53–58 Parmenions Bedeutung für Alexander



Gliederungsübersicht 59–62 63–72 73–76 77–89 90–118 119–139 140–188 189–202 203–214

215–242

Die Zweikämpfe des Antigonus, Coenus und Craterus Parmenions Bedeutung für die Schlacht bei Issus Eumenides gegen Diaspes und Eudochius Nicanor gegen Echinus Philotas gegen Negusar Der Mut des makedonischen Heeres Der Astrologe Zoroas Die Reaktion des Darius Die Folgen der Flucht des Darius

Alexanders Sieg bei Issus und seine Folgen 215–220 Die Verteilung der Beute 220–227 Die Gier der Soldaten nach Gold 228–233 Die Hemmungslosigkeit der Soldaten 234–242 Alexander und die Familie des Darius

242–257 Moralexkurs: Die Überschreitung menschlicher Macht 258–273 Parmenion nimmt Damaskus ein 274–287 Alexander auf dem Weg nach Phönizien 288–329 Alexander erobert Tyrus 330–341

Die historische Bedeutung von Tyrus

342–369 Alexander erobert Gaza 370–407 Alexander nimmt Ägypten ein; Alexanders Besuch in der Oase Siwa 408–462 Vorbereitungen für die Schlacht bei Gaugamela 408–412 Die Schicksalhaftigkeit der Auseinandersetzung 413–435 Die gewaltige Streitmacht der Perser 436–462 Alexander setzt Darius nach 463–543 Die Mondfinsternis

Buch IV 1–10

Themenübersicht

1–23

Tod der Stateira

57

58

Gliederungsübersicht

24–67

Tiriotes und Darius 24–34 Darius befürchtet die Schändung seiner Familie 34–39 Die Todesnachricht 40–58 Trauer und Argwohn des Darius 58–67 Darius preist Alexander

68–108

Die Gesandten des Darius 68–92 Das tugendhafte Verhalten Alexanders 92–99 Darius’ Friedensangebot 100–108 Darius’ Drohung

109–130

Der Standpunkt des Parmenion

131–141

Alexanders Antwort auf Parmenion

142–175

Alexanders Antwort an die persischen Gesandten

176–274 Das Grabmal der Stateira 176–179 Der Künstler Apelles 180–188 Schöpfung von Himmel und Erde; Die vier Elemente; Lichtwerdung (1. Mos.) 189–193 Erschaffung des Menschen (1. Mos. 2, 7); Sündenfall (1. Mos. 3, 6); Vertreibung aus dem Paradies (1. Mos. 3, 22–24) 194 Lamech tötet Kain (1. Mos. 4, 12; 4, 19, Apokryphen) 195–200 Versündigung der Menschen (1. Mos. 6, 1–7); Sintflut (1. Mos. 7); Kainsmal (1. Mos. 4, 15); Arche Noah (1. Mos. 6, 13–17) 201–202 Nach der Sintflut (1. Mos. 9, 18–19); Noah vom Wein betrunken (1. Mos. 9, 20–21) 203–204 Abraham, Isaak und Jakob; Geburt des Isaak (1. Mos. 21, 5–6) 205–206 Der Jäger Esau (1. Mos. 25, 27); Jakobs Rückkehr (1. Mos. 32, 7–9); Jakobs Kampf mit dem Engel (1. Mos. 32, 25–29) 206–207 Verkauf Josephs (1. Mos. 37, 28); Potiphars Weib; Einkerkerung Josephs (1. Mos. 39); Fortgang der Kinder Israels nach Ägypten (1. Mos. 46) 208–210 Die zehn Plagen Gottes (2. Mos. 7–12, 30); Auszug der Kinder Israels aus Ägypten (2. Mos. 12, 37–51); Untergang des Pharaos (2. Mos. 14) 211–212 Zug durch die Wüste; Versorgung mit Manna (2. Mos. 16); Übergabe der Gesetze, Eröffnung der Quelle (2. Mos. 17) 213–217 Moses’ Tod (5. Mos. 34, 5–8); Zerstörung von Jericho (Jos. 6, 24); Josua hemmt den Jordan (Jos. 3, 15–17); Verfluchung



Gliederungsübersicht

218–220 221–222 223–225 225–230

231–234 234–237 238–239 240–246

247–248 249–255

256–257 258–259 259–261

59

der Ebene von Achor (Jos. 7); Landverteilung durch Josua; Josuas Tod (Jos. 13–24) Herrschaft der Richter (Ri. 1–21); Blendung Samsons, Raub seiner Haare durch Dalila (Ri. 16) Ruth (Rut. 4, 13) Ankündigung der Könige Israels; Tod des Eli (1. Sam. 4, 18); Geburt des Samuel (1. Sam. 1, 20); Unruhe in Silo (1. Sam. 4, 12–17) Saul erster König Israels (1. Sam. 9–11); David zweiter König Israels (1 Sam. 16, 1; 2. Sam. 5, 1–5); Sieg Davids über Goliath (1. Sam. 17, 49–50), Tod des Saul und seiner Söhne (Sam. 1, 31, 4–6); Klagelied Davids (2. Sam. 1, 17–21) Aufstand gegen David (2. Sam. 2, 23; 2. Sam. 3, 27; 2. Sam. 11, 15–17; 2. Sam. 18, 14; 2. Sam. 19, 1 Tod Davids (1. Kön. 2, 10); Salomo dritter König Israels (1. Kön. 2, 12); Tempelbau (1. Kön. 8) ; Tod des Joab (1. Kön. 2, 31–34); Tod des Simei (1. Kön. 2, 44–45) Rat der Ältesten (1. Kön. 12, 7); Rat der Jünglinge (1. Kön. 12, 8–10), Spaltung des Reichs (1. Kön. 12, 19–20); Abfall von zehn Stämmen (1. Kön. 12, 21) Praeteritio: Götzendienst der Könige (1. Kön. 11, 9–11); Verderbtheit von Samaria (1. Kön. 16, 32); Tod der Isebel (2. Kön. 9, 30–37); Tod des Ahab (1. Kön. 22, 34); Justizmord an Nabot (1. Kön. 21, 1–16); Vernichtung der Fünfzig (2. Kön. 1, 10–14) Tötung der Baalspriester durch Elija (1. Kön. 18, 40); Trauer des Elisa (2. Kön. 2, 12–14) Ezechia und Josia von Juda (2. Kön. 22,1); Beseitigung der Götzenbilder (2. Kön. 18, 1–4); Wiedereinführung des PassahFestes (2. Kön. 23, 21); Rücklauf der Sonne an der Treppe (2. Kön. 20, 1–11) Die vier großen Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und Daniel Verkündigung von Marias Empfängnis durch Jesaja an Ahas (Jes. 7, 10–14) Jeremia (Jer. 1, 1–10), Zerstörung Jerusalems unter Zedekia (Jer. 39, 8); babylonische Gefangenschaft und das Ende Judas (Jer. 39, 9), Verkündigung der jungfräulichen Geburt Jesu (Jer. 31, 22)

60

Gliederungsübersicht 262–264 Hesekiel (Hes. 2–3); das geschlossene Tempeltor als Sinnbild der Jungfräulichkeit Marias (Hes. 44, 1–3) 265–266 Daniel und die siebzig Jahrwochen (Dan. 9, 24) 266–267 Die zwölf kleinen Propheten 268–270 Rückkehr der Juden nach Jerusalem und Wiederaufbau des Tempels unter Cyrus (Esr. 1, 1–7); Zorobabel (Esr. 5, 2) 270–271 Esther wird Königin (Est. 2, 15–18); Hinrichtung des Haman (Est. 7, 7–10); Verstoßung der Vasti (Est. 1, 1–22) 272 Der unerschütterliche Glaube des Tobias (Tob. 2. 9–10) 273 Judith tötet Holofernes (Jud. 13) 274 Esra und der Wiederaufbau des Tempels (Esr. 6, 13–22)

275–279 Alexanders Schnelligkeit und kluge Planung 280–284 Szenenwechsel: Vorbereitungen im Lager des Darius 285–300 Griechen und Perser lagern in Sichtweite zueinander 301–327

Alexanders Entsetzen

327–349 Versammlung der Generäle 350–373

Alexanders Verständnis wahren Ruhms

374–390 Szenenwechsel: Letzte Vorbereitungen im Lager des Darius 391–453

Das Eingreifen der Göttin Victoria 391–400 Alexanders Gedankengefängnis 401–432 Der Palast der Göttin Victoria 433–453 Victoria und Somnus

454–497 Unsicherheit im griechischen Lager 454–471 Alexander verschläft 472–497 Parmenion weckt Alexander 498–525 Alexanders Rüstung 526–546 Letzte Vorbereitungen Alexanders 546–588 Alexanders Feldherrnrede vor der Schlacht bei Gaugamela 546–562 Alexander und das Schicksal 563–578 Alexanders Ruhm 579–588 Alexanders Tapferkeit 588–593

Die Schlacht beginnt



Gliederungsübersicht

61

Buch V 1–10

Themenübersicht

1–430

Die Schlacht bei Gaugamela 1–10 Der Zeitpunkt der Schlacht bei Gaugamela 11–25 Alexander gegen Aristomenes 26–31 Weitere Kämpfe Alexanders 32–37 Philotas rächt Hesifilus und Laomedon 38–75 Alexander gegen den Riesen Geon 76–122 Clitus gegen Sanga und dessen Vater Mecha 123–182 Nicanor gegen Rhemnon 123–144 Das zähe Ringen der Truppen 145–165 Nicanor tötet Rhemnon 166–182 Nicanors Tod 183–204 Hephaestio gegen Phidias 205–255 Eine Götterbotschaft für Alexander 255–282 Alexander und die Griechen bedrängen Darius 283–306 Darius zwischen Kampf und Flucht 307–318 Alexander verfolgt Darius 319–349 Die Flucht des Darius und der Perser 350–375 Ein letztes Gefecht 376–421 Darius’ Ansprache an seine Soldaten 422–430 Die Reaktion der persischen Soldaten

431–455

Von Gaugamela nach Babylon

456–490 Alexanders Einzug in Babylon 491–520 Die Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer

Buch VI 1–11

Themenübersicht

1–32

Alexander in Babylon 1–15 Apostrophe an die Stadt Babylon 16–32 Babylons verderblicher Einfluss auf die Griechen und Alexanders Aufbruch aus Babylon

62

Gliederungsübersicht

33–62

Alexanders Neuorganisation des griechischen Heeres

63–144

Die Eroberung von Susa und der Krieg gegen die Uxier 63–80 Die Einnahme von Susa und die Schlachtvorbereitungen gegen die Uxier 81–102 Die Schlacht gegen die Uxier 103–144 Alexanders Sieg über die Uxier

145–160

Schwere Kämpfe gegen den Statthalter der Provinz Persis

161–296

Alexander in Persepolis 161–195 Alexander macht Persepolis dem Erdboden gleich 196–212 Alexander begegnet verstümmelten Kriegsgefangenen 213–296 Das Rededuell zwischen Euctemon und Theteus

297–552 Darius zwischen Alexander und den Verschwörern Bessus und Narbazanes 297–310 Alexander nimmt die Verfolgung des Darius wieder auf 311–369 Darius’ Rede an seine Soldaten 370–383 Die Reaktion der persischen Soldaten 384–424 Die Intrige des Bessus und des Narbazanes 425–434 Darius’ Reaktion auf die Intrige 435–442 Der Rat des Artabazus an Darius 443–450 Darius’ verzweifelte Lage 451–467 Der listige Plan der Verschwörer 468–489 Die Durchführung der List 490–510 Das wohlmeinende Angebot des Griechen Patron 511–524 Darius lehnt das Angebot des Griechen Patron ab 525–547 Der Verschwörer Bessus verunglimpft Patron 548–552 Darius’ Schicksalsergebenheit

Buch VII 1–10

Themenübersicht

1–90

Die Verschwörung gegen Darius 1–16 Kosmische Zeichen künden von Darius’ Ende 17–58 Darius im Selbstgespräch 59–90 Darius wird in Ketten gelegt und verschleppt

91–378

Gliederungsübersicht

Alexander verfolgt Darius 91–105 Die Schnelligkeit und die Handlungsschnelligkeit Alexanders 106–127 Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten 128–174 Alexander erreicht das Lager der Verschwörer 175–209 Die Flucht der Verschwörer und Darius’ Ermordung 210–239 Die Schlacht gegen die verbliebenen Perser 240–305 Darius’ letzte Botschaft an Alexander 306–343 Moralexkurs 344–347 Apostrophe an Darius 348–378 Alexanders Totenklage

379–430 Das Grabmal des Darius 431–538

63

Alexander zwischen Perserreich und Welteroberung 431–435 Alexanders angemessene Gebefreudigkeit 435–466 Alexanders Welteroberungspläne 467–538 Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten

Buch VIII 1–10

Themenübersicht

1–5

Die Eroberung von Hyrkanien

6–48

Die Amazonenkönigin Thalestris

49–74

Die Vernichtung der Kriegsbeute

75–322

Die Verschwörung des Philotas 75–91 Die Entdeckung der Verschwörung 92–157 Alexanders Anklagerede gegen Philotas 158–184 Alexander als ungerechter Richter 185–301 Philotas’ Verteidigungsrede 301–322 Philotas’ Tod

323–334

Autorexkurs: Die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms

335–357

Die Hinrichtung des Bessus

358–495

Die Unterwerfung der Skythen 358–367 Das Volk der Skythen 368–476 Die Skythen-Rede

64

Gliederungsübersicht 368–403 Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit 404–459 Alexanders Maßlosigkeit: Die grenzenlose Eroberungswut 460–476 Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit 477–495 Alexanders Sieg über die Skythen

496–513

Die Reaktion der östlichen Völker

Buch IX 1–10

Themenübersicht

1–325

Alexanders Indienfeldzug 1–8 Alexander als Feind seiner Freunde 9–34 Die Geographie Indiens 35–70 Der Inderkönig Porus 71–147 Nicanor und Symmachus 148–178 Alexanders List 179–325 Die Schlacht am Hydaspes 179–258 Die feindlichen Heere treffen aufeinander 258–290 Alexanders verfolgt Porus 291–325 Alexanders und Porus im Gespräch

326–340 Alexander als Welteroberer 341–500 Alexanders Kampf gegen die Sudraker 501–544

Craterus mahnt Alexander

545–580 Alexanders Antwort an Craterus

Buch X 1–10

Themenübersicht

1–5

Alexanders Aufbruch zu den Antipoden



Gliederungsübersicht

65

6–167

Das Strafgericht in der Unterwelt 6–107 Descensus as inferos – Die Göttin Natura in der Unterwelt 6–30 Die Charakterisierung der Göttin Natura 31–57 Die Laster am Eingang zur Unterwelt 58–81 Erster Ort der Bestrafung – Leviathan und das Fegefeuer 82–107 Die Klagerede der Natura am ersten Ort der Bestrafung 108–167 Die Unterweltsversammlung 108–125 Zweiter Ort der Bestrafung – Leviathan und die Hölle 126–142 Die Rede des Leviathan am zweiten Ort der Bestrafung 143–167 Die Rede der Proditio am zweiten Ort der Bestrafung

168–190

Alexanders weitere Pläne

191–215

Autorexkurs: Klage über Alexanders Ende

216–325

Die Versammlung der Völker in Babylon 216–248 Der Aufmarsch der Völker in Babylon 249–282 Alexanders Rückkehr nach Babylon 282–329 Alexanders Ansprache

330–355

Unheilvolle Vorzeichen

356–432 Alexanders letzter Tag 356–377 Das unaufhaltsame Fatum 378–432 Alexanders Tod 433–454 Moralexkurs 455–460 Walters Abwendung von der antikisierenden Dichtung 461–469 Walters Widmung an seinen Gönner Wilhelm von Blois

Text und übersetzung

Prologus Moris est usitati, cum in auribus multitudinis aliquid novi recitatur, solere turbam in diversa scindi studia et hunc quidem applaudere et quod audit laude dignum predicare, illum vero, seu ignorantia ductum seu livoris aculeo vel odii fomite perversum, etiam bene dictis detrahere et versus bene tornatos incudi reddendos esse censere. Et mirum est humanum genus a prima sui natura, secundum quam cuncta, que fecit Deus, valde bona creata sunt, ita esse depravatum, ut pronius sit ad condempnandum quam ad indulgendum et facilius sit ei ambigua depravare quam in partem interpretari meliorem. Hoc ego reveritus diu te, o mea Alexandrei, in mente habui semper supprimere et opus quinquennio laboratum aut penitus delere aut certe quoad viverem in occulto sepelire. Tandem apud me deliberatum est te in lucem esse proferendam, ut demum auderes in publica venire monimenta. Non enim arbitror me esse meliorem Mantuano vate, cuius opera mortali ingenio altiora carpsere obtrectantium linguae poetarum et mortuo derogare presumpserunt, quem, dum viveret, nemo potuit equiparare mortalium.

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Prolog Die Problematik der Neider (1–13)

Wenn einem Publikum eine neue Dichtung zu Ohren gebracht wird, ist es gewöhnliche Praxis, dass die Zuhörerschaft zwei unterschiedlichen Lagern zugeteilt werden kann: Die einen spenden Beifall und rühmen den Vortrag, die anderen aber [5] verweigern – aus fehlendem Verständnis, Neid oder Hass heraus – auch einer gelungenen Darstellung die Anerkennung und sind der Meinung, dass auch gut geschmiedete Verse noch einmal neu bearbeitet werden müssten. Und es ist sonderbar, dass das Menschengeschlecht seiner ursprünglich vortrefflichen Natur – denn alles, was Gott erschaffen hat, [10] wurde als etwas Vortreffliches geschaffen – so entfremdet ist, dass es eher dazu neigt, zu verurteilen, als anzuerkennen, und es ihm im Zweifel leichter von der Hand geht, Mehrdeutigkeit zu verdammen, als eine Bewertung zum Guten hin abzugeben. Das Vorbild Vergil (13–23)

Weil ich genau dies fürchtete, hegte ich lange die Absicht, dich, meine Alexandreis, [15] zurückzuhalten und das nach fünf Jahren vollendete Werk entweder vollständig zu vernichten oder zumindest zu meinen Lebzeiten verborgen zu halten. Schließlich hat sich bei mir jedoch der Entschluss durchgesetzt, dich veröffentlichen zu müssen, damit du deinen Platz in der einschlägigen Literatur einnehmen kannst. Nicht bin ich allerdings der Meinung, [20] ein besserer Dichter zu sein als der aus Mantua stammende Vergil, dessen menschliches Genie übersteigenden Werke böswillig schmähende Dichter zerrissen und den sie nach seinem Tod dreist herabgesetzt haben – einen Dichter, dem zu Lebzeiten niemand auch nur ansatzweise gleichkam.

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ALEXANDREIS

Sed et Ieronimus noster, vir tam disertissimus quam christianissimus, qui in singulis prefationibus suis emulis respondere consuevit, manifeste dat intelligi nullum apud auctores superesse securitatis locum, cum virum tam nominatae auctoritatis pupugerit stimulus emulorum. In hoc tamen lectores huius opusculi, siquis tamen hoc captus amore leget, exoratos esse volo, ut, siquid in volumine reprehensibile seu satyra dignum invenerint, considerent arti temporis brevitatem, qua scripsimus et altitudinem materiae, quam nullus veterum poetarum teste Servio ausus fuit aggredi perscribendam; et ad hoc habito respectu discant saltim ex dispensacione debere tolerari que, siquis de scripto iure ageret, poterant de rigore condempnari. Sed hec hactenus. Nunc autem, quod instat, agamus, et ut facilius, que quesierit, quis possit invenire, totum opus per capitula distinguamus.

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PROLOG

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Das Vorbild Hieronymus (24–29)

Aber auch unser Hieronymus, ein ebenso beredter [25] wie frommer Mann, der in jeder seiner Vorreden seinen Neidern entgegenzutreten pflegte, gibt deutlich zu verstehen, dass es unter Schriftstellern keinen sicheren Platz mehr gibt, wenn der Stachel der Neider in der Lage war, sogar einen Mann von einem derartigem Ansehen wie Vergil zu kränken. Walters aemulativer Überbietungsanspruch (30–36)

[30] Doch darum möchte ich die Leser dieses bescheidenen Werks – falls es jemand von Zuneigung ergriffen lesen sollte – doch bitten, dass sie, falls sie in dieser Dichtung etwas Tadelnswertes oder Spottwürdiges finden sollten, die Kürze der Zeit bedenken mögen, in der ich diese verfasst habe, und die Erhabenheit des Themas, [35] das nach dem Zeugnis des Servius keiner der antiken Dichter in Angriff zu nehmen gewagt hat. Walters Rezeptionsanweisung (36–39)

Berücksichtigt man diese Umstände, mögen sie – den geistigen Sinn des Werks in Erwägung ziehend – begreifen lernen, dass dieses Werk zumindest anerkannt werden sollte, das – würde jemand lediglich nach dem Wortsinn sein Urteil fällen – durchaus auch unnachgiebig verurteilt werden könnte. Hinweis auf die Themenübersichten (39–42)

Doch genug davon. [40] Nun aber will ich das Vorhaben beginnen; und damit jemand leichter finden kann, was er sucht, will ich das ganze Werk mit Hilfe einer dem jeweiligen Buch vorangehenden Übersicht zusammenfassen.

Liber I Capitula primi libri Primus Aristotilis imbutum nectare sacro scribit Alexandrum sceptroque insignit et armis. Cicropidas regi rursus confoederat. Arces diruit Aonias. Numerosa classe profundum intrat et appellens Asyam de nave sagittat, parcendumque ratus hostem sine Marte tryumphat, elatusque animo sub sole iacentia regna iam sibi parta putat. Asiam de vertice montis inspicit et patrias partitur civibus urbes. Pergama miratur et sompnia visa retractat.

5

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Primus liber Gesta ducis Macedum totum digesta per orbem, quam large dispersit opes, quo milite Porum vicerit et Darium, quo principe Grecia victrix risit et a Persis rediere tributa Chorintum, Musa refer.

5

Buch I Themenübersicht (1–10) Das erste Buch beschreibt Alexander, wie er in die heilige Lehre des Aristoteles eingeweiht wird, und schmückt ihn mit Szepter und Waffen. Alexander versöhnt zum zweiten Mal einem makedonischen König die Stadt Athen. Theben jedoch zerstört er. Mit zahlreichen Schiffen sticht er in See, [5] legt in Kleinasien an und wirft noch vom Schiff aus einen Speer auf das vor ihm liegende Land. In der Meinung, die dortigen Feinde schonen zu müssen, triumphiert er ohne Krieg. In berechtigtem Stolz auf diese Leistung glaubt er, das ganze Perserreich gehöre ihm schon. Vom Gipfel eines Bergs aus betrachtet er Kleinasien und teilt den Bürgern die Städte ihrer Väter zu. [10] Er bewundert Troja und berichtet seinen Soldaten von einer einst noch in Pella erhaltenen Vision. Prooemium (1–26) Prooemium Teil 1 (1–11) Antiker Musenanruf (1–5)

Muse, berichte mir von den auf dem ganzen Erdkreis vollbrachten Taten des makedonischen Königs, wie großzügig er Reichtümer verteilte, wie er mit vergleichsweise kleiner Streitmacht über Porus und Darius siegte und wie Griechenland unter einem solchen Anführer siegreich triumphierte und daraufhin die Tribute von den Persern nach Korinth zurückflossen. [5]

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ALEXANDREIS

Qui si senio non fractus inermi pollice fatorum nostros vixisset in annos, Cesareos numquam loqueretur fama tryumphos, totaque Romuleae squaleret gloria gentis: Preradiaret enim meriti fulgore caminus igniculos, solisque sui palleret in ortu Lucifer, et tardi languerent Plaustra Boete.

10

At tu, cui maior genuisse Britannia reges gaudet avos, Senonum quo presule non minor urbi nupsit honos quam cum Romam Senonensibus armis fregit adepturus Tarpeiam Brennius arcem si non exciret vigiles argenteus anser, quo tandem regimen kathedrae Remensis adepto duriciae nomen amisit bellica tellus,

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BUCH I

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Alexanders Ruhm (5–8)

Wenn dieser – nicht durch wehrlose Entkräftung dahingerafft – nach dem Willen der Parzen ein für unsere Zeit normales Alter erreicht hätte, würde die geschichtliche Überlieferung niemals die Triumphe der römischen Kaiser verkünden und der ganze Ruhm des von Romulus abstammenden Volkes würde im Staube liegen: Die Strahlkraft der Taten Alexanders (9–11)

Denn als großes Feuer würde er durch den Glanz seiner Verdienste all die kleineren Feuer gänzlich überstrahlen, [10] beim Aufgang seiner Sonne nämlich würde der Morgenstern völlig verblassen und auch der Wagen des trägen Bootes wäre im Morgenlicht nicht mehr zu sehen. Prooemium Teil 2 (12–26) Die Karriere des Wilhelm von Blois (12–18)

Du aber, dem das größere Britannien zur eigenen Freude einst königliche Vorfahren geschenkt hat, hast in führender Stellung der Stadt der Senonen keinen geringeren Ruhm zuteil werden lassen als zu jener Zeit, als Brennus die Stadt Rom mit senonischer Streitmacht [15] bezwang und schon im Begriff war, die tarpeische Burg zu erobern, wenn nicht die silberfarbenen Gänse die römischen Wachen gewarnt hätten. Nachdem du schließlich die Führung im Bistum von Reims übernommen hattest, verlor dieses kriegerische Land den Ruf seiner Härte.

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ALEXANDREIS

quem partu effusum gremio suscepit alendum phylosophia suo totumque Elycona propinans doctrinae sacram patefecit pectoris aulam, excoctumque diu studii fornace, fugata rerum nube, dedit causas penetrare latentes: Huc ades et mecum pelago decurre patenti, funde sacros fontes et crinibus imprime laurum ascribique tibi nostram paciare camenam. Nondum prodierat naturae plana tenellis infruticans lanugo pilis, matrique parabat dissimiles proferre genas, cum pectore toto arma puer sitiens Darium dare iura Pelasgis gentibus imperiique iugo patris arva prementem audit et indignans his vocibus exprimit iram: “Heu, quam longa quies pueris! Numquamne licebit inter funereas acies mucrone chorusco Persarum dampnare iugum, profugique tyranni cornipedem lentum celeri prevertere cursu, confusos turbare duces, puerumque leonis

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BUCH I

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Die Bildung des Wilhelm von Blois (19–23)

Gleich nach deiner Geburt nahm dich als Zögling [20] die Philosophie in ihre Obhut und öffnete der philosophischen Unterweisung die heilige Halle deines Herzens, indem sie dir sämtliche Künste des Helikon einflößte, und ließ dich, der du schon lange Zeit vom Forschungseifer ergriffen warst, den über den Dingen liegenden Schleier heben und versteckte Zusammenhänge entdecken: Christlicher Musenanruf und Widmung an Wilhelm von Blois (24–26)

Steh du meinem Werk bei und unterstütze mein gewaltiges Vorhaben, [25] lass strömen die heiligen Quellen, bekränze mit Lorbeer mein Haar und gestatte es mir, mein Gedicht dir zu widmen. Beginn der Erzählung (27–58) Klage und Zornesausbruch Alexanders (27–39) Noch nicht war dem jungen Alexander der von Natur aus mit zarten Haaren sprießende Flaum deutlich erkennbar hervorgetreten, noch nicht auch hatte er bisher der Mutter unähnliche Wangen hervorgebracht, als der mit ganzem Herzen [30] nach Kriegstaten dürstende Junge hörte, Darius habe den pelasgischen Stämmen eine Verfassung gegeben und sogar das Land des Vaters mit dem Joch seiner Herrschaft bedrängt. Voller Entrüstung brachte er seinen Zorn mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Ach, wie lange ist man als Junge doch zur Tatenlosigkeit verdammt! Wird es mir denn niemals erlaubt sein, mit blitzendem Schwert in todbringenden Schlachten [35] das Joch der Perser zu vergelten, das träge Pferd des fliehenden Tyrannen in schnellem Lauf zu überholen und die kopflos agierenden Generäle des Feindes auseinanderzutreiben? Wird es

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ALEXANDREIS

vexillo insignem galeato vertice saltim in bello simulare virum? Verumne dracones Alcydem puerum compressis faucibus olim in cunis domuisse duos? Ergo nisi magni nomen Aristotilis pueriles terreat annos, haut dubitem similes ordiri fortiter actus. Adde quod etati duodenni corpore parvo maior inesse solet virtus viridisque iuventae ardua vis supplere moras. Semperne putabor Nectanabi proles? Ut degener arguar, absit!” Hec ait, hec secum dictanti corde perorat. Qualiter Hyrcanis si forte leunculus arvis cornibus elatos videt ire ad pabula cervos, cui nondum totos descendit robur in armos,

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BUCH I

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einem Jungen wie mir, geschmückt mit dem Banner des Löwen und helmbewehrt das Haupt, denn niemals erlaubt sein, im Krieg einen echten Mann wenigstens nachzuahmen? Alexander und Herkules (39–41) Ist es nicht wahr, dass der Alkide als Kind einst in der Wiege [40] zwei Schlangen bezwang, indem er ihnen die Kehlen zudrückte? Alexander und Aristoteles (41–46) Wäre mein jungenhaftes Alter nicht durch des großen Aristoteles Namen eingeschüchtert, würde ich ohne zu zögern ähnliche Taten tapfer vollbringen. Bedenke außerdem, dass einem Zwölfjährigen im kleinen Körper gewöhnlich [45] ein vergleichsweise großer Mut innewohnt und die edle Kraft der frischen Jugend die noch vorhandenen Defizite zu kompensieren vermag. Alexander und Nektanabus (46–48) Soll ich etwa für alle Zeiten als Spross des Nektanabus angesehen werden? Niemand soll mich als entartet beschimpfen!« So sprach er und wägte wiederholt die eigenen Worte bei sich im Herzen. Alexanders Ungeduld (49–58) Wie wenn von ungefähr ein noch junger Löwe sieht, wie auf hyrkanischen Fluren [50] Hirsche mit stolz emporgerecktem Geweih zum Futterplatz ziehen – noch steckt in ihm nicht die unbändige

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ALEXANDREIS

nec pede firmus adhuc nec dentibus asper aduncis palpitat, et vacuum ferit inproba lingua palatum, effunditque prius animo quam dente cruorem, pigriciamque pedum redimit matura voluntas: Sic puer effrenus totus bachatur in arma, invalidusque manu gerit alto corde leonem, et preceps teneros audacia prevenit annos. Forte macer pallens incompto crine magister (nec facies studio male respondebat) apertis exierat thalamis, ubi nuper corpore toto perfecto logyces pugiles armarat elencos. O quam difficile est studium non prodere vultu! Livida nocturnam sapiebant ora lucernam, seque maritabat tenui discrimine pellis ossibus in vultu, partesque effusa per omnes articulos manuum macies ieiuna premebat. Nulla repellebat a pelle parentesis ossa. Nam vehemens studii macie labor afficit artus et molem carnis, et quod cibus educat extra interior sibi sumit homo fomenta laboris.

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BUCH I

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Sprungkraft des ausgewachsenen Löwen, noch sind die Beine schwach und die Fangzähne ungefährlich –, und das hungrige Maul in unersättlicher Gier brüllt und er in Gedanken schon das Blut seiner Opfer vergießt, noch bevor es die Zähne tatsächlich vermögen, [55] und der unbedingte Wille die noch vorhandene Ungelenkheit der Beine ausgleicht: So drängte der Junge mit Leib und Seele unbändig zu den Waffen, mit noch schwachen Händen ließ er, überzeugt von den eigenen Kräften, bereits den ausgewachsenen Löwen lebendig werden und unbesonnener Übermut eilte den noch kindlichen Jahren voraus. Hinführung zur Aristoteles-Rede (59–81) Aristoteles als Gelehrter (59–71) Abgehärmt, bleich und mit ungekämmten Haaren verließ der Lehrer gerade die Kammer [60] – sein Erscheinungsbild entsprach der auf sich genommenen Mühsal –, wo er neulich nach Abschluss der Arbeiten zur Logik zuletzt noch die Widerlegungen der sophistischen Trugschlüsse hieb- und stichfest gemacht hatte. Ach, wie schwierig es ist, sich die Mühen des Studiums nicht anmerken zu lassen! Das blasse Antlitz nämlich verriet die Arbeit unter nächtlicher Lampe, [66] im eingefallenen Gesicht traten die [67] Wangenknochen deutlich erkennbar hervor, [68] eine über den ganzen Körper zu Tage tretende, kraftlos wirkende Magerkeit setzte den Fingern ungemein zu. [65] Der ganze Mann bestand nur noch aus Haut und Knochen. [69] Denn die beschwerliche wissenschaftliche Arbeit verursacht an Körper und Gliedern Magerkeit, [70] und was die Speise von außen an Energie zuführt, verbraucht der Mensch im Inneren durch seine Konzentration auf die geistige Arbeit.

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ALEXANDREIS

Ergo ubi flammato vidit Philippida vultu, accusabat enim occultam rubor igneus iram, flagitat unde animus incanduit, unde doloris materiam traxit, que tanta efferbuit ira. Ille sui reverens faciem monitoris ocellos supplice deiecit vultu, pronusque sedentis affusus genibus senium lugere parentis oppressum imperio Darii patriamque iacentem conqueritur lacrimans lacrimisque exaggerat iras, atque hec dicentem vigili bibit aure magistrum:

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“Indue mente virum, Macedo puer, arma capesce. Materiam virtutis habes, rem profer in actum; quoque modo id possis, aurem huc adverte, docebo: Consultor procerum servos contempne bilingues et nequam, nec quos humiles natura iacere

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Alexanders erneute Klage (72–81) Als Aristoteles also Philipps aufgebrachten Sohn erblickte, verlangte er zu wissen – dessen feuerrotes Gesicht nämlich verriet den verborgenen Zorn –, aus welchem Grund er derart aufgewühlt sei, was seinen Unmut [75] hervorrufe und warum sein Zorn so heftig aufwalle. Alexander richtete gesenkten Hauptes – den Blickkontakt mit seinem Lehrer scheuend – in Demut die Augen zu Boden, und vornüber gebeugt und zu Füßen des sitzenden Aristoteles kauernd, begann er weinend zu klagen: Bedauernswert sei, bedrängt durch des Darius Reich, das Greisenalter des Vaters und das am Boden liegende Vaterland. [80] Mit Tränen steigerte er seinen Zorn, gleichwohl saugte er mit hellwachen Ohren die folgenden Worte seines Lehrers erwartungsfroh auf: Die Aristoteles-Rede (82–183) Definition des aristotelischen Tugendbegriffs (82–104) Entfaltung des Tugendpotenzials durch praktische Übung (82–84)

»Verinnerliche zuerst das Wesen eines Mannes, makedonischer Junge, und greife dann zu den Waffen. Du besitzt schon jetzt die Anlage zur Tugendhaftigkeit, schreite zu entsprechender Zeit zur Tat. Auf welche Weise du dies vermagst, höre mir gut zu, ich will es dich im Folgenden lehren: Sklaven von Natur aus (85–91)

[85] Wenn du der Fürsten Rat suchst, dann verachte heuchlerische Knechte und Taugenichtse, erhöhe nicht diejenigen, denen die Natur vorab bereits einen niedrigen Rang verordnet hat. Denn wer

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precepit, exalta, nam qui pluvialibus undis intumuit torrens, fluit acrior amne perhenni. Sic partis opibus et honoris culmine servus in dominum surgens, truculentior aspide surda obturat precibus aures, mansuescere nescit. Non tamen id prohibet rationis calculus, ut non exaltare velis, siquos insignit honestas, quos morum sublimat apex licet ampla facultas et patriae desit et gloria sanguinis alti. Nam si vera loquar, auferre pecunia mores non afferre solet; etenim inter cetera noctis monstriparae monstro nichil est corruptius isto. Quem vero morum non rerum copia ditat, quem virtus extollit, habet quod preferat auro, quod patriae vicium redimat, quod conferat illi et genus et formam. Virtus non queritur extra. Non eget exterius, qui moribus intus habundat. Nobilitas sola est animum que moribus ornat. Si lis inciderit te iudice, dirige libram iudicii. Nec flectat amor nec munera palpent

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durch heftigen Regen zu einem reißenden Bach angeschwollen ist, bricht sich wilder Bahn als ein beständig fließender Strom. So verschließt ein emporstrebender sklavenhafter Charakter nach Erreichen einer einflussreichen Stellung [90] allen Bitten grimmiger die Ohren als eine taube Natter und versteht es nicht, Milde walten zu lassen. Charakterstarke Personen (92–104)

Vernunftgründe sollen dich jedoch nicht daran hindern, diejenigen erhöhen zu wollen, die sich durch Tugendhaftigkeit und einen tadellosen Charakter hervortun, mag es ihnen auch an finanziellen Mitteln, [95] an Vaterlandsruhm und Glanz der eigenen erhabenen Abstammung fehlen. Denn um die Wahrheit zu sagen, Geld verdirbt gewöhnlich den Charakter und pflegt nichts zu dessen Ausbildung beizutragen. Denn keines dieser schrecklichen Wesen, welche die Nacht hervorbringt, ist scheußlicher als der Reichtum. Jener aber, den Charakterstärke, nicht Reichtum bereichert, [100] den Tugendhaftigkeit auszeichnet, besitzt etwas, das er dem Gold vorzieht, das die unvollkommene Abstammung ausgleicht, das jenem echten Adel und innere Schönheit verleiht. Tugendhaftigkeit erwirbt man sich nicht durch Äußerlichkeiten. Nicht bedarf derjenige äußerer Güter, den im Inneren eine ausgeprägte Charakterfestigkeit auszeichnet. Eine edle Gesinnung allein ist dem Lebenswandel eines Mannes förderlich. Die Einzeltugenden (105–183) Die Tugend der Gerechtigkeit (105–114)

[105] Wenn du in einem Streitfall als Richter fungierst, urteile gerecht. Nicht sollen dich Sympathie erweichen oder Geschenke dir

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nec moveat stabilem personae acceptio mentem. Muneris arguitur accepti censor iniquus. Munus enim a norma recti distorquet acumen iudicis et tetra involvit caligine mentem. Cum semel obtinuit viciorum mater in aula pestis avaritiae, que sola incarcerat omnes virtutum species, spreto moderamine iuris curritur in facinus, nec leges curia curat. Parce humili, facilis oranti, frange superbum.

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Castra move, turmas instaura, transfer in hostem. Grande aliquid si velle tenes, et posse tenebis. Si conferre manum, dum luditur alea Martis, debilis et nondum matura refugerit etas, te tamen armatum videant hilaremque catervae pugnantem, precibus monituque minisque tonantem. Profuit interdum dominis pugnare iubendo. Nam dum castra metus calcat, dum languida terror

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schmeicheln noch soll das gesellschaftliche Ansehen einer Person deine standhafte Haltung beeinflussen können. Einem ungerechten Richter wird grundsätzlich Bestechlichkeit vorgeworfen. Ein Geschenk nämlich korrumpiert die Unvoreingenommenheit [110] eines Richters und schadet dessen Urteilsvermögen. Wenn nur ein einziges Mal die Seuche der Habgier – die Mutter aller Laster –, die allein alle Tugenden zu korrumpieren vermag, sich im Gerichtssaal behauptet, schlägt man – hat die Herrschaft des Rechts erst einmal an Bedeutung verloren –, den Weg des Verbrechens ein und das Gericht selbst hält sich nicht mehr an die eigenen Gesetze. Die Tugend der angemessenen Zürnkraft (115)

[115] Den Demütigen schone mit angemessener Zürnkraft, mit angemessener Zürnkraft zerschmettere den Hochmütigen. Die Tugend der Tapferkeit (116–143) Schnelligkeit und Entschlossenheit (116–117)

Mit deinem Heer rücke vor, schließe deine Reihen, gehe zum Angriff über. Wenn du den echten Willen zu etwas Großem hast, wirst du dein Ziel auch erreichen können. Überzeugungskraft (118–127)

Sollte sich nach Kriegsbeginn dein schwaches und noch unreifes Alter scheuen, den Kampf zu beginnen, [120] sollen deine Truppen dich dennoch als einen Feldherrn erblicken, der heiter im Waffengewand in den Kampf zieht, der seine Soldaten zu überzeugen sucht, indem er mit Bitten, Mahnungen und Drohungen seine Stimme ertönen lässt. Bisweilen hat es Anführern schon geholfen, einfach nur den Befehl zum Kampf zu geben. Denn wenn Furcht das

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agmina prosternit, dum corda manusque vacillant, si gravis hortatu preceptor inebriat aures, se timor absentat, et sic formidine mersa irruit in ferrum monitis effrena iuventus. Hostibus ante alios primus fugientibus insta. Quodsi forte tuus repetat tentoria miles, agmina retrogrado fugiens hostilia gressu, ultimus instando fugias, videantque morantem, indecoresque fuga pudeat sine rege reverti. Interea metire oculis, quot milibus instent, quot peditum turmae, quot fusi e vallibus assint, quot solem galeis equites clipeisque retundant, nec te terruerit numerus. Si molliter illos videris instantes, rue primus in arma sequentum, primus equum verte, pressoque relabere freno. Hic vigor emineat tuus affectusque tuorum et fervens animus durique peritia Martis.

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Heerlager lähmt, mangelndes Selbstbewusstsein die Reihen niederdrückt, Herzen und Hände zittern, [125] so stürzt sich umgekehrt nach abgelegter Furcht die durch gezielte Ermunterungen entfesselte Jugend in den Kampf, sofern der durch sein Motivationstalent angesehene Anführer die Ohren seiner von Angst befreiten Soldaten berauscht. Vorbildfunktion (128–132)

Verfolge als erster vor allen anderen den fliehenden Feind. Wenn aber möglicherweise dein Heer das schützende Lager erreichen möchte [130] und den Rückzug vor dem feindlichen Heer antritt, bleibe stehen und weiche als letzter zurück. Sie sollen dich ausharren sehen und entehrt durch ihren eigenen Rückzug sich schämen, ohne den König zurückgekehrt zu sein. Strategisches Vermögen (133–136)

Beobachte genau, wie viele Tausende drohen, wie viele Abteilungen an Fußsoldaten, wie viele in den Tälern verteilt sind, wie viele Reiter mit ihren blitzenden Helmen [135] und Schilden die Augen blenden. Nicht soll dich deren Anzahl in Angst und Schrecken versetzen. Handlungsschnelligkeit (136–143)

Wenn du sehen solltest, dass der Feind dich nur zaghaft verfolgt, stürme als erster auf die Reihen der Verfolger zu, wende als erster dein Pferd gegen den Feind und mache kehrt mit straff angezogenen Zügeln. Hier trete hervor deine Kraft und zeige sich dein gutes Verhältnis zu deinen Soldaten [140] ebenso wie dein feuriger Mut und deine Erfahrung in einem grausamen Schlachtgetümmel. Hier sollen sich die Pferde in direktem Kampf gegenüberstehen, hier soll

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Hic equus opponatur equis, hic ensibus ensis, hic clipeus clipeis, hic obruta casside cassis. Vix liceat victis victori offerre tryumphum. Cumque vel intraris victis tradentibus urbem, vel, si restiterint, portas perfregeris urbis, thesauros aperi, plue donativa maniplis, vulneribus crudis et corde tumentibus egro muneris infundas oleum, gazisque reclusis unge animos donis, aurique appone liquorem. Hec egrae menti poterit medicina mederi. Sic inopi dives largusque medetur avaro.

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At si forte animo res non respondeat alto, copia si desit vel si minuatur acervus, non minuatur amor, non desit copia mentis. Allice pollicitis promissaque tempore solve.

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Schwert auf Schwert treffen und Schild auf Schild, hier soll das Schlachtfeld von Helmen übersät sein. Kaum dürften die Besiegten dem Sieger einen Triumphzug antragen. Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 1 (144–151)

Und wenn du eine Stadt betreten solltest, nachdem die Besiegten sie übergeben haben, [145] oder du bei auftretendem Widerstand die Tore der Stadt gewaltsam durchbrechen solltest, öffne die Schatzkammern, überhäufe deine Soldaten mit Geschenken, gieße das Öl des Geschenks in die blutenden und durch das leidende Herz geschwollenen Wunden, salbe die Gemüter nach Öffnung der Schatzkammer mit Geschenken und füge den heilenden Saft des Goldes hinzu. [150] Diese Arznei ist in der Lage, ein angegriffenes Gemüt zu heilen. So bringt auch der Reiche dem Armen Heilung und der Gebefreudige dem Gierigen. Die Tugend der angemessenen Zuwendung (152–154)

Wenn aber das Geldvermögen dieser hohen Gesinnung vielleicht nicht entsprechen sollte, wenn es an Reichtum mangeln oder wenn der Haufen an Gold schwinden sollte, soll es nicht am guten Verhältnis zu deinen Soldaten, nicht an der angemessenen Zuwendung deiner Person mangeln. Die Tugend der Wahrhaftigkeit (155)

[155] Binde sie mit Versprechungen an dich und löse diese rechtzeitig ein.

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Munus enim mores confert, irretit avaros, occultat vicium, genus auget, subicit hostem. Non opus est vallo quos dextera dapsilis ambit. Nam seu pax vigeat seu rupto federe pacis regnet et in toto discordia seviat orbe, principibus dubiis subitumque timentibus hostem, est dare pro muro et solidi muniminis instar. Non murus, non arma ducem tutantur avarum. Cetera quid moneam? Sed non te emolliat intus prodiga luxuries, nec fortia pectora frangat mentis morbus amor, latebris et murmure gaudens. Si Bacho Venerique vacas, qui cetera subdis, sub iuga venisti: Periit delira vacantis libertas animi. Veneris flagrante camino mens hebet interius. Rixas et bella moveri imperat et suadet rationis vile sepulchrum ebrietas. Rigidos enervant hec duo mores. Parca voluptates sit eis explere voluntas, qui leges hominum et mundi moderantur habenas. Dirigat ergo tuos studio celebrata priorum actus Iusticia, et per te revocetur ab alto ultima, que superum terras Astrea reliquit.

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Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 2 (156–163)

Ein Geschenk nämlich unterstützt den Gehorsam, fängt die Habgierigen ein, lässt deren fehlerhaften Charakterzüge nicht wirksam werden, vergrößert die Schar deiner Anhänger und unterwirft dir somit den Feind. Nicht haben jene Feldherrn eine Schutzwehr nötig, die eine gebefreudige Hand haben. Denn ob der Frieden erblüht oder nach Bruch des Friedensvertrags [160] die Zwietracht auf dem ganzen Erdkreis herrscht und wütet, ist es die Aufgabe der Fürsten, die sich in einer misslichen Lage befinden und einen plötzlichen Angriff des Feindes befürchten, anstelle einer Mauer und trotzdem gleich einer festen Bastion die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit zu beweisen. Nicht nämlich können eine Mauer noch Waffen einen geizigen Anführer beschützen. Die Tugend der Besonnenheit (164–182)

Welchen Rat kann ich dir sonst noch geben? Nicht doch soll dich [165] verschwenderische Genusssucht erweichen, auch nicht zerbrechen soll dein tapferes Herz das Bedürfnis nach einer Liebschaft – eine Krankheit der Seele –, die vornehmlich den Rückzug im Zwiegespräch und in der Zweisamkeit sucht. Wenn du dich Bacchus und Venus hingibst, hast du dich selbst unterjocht, auch wenn du auf alles andere verzichtest: Zugrunde gegangen ist dann die ungenutzte Freiheit eines müßigen Geistes. Wenn das Feuer der Venus lodert, [170] wird das klare Denken stumpf. Die Trunksucht, verachtenswertes Grab der Vernunft, gibt dir energisch den Rat, Streitereien und Kriege vom Zaun zu brechen. Diese beiden Laster bringen auch starke Charaktere zu Fall. Jene, die als Herrschende Menschen Gesetze geben, dürfen sich nur selten den Lüsten hingeben. [175] Der bei deinen Vorfahren hochgeachtete Gerechtigkeitssinn soll deine Taten lenken, durch dich soll Astraea wieder vom Himmel herabgerufen werden, die einst als letzte Gottheit die Erde verließ. Nicht

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Nec desit pietas pudor et reverentia recti. Divinos rimare apices, mansuesce rogatus, legibus insuda, civiliter argue sontes, vindictam differ, donec pertranseat ira, nec meminisse velis odii post verbera. Si sic vixeris, eternum extendes in secula nomen.” Talibus informans monitor virtutis alumpnum imbuit irriguam fecundis imbribus aurem et thalamo cordis mores impingit honestos. Ille libens sacris bibulas accommodat aures vocibus, extremae commendans singula cellae. Mens igitur laudum stimulis sibi credula fervet. Germinat intus amor belli regnique libido. Iam timor omnis abest, iam spes preiudicat annis, iam fruitur voto, iam mente protervit in hostem, iam regnat, iam servit ei quadrangulus orbis. Ergo ubi que ferulae pueros emancipat etas advenit, Macedo civiliter induit arma non sibi sed patriae, vivitque in principe civis, tyro quidem, sed corde gygas, sed pectore miles emeritus. Tunc indomitum tunc tanta videres velle Neoptolemum que vix expleret Achilles:

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fehle dir Rechtschaffenheit, Anstand und die Achtung vor dem Rechten. Durchforsche die göttlichen Schriften, zeige Milde, wenn man dich darum bittet, [180] halte dich an die Gesetze, bezichtige die Schuldigen behutsam, schiebe die Bestrafung auf, bis sich dein Zorn verzogen hat, nicht sollst du nach dem Vollzug der Strafe noch an den alten Hass denken. Die Tugend des angemessenen Stolzes (182–183)

Wenn du so leben solltest, wirst du ewigen Ruhm ernten.« Ausleitung der Aristoteles-Rede (184–202) Mit solchen Worten unterwies der Lehrer der Tugend seinen Schüler, [185] benetzte das mit fruchtbarem Regen bewässerte Ohr und versenkte im innersten Herzen die angesehenen Sitten. Bereitwillig nahm jener mit dürstenden Ohren die heiligen Worte auf und verwahrte jeden einzelnen Ratschlag in tiefster Seele. Sein Herz also brannte voller Selbstvertrauen durch den Ansporn zu Ruhmestaten. [190] Kampfeslust wurde in ihm wach und das Verlangen nach Herrschaft. Schon war jegliche Befürchtung wie weggeblasen, schon griff er voller Hoffnung im Geiste den Ereignissen voraus, schon ging in der Vorstellung sein Wunsch in Erfüllung, schon streckte er im Geiste die Feinde nieder, schon herrschte er und schon waren ihm untertan die vier Ecken der Erde. Sobald also das Alter erreicht war, das die Jungen der Rute entfremdet, [195] legte der Makedone nicht für sich selbst, sondern für das Vaterland öffentlich die Waffen an, es lebte der Bürger im Fürsten, noch ein Rekrut zwar, im Herzen aber ein Gigant und erfahrener Kriegsveteran. Man hätte sich zur Zeit Alexanders rückblickend vor Augen führen können, dass der unüberwindliche Neoptolemus damals im trojanischen Krieg so große Taten vollbringen wollte, die kaum sein Vater Achilles voll-

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Non solum in Persas, quos contra iusta querelae causa sibi fuerat, parat insanire, sed ipsum et totum, si fata sinant, coniurat in orbem. Urbs erat auctoris nomen sortita Chorintus, quam situs ipse loci, quam rerum copia maior, quam rerum et populi, quam regum firma voluntas sanxerat, ut regni caput et metropolis esset.

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Hanc, Ewangelico propulsans ydola verbo, Paulus ad aeterni convertit pascua veris. Hic igitur Macedo, ne iura retunderet urbis post patris occasum, sacrum diadema verendo suscipiens capiti sceptro radiavit eburno.

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bracht hat: [200] Nicht nur gegen die Perser nämlich, gegen die er berechtigte Gründe zur Klage hatte, traf er Vorkehrungen loszuschlagen, sondern gegen die ganze Welt hatte er sich verschworen, wenn es das Schicksal zulassen sollte. Die Legitimierung von Alexanders Herrschaft in Griechenland (203–267) Alexanders Erhebung zum Hegemon (203–238) Beschreibung von Korinth als Ort der Zeremonie (203–206)

Nach ihrem Gründer war einst die Stadt Korinth benannt worden, die ihre geographische Lage, ihr überreiches Angebot an Gütern aller Art, [205] ihr großer Wohlstand, ihre hohe Bevölkerungszahl sowie der feste Wille der Könige Griechenlands dazu bestimmt hatten, Hauptstadt und Zentrum des Reichs zu sein. Paulus in Korinth (207–208)

Paulus hat diese Stadt später in Weiden des ewigen Frühlings verwandelt, indem er mit dem Evangelium die Heiden vertrieb. Die Zeremonie der Erhebung Alexanders zum Hegemon (209–211)

Hier also setzte sich der Makedone, um [210] nach dem Tod seines Vaters keinerlei Rechte der Stadt zu schmälern, das heilige Diadem auf das ehrwürdige Haupt und erstrahlte durch das elfenbeinerne Szepter.

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Stat procerum medius, stipat latus eius utrumque canities veneranda patrum mitisque senectus, quorum iuris erat toti disponere regno, per quos insidiis obsistitur obice vallo consilii, pociusque valent interprete lingua quam pugnante manu tractare negocia belli et gerere armorum curas quam cingier armis. Eminus assistunt pauloque remotius illi effrenae mentis, quorum sub pectore robur imperat ingenio, et Nestor succumbit Achilli. Principis a facie, vatum grege cinctus inermi, sedit Aristotiles molli velatus amictu, iam rude donatus fatisque prementibus annos curvus, et inpexos castigat laurea crines. Contemplans igitur Macedo per singula vires pascitur intuitu procerum, et que maxima dudum crescere non poterat vehemens audacia, crevit regis ad aspectus, et quem conceperat ante ampliat affectum, cordisque reverberat aures applausus populi, maioraque viribus audet. Accedit facies animo, mentique profundae respondent oculi, totoque accenditur ore. Sic fuit ex facili regem cognoscere promptum: Ornamenta licet regi regalia desint, lucidus obrizo crinalis circulus auro

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Weise Berater und leidenschaftliche Krieger (212–225)

In der Mitte des Adels stehend, umgab ihn zu beiden Seiten hin die geistige Reife und die Milde des Greisenalters der Väter, deren Recht es war, im ganzen Reich für Ordnung zu sorgen, und durch die aufgrund des hemmenden Walls ihrer Beschlüsse [215] heimtückischen Plänen Einhalt geboten wurde. Eher vermochten sie mit der Kraft ihrer Worte als mit der kämpfenden Hand die Geschäfte des Kriegs zu führen, eher die Sorgen des Kriegs auf sich zu nehmen als selbst in den Krieg zu ziehen. Aus der Ferne und ungezügelter Leidenschaft schon ein wenig entrückt, halfen jene, in deren Brust die geistige Stärke das Temperament im Zaum hielt, [220] und wahrlich ließ dementsprechend Nestor einem Achilles den Vortritt. Im Blickfeld des Anführers, umgeben von der waffenlosen Schar der Weisen, saß auch Aristoteles, bekleidet mit einem behaglichen Gewand, aus dem Dienst schon entlassen und vom unaufhaltsamen Alter gebeugt, [225] seine ungekämmten Haare bändigte der Lorbeer. Alexander als Herrscher im Wartestand (226–238)

Als der Makedone nun seine Streitmacht im Einzelnen betrachtete, lachte ihm beim Anblick des Adels das Herz. Umgekehrt wuchs beim Anblick des Königs die schon längst gewaltige Kühnheit des Adels, die eigentlich nicht weiter zu wachsen imstande war. Alexanders Anblick vermehrte noch den Zuspruch, den er zuvor schon empfangen hatte, [230] der Jubel des Volkes klang im Inneren seines Herzens nach und er wollte etwas wagen, was eigentlich alle Kraft überschritt. Diese innere Haltung zeigte sich in seinem Gesichtsausdruck, die Augen spiegelten sein heftiges Verlangen wider und entflammt war das ganze Antlitz. Daran konnte man leicht des Königs Entschlossenheit ablesen: [235] Auch wenn dem König die entsprechenden Herrschaftsinsignien fehlten – ein aus reinem Gold bestehender glänzender Haarreif etwa und ein Purpurgewand, das durch

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et que flammigeris ignescit purpura gemmis, sola tamen loquitur vultus reverentia regem. Mensis erat cuius iuvenum de nomine nomen, a quo vitis habet quod floreat, uva propinet, quod bibat autumpnus, et quod sibi bruma reservet, cum tumet in fructum seges ardua; iamque parabat retrogradum Phebus radiis incendere Cancrum, cum Macedo assensu pariter vulgique ducumque in regem erigitur, lectosque ad bella quirites dividit in turmas, quorum bis milia bina quingentique equitum numerus fuit. Omnibus idem impetus armorum, sed eos discriminat etas. Nec solum iuvenes, sed quorum cana vetustas testis miliciae et probitas sub patre probata, legit Alexander. Ductor princepsque cohortis nullus erat qui non sexagenarius esset, usque adeo positis ut si quis cominus armis principia inspiceret castrorum sive quiritum, prefectos equites non crederet, immo senatum. Preterea peditum quater octo milia bello instaurat, quibus arma sudes et dacha bipennis, et que letifero contorta volumine glandes funda iacit, gladiusque et vitae prodigus arcus, lunatique orbes et previa mortis harundo; incuciunt hastas verubusque minantur acutis. Pectora thorace et cervix secura galero.

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die darauf befestigten leuchtenden Edelsteine erglüht –, verkündete die Ehrwürdigkeit der Miene allein den wahrhaften König. Alexanders Krönung zum makedonischen König (239–267) Schon war der Monat Juni gekommen, der sich vom Namen der Jünglinge ableiten lässt, [240] von dem der Weinstock seine Blüten bekommt und die Traube den Wein, den der Herbst trinkt und der Winter vorrätig hält und in welchem der hochragende Weizen erntereif wird. Und schon schickte sich Phoebus mit seinen Strahlen an, den zurückweichenden Krebs zu bescheinen, als der Makedone mit Zustimmung des Volkes und der adligen Anführer einstimmig [245] zum König erhoben wurde und daraufhin die zum Krieg ausgewählten Landsleute in Reiterschwadronen mit insgesamt fünftausend berittenen Kämpfern einteilte. Alle waren vom selben Kampfeseifer beseelt, doch unterschied sie ihr ungleiches Alter. Denn nicht nur junge Männer wählte Alexander aus, sondern auch solche, deren ergrautes Haar [250] den Kriegsdienst und die bereits unter dem Kommando des Vaters nachgewiesene Tüchtigkeit bezeugte. In seinem Gefolge gab es nicht einen einzigen Anführer oder Ratgeber, der jünger als sechzig Jahre gewesen wäre, so dass man allenthalben glauben musste, wenn jemand das Quartier der Generäle oder besser der waffenlosen Quiriten aus der Nähe gemustert hätte, nicht [255] Reiterpräfekte zu erblicken, sondern vielmehr einen Senat. Außerdem stellte er für den Krieg zweiunddreißigtausend Fußsoldaten bereit, denen er als Waffen spitze Pfähle und die dakische Doppelaxt gab, zudem die kraftvolle Schleuder, die in todbringender Krümmung Bleikugeln fliegen lässt, das Schwert und den das Leben nicht achtenden Bogen, [260] sichelförmge Schilde und die dem Tod vorauseilenden Pfeile. Sie schleuderten Speere und drohten mit spitzen Lanzen. Mit einem Harnisch schützten sie ihre Brust und mit einer ledernen Kappe den Nacken. Mag er diese

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Quos licet armarit telo prestantior omni virtus, tam voluisse tamen supponere mundum quam potuisse sibi tam paucis milibus, eque miror Alexandrum, monstroque simillima fati hec series, tot regna uni submittere paucos. In tanto rerum strepitu mundique fragore, cum tremeret totus variis rumoribus orbis, subtrahere auxilium, dubiumque lacescere Martem, detrahere absenti suadente Demostene primi Cicropidae et vires opponere viribus ausi. Estuat auditis Macedo. Maturius ergo castra movere iubet Danais. Sic cominus hosti inprovisus adest et muris applicat alas. Interea senibus in Palladis arce receptis Eschinus eloquitur ceptaeque Demostena litis arguit et pace ostendit nil tucius esse. Dum sibi mandatas legatio mutua partes exsequitur, patriae tactus suplicantis amore rex fedus renovat pacemque redintegrat urbi. Artibus ingenuis studiisque vacare sereno annuit his vultu Martemque remittit agendum.

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mit Geschossen bewaffnet haben, besser als jede Waffe war ihre Tugendhaftigkeit. Beides erstaunt mich in gleichem Maße, nämlich dass Alexander nicht nur den Willen besaß, [265] mit so wenigen Tausend Soldaten die Welt zu erobern, sondern dazu tatsächlich auch in der Lage war. Und doch stellt es einen seltsamen Verlauf des Schicksals dar, dass nur wenige Soldaten einem einzigen Mann so viele Reiche unterworfen haben. Die Sicherung der Macht Alexanders in Griechenland (268–348) Alexander verschont Athen (268–283) Mitten in diesem gewaltigen Aufruhr und Getöse der Welt, als der ganze Erdkreis von verschiedenen Gerüchten erzitterte, wagten es die Athener auf Anraten des Demosthenes als erste, Alexander in dessen Abwesenheit [270] ihre Unterstützung zu entziehen, einen ungewissen Krieg vom Zaun zu brechen und die gewaltsame Auseinandersetzung zu suchen. Der Makedone war außer sich, als ihm dies zu Ohren kam. Also befahl er den eigenen Männern, früher als geplant das Lager abzubrechen. So erschien er für den Feind [275] unvermutet vor Ort und umschloss die Mauern Athens mit seinen Reiterschwadronen. Unterdessen äußerte sich Aeschines, nachdem er die Alten in der Burg der Pallas versammelt hatte, beschuldigte Demosthenes des begonnenen Streits und zeigte auf, dass nichts sicherer sei als der Friede. Während die Gesandtschaften beider Seiten ihre ihnen aufgetragenen Aufgaben [280] erfüllten, erneuerte der König, ergriffen von der Zuneigung zur bittenden Heimat, den Bund und stellte den Frieden für die Stadt wieder her. Mit heiterer Miene gestattete er den Athenern, sich den heimischen Künsten und Wissenschaften zu widmen, und verzichtete auf den eigentlich schon geplanten Krieg.

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Inde ubi discordes iterum sibi iunxit Athenas, impiger ad veteres rapto volat agmine Thebas. Aonidae muros iuvenum stipante corona armati assistunt portasque intrare volenti obiciunt. Quem si dominum patienter habere, si prece non armis vellent occurrere, si sic ut decuit ceptae fraudis scelerisque pigeret, fortassis poterant torrentem inhibere furoris incolomemque statum vitae veniamque mereri. Sed quoniam etatem simul et contempnere regem presumpsere sibi, merito sensere tyrannum. Dum super excidio Macedo deliberat urbis, iam populo variis afflicto cladibus assunt collecti satrapae e vicinis urbibus, omne qui genus accusent recolantque ab origine gentem intentam sceleri et Grecorum cede madentem: Progenitos serpente patres semperque minores cordibus infusum patrium servasse venenum. “Quis fastus Niobes, quis sparsam sanguine nati femineum nescit ululasse per agmen Agauen? Quis flammas Semeles, quis regem lumine cassum nesciat in proprios revolutum turpiter ortus, preterea partos infando semine dampno tocius Europe sibi concurrisse gemellos?” His accensa super flagrescit principis ira,

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Alexander bestraft Theben (284–348) Als er daher von neuem den Bund mit dem zunächst abtrünnigen Athen geschlossen hatte, [285] marschierte er rastlos mit eilendem Heer zum uralten Theben. Dicht gedrängt auf den Mauern formierte sich bewaffnet die zahlreich angetretene Jugend der Thebaner und verwehrte dem eintrittswilligen Alexander mit verschlossenen Toren den Zugang zur Stadt. Wenn sie den makedonischen König als Herrscher anerkannt hätten, wenn sie ihm mit Bitten und nicht mit Waffen begegnet wären, wenn sie den begonnenen Betrug und das Verbrechen, [290] wie es angemessen gewesen wäre, bereut hätten, wären sie vielleicht in der Lage gewesen, die Flut seines Zorns aufzuhalten, ihr zu diesem Zeitpunkt noch unversehrtes Leben zu retten und dessen Gnade zu verdienen. Weil sie aber die Frechheit besaßen, die Zeichen der Zeit und den König zugleich zu missachten, bekamen sie zu Recht die Faust des Königs zu spüren. [295] Während der Makedone noch darüber nachdachte, die Stadt überhaupt zu vernichten, unterstützten bereits aus Nachbarstädten zusammengezogene Satrapen die von mannigfachem Unglück heimgesuchten Thebaner, auch wenn sie deren ganzes Geschlecht anklagten und sich von neuem daran erinnerten, dass dieses Volk vom ersten Ursprung an auf Freveltaten bedacht war und vom Blut der Griechen troff: [300] Einem Drachen entstammten die Ahnen und auch die Nachfahren würden noch immer das in die Herzen geströmte Gift ihrer Vorfahren in sich tragen. »Wer kennt nicht Niobes Stolz, wer nicht die vom Blut ihres eigenen Sohnes besudelte Agaue, die in bacchantischer Raserei aufheulte? Wer weiß nicht vom Feuertod der Semele und von jenem geblendeten König, [305] der auf schändliche Weise zum eigenen Ursprung zurückgekehrt ist, wer kennt außerdem nicht das von scheußlichem Samen gezeugte Brüderpaar, das zum Schaden ganz Europas gegeneinander kämpfte?« Der ohnehin schon entfachte Zorn Alexanders flammte aus diesen Gründen noch heftiger auf und er gab seinen Leuten den

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accingique suos pugnae iubet. Inde parato mille equitum cuneo tumidam circumsonat urbem. Menibus arcere hos cives nituntur, eosque plurimus involvit telorum cominus imber. Nec minus interea pedites succidere muros vectibus incussis validisque ligonibus ardent. Hos ne missilibus deterreat hostis ab alto, ut tuti lateant, alii testudinis instar ictibus arcendis iunctis umbonibus instant. Iam pede subducto, iam mole minante ruinam, precipiti saltu qui vivi forte supersunt Aonidae fugiunt seque in secreta receptant. At Danai saxis cedentibus hoste remoto per murum fecere viam. Ruit omnis in urbem turba. Perit nullo discrimine sexus et etas omnis. Adest etiam ductor Pelleus, et ipse invehitur Thebas armis stipatus, eoque accesit Cleades, fide conspicuus, cecinitque regi dulce melos lyricisque subintulit ista: “Clara deum proles Macedo, fortissime regum, cui favet astrorum series, cui quatuor orbis climata despondent filo properante sorores, cuius, ut invictus victis et parcere scires supplicibus victor et debellare rebelles, divinis tociens monitis armavit anhelum pectus Aristotiles, tune hanc, rex, funditus urbem exicio delere paras? His sedibus ortus Liber, thuricremis sua quem colit India templis.

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Befehl, sich für den Kampf bereitzumachen. Darauf stellte er die Fußsoldaten in einer keilförmigen Schlachtordnung auf, [310] eintausend Reiter preschten lärmend um die hochmütige Stadt. Die Bürger der Stadt bemühten sich eifrig, die makedonischen Feinde von ihrer Stadtmauer fernzuhalten, ein dichter Geschosshagel prasselte aus unmittelbarer Nähe auf die Makedonen nieder. Nicht weniger brannten unterdessen die Fußsoldaten darauf, die Mauern mit Schlägen von Brechstangen und kräftigen Hacken an deren unterem Ende zu durchbrechen. [315] Damit der Feind sie nicht von oben mit Geschossen von dieser Arbeit abhielt, und um vor diesen geschützt zu sein, umringten andere Makedonen ihre Kameraden zur Abwehr des Geschosshagels gleich einer Schildkröte ganz dicht mit geschlossenen Schilden. Als die Mauer an ihrem Fuß bereits unterhöhlt war und schon einzustürzen drohte, [320] ergriffen diejenigen von ihnen, die zufällig am Leben geblieben waren, kopfüber die Flucht und zogen sich in geheime Schlupfwinkel zurück. Nachdem aber das Mauerwerk endgültig nachgegeben hatte und der Feind zurückgeschlagen war, bahnten sich die Griechen den Weg durch die Trümmer. Die ganze griechische Heerschar drängte in die Stadt. Männer und Frauen, Jung oder Alt, ohne Unterschied fielen sie alle. Auch der makedonische Anführer selbst war unmittelbar vor Ort, [325] von seinem Heer umringt betrat er die Stadt der Thebaner. An diesen trat Cleades heran, an der Lyra erkennbar, und sang dem König eine liebliche Weise und fügte seiner Ode folgende Worte hinzu: »Makedone, berühmter Götterspross, tapferster aller Könige, dem die Sterne gewogen sind, dem die Parzen mit eiligem Faden die vier Enden der Welt [330] versprechen, dessen stürmisches Herz Aristoteles so oft mit göttlichen Mahnungen wappnete, auf dass du es als unbesiegter König verstehst, um Gnade flehende Besiegte zu schonen und als Sieger Aufständische niederzuschlagen, willst du, o König, diese Stadt wirklich [335] dem Erdboden gleichmachen? Von hier stammt immerhin Bacchus, den sein Indien mit Tempeln verehrt, in denen man Weihrauch entzün-

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Heccine terra deos tulit auctoremque tuorum nutriit Alcidem, cuius supereminet omnes edomitum tociens laus derivata per orbem? En muri et structae modulis Amphionis arces! Disce pius victis, vincendis esse cruentus. Instabile est regnum quod non clementia firmat. At si tanta tibi cives torquere voluntas, soli parce solo divisque ignosce locorum.” Finierat Cleades, sed stat sententia regis, propositique tenax irae permittit habenas, equarique solo turres ac menia primo imperat et reliquam Vulcano fulminat urbem. Postquam digna satis compescuit ultio Dircen iamque novo didicit servire Boetia regi, dispositis Macedo pariter patriaque domoque in Darium sevire parat. Minus ergo peritos armorum, minus audaces famaeque minoris segregat et patriis tutelam deputat Argis. Inde rates variis rerum speciebus honustat, nec tanto libuit paucas adhibere labori. Namque quater ductus, nisi ter senarius obstet, navigii numerum quinquagenarius equat.

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det. Brachte dieses Land nicht auch Götter hervor und zog es als Ahnherrn deines Volkes nicht auch den Alkiden auf, dessen Ruhm – auf dem so oft bezwungenen Erdkreis verbreitet – alle überragt? [340] Siehe da, die Mauern und den von Amphions Liedern errichteten Burgberg. Lerne, Besiegten mit Milde zu begegnen und mit Härte jenen entgegenzutreten, die noch Widerstand leisten. Ohne festen Stand ist ein Reich, das nicht von der Milde befestigt wird. Aber wenn du Thebens Bürger unbedingt quälen willst, schone zumindest den Boden und lass Nachsicht walten gegenüber den heimischen Göttern.« [345] Cleades’ Rede änderte jedoch nichts an der Meinung des Königs. Beharrlich hielt er am ursprünglichen Vorsatz fest, ließ seinem Zorn freien Lauf und gab den Befehl, zuerst die Türme und Mauern dem Erdboden gleichzumachen, dann steckte er den übrigen Teil der Stadt in Brand. Der Transfer von Europa nach Asien (349–395) Vorbereitungen (349–358) Nachdem die angemessene Strafe das Volk der Thebaner gebändigt [350] und Böotien von nun an verstanden hatte, dem neuen König zu dienen, schickte sich der Makedone nach der Ordnung von Haus und Heimat an, gegen Darius loszuschlagen. Infolgedessen sortierte er diejenigen Männer aus, die an Waffen weniger geübt, weniger kühn und von geringerem Ansehen im Kriegshandwerk waren, und übertrug ihnen die Aufgabe, das heimische Griechenland zu beschützen. [355] Darauf ließ er die Schiffe mit verschiedenen Vorräten beladen. Nicht wäre es ratsam gewesen, zu wenige Schiffe für eine so gewaltige Aufgabe hinzuzuziehen: Die Streitmacht zur See bestand wahrhaftig aus nicht weniger als einhundertzweiundachtzig Schiffen.

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Iamque ubi velivolum tenuit mare libera classis intenditque fugam nec iam ulla momordit harenam anchora, cum patrio discederet incola portu, stridula discussit concentibus aera miris vox hominum presaga mali, mixtusque tubarum infremuit clangor, totumque remugiit equor. O patriae natalis amor, sic allicis omnes. O quantum dulcoris habes! Fugitiva per altum classis dum raptim patrie furatur alumpnos, sponte licet properent Persarum invadere fines nec trahat invitos ad predae premia ductor, sola tamen revocat patriae dulcedo volentes nec sinit a patria divelli mentis acumen sed dulces oculos animumque retorquet ad Argos, donec ab intuitu longe decrescere visus Europae defecit apex portusque recessit. Tanta sub invicto bellandi corde voluntas, tanta parentis erat oblivio, tanta sororum. Solus ab Inachiis declinat lumina terris effrenus Macedo. Qui cum Cilicum prius arva collibus eductis Asiamque emergere vidit, gaudet, et angustum vix gaudia tanta receptat pectoris hospicium. Remis incumbere nautas, nec solum tensis ultra se credere velis, leticia dampnante moram iubet. Ocius illi haut segnes per transtra parant assurgere dicto

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Alexanders Überfahrt nach Kleinasien (359–385) Als die Flotte schon mit gelösten Tauen ins segelbesetzte Meer stach, [360] eine rasche Fahrt anstrebte und kein Anker mehr den Meeresboden zerwühlte, als die Mannschaft sich vom heimatlichen Hafen entfernte, zerriss plötzlich eine den Menschen Unheil verkündende Stimme die von seltsamen Klängen schrillende Luft, das Schmettern von Trompeten mischte sich schallend darunter und das ganze Meer hallte wider von diesen Klängen. [365] Ach, angeborene Liebe zur Heimat, so ziehst du alle in deinen Bann. Ach, welch eine gewaltige Anziehungskraft du besitzt. Als die rastlose Flotte die Söhne der Heimat eilends über das Meer entführte – auch wenn sie aus freien Stücken eifrig den Plan umsetzten, in das Gebiet der Perser einzufallen und ihr Anführer sie nicht gegen ihren Willen für den Lohn der Kriegsbeute wegführte –, [370] rief sie doch allein der Liebreiz der Heimat ungeachtet ihres eigentlichen Vorhabens zurück und gestattete es ihnen nicht, sich innerlich von den väterlichen Gefilden zu lösen, sondern wendete die Augen und die Gedanken solange zurück zum lieblichen Griechenland, bis beim Blick in die Ferne die immer kleiner werdende Landspitze Europas und auch der Hafen ganz ihrem Blickfeld entschwunden waren. [375] So groß war der Wille in ihrem unerschütterlichen Herzen, diesen Krieg auch tatsächlich zu führen, so schwer war es aber auch, Eltern und Geschwister vergessen zu müssen. Allein der entfesselte Makedone wandte seine Augen vom Land des Inachus ab. Als dieser zuerst die Hügellandschaft Kilikiens und Kleinasien auftauchen sah, [380] empfand er große Freude, kaum war die enge Behausung seines Herzens in der Lage, so gewaltige Glücksgefühle aufzunehmen. Da seine Freude keinen weiteren Aufschub duldete, gab er den Seeleuten den Befehl, sich in die Ruder zu legen und sich nicht länger ausschließlich auf die vom Wind gespannten Segel zu verlassen. Auf den Befehl ihres Anführers hin richteten sich jene in Windeseile

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principis et multo castigant verbere pontum. Tantum aberat classis portus statione, lapillum quantum funda potest celeri transmittere iactu. Eminus emissa Peleus harundine terram vulnerat hostilem, faustumque hoc predicat omen tota cohors, letoque ferunt ad sydera plausu. Nec mora litoreis inmergitur uncus harenis. Exonerant primo naves celerique volatu exiliunt viridique locant in litore castra. Deinde vacant epulis, ac dum sollempnia tractant pocula, continuant serae convivia nocti. Tercia pars orbis, cuius ditione teneri olim dicta fuit, eius quoque nomen adepta est. Hec Asia est, vasto quam gurgite solis ab ortu terminat Oceanus et ab Austro extendit in Arton. A Borea Tanais simul et Meotidos unda claudit, ab Europa nostrum disterminat equor. Huic soli ex equo cessit partitio mundi, cumque sit una trium, solam hanc discindere mundum topographi perhibent: igitur breviore duabus contentis spacio medium non invidet orbis. Hic situs est Asiae. Sed et illam mitis inumbrat

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sogleich auf den Ruderbänken auf [385] und peitschten die Meeresflut mit schnell aufeinanderfolgenden Schlägen. Alexanders Ankunft in Kleinasien – der Perserkrieg beginnt (386–395) Die Flotte war nur noch einen Steinwurf weit vom Ankerplatz im Hafen entfernt, als Alexander den feindlichen Boden mit einem vom Schiff aus geworfenen Speer verletzte. [390] Die ganze Truppe pries dies als günstiges Vorzeichen und ließ ihren fröhlichen Beifall zu den Sternen emporsteigen. Unverzüglich wurde in Ufernähe Anker geworfen. Zuerst wurden die Schiffe entladen, dann sprangen sie umgehend an Land und errichteten an der baumreichen Küste das Lager. Dann hatten sie Zeit für das Essen, und während sie festliche Becher leerten, [395] dehnten sie das Gelage bis spät in die Nacht hinein aus. Asienexkurs (396–426) Der dritte Teil des Erdkreises soll der Sage nach von eben jener Königin beherrscht worden sein, die für Asien auch namensgebend gewesen ist. Asien ist derjenige Teil der Welt, den auf der Seite des Sonnenaufgangs der Ozean mit seiner unermesslichen Flut begrenzt und der sich von Süden her bis weit in den Norden hin ausdehnt. [400] Von Norden her begrenzen der Don und das Asowsche Meer den asiatischen Kontinent, von Europa trennt Asien das Mittelmeer. Diesem Erdteil allein ist es vorbehalten, die Welt in zwei gleiche Hälften zu teilen; obgleich er nur ein Erdteil von dreien ist, berichten die Geographen, dass dieser allein die Welt halbiert: [405] Folglich teilt der Erdkreis den beiden anderen Erdteilen, die jeweils mit weniger Raum zufrieden sind, wohlwollend die andere

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cesaries nemorum, fluviorum cursus inundat. Nobilium multa regionum laude superbit. Hic dives gemmis elephantibus India barrit. Bis serit et fruges tociens legit. Instat ab Arcto Caucasus, irriguo Paradysus spirat ab ortu. Hec habet Assirios Medos et Persida, quarum Partia nunc nomen. Quam Mesopotamia finit. Hec Babilonis opes Chaldeaque regna receptat, hec Arabum terras redolentes thure Sabeo, in quibus ille labor logicorum nascitur una semper avis phenix vicinaque cinnama myrrae. Hinc Siriam Eufrates, illinc Armenia tangit, diluviique memor superis caeloque minatur. Inde Palestinae cunctis supereminet una unius Iudea Dei. Iherosolima terrae in centro posita est, ubi virginis edita partu vita obiit, nec stare Deo moriente renatus sustinuit sed contremuit perterritus orbis. Totque Asiae partes, quas si meus exaret omnes aut seriem scindet stilus aut fastidia gignet. Iamque sub auroram volucrum garrire parabat et lucem tenui precedere lingua susurro, Lucifer emeritae confinia noctis agebat, astrorumque fugam solis precursor anhelo

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Hälfte zu. Das ist die Lage Asiens. Auch jenen Erdteil umschattet das Laub von Wäldern, auch jenen durchfließen zahlreiche Flüsse. Auch jener sonnt sich im Glanze berühmter Provinzen. Hier lässt das von Edelsteinen reiche Indien das Trompeten von Elefanten ertönen. [410] Zweimal im Jahr wird dort gesät und geerntet. Von Norden her droht der Kaukasus, vom regenreichen Osten her weht der Atem des Paradieses. Asien umfasst das Reich der Assyrer, Meder und Perser. Letztere heißen nun Parther. Mesopotamien bildet zu diesen die Grenze. Dieser Kontinent beherbergt die Reichtümer Babylons und das Reich der Chaldäer, [415] ebenso das Land der von sabäischem Weihrauch duftenden Araber, wo die mühselige Beschäftigung mit der Logik ebenso ihren Ursprung hat wie der sich immer wieder erneuernde Phönix und woher gemeinsam Myrrhe und Zimt stammen. Auf dieser Seite begrenzt der Euphrat Syrien, dort auf der anderen Seite grenzt Armenien an diesen Fluss. In Erinnerung an die Sintflut droht der Euphrat den Göttern und auch dem Himmel. [420] Dort überstrahlt Judäa allein als Ort des einzigen wahren Gottes ganz Palästina. Jerusalem liegt genau in der Mitte der Erde, genau dort nämlich, wo das durch die Jungfrau Maria geborene Leben sein Ende fand und der neugeborene Erdkreis beim Tode Christi nicht stillstehen konnte, sondern erschrocken erbebte. [425] Beinahe zahllos sind Asiens Länder. Wenn mein Griffel diese alle beschreiben würde, hielte er den weiteren Fortgang der Dichtung nur unnötig auf und riefe großen Verdruss hervor. Alexander und die Schätze Kleinasiens (427–446) Schon stimmten im Morgengrauen die Vögel ihr Lied an und kündigten mit ihrem zarten Gesang den aufziehenden Tag an, schon markierte der Morgenstern die Grenze zur vergangenen Nacht und beschleunigte, der Sonne mit schnaubendem Pferd vorauseilend, [430] das Verschwinden der Sterne, als Alexander aus leichtem

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maturabat equo, facili cum membra sopore solvit Alexander. Igitur cum sole retusum prospexit primo pelagus radiosque natantes, emicat extimplo castris et in ardua montis erumpens Asiae metitur lumine fines. Hinc ubi vernantes Cereali gramine campos, tot nemorum saltus, tot prata virentibus herbis lascivire videt tot cinctas menibus urbes, tot Bachi frutices, tot nuptas vitibus ulmos, “Iam satis est,” inquit “socii, michi sufficit una hec regio. Europam vobis patriamque relinquo.” Sic ait et patrium ducibus subdividit orbem. Nam timor ille ducum, tanta est fiducia fati, regnorum quecumque iacent sub cardine quadro, iam sibi parta putat. Sic a populantibus agros liberat et pecorum raptus avertit ab hoste. Iamque iter arripiens Cylicum sibi vendicat arces, conciliatque pii clementia principis urbes. Pluris Alexandro fuit hec sollertia quam si sanguinis inpensa Martem tractaret, agitque pace vices belli cum parcit et obruit hostem.

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Schlaf erwachte. Als er nun frühmorgens das konturlose Meer und die sich im Wasser spiegelnden Strahlen der Sonne betrachtete, eilte er sogleich aus dem Lager hinaus und versuchte, die steilen Hänge der Berge [435] erklimmend, das vor ihm liegende Gebiet Kleinasiens mit eigenen Augen zu ermessen. Als er von hier aus die in der Sonne glänzenden Getreidefelder, so viele bewaldete Gebirge und so viele Wiesen vor kräftigen Gräsern strotzen sah, so viele von Mauern umgebene Städte, so viele Weinstöcke und so viele mit Weinlaub umschlungene Ulmen, sagte er: [440] »Das reicht mir schon aus, Gefährten, ich gebe mich mit dieser Weltgegend zufrieden, euch überlasse ich das heimatliche Europa.« So sprach er und verteilte an die Anführer das Land der Väter. Zu sehr vertraue Alexander auf das Schicksal, so fürchteten jene Anführer, [445] schon glaubte er in seiner Gewalt, was an Königreichen ihm in allen vier Himmelsrichtungen vor Augen lag. So befreite er die Äcker von Plünderern und verhinderte sogar den Diebstahl des feindlichen Viehs. Alexanders Zug durch Kleinasien (447–492) Alexander in Kilikien (447–451) Und seinen Feldzug beginnend, ging er gegen die Burgen Kilikiens vor, doch versöhnte die Milde des gütigen Fürsten die dortigen Städte. Dieses von Einsicht geprägte Vorgehen konnte Alexander mehr einbringen, als wenn er [450] in einem Kampf einen hohen Blutzoll verlangt hätte. Anstatt einen Krieg anzuzetteln, strebte er nach Frieden und unterwarf den Feind, indem er ihn schonte.

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Inde rapit cursum Frigiaeque per oppida tendit Ilion et structos violato federe muros, Ydaliosque legit saltus, quibus ore venusto insignem puerum pedibus Iovis aliger uncis arripuit gratumque tulit super ethera munus. Dumque vetustatis saltim vestigia querit sedulus, obicitur fluviali consita rivo populus Oenones, ubi mechi falce notata scripta latent Paridis tenerique leguntur amores. Densa subest vallis ubi litis causa iocosae tractata est, cum iudicium temeravit adulter, unde mali labes et prima effluxit origo Yliaci casus et Pergama diluit ignis. Nunc reputanda quidem parvi, sed quanta fuerunt, conicitur: testatur enim vetus illa ruina quam fuit inmensa Troie mensura ruentis. Tot bellatorum Macedo dum busta pererrat Argolicos inter cineres manesque sepultos, quos tamen accusant titulis epygrammata certis, ecce minora loco quam fama vidit Achillis forte sepulchra sui tali distincta sigillo: “Hectoris Eacides domitor clam incautus inermis occubui, Paridis traiectus arundine plantas.” Hec brevitas regem ducis ad spectacula tanti

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Alexander auf dem Weg von Kilikien nach Troja (452–467) Darauf eilte er weiter, durch Phrygiens Städte hindurch strebte er nach Troja und zu den durch Wortbruch erbauten Mauern, durchstreifte das Idagebirge, in welchem [455] Jupiters Adler mit gebogenen Krallen den schöngesichtigen Knaben geraubt und das willkommene Geschenk in den Himmel getragen hatte. Und während er eifrig zumindest nach Spuren des Altertums suchte, fiel sein Blick auf die am Flussufer stehende Pappel der Oenone, wo sich die mit dem Messer des Ehebrechers eingeritzten [460] Worte des Paris im Stamm des Baumes verbargen und man bei genauem Hinsehen zärtliche Liebesschwüre lesend erkennen konnte. Ein dicht bewaldetes Tal lag in unmittelbarer Nähe, wo die Angelegenheit jenes lächerlichen Streits verhandelt wurde, als Paris sein Urteil unüberlegt fällte. Dies war der Anlass für den schlimmen Sturz und der eigentliche Grund für den Untergang Ilions und den Brand, der Troja zerstörte. [465] Nun freilich besitzt es nur noch geringe Bedeutung, doch wie mächtig es einmal war, lässt sich erahnen: Jene alte Ruine nämlich bezeugt, wie gewaltig das Ansehen Trojas bei seinem Fall noch gewesen ist. Alexander in Troja (468–492) Während der Makedone zwischen den Grabmälern so vieler Kämpfer, zwischen den Gräbern der Griechen und ihren bestatteten Überresten umherging, [470] über die sich gleichwohl die Inschriften mit deutlichen Worten beschwerten, da sah er zufällig das – gemessen am Ruhm des Peliden – nur kleine Grabmal seines Vorbilds Achilles, das sich durch folgenden Wortlaut eindeutig zuordnen ließ: »Ohne Vorwarnung und unvermutet sank ich, Achilles, Hektors Bezwinger, waffenlos nieder, an der Ferse durchbohrt von des Paris Pfeil.« [475] Diese doch sehr knappen Worte bewogen den

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compulit, et sterilem mulso saciavit harenam, et suffire locum sumpta properavit acerra. “O fortuna viri superexcellentior,” inquit “cuius Meonium redolent preconia vatem, qui licet exanimem distraxerit Hectora, robur et patrem patriae, summum tamen illud honoris arbitror augmentum, quod tantum tantus habere post obitum meruit preconem laudis Homerum. O utinam nostros resoluto corpore tantis laudibus attollat non invida fama tryumphos! Nam cum lata meas susceperit area leges, cum domitus Ganges et cum pessundatus Athlas, cum vires Macedum Boreas, cum senserit Hamon, et contentus erit sic solo principe mundus ut solo sole, hoc unum michi deesse timebo, post mortem cineri ne desit fama sepulto, Elisiisque velim solam hanc preponere campis. “Neu vos excutiat cepto, gens provida, bello, Argolici, Fortuna licet quandoque minetur aspera, que numquam vultu persistit eodem. Blandiciis indignus erit mollique potiri fortuna qui dura pati vel amara recusat. Nam que dura prius fuerant mollescere vidi.

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König, einen so bedeutenden Anführer entsprechend zu würdigen: Er tränkte den fruchtlosen Sand mit Honigwein und entsühnte sogleich den Ort mit Weihrauch aus dem entsprechenden Kästchen. »Ach«, so rief er, »ein alles überragender Glücksfall wurde Achilles zuteil, dessen Verherrlichung auf den mäonischen Sänger zurückgeht. [480] Mag Achilles auch den leblosen Hektor, den lange Zeit starken Bewahrer seines Vaterlandes, um die Mauern Trojas geschleift haben, so bin ich doch der Meinung, dass er diesen außergewöhnlichen Ruhm erst dadurch erreicht hat, dass es ihm als einem zu Lebzeiten herausragenden Mann nach seinem Tode verdientermaßen gelungen ist, in Homer einen ebenso herausragenden Verkünder seiner Ruhmestaten zu finden. Möge nach unserem Tod die Nachwelt [485] neidlos auch unsere Siege so großartig rühmen. Denn wenn dereinst die ganze Welt meinen Gesetzen gehorchen wird, wenn der Ganges bezwungen und der Atlas erobert sein wird, wenn der Boreas und Ammon die makedonische Waffengewalt zu spüren bekommen haben und die Welt mit einem König zufrieden sein wird [490] wie mit der einen Sonne, dann werde ich dennoch noch immer fürchten, dass mir das Wichtigste fehlen könnte, nämlich dass nach meinem Tod dann der bestatteten Asche der Ruhm fehlt, um den allein ich auf das Elysium verzichten würde. Die Jerusalem-Episode (493–554) Alexanders Siegesgewissheit (493–501) Und nicht soll euch, mein sorgenvolles Argivervolk, Fortuna von dem gerade begonnenen Krieg abbringen, mag auch die stets wankelmütige Göttin, [495] die niemals in derselben Miene verharrt, dann und wann mit grimmiger Miene drohen. Annehmlichkeiten und ein angenehmes Schicksal verdient nicht zu finden, wer nicht bereit ist, Widrigkeiten und Strapazen zu ertragen. Denn weichlich

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Neu vos sollicitos agat ignorantia veri unde hec tanta meae surgat fiducia menti, occultum hoc vestris inpertiar auribus unum: Cum patris interitu nutaret Grecia merens Pausaniasque scelus et cedem cede piasset, nocte fere media, sompnum suadentibus astris, pulvinar regale premens penetralibus altis solus eram. Socios laxabat inertia sompni, at mea pervigiles urebant pectora curae. Cumque super regni ratio novitate labaret (incertus sequererne hostes patriamne tuerer, in neutro stabilis, facturus utrumque videbar), ecce locum subita radiantem lampade vidi, et caeleste iubar noctis caligine pressa irrupisse fores tenebrasque diescere vidi. Cum timor incuteret mentem testemque pavoris sentirem trepidos sudorem errare per artus, affuit ethereis hominem, si dicere fas est, ingenua gravitate plagis, quem barbara texit multiplici vestis mixtim distincta colore, cuius, ut ire solet filo radiante sacerdos, gemmea flammantes lambebat fimbria plantas. Aurea rorifluos crispabat lamina crines. Pectoris in medio bis seni scemate miro ardebant lapides gemmarum luce superbi. Nescio quod nomen pretendere visa figuris

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sah ich oft werden, was erst so hart sich gezeigt hat. Damit euch die Unkenntnis der wahren Gründe, [500] warum ich so ausnehmend zuversichtlich bin, nicht weiter umtreibt, will ich euch dieses eine Geheimnis enthüllen: Alexanders Vision (502–538) Als wegen der Ermordung meines Vaters Griechenland tief betrübt wankte – Pausanias’ Verbrechen war mit dessen Hinrichtung gesühnt worden –, war ich etwa um Mitternacht, als die Sterne zum Schlaf rieten, [505] auf dem königlichen Lager liegend im Inneren des Palasts allein. Meine Gefährten fanden Erholung im Schlaf, mich jedoch plagten nimmer ruhende Sorgen. Und während ich zweifelnd über die neue Lage im Reich nachdachte, unschlüssig darüber, ob ich die Verfolgung der persischen Feinde in Angriff nehmen oder die Heimat durch mein Bleiben vor ihnen beschützen solle, [510] schien ich, in beidem ratlos, schon beides zu wollen. Da sah ich, wie der Raum sich von einem plötzlichen Lichtschein erhellte, ein göttlicher Glanz, das Dunkel der Nacht verdrängend, den Eingang durchbrach und der eben noch dunkle Raum taghell erstrahlte. Als heftige Angst von mir Besitz ergriff und ich als erkennbares Zeichen meiner Furcht [515] den Angstschweiß die zitternden Glieder hinabrinnen fühlte, erschien aus himmlischen Höhen eine menschliche Gestalt (falls man das so sagen kann) von natürlicher Erhabenheit, die in ein fremdes und mit vielfach wechselnden Farben gewebtes Gewand gekleidet war, [520] und deren flammenden Füße – wie ein Priester in strahlender Gestalt normalerweise einherschreitet – perlenbesetzte Fransen umgaben. Ein goldener Reif hielt die wellenförmig herabwallenden Haare zusammen. Prachtvoll leuchteten mitten auf seiner Brust im Glanze von Perlen wunderbar geformt zweimal sechs Edelsteine. Ein Tetragramm, das mit seinen vier Schriftzeichen irgendeinen Namen anzugeben schien,

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signabat mediam tetragrammata linea frontem, sed quoniam michi barbaries incognita linguae huius erat, legere hanc me non valuisse fatebor. Presulis occultum caput amplexante tyara, pesque verecundus thalari veste latebat. Qui nisi me verbis prior aggrederetur, habebam, quod breviter possem scitari: quis? quid? et unde? ‘Egredere, o Macedo fortissime, finibus’ inquit ‘a patriis, omnemque tibi pessundabo gentem. At si me tibi forte vides occurrere talem, parce meis.’ Dixit superasque recessit in auras discedensque domum miro perfudit odore. Hoc duce, dura manus, hoc principe bella movetis.” Sic fatur celeresque gradus ad castra retorquet. Vera tamen docuit: etenim cum victor adire post Thyron eversam multa legione pararet Iherusalem templumque Dei violare domosque velle putaretur, invicti principis iram preveniens, urbis sacro comitante senatu, exierat tali summus cum veste sacerdos, qualem in sydereo rex presule viderat ante. Quem tamquam cognoscat equo descendit eumque pronus adoravit, cunctis mirantibus illum impendisse homini decus unum quod sibi pridem iusserat inpendi. Tunc rex legione sequentum exclusa paucis intrat comitantibus urbem,

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[525] zierte seine Stirn in der Mitte. Da mir jedoch diese fremdartige Sprache unbekannt war, muss ich gestehen, dass ich diese Schriftzeichen nicht lesen konnte. Vollends bedeckte die Tiara das Haupt des Bischofs, die schamhaften Füße verbargen sich unter dem langen Talar. [530] Wenn dieser mich nicht zuerst angesprochen hätte, hätte ich Grund genug gehabt, in aller Kürze etwas über seine Person, seinen Auftritt vor mir und seine diesbezüglichen Gründe in Erfahrung zu bringen. Er aber sagte zu mir: ›Verlass, tapferster Makedone, die väterlichen Gefilde! Dann will ich dir das ganze Perserreich erobern. Aber wenn du mich einmal in solcher Gestalt dir leibhaftig entgegentreten siehst, [535] dann schone mein Volk!‹ Sprach’s und entschwand in den Himmel und erfüllte im Gehen das Haus mit einem herrlichen Duft. Unter der Führung dieses Bischofs, standhafte Schar, auf Befehl dieses Gottes erregt ihr den Krieg.« So sprach Alexander und ging schnellen Schrittes zurück in das Lager. Alexanders Einzug in Jerusalem (539–554) Wahres hat jener Bischof gleichwohl verkündet: Denn als Alexander [540] nach der Zerstörung von Tyrus als Sieger Jerusalem mit zahlreichen Truppen angreifen wollte und man der Ansicht sein konnte, er wolle den Tempel Gottes und die Häuser der Stadt schänden, trat ihm, dem Zorn des unbesiegten Anführers zuvorzukommend, der vom ehrwürdigen Rat der Stadt begleitete Hohepriester in einem solchen Gewand entgegen, [545] wie es der König zuvor am göttlich strahlenden Bischof gesehen hatte. Als ob Alexander ihn kennen würde, stieg er vom Pferd und betete ihn demütig an, während sich alle wunderten, dass er einem Manne die Ehre erwies, die er sonst allein für sich selbst beansprucht hatte. Darauf betrat der König ohne sein Heeresgefolge, [550] von nur wenigen seiner Männer begleitet, die Stadt, brachte ihr, wie einst vom jüdischen

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et quod ab Hebreis monitus fuit, obtulit illic pacifica et multo ditavit munere templum. Iamque valefaciens indulto Marte beatae urbis perpetuo donavit munere cives.

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Hohepriester angemahnt, Frieden und bereicherte den Tempel des Herrn mit zahlreichen Geschenken. Indem er auf jegliche Kampfhandlungen verzichtete, bescherte Alexander somit bei seinem Abschied den Bürgern der glücklichen Stadt ein bleibendes Geschenk.

Liber II Capitula secundi libri Preparat ad pugnam Darium Persasque secundus. Scribit Alexandro Darius populumque recenset. At Macedo fatale iugum mucrone resolvit seque sibi recipit, morbum curante Philippo. Stant hinc inde acies Cylicum conclusa iugosis faucibus. Iniusti Sysenem premit alea fati. Spernitur a Persis ducibus licet utile docti consilium Tymodis: placuit committere fatis omne simul robur. Socios hortatur ad arma acer uterque ducum. Plaudentibus assonat aer.

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Secundus liber Ultorem patriae Magnum iam fata minantem nuncia Persarum discurrens fama per urbes desidiae torpore gravis luxuque soluti terrifico strepitu Darii concusserat aures. Qui licet imperio maior, munitior armis, obsequiis regum, precioso ditior ere, viribus excedens, evo maturior esset bellatore novo, tamen experientia Martis qua dissuetus erat et pax diuturna labantes impulerat regis animos ut in omnibus esset

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Buch II Themenübersicht (1–10) Das zweite Buch schildert die Vorbereitungen des Darius und der Perser zum Kampf. Darius schreibt Alexander einen Brief und nimmt das persische Heer in Augenschein. Indes zerschlägt der Makedone mit dem Schwert den schicksalhaften gordischen Knoten und erholt sich unter Philipps ärztlicher Anleitung ein wenig abseits von seinen Männern von seiner Krankheit. [5] Auf beiden Seiten des Gebirgspasses stehen die Heere, beengt von Kilikiens gebirgigen Schluchten. Ein ungerechtes Schicksal ereilt Sisines. Ein eigentlich hilfreicher Plan des klugen Tymodes stößt bei den persischen Offizieren auf Ablehnung: Sie ziehen es vor, das ganze persische Heer zugleich dem Untergang preiszugeben. [10] Beide Könige rufen bei Issus ihre Männer wild entschlossen zum Kampf. Die Luft hallt wider vom Beifall der Truppen. Der Perserkönig Darius (1–63) Die Charakterzeichnung des Darius (1–17) Die Städte der Perser durcheilend, hatte Fama Alexander vorab schon als Rächer der griechischen Heimat und als Bedrohung für das persische Reich angekündigt und mit schrecklichem Getöse den in schlimmer Untätigkeit erstarrten und von Ausschweifung geschwächten Darius in große Unruhe versetzt. [5] Mag dieser auch mächtiger, besser durch Waffen und verbündete Fürsten geschützt, zudem reicher an wertvollem Erz, stärker an Truppen und reifer an Jahren gewesen sein als der kampferprobte makedonische Neuling, so hatte doch die Entwöhnung vom Krieg und der lang anhaltende Frieden die ohnehin schon schwindende [10] Tatkraft des persi-

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inferior duce quo poterat prestantior esse si mens tanta foret pugnandi quanta facultas. Ne depressa tamen terrore minusque rigoris regia maiestas videatur habere, superbo intonat ore minas Darius gentesque subactas colligit in castris, cuius per regna volante ocius edicto ruit omnis in arma iuventus. Interea a Dario, ne nil fecisse videri possit, Alexandro legatur epistola talis: “Rex regum Darius consanguineusque deorum scribit Alexandro famulo: licet indole clarus, parce puer teneris et adhuc crescentibus annis. Non est apta legi que non maturuit arbor. Quos tibi sumpsisti temerarius exue cultus armorum et gremio castae te redde parentis. Queque tuae pocius etati congrua misi lora tibi teretemque pilam forulosque capaces in sumptus, comitum fomenta viaeque levamen. At si tanta tuum vexat vesania pectus ut paci lites et amico preferat hostem, non equites, verum furiata mente clientes emittam qui te correptum verbere duris afficiant penis tenebrisque perhennibus addant.” Frendit Alexander modice turbatus, eisque

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schen Königs vollends geschwächt, so dass dieser in jeglicher Hinsicht dem makedonischen Anführer unterlegen war, dem er gleichwohl hätte überlegen sein können, wenn sein Wille zu kämpfen so groß gewesen wäre, wie seine militärischen Möglichkeiten es waren. Um jedoch sein königliches Ansehen nicht durch die Schreckensnachricht geschwächt und angeschlagen erscheinen zu lassen, [15] gab Darius mit hochfahrenden Worten Drohungen von sich und sammelte die einst bezwungenen Völker im Lager. Auf Darius’ durch das ganze Perserreich eilenden Befehl hin griff die Jugend in Scharen zu den Waffen. Die Korrespondenz zwischen Darius und Alexander (18–44) Um nicht untätig zu erscheinen, ließ Darius unterdessen durch Boten Alexander einen Brief folgenden Inhalts überbringen: [20] »Darius, König der Könige und Blutsverwandter der Götter, schreibt seinem Diener Alexander: Magst du dich auch durch eine dir angeborene Tüchtigkeit auszeichnen, so berücksichtige doch, mein Junge, deine schwachen und an Zahl erst noch wachsenden Jahre. Nicht erntet man die Früchte eines Baumes, der sich noch im Wachstum befindet. Ziehe den Waffenschmuck aus, den du dir übermütig angelegt hast, [25] und kehre zurück in den Schoß deiner untadeligen Mutter. Deinem Alter viel mehr entsprechend habe ich dir eine Peitsche und einen runden Ball zukommen lassen sowie für deinen Aufwand geräumige Kisten voll Gold als Entlohnung für deine Gefährten und als Unterstützung für deine lange Reise. Aber wenn dich ein so großer Wahn erfüllt, [30] dass du den Krieg dem Frieden und dem Freund den Feind vorziehst, will ich nicht meine Reiter, sondern wutentbrannte Vasallen entsenden, um dich, bist du erst einmal ergriffen, mit harten Peitschenschlägen zu bestrafen und dich in ewige Finsternis zu stürzen.« Im rechten Maße erzürnt knirschte Alexander mit den Zähnen und gab den

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qui sibi detulerant Medi mandata tyranni procincte subicit “melius” que “interpretor” inquit “et magis egregie vestri munuscula regis: Forma rotunda pilae speram speciemque rotundi, quem michi subiciam, pulchre determinat orbis. Hiis in subiectos michi Persas utar habenis cum victor Darii veteres effregero gazas.” Sic ait, et formae regalis ymagine ceris impressa, vario legatos munere donat.

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At Darius, quamvis fama mediante recepto Mennonis excessu labefacto pectore nutet, aspera fortunae tamen in contraria torquens, conclusus procerum serie peditumque catervis tendit ad Eufraten, ubi tot radiantibus auro gentibus explicitis, diffusis equore vasto tot populis, vires dedit in commune videndas elatusque animo vallum circumdedit. Unde primo sole locum feriente recensuit omnes Xerxis ad exemplum donec nascentibus astris montivage Phebes precederet Hesperus ortum. Egreditur vallo virides effusa per agros infinita phalanx numerumque recensita vincit. Spargitur et speciem maioris copia prebet. Sic ubi balantes ad pascua veris iturae, ut totidem reddat pastor quot fundit ovile,

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Boten, [35] die ihm die Weisungen des medischen Königs überbracht hatten, schlagfertig die passende Antwort: »Besser und treffender deute ich die niedlichen Geschenke eures Königs: Die runde Gestalt des Balls bezeichnet auf vortreffliche Weise die kugelförmige Gestalt des gerundeten Erdkreises, den ich mir zu unterwerfen gedenke. [40] Die angesprochenen Peitschen werde ich für meine Zwecke gegen die niedergeworfenen Perser einsetzen, [42] wenn ich dann als Sieger Darius’ alte Schatzkammern gesprengt habe.« Nach diesen Worten überreichte Alexander den Boten verschiedene Geschenke, versehen mit dem königlichen Siegelbild aus Wachs. Die Heerschau des Darius (45–63) [45] Obgleich Darius, erschüttert durch ein umlaufendes Gerücht von Memnons Tod, fraglos verunsichert war, eilte er – gleichwohl in der Absicht, die Unbilden des Schicksals ins Gegenteil zu verkehren – umringt von der Schar der Vornehmsten und der Masse des Fußvolks zum Euphrat, wo er mit so vielen in der Ebene ausgebreiteten, von Gold glänzenden [50] Scharen und mit so vielen auf weitem Feld verteilten Völkern für alle sichtbar seine Streitkräfte präsentierte und stolz ringsum einen Wall errichten ließ. Von dort aus nahm er beim ersten Sonnenstrahl, der den Ort erhellte, – dem Xerxes vergleichbar – alle in Augenschein, bis der Abend mit den aufziehenden Sternen dem Aufgang des Mondes voranging, [55] der noch schweifend die Berge durchwanderte. Der endlose Haufen, weit über die grasreichen Felder verteilt, verließ den Wall und schien beim Versuch, ihn zu zählen, noch endloser zu sein. Die riesige Menge teilte sich auf und erweckte gerade dadurch den Eindruck, noch größer zu sein. So werden früh morgens die blökenden Schafe gezählt, wenn sie auf die Frühlingsweiden drängen, [60] damit der Hirte am Abend ebenso viele Tiere zurückbringt, wie den Stall

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mane novo numerantur oves, quas anxia sortis, ne minuat numerum lupus opilione sinistro, capripedi Fauno commendat sedula Baucis. At prior in Magnum Darii congressus et acris pugna sub illustri adversae duce Mennone partis milia nobilium tenuit sexcenta virorum. Quos licet inferior numero sed fortior armis fudit Alexander expugnatamque suorum viribus intravit Midae predivitis aulam: Gordian veteres, Sardis dixere moderni. Hic Asiam refluis undarum incursibus artant faucibus angustis gemini confinia ponti. Hic ab utroque mari distans Sangarius eque litoribus tamen alterius communicat undas.

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zuvor auch verlassen haben; um deren Leben besorgt vertraut die fleißige Baucis diese im Gebet dem bocksfüßigen Faunus an, damit nicht durch die Schuld eines unaufmerksamen Hirten ein Wolf den Tierbestand schmälert. Die Schlacht am Granikus (64–68) Aber das erste Zusammentreffen und die erste heftige [65] Schlacht zwischen Alexander und Darius – auf persischer Seite hatte noch der berühmte griechische Feldherr Memnon die Befehlsgewalt inne – hat sechshunderttausend vortreffliche Krieger gebunden. Diese schlug Alexander, an Truppenstärke zwar unterlegen, stärker jedoch im Gefecht. Alexander in Phrygien (68–90) Alexanders Ankunft in Phrygien (68–70) Einige Zeit später verschaffte er sich mit der Waffengewalt seiner Soldaten Zutritt in die Residenzstadt des steinreichen Midas: [70] Frühere Generationen nannten sie Gordium, die heutigen Bewohner nennen sie Sardes. Die geographische Lage von Gordium (71–74) Hier verengen die Küsten zweier Meere durch ihre immerwährende Brandung Kleinasien zu einem Isthmus. Hier fließt der Sagaris, von beiden Meeren zwar gleich weit entfernt, doch nur in das Schwarze Meer.

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Hic Iovis in templo Midae patris alta choruscant plaustra iugumque vetus Asiae fatale, sed eius funibus inter se coeuntibus arte latenti complosisque iterum spacioso tempore, nemo vel reperire caput poterat vel solvere nodos. Certa fides urbis ita disposuisse tenacem fatorum seriem qui vincula solveret illum regno totius Asiae debere potiri. Movit Alexandrum supplendi fata cupido, extollensque iugum nexus dissolvere temptat, luctatusque brevi, cum se contendere frustra conspicit, astantes ne triste reverberet omen, “Quid refert,” inquit “proceres, qua scilicet arte quoque modo tacitae pateant enigmata sortis?” Dixit et arrepto nodos mucrone resolvit, unde vel elusit sortem vel forte reclusit. Hinc venit Anchiram, missis qui Marte retundant Capadocum gentes. Quibus in sua iura redactis, mane iter accelerat Macedo spacioque diei unius stadia trepidis quingenta peregit gressibus, accelerans pavidum prevertere regem. Quippe graves aditus Asiae faucesque locorum angustas metuens, Cylicum iam plana tenenti obvius ire parat Dario, qui primus Eoo, cum sol roriflua stillaret lampade, castra

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Der gordische Knoten (75–90) [75] Hier erglänzte im Tempel des Jupiter der erhabene Wagen des Gordius und das uralte Schicksalsjoch Asiens. Niemand jedoch konnte wegen der mit verborgener Kunst ineinander geschlungenen und zusammengefügten Stricke für ein lange Zeit das Ende des Seils finden oder die Knoten lösen. [80] In dieser Stadt herrschte der unverrückbare Glaube, dass die feste Ordnung des Schicksals es so eingerichtet habe, dass jener, der die Fesseln zu lösen vermöchte, sich der Herrschaft über ganz Asien bemächtigen dürfe. Es bewegte Alexander der innere Wunsch, des Schicksals Spruch zu erfüllen, er richtete das Joch auf und versuchte die Knoten zu lösen. [85] Als er nach kurzer Mühe sah, dass seine Anstrengungen vergeblich waren, gab er folgende Worte von sich, um sein Geleit nicht durch ein böses Vorzeichen zu verunsichern: »Was geht es uns an, Gefährten, durch welche Kunst und auf welche Weise sich die Rätsel des schweigsamen Schicksals lösen lassen?« Sprach’s und zerschlug mit gezücktem Schwert den Knoten, [90] wodurch er entweder das Schicksal verspottete oder auch nur zufällig enthüllte. Von Phrygien nach Kilikien (91–102) Von hier aus kam Alexander nach Ankyra, nachdem er bereits Soldaten vorausgeschickt hatte, um Kappadokiens Stämme zu unterwerfen. Nachdem diese in ihre Grenzen gewiesen waren, eilte der Makedone am Morgen weiter und überwand im Laufe eines einzigen Tages in hastigem Lauf fünfzig Meilen, [95] um eilenden Schrittes dem zaudernden Darius zuvorzukommen. Da er den schwierigen Zugang nach Asien und die enge Schlucht an der Kilikischen Pforte fürchtete, traf er Vorbereitungen, gegen Darius vorzustoßen, der zuvor sein Lager am Euphrat beim zeitigeren Tagesanbruch im Osten, als die Sonne dort bereits mit ihren Strahlen den Tau von

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movit ab Eufrate. Lituis cava saxa resultant, respondent valles, ictusque fragoribus aer ingeminat strepitus, agitantque tonitrua nubes. Hic fragor in castris, sed et hic erat agminis ordo. Ignem quem Persae sacrum aeternumque vocabant axibus auratis argentea pretulit ara. Alba Iovis currus series ducebat equorum, celatasque decem gemmis auroque quadrigas tam cultu variae quam lingua et moribus uno agmine bissenae comitantur in ordine gentes. Quosque immortales mentitur opinio vulgi mille fere decies plaustris auroque feruntur. At consanguinei regis muliebriter omnes milia pretextis ter quinque feruntur amicti. Mole gravi medius radiis stellantibus auro invehitur Darius curru, quem stipat utrimque effigies numerosa deum, quem predicat ardor gemmarum et luxus opulentia barbara regem. Desuper ardentis fervorem temperat estus fictilis aurata pendens Iovis armiger ala. Hunc hastata decem precedunt milia, quorum aurum cuspis habet, argentea candet harundo. Preterea Darius preclaros sanguine regis contiguos lateri preceperat ire ducentos.

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den Blättern tropfen ließ, [100] als erster verlassen hatte und jetzt schon Kilikiens Ebenen besetzt hielt. Die von Höhlungen durchzogenen Felsen hallten von den Signalhörnern der Griechen wider, auch die Täler erwiderten den Klang, die von Lärm durchdrungene Luft vervielfachte das Getöse und Donnerschläge erschütterten die Wolken. Der Truppenaufmarsch der Perser (103–139) Ein ebensolches Lärmen herrschte in Darius’ Lager. Und die Reihenfolge des persischen Aufmarschs war folgende: [105] An der Spitze des Heereszugs trug ein goldener Wagen einen silbernen Altar mit einem darauf brennenden Feuer voran, das die Perser seit jeher heilig und ewig nennen. Dahinter zog eine Reihe von Schimmeln Jupiters Wagen, ferner begleiteten zwölf in Kultur, Sprache und Sitten verschiedenartige Stämme wohlgeordnet in einem einzigen Trupp zehn kunstvoll mit Edelsteinen und Gold geschmückte Viergespanne. Und hinter diesen setzten sich jene zehntausend Mann auf goldbesetzten Wagen in Bewegung, [110] die das einfache Volk irrigerweise für unsterblich hielt. Und nach ihnen drängten alle Vertrauten des Königs vorwärts, fünfzehn Tausend an der Zahl und wie Frauen in purpurverbrämte Gewänder gehüllt. In der Mitte fuhr auf einem wuchtigem Streitwagen mit golden schimmernden Speichen, den auf beiden Seiten zahlreiche Götterbilder zierten, [115] Darius, den der Glanz der Edelsteine und die barbarische Pracht eines überflüssigen Aufwands als König auswiesen. Ein aus Ton geformter Adler milderte scheinbar mit goldenen Flügeln schwebend von oben her die siedende Hitze der glühenden Sonne. [120] Diesem gingen zehntausend Speerträger voraus, deren Speerspitzen mit Gold besetzt waren und deren Speerschäfte silbern glänzten. Außerdem hatte Darius befohlen, dass ihn zweihundert Mann königlichen Geblüts in unmittelbarer Nähe flankierend be-

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Neve sit in promptu Danais penetrare tribunal regis, munitis peditum prestantibus armis clauditur extremum ter denis milibus agmen. Subsequitur Medi plenus genitrice tyranni currus, et uxor adest natique et tota suppellex regia. Pelicibus totidem sub pondere tanto quinquaginta fere suspirant plaustra vehendis. Moris erat Persis ducibus tunc temporis omnem ducere in arma domum cum tolli signa iuberent. Sexcentis sequitur invecta pecunia mulis, ter centumque onerat dorso surgente camelos. Plurimus hoc agmen centenis milibus ambit funditor et levibus fundae iaculator habenis. Ultima procedit levis armatura virorum excedens numerum, pedibusque attritus et axe aurea pulvereus involvit sydera turbo. Interea Macedo, profugis vastantibus arva Cyliciae deserta videns, rapit agmina ductor ad loca que Cyri dixerunt castra minores. Premissis igitur duce Parmenione catervis, Tharsum seminecem Persarum servat ab igne.

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gleiteten. Und damit die Griechen nicht mühelos bis zum Streitwagen [125] des persischen Königs vordringen konnten, bildeten dreißigtausend von ausgezeichneten Waffen geschützte Fußsoldaten den Abschluss des Heereszugs. Danach folgte der Wagen mit der Mutter des Mederkönigs, auch die Ehefrau und die Kinder waren mitsamt dem ganzen königlichen Hausrat dabei. [130] Fast fünfzig Wagen, die ebenso viele Nebenfrauen beförderten, ächzten unter einem derart großen Gewicht. Sitte war es damals bei den persischen Königen, auch den ganzen Haushalt mit in den Krieg zu schleppen, wenn das Zeichen zum Abmarsch gegeben wurde. Das herbeigeschaffte Geld folgte auf sechshundert Eseln und beschwerte zudem die Höcker von dreihundert Kamelen. [135] Zahlreiche Speerschützen und Werfer, die Schleudern am lockeren Riemen trugen, umschwärmten das aus mehreren hunderttausend Kriegern bestehende Heer. Zuletzt schritten schier unzählbar die Scharen leichtbewaffneter Kämpfer einher, von den Füßen und Rädern zermahlen, wälzte sich ein Wirbel aus Staub zu den goldenen Sternen hinauf. Alexander in Kilikien (140–271) Vom Lager des Cyrus nach Tarsus (140–144) [140] Da Alexander die von den fliehenden Persern verwüsteten Gefilde Kilikiens verlassen sah, führte er sein Heer unterdessen zu jenem Ort, den frühere Generationen das Lager des Cyrus nannten. Mit einem unter Parmenions Führung stehenden Vorauskommando rettete er das bereits halb zerstörte Tarsus vor der Brandstiftung der Perser.

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Hic, ut scripta ferunt, illustri claruit ortu, per quem precipue caecis errore subacto gentibus emersit radius fideique lucerna. Purus et illimis mediam perlabitur urbem Cignus, qui gelidos haurit de fontibus amnes; contentus sese est nullasque aliunde ruentis admittit torrentis aquas, sed gurgite ludit calculus et refugo lapsu lascivit harena. Hic primum didicit Magnus durare salutem nulli continuam, sed mixta adversa secundis. Ergo cum casu luctari fata videres, queque aspirabat ceptis sors prospera paulo substitit et Macedum spem desperare coegit. Estus erat medius cum sole tenente Leonem Iulius arderet, medioque sub axe diei arida Cyliciae findit vapor igneus arva. Perfusus Macedo sudore et pulvere membra, temperie fluvii captus specieque liquoris corpore adhuc calido subiectis insilit undis. Horruit extimplo gelido perfusa liquore tota viri moles, ubi non invenit apertas spiritus arterias corpusque reliquit inane. Frigore vitalis calor interclusus aquarum

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Die Stadt Tarsus (145–152) [145] Hier zeichnete sich gemäß dem Bericht der Heiligen Schrift jener durch glänzende Geburt aus, durch den – vom eigenen Irrglauben befreit – für die verblendeten Völker das strahlende Licht des Glaubens in besonderem Maße emporstieg. Klar und schlammlos strömt mitten durch die Stadt der Kydnus, der seine kalten Wogen aus verschiedenen Quellen schöpft. [150] Er ist ohne weiteren Zufluss und nimmt anderswoher kein Wasser eines reißenden Bachs auf, in dessen sanfter Strömung treibt ein Steinchen sein Spiel und der Sand bewegt sich mit den auch rückwärts laufenden Wellen. Alexanders unheilvolles Bad im Kydnus (153–171) Hier hat Alexander erstmals erfahren, dass eine unversehrte Gesundheit [154] niemandem dauerhaft beschieden ist, sondern Glück und Unglück sich abwechseln können. [157] Als man folglich das Schicksal mit diesem Unglücksfall ringen sah, ließ das günstige Geschick, das Alexanders Plänen sonst immer gewogen war, ein wenig auf sich warten und nötigte die Makedonen schon, die Hoffnung auf Rettung fahren zu lassen. [160] Als im Hochsommer der Monat Juli mit der Sonne im Sternzeichen Löwen das Land versengte und Kilikiens feurige Glut am Mittag den trockenen Boden aufbrechen ließ, sprang der Makedone nämlich, am ganzen Körper mit Schweiß und Staub bedeckt, begeistert von der Kühle des Flusses und dem Anblick des Wassers [165] mit noch erhitztem Körper hinab in die Wogen. Auf der Stelle erstarrte der ganze ins eisige Wasser getauchte Körper des Helden, mit erst noch stockendem Atem konnte er schließlich gar keine Luft mehr holen. Unterbrochen von der Kälte des Wassers schwand schon langsam die lebensspendende Wärme,

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fluctuat, afflictus rex exanimisque suorum extrahitur manibus. Oritur per castra tumultus flebilis, et Graium ruit in lamenta iuventus: “Flos iuvenum, Macedo, quis te impetus inter amicos nudum, quis casus inopina morte subegit? Improba mobilior folio Fortuna caduco, tygribus asperior, diris immitior ydris, Thesiphone horridior, monstroque cruentior omni, cur metis ante diem florentes principis annos? Hactenus exstiteras mater, quis te impulit illi velle novercari quem promissum sibi regem mundus adoptabat? Sed quis manet exitus illos, optime rex, quibus a patria tua castra secutis non licet in patriam loca per deserta reverti? Numquid nos sine te medios mittemur in hostes? Sed quis dignus erit tanto succedere regi?” Audiit hec, ut forte rotam volvendo fatiscens ceca sedebat humi Fortuna animamque resumens surgit et Argolicos subridens ore sereno increpat usque metus ac secum pauca susurrat: “Inscia mens hominum quanta caligine fati pressa iacet, que me tociens iniusta lacescit.

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[170] der bewusstlose und leblos wirkende König wurde von den Händen der Seinen aus dem Fluss gezogen. Die Reaktion der griechischen Soldaten (171–185) Im Lager entstand ein Jammern und Weinen und die griechischen Soldaten begannen zu klagen: »Ach, Makedone, Zierde unserer jungen Truppe, was für ein schlimmer Anfall, was für ein Unglück hat dich unbewaffnet im Beisein von Freunden in einen unerwarteten Tod gezwungen? [175] Ruchloses Schicksal, wankelmütiger als ein vom Baum fallendes Blatt, wilder als Tiger, erbarmungsloser als unheilvolle Schlangen, schauderhafter als Tisiphone und grausamer als jedes Scheusal, warum begrenzt du die blühenden Jahre unseres Königs weit vor der Zeit? Wer hat dich, die du bisher doch stets als schützende Mutter hervorgetreten bist, dazu veranlasst, jenem [180] gleich einer Stiefmutter übelzuwollen, den die Welt sich als verheißenen König erwählt hat? Welches Ende indessen erwartet diejenigen, vortrefflichster König, die dir aus der Heimat in deinen Krieg gefolgt sind und jetzt nicht durch Wüsten in die Heimat zurückkehren können? Werden wir nun etwa ohne dich in den Krieg gegen die Feinde geschickt? [185] Wer wird sich dann aber als würdig erweisen, einem so großen König nachzufolgen?« Die Reaktion der Fortuna (186–200) Diese Vorwürfe hörte die blinde Fortuna, als sie ermüdet vom Wälzen des Schicksalsrades gerade am Boden saß. Wieder zu Kräften gekommen, erhob sie sich und verlachte mit heiterer Miene die Griechen, schalt in einem fort deren Furcht und flüsterte sich selbst mit wenigen Worten zu: [190] »Von welchem Schicksalsdunkel umfangen liegt der unwissende Geist der Menschen am Boden, der

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Ius reliquis proprium licet exercere deabus, me solam excipiunt, que dum bona confero, magnis laudibus attollor, si quando retraxero rebus imperiosa manum, rea criminis arguor ac si naturae stabilis sub conditione teneri possem. Si semper apud omnes una manerem aut eadem, iam non merito Fortuna vocarer. Lex michi naturae posita est sine lege moveri, solaque mobilitas stabilem facit.” Hec ubi dicta, liberior regis iam morbida membra revisit spiritus et solitos paulisper habere meatus cepit, sed nimius urebat viscera morbus. Qui tamen attollens erecto lumine vultum “Ergo” ait “in castris victum sine Marte cruentus victor Alexandrum rapiet? Nam proximus hostis non medicos segnes, non cretica tempora morbi expectare sinit. Spoliis ululabit ademptis hostica barbaries, at rex inglorius exul nudus in hostili sine laude iacebit harena. Si tamen in medicis est ut reparare salutem arte queant medica, faveat medicina sciantque me non tam vitae spacium quam querere belli. Nam licet eger adhuc, si saltim stare meorum

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mich so oft ungerecht angreift. Anderen Göttinnen ist es erlaubt, ihr eigenes Recht auszuüben, mich allein nimmt man aus. Solange ich Gutes erweise, werde ich mit Lob überschüttet, wenn ich jedoch [195] gebieterisch den Angelegenheiten einer Person meine Unterstützung entziehe, werde ich eines Verbrechens angeklagt, als ob mein Wesen mit einer beständigen Natur einherginge. Wenn ich immer bei allen beständig ein und dieselbe bliebe, würde ich zu Recht nicht mehr Fortuna genannt werden. Naturgesetz ist es für mich, ohne Gesetz meine Meinung zu ändern, [200] und nur in eben diesem Wandel bin ich unwandelbar.« Die Reaktion Alexanders (200–217) Nach diesen Worten durchdrang schon freier der Atem die noch gebrechlichen Glieder des Königs und gewann nach und nach die gewohnten Bahnen zurück, doch eine überaus schwere Krankheit dörrte seine Eingeweide anhaltend aus. Dennoch hob er sein Antlitz und sagte mit nach oben gerichtetem Blick: [205] »Wird also der grausame Sieger mich – den im Kampfe unbesiegten Alexander – hier im eigenen Lager ergreifen? Der in unmittelbarer Nähe stehende Feind gestattet mir nicht, auf zaudernde Ärzte oder einen günstigen Heilungsverlauf der Krankheit zu warten. Die feindlichen Barbaren werden ob der erbeuteten Rüstungen johlen, euer König aber wird als ruhmloser Exilant ohne Verdienst [210] nackt im feindlichen Staube liegen. Falls es jedoch in der Macht der Ärzte liegen sollte, meine Gesundheit mit ärztlicher Kunst wiederherzustellen, soll mir eine Arznei willkommen sein. Doch sollen die Ärzte wissen, [213] dass ich nicht ein langes Leben erstrebe, sondern lediglich die Zeitspanne für den bevorstehenden Krieg benötige. [215] Denn wenn ich ungeachtet meines noch immer angeschlagenen Gesundheitszustands zumindest an der Spitze meines Heeres

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ante aciem potero, cursu fugitiva rapaci terga dabunt Persae, Danaique sequentur ovantes.” Impetus hic regis precepsque libido choortes moverat ancipites ne festinatio curae augeret morbum. Sed enim spondente Philippo, qui comes est a patre datus custosque salutis, indulto tridui spacio tamen anxius egre expectat morbique fugam reditumque salutis. Hic premissa ducis deturbat epistola regem que medicum dampnat auro tedaque sororis corruptum a Dario. Iam tercia sparserat ignes explicitum tenebris rutilos Aurora per orbem. Cogitur insontis hausturus pocula ductor de medici dubitare fide. Sed potio postquam exhausta est, cartam dextra nutante legendam porrigit Archigeni, quam dum legit, ille legentis nulla notare potest in vultu signa pudoris, atque ita subridens: “Bone rex, exclude timorem, laxa animum curis, sine vim medicaminis huius in venas recipi. Qui me tibi detulit, audi, aut ne sic pereas reliquis ardentius optat sedulus aut nostra marcescit lividus arte, verius ut fatear, aut in tua dampna protervit qui notat innocuum sceleris. Qui proditionis arguit insontem, merito non creditur insons.

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stehen kann, werden die Perser in wildem Lauf den Rückzug antreten und die Griechen werden jubelnd die Verfolgung aufnehmen.« Alexander – Philipp – Parmenion (218–256) Diese Leidenschaft und das gefährliche Verlangen des Königs hatte in der zweifelnden Truppe die Befürchtung ausgelöst, die allzu große Eile beim Heilungsprozess könnte [220] die Krankheit verschlimmern. Obwohl ihm Philipp – vom Vater als Gefährten und Wächter der königlichen Gesundheit überlassen – Rettung nach drei Tagen versprach, konnte er voll Sorge dennoch kaum den schnellen Rückzug der Krankheit und die rasche Genesung erwarten. Da verstörte den König ein von einem seiner Generäle noch vor dessen Ankunft eingetroffener Brief, [225] in welchem gegen den Arzt der Vorwurf erhoben wurde, dieser sei von Darius mit Gold und der Aussicht, die Schwester des Perserkönigs zu ehelichen, bestochen worden. Zum dritten Mal schon hatte Aurora ihr goldenes Licht über den vom Dunkel befreiten Erdkreis ausgebreitet, als Alexander sich – im Begriff, den Becher zu leeren – genötigt sah, an der Treue des unschuldigen Arztes zu zweifeln. Aber nachdem [230] er den Trank zu sich genommen hatte, reichte er mit winkender Rechte dem Archigenes den Brief zum Lesen. Während Philipp das Schreiben las, konnte Alexander keine Anzeichen von Scham in dessen Gesicht erkennen. Und so sagte der Arzt lächelnd: »Gütiger König, entsage der Furcht, mache dir keine Sorgen und lasse zu, dass die Wirkkraft dieser Arznei [235] in deinen Adern Aufnahme findet. Höre zu: Wer mich bei dir derartig anschwärzt, wünscht vielleicht leidenschaftlicher als alle anderen, dir einen solchen Tod zu ersparen, oder ist allzu eifrig neidisch auf unsere Kunst, oder derjenige, der mich grundlos anklagt, will dir – um der Wahrheit die Ehre zu geben – schamlos schaden. [240] Wer einen Unschuldigen des Verrats bezichtigt, wird zu Recht nicht für un-

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Nam reus unde reum se noverit illud acerbe obiciet. Sic iniuste quandoque ligatur iustus, et iniustos absolvit curia mendax.” Hec ubi dicta, metum iubet evanescere regis. Inde ubi transmissum medicamen ad intima venas imbuit, emeriti perierunt semina morbi. Exhilarat vultum color et pallore perempto emergit facies niveo liquefacta rubore. Mens redit, et virtus rediviva renascitur intus. Concurrunt proceres avidi spectare Philippum. Illius iniciunt iocundi brachia collo, huncque patrem patriae servatoremque salutant. Rex, cum sol rutilo radiaret crastinus axe, insigni prevectus equo per castra videndum se dedit et pavidis excussit mentibus omnem segniciem vultuque suos ac voce refecit. Inde ubi finitimas exercitus obruit urbes et sacra pro dubia que voverat ante salute persolvit superis, ferratos menibus Yson applicuit cuneos, ubi Parmenio venienti occurrens urbi desertae a civibus infert. Queritur hic inter proceres an debeat ultra extendi bellis acies pociusne sit hostis operiendus ibi. Placuit sentencia tandem hec pocior ducibus, inter montana iugosis

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schuldig gehalten. Denn der Schuldige wird einem anderen rücksichtslos das zum Vorwurf machen, wovon er weiß, dass er sich selbst eben dies hat zu Schulden kommen lassen. So wird ungerechterweise mitunter der Gerechte ins Gefängnis geworfen und ein verlogenes Gericht spricht die Übeltäter frei.« Nach diesen Worten befahl er der Furcht des Königs zu weichen. [245] Als die verabreichte Arznei darauf die Adern im Innersten durchfloss, starben die Keime der schon ermatteten Krankheit ab. Das Gesicht gewann wieder an Farbe zurück, und nachdem die Blässe vollends verschwunden war, kam wieder ein Gesicht in durchgehend rosiger Farbe zum Vorschein. Der Geist erwachte von neuem, die wiedererstarkte Tatkraft regte sich im Inneren. [250] Die Fürsten liefen von allen Seiten herbei im gemeinsamen Wunsch, Philipp zu sehen. Sie fielen dem Arzt voll Freude um den Hals und begrüßten diesen als Vater und Retter des Vaterlandes. Als die Sonne am Morgen vom goldenen Himmel strahlte, [255] zeigte sich der König für alle sichtbar auf seinem prachtvollen Ross durch das Lager reitend, nahm seinen ängstlichen Männern jegliche Trägheit und gab ihnen mit seinem Anblick und seiner Stimme die Hoffnung zurück. Alexanders Ankunft in Issus (257–268) Sobald sein Heer die benachbarten Städte vernichtet und er den Göttern die zuvor gelobten Opfer für die kaum erhoffte schnelle Genesung dargebracht hatte, [260] lenkte er darauf die eherne Phalanx nach Issus; da eilte ihm Parmenion entgegen und führte ihn in die von den persischen Bürgern verlassene Stadt hinein. Unter den Generälen wurde an Ort und Stelle darüber beraten, ob das Heer für einzelne Gefechte weiter auseinandergezogen werden müsse oder ob es besser sei, den Feind geschlossen vor Ort zu erwarten. Die größte Zustimmung [265] unter den Anführern fand der Plan, im schluchtreichen Gebirge die Schlagkraft beider Par-

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faucibus hic fatis committere robur utrimque. Quippe pares illic acies utriusque tyranni Parmenio censet angusta valle futuras. At Sysenes, quia rem tacite suppresserat, auro creditur a Dario furtim corruptus, eumque mors iniusta ferit, non ignorante tyranno. Iamque superveniens Grecis equitatus ab horis, exilio comitante fugam, duce Tymode castris infertur Darii, regique salubre propinans consilium suadet ut, dum licet, axe citato obliquum retro vertat iter cursuque volucri pulvereo repetat spaciosos aequore campos, at si degenerem pudeat retrocedere regem, converso ne forte gradu vertatur in omen triste suis, saltim gazas et pondera belli dividat in partes, ut si fortuna, quod absit, faverit Argolicis in primo Marte, supersit copia queque recens ruat in discrimina pubes: Non mediocris enim furor est exponere bellis uno velle semel fortunae cuncta sub ictu.

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teien an diesem Ort dem Schicksal anzuvertrauen. Parmenion äußerte die Ansicht, dass nur an jenem Ort in dem engen Tal die Heere beider Könige einander ebenbürtig sein würden. Alexander und Sisenes (269–271) Sisines aber, war man der Meinung, [270] sei von Darius insgeheim mit Gold bestochen worden, weil er eine Sache im Stillen für sich behalten hatte. Diesen ereilte nicht ohne Wissen des makedonischen Königs ein ungerechter Tod. Darius vor der Schlacht bei Issus (272–421) Darius und Tymodes (272–305) Soeben erschienen überraschend Reiter von griechischer Abkunft – die Flucht bringt ein Leben im Exil mit sich – und gelangten unter Tymodes’ Führung in das Lager des Darius. Sie gaben dem persischen König einen vernünftigen [275] Ratschlag und empfahlen ihm, solange dafür noch Zeit sei, schleunigst den Rückzug anzutreten und in schnellem Lauf die weite, staubstrotzende Ebene wiederzugewinnen. Wenn sich der König aber schämen sollte, den seiner Abkunft unwürdigen Rückzug anzutreten, um zu vermeiden, dass dieses Vorgehen von den Seinen womöglich [280] als schlechtes Vorzeichen missverstanden werde, möge er doch wenigstens Schätze und Streitmacht auf mehrere Heeresgruppen verteilen, damit noch Verstärkung vorhanden sei und noch Männer zur Verfügung stünden, die sich frisch in die Schlacht stürzen könnten, wenn das Geschick – die Götter mögen dies verhüten – die Griechen zu Beginn der Schlacht begünstigen sollte: Denn nachgerade Wahnsinn sei es, in einem Krieg [285] alles auf einmal nur einem einzigen Hieb

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Utile consilium dederat, sed inutile visum principibus Persis, quorum pervertere regem mens erat ut merita deleret morte quirites conductos. Etenim gazas dispergere Grecos velle putant ut sic spoliis et rebus honusti ad regem Macedum redeant pacemque reforment. Rex, ut mitis erat satis ac tractabilis, aures obstruit hiis monitis et pectore saucius “absit, o proceres,” ait, “ut nostro dominetur in evo dedecus hoc. Perdamne viros mea castra secutos castra fidemque meam? Numquam tam seva severos iamque senescentes infamia polluat annos.” Sic ait et grates referens absolvit Achivos. Sed regredi regem, profugus ne forte putetur, dedecori ascribit. Iamiam committere bellum ardet et angustos inter decernere montes. De gaza primo diffinit, eoque iubente maxima cum cuneis pars est transvecta Damascum. More tamen veterum servato regia coniux et soror et proles in castris fata secuntur. Certus abhinc Darius, cum posterus exeret orbem luciferum Tytan, regum concurrere vires, ascendit tumulum modico qui colle tumebat castrorum medius, patulis ubi frondea ramis laurus odoriferas celabat crinibus herbas. Sepe sub hac memorant carmen silvestre canentes

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des Schicksals aussetzen zu wollen. Sie hatten einen nützlichen Rat erteilt, untauglich schien dieser jedoch den persischen Offizieren, deren Absicht es war, ihren König dahingehend zu beeinflussen, die griechischen Söldner mit einem aus ihrer Sicht verdienten Tod zu bestrafen. Denn sie glaubten, dass die Griechen die Schätze deshalb aufteilen [290] wollten, um so mit Beute und Reichtümern beladen zum makedonischen König zurückzukehren und mit diesem den Frieden wiederherzustellen. Darius hörte entsprechend seiner milden und gütigen Art nicht auf die mahnenden Worte und sagte im Herzen betrübt: »Ihr Vornehmsten, möge ein derartig [295] schändliches Verhalten zu meinen Lebzeiten niemals sich durchsetzen. Soll ich Männer vernichten, die meinem Lager gefolgt sind, ja, meinem Lager und auch meinem Treueversprechen? Niemals soll ein so schlimmer Schandfleck mein gesetztes und schon schwindendes Alter besudeln.« So sprach er und entließ die Griechen nicht ohne Dank. Aber seinen eigenen Rückzug hielt er, vielleicht um nicht als Feigling zu gelten, [300] für unehrenhaft. Schon begehrte er den Krieg zu beginnen und die Entscheidung in den engen Bergschluchten zu suchen. Zuerst traf er eine Entscheidung hinsichtlich des Schatzes, auf Geheiß des Königs wurde der größte Teil davon mit einer Wachmannschaft nach Damaskus gebracht. Nach Sitte der Alten jedoch harrten die königliche Gattin, [305] die Schwester und die Kinder ihres Schicksals im Lager. Hinführung zur Feldherrnrede des Darius (306–318) Als Titan am nächsten Morgen das strahlende Rund der Sonne erstrahlen ließ, bestieg Darius, für den von nun an die Gewissheit bestand, dass an diesem Tage die Heere beider Könige aufeinandertreffen würden, einen sich inmitten des Lagers erhebenden Hügel, wo ein belaubter [310] Lorbeerbaum mit weit ausgebreiteten Ästen wohlriechende Kräuter in seinem Blattwerk verbarg. Oft hatte man

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nympharum vidisse choros Satyrosque procaces. Fons cadit a leva, quem cespite gramen obumbrat purpureo, verisque latens sub veste iocatur rivulus et lento rigat interiora meatu garrulus et strepitu facit obsurdescere montes. Hic mater Cybele, Zephirum tibi, Flora, maritans pullulat, et vallem fecundat gratia fontis. Hinc ad suppositas vulgi procerumque choortes pacifici Darius obliquans luminis orbem, accitis ducibus, prius in discrimen ituros segregat in partes, demum sic orsus adultas ore pio spirante preces, soloque mereri debuit aspectu facies matura favorem: “Heredes superum Persae, gens unica bello, cui genus a prisci descendit origine Beli, qui primus meruit sacra venerandus ydea inter caelicolas solio stellante locari, solvite corda metu. Furor est pugnamque vocari dedecet, in dominum cum servus abutitur armis. Ultio, non bellum, est, servos ubi sceptra rebelles corripiunt captosque domant patriamque tuentur. Spurius ille puer, regni moderamen adeptus, cuncta sibi cessura ratus, fervore iuventae ducitur et casus ruit inprovisus in omnes, pugnandoque mori mavult quam cedere victus,

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unter diesem Baum – so sagte man – Reigen von Nymphen und freche Satyrn ein ländliches Lied anstimmen sehen. Eine Quelle sprudelte zur Linken, der ein Rasen mit sattgrünem Gras Schatten spendete, verborgen in diesem Frühlingskleid plauderte scherzend ein [315] Bächlein, in langsamem Lauf benetzte es geschwätzig die tiefer liegenden Bereiche und ließ die Berge durch sein Rauschen keine weiteren Geräusche vernehmen. Hier ließ Mutter Cybele alles hervorsprießen, indem sie dich, Flora, mit dem Zephyr vermählte, und die Gunst der Quelle verlieh dem Tal seine Fruchtbarkeit. Die Feldherrnrede des Darius (319–371) Von dort aus richtete Darius [320] freundlich den Blick zu den am Fuße des Hügels stehenden Scharen der einfachen Soldaten und auch der Vornehmen. Nachdem alle Anführer herbeigerufen worden waren, teilte er gruppenweise diejenigen ein, die zuerst in die Schlacht ziehen sollen. Zuletzt gab Darius mit gütiger Stimme wohlerwogene Bitten von sich und der Anblick seines reifen Äußeren allein hätte dabei Zuneigung verdient gehabt: [325] »Perser, ihr Erben der Götter, du im Krieg einzigartiges Volk, das vom altehrwürdigen Belus abstammt, der es als erster verdient hat, auf einem heiligen Bild verehrt zu werden und unter den Himmlischen auf einem mit Sternen besetzten Thron seinen Platz zu finden, lasst alle Furcht fahren. Verblendung ist es und nicht gehört es sich, von Kampf zu sprechen, [330] wenn Sklaven gegen ihren Herrn mit Waffen Missbrauch treiben. Rache ist es und nicht Krieg, wenn Herrscher rebellische Sklaven ergreifen, als Gefangene zu ihren Untertanen machen und so das Vaterland beschützen. In der Meinung, alles werde ihm weichen, lässt sich jener knabenhafte Bastard nach der Machtübernahme in seinem Reich von der Leidenschaft der Jugend [335] leiten und stürzt sich unvorsichtig in alle Gefahren. Lieber will er auf dem Schlachtfeld sterben, als besiegt von dort

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et iam spe vacuus animo lentescit inani, dampnorumque memor que Granicus intulit amnis, incipit afflictis partim diffidere rebus. Pro pudor! In rerum dominos, quibus omne metallum servit, servi inopes pauci sine viribus audent. Scire velim, Macedo, quibus inspirante Megera artibus illius Ciri te posse potiri imperio iactas cui Lidia Cresus et omnes curvavere genu quocumque sub axe tyranni, qui licet extinctus me successore superstes regnat, et in vivo vivit fortuna sepulti. Si veterum monimenta manent, si mente recordor scripta patrum memori, quis nos a stirpe Gygantum ignoret duxisse genus? Quis bella deorum, quis coctum laterem structamque bitumine turrim nesciat a proavis, magnaeque quis immemor urbis cui dedit aeternum labii confusio nomen? Ergo agite, o proceres! Patrium revocate vigorem. Pro patria stare et patriae titulis et honori invigilare decet ne pauper et advena victor conculcet pedibus terram et monimenta parentum. At si quem vestrum, quod abhominor, improbus hostis excutiat campo profugumque per arva fatiget, si michi si patriae si civibus arma negatis, uxores saltim ac nati, quos hostica clades obteret in castris, moneant in bella reverti. Non tamen id vereor, quia iam victoria Persis applaudit ducibus. Etenim ludente favilla

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weichen. Bar jeglicher Hoffnung lässt er den Mut bereits sinken, eingedenk der Verluste, die er am Granikus hinnehmen musste, beginnt er teilweise schon an seiner misslichen Lage zu verzweifeln. [340] Welch eine Schande! Ein paar armselige und kraftlose Sklaven wagen es, gegen die Herren der Welt, denen alle Metalle dienstbar sind, aufzubegehren. Gerne möchte ich wissen, Makedone, aufgrund welcher Fähigkeiten du dich, von Megaera befeuert, prahlerisch dem irrigen Glauben hingibst, dich des Reichs jenes Cyrus bemächtigen zu können, dem Lydien, Krösus und alle Herrscher rings auf Erden [345] das Knie gebeugt haben. Cyrus ist zwar nicht mehr am Leben, doch herrscht er – durch meine Nachfolge zum Leben erweckt – noch immer und des Bestatteten Schicksal lebt im heute lebenden König weiter. Wenn die Denkmäler der Alten Bestand haben, wenn ich mir die Schriften der Vorfahren mit wachem Geist in Erinnerung rufe, wer [350] wüsste dann nicht, dass wir unser Geschlecht von den Giganten herleiten? Wer kennte nicht ihren Kampf mit den Göttern, wer nicht die Ziegelsteinmauern und den von unseren Vorfahren mit Erdpech errichteten Turm? Und wer könnte die große Stadt vergessen, der die Verwirrung der Sprachen den Namen verlieh? Also wohlan, ihr Edlen! Erneuert in euch die Tatkraft der Väter. [355] Jetzt müssen wir für das Vaterland unerschütterlich unseren Mann stehen und auf den Ruhm und die Ehre der Heimat bedacht sein, damit der armselige Fremdling als Sieger nicht das Land und die Denkmäler unserer Vorfahren mit Füßen tritt. Wenn aber der ruchlose Feind einen von euch – was die Götter verhüten mögen – vom Schlachtfeld vertreiben und auf der Flucht über die Felder bis zur Erschöpfung verfolgen sollte, [360] wenn ihr mir, wenn ihr dem Vaterland, wenn ihr den Bürgern den Kriegsdienst verweigert, sollen euch zumindest die Ehefrauen und Kinder, die dann im Lager des Feindes ihr grausames Schicksal ereilen wird, ermahnen, in den Kampf zurückzukehren. Aber nicht befürchte ich dies, weil Victoria schon den persischen Anführern ihre Gunst gewährt: Im Traum nämlich erblickte ich, wie die Zelte

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ardere in sompnis Macedum tentoria vidi vesanumque ducem ritu Babilonis amictum purpureo luxu subeuntem menibus urbis, ad me perlatum, dehinc evanescere raptum. Quid moror? Aeternum testor iubar, aurea solis lumina, cui dedimus nostris in finibus ortum, hostis erit quicumque fugae laxabit habenas.” Plura locuturo celeri pede nuncius affert deseruisse locum Grecos pavidasque choortes consuluisse fuge, iam per compendia saltus ad pelagus rapuisse gradum perque ardua rupis precipitasse viam. Mollem sic principis aurem pascit adulator; fluitat percussus inani leticia dampnatque moras. Exercitus ergo flumine transmisso per saxa per invia raptim querit iter profugumque parat prevertere regem. Quo ruitis, peritura manus? Iuvenemne putatis invictum fugere hunc, qui quovis crimine credit turpius esse fugam, qui ne fugiatis inertes hoc solum metuit? Etenim si forte daretur optio talis ei, fugiens an vincere mallet quam vinci a profugis hostique resistere victus, forsitan ambigeret utrum minus esset honori.

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der Makedonen funkensprühend [365] brannten und ihr wahnsinniger Anführer, nach babylonischem Brauch in ein Gewand von purpurner Pracht gehüllt, sich der Mauer der Stadt näherte, mir übergeben wurde und – obgleich schon ergriffen – plötzlich für immer entschwand. Was halte ich mich mit Worten auf? Als Zeugen rufe ich das ewige Licht, das goldene [370] Auge der Sonne an, dem wir in unserem Land den Aufgang gewährt haben: Unser Feind wird sein, wer in vollem Galopp die Flucht ergreift.« Der verhängnisvolle Irrtum der Perser (372–387) Als Darius fortfahren wollte, brachte ihm ein Bote in schnellem Lauf die Nachricht, dass die Griechen ihre Stellung verlassen hätten und die Truppen ängstlich geflohen, sie schon auf Abkürzungen durch den Wald [375] zum Meer hinuntergeeilt und auf dem Weg durch die steile Felslandschaft hinabgeprescht seien. So erfreute der Schmeichler das empfängliche Ohr des persischen Königs. Auch wenn er von nichtiger Freude ergriffen noch schwankte, so duldete er doch keinen weiteren Aufschub. Also suchte das persische Heer nach Überquerung des Flusses über Felsen hinweg durch unwegsames Gelände hastig [380] seinen Weg und schickte sich an, den fliehenden Alexander zu stellen. Wohin eilt ihr so überstürzt, todgeweihte Schar? Glaubt ihr etwa, dass ausgerechnet dieser bisher unbesiegte junge Mann die Flucht ergreift, der Flucht für schändlicher hält als jedwedes Verbrechen, den allein die Furcht umtreibt, dass ihr feige flieht? Denn wenn er möglicherweise [385] die Wahl hätte, lieber fliehend zu siegen, als vom fliehenden Gegner besiegt zu werden und dem Feind geschlagen noch Widerstand zu leisten, dann wäre er wohl unschlüssig, welche der beiden Möglichkeiten unehrenhafter wäre.

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Iam Chaldea cohors Ysson festina propinquans proditur excubiis. Auri lapidumque nitore fulgurat armorum series graditurque rapaci turbine pulvereo furata volumine solem. Providus aeria currens speculator ab arce nunciat Argolicis Babilonis adesse tyrannum et genus omne hominum. Vix credere sustinet ille, quem belli mora sola movet. Prior ergo maniplis intonat “Arma arma, o Danai.” Prior urbe relicta fulminat in Persas, sequitur galeata iuventus. Sic ruit in predam ieiuna fauce Lycaon, cuius opem sicco mendicat ab ubere pendens vagitus prolis, tandemque inpegit in agros cedis amica fames vacuis concepta sub antris. Stat pecus attonitum, quod nec fugere audet, et ipsum si fugiat, nemoris alios incurret hyatus. Copula diripitur canibus, quos ore canoro et baculo et palmis irritat ab aggere pastor. Haut aliter Macedum rex debachatur in illam barbariem que nunc profugum pavitare ferebat. Hos ubi discretis acies adversa catervis aspicit in bellum subito prodire volatu, spem sibi mentitam metuens, in prelia mente

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Perser und Griechen bringen sich in Stellung (388–407) Schon war das persische Heer, eilig sich Issus nähernd, von griechischen Posten entdeckt worden. Durch den Glanz des Goldes und der Edelsteine [390] blitzten die Reihen der persischen Waffenträger, sie schritten in wildem Getümmel voran und verdunkelten mit dem von ihnen aufgewirbelten Staub die Sonne. Von luftiger Anhöhe eilend, meldete ein aufmerksamer griechischer Späher, dass sich der persische König mit seinem gesamten Heer im Anmarsch befinde. Kaum konnte Alexander dies glauben, [395] den allein der Aufschub des Kriegs mit Sorge erfüllte. Dem Heer als erster voranreitend, rief er: »Zu den Waffen, zu den Waffen, ihr Griechen.« In vorderster Front stürzte er sich nach Verlassen der Stadt wie ein Blitz auf die Perser, ihm folgte die behelmte Jugend. So stürzt sich mit hungrigem Maul auf seine Beute der Wolf, dessen Hilfe der wimmernde und an trockenen Zitzen hängende [400] Nachwuchs erbettelt und den schließlich der in leerer Höhle entstandene Hunger, der Gefährte der Mordlust, zur Weide hin jagt. Das Vieh, das nicht zu fliehen wagt, bleibt wie angewurzelt stehen, und wenn es dem Wolf entkommen sollte, wird es anderen wilden Tieren des Waldes zum Opfer fallen. Von der Leine gelassen sind die Hunde, die der Hirte mit lauter Stimme [405] und einem Stock und wild gestikulierend von einem Hügel aus antreibt. Nicht anders stürzte sich der König der Makedonen auf jenes Barbarenheer, das zuvor noch überall erzählt hatte, dieser fliehe gerade ängstlich. Darius und das persische Heer (408–421) Als das persische Heer mit Verwunderung sah, wie die Griechen in getrennten Abteilungen mit großer Geschwindigkeit vorrückten, stürzte es – ob der getrogenen Hoffnung [410] schaudernd – fassungslos zwar in die Schlacht, der Lärm und die Wucht der in den

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consternata ruit, sed vox et in arma ruentum impetus et discors exercitus agmina turbat. Quippe viae pocius quam bello hostique terendo aptus erat miles. Darius tamen, agmine rursus disposito, caute secum deliberat hostem a fronte a tergo vi circumcingere multa. Utile propositum, regique suisque salubre, quod ratus est, verum ratione potentior omni discussit Fortuna procax, que sola tuetur tuta, gravata levat, cassat rata, federa rumpit, infirmat firmum, fixum movet, ardua frangit. Iam Macedum series certo stabilita tenore inque acies distincta suas montana tenebat. Rex stabilem peditum tamquam insuperabile vallum opposuit Persis in prima fronte phalangem. In dextro cornu prefecti iura Nicanor Parmenionis habet, illi Tholomeus Amyntas Perdicas Cenos Clytus et Meleager adherent, unusquisque sui dux agminis. At tibi levum commissum est cornu qui nulli Marte secundus, Parmenio. Sequitur alacer Craterus, eisque iungitur Antigonus et turbidus ense Phylotas. Hostibus expositus ante omnia signa suorum, cornipedem vexans in dextro Marte choruscat casside flammanti gladioque tremendus et hasta

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Kampf stürzenden Griechen sowie die Uneinigkeit in den eigenen Reihen jedoch ließen die persischen Truppen in Unordnung geraten, da sie besser marschieren konnten, als dem Feind in der Schlacht gegenüberzutreten. Nachdem Darius sein Heer wieder geordnet hatte, [415] zog er nicht unklug in Erwägung, den griechischen Feind von allen Seiten mit starken Einheiten zu umzingeln. Diesen für den König und die Seinen als vorteilhaft erachteten Plan vereitelte jedoch, mächtiger als jegliche Planung, die dreiste Fortuna. Sie allein schützt ohnehin schon Beschütztes, [420] lindert Beschwernis, macht Festgesetztes zunichte, bricht Verträge, schwächt auch den Starken, bringt einmal gefällte Entscheidungen ins Wanken und lässt hochragende Pläne scheitern. Alexander vor der Schlacht bei Issus (422–493) Hinführung zur Feldherrnrede Alexanders (422–449) Gefestigt durch eine geschlossene Front und in ihre Heeresabteilungen gegliedert, hielt das makedonische Heer schon das Bergland besetzt. Wie einen unüberwindlichen Wall stellte Alexander [425] den Persern in vorderster Front die standhafte Phalanx der Fußsoldaten entgegen. Auf dem rechten Heeresflügel führte mit Nicanor der Sohn Parmenions das Kommando, jenem wichen als Anführer eines jeweils eigenen Trupps Ptolemaeus, Amyntas, Perdicas, Coenus, Clitus und Meleager nicht von der Seite. Dir aber, Parmenion, dem im Krieg niemand das Wasser reichen kann, [430] war der linke Heeresflügel anvertraut worden. Ihm folgte der muntere Craterus, beiden stellte man Antigonus und den leidenschaftlich mit dem Schwert kämpfenden Philotas zur Seite. Vor allen Bannern der Seinen in gefährlicher Nähe zum Feind glitzerte auf der rechten Seite des Schlachtfelds [435] im flammenden Helm, mit Schwert und Lanze Schrecken verbreitend und sein Pferd hin und her wendend,

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armipotens Macedo. Lateri iunctissimus heret conscius archanis, studio par regis et evo, sed longe rosea prestans Effestio forma. Precedens igitur hilaris vexilla quiritum, prefectos prece sollicitat, blanditur amice, consolidat dubios, animos audentibus auget, errantes reprimit sparsasque recolligit alas. Spe libertatis servos, tenues et avaros invitat precio, lente gradientibus hasta innuit ut properent, nunc hos nunc circuit illos, nunc arcus lentare monet, nunc fundere glandes si procul insistant acies, nunc hoste propinquo rem gladio gerere, nunc querere fata bipenni; dumque gradus inhibent, hec illis pauca profatur: “Martia progenies, quorum ditione teneri, legibus astringi totus desiderat orbis, ecce dies optata, parat qua provida nobis solvere promissum tociens Fortuna tryumphum, cuius in Europa dudum preludia sensi cum genus Aonidum totamque a sedibus urbem delestis soloque metu domuistis Athenas. Cernitis inbelles auro fulgere catervas, cernitis ut gemmis agmen muliebre choruscet: Pretendit predae plus quam discriminis. Aurum

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der waffengewaltige Alexander. Ganz eng an seiner Seite kämpfte Hephaestio, Mitwisser heimlicher Taten, an Eifer und Alter dem König gleich, doch weit überlegen an zarter Schönheit. Während Alexander also den Feldzeichen der Soldaten heiter vorausritt, [440] stachelte er mit Bitten die Kommandanten der einzelnen Truppenabteilungen an, schmeichelte ihnen freundlich, ermutigte die Zweifelnden, stärkte den ohnehin Kühnen den Mut, brachte Schwankende wieder auf Linie und ordnete die versprengten Flügel des Heeres. Mit der Hoffnung auf Freiheit verlockte er die Sklaven, entflammte die Leute niederen Standes und die Gierigen mit der Aussicht auf Beute und zeigte den träge Voranschreitenden mit der Lanze an, [445] sich zu beeilen. Bald machte er die Runde bei diesen, bald bei jenen, bald erinnerte er sie noch einmal daran, die Bogen hart zu spannen und die Kugeln weit zu schleudern, wenn die feindlichen Schlachtreihen sich noch in einiger Entfernung befänden, bald im Nahkampf mit dem Feind das Schwert einzusetzen und die Entscheidung mit der Doppelaxt zu suchen. Als sie zum Stehen kamen, sprach er sie in der gebotenen Kürze folgendermaßen an: Die Feldherrnrede Alexanders (450–486) [450] »Söhne des Mars, der ganze Erdkreis sehnt sich danach, eurer Herrschaft und eurer Gerichtsbarkeit zu unterstehen. Seht, hier ist der langersehnte Tag, an dem sich die vorsorgende Fortuna anschickt, uns den oft versprochenen Sieg zu gewähren. Einer ihrer diesbezüglichen Kostproben wurde ich unlängst in Europa ansichtig, [455] als ihr die Thebaner besiegt und die ganze Stadt dem Erdboden gleichgemacht sowie Athen allein durch die Androhung von Gewalt gefügig gemacht habt. Ihr seht die feigen Scharen der Perser von Gold glänzen, ihr seht, dass deren verweichlichtes Heer von Edelsteinen schimmert: Es trägt eher die Beute zur Schau als

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vincendum est ferro. Tantum didicere minari deliciae molles, gladios et vulnus abhorrent. Letifer illorum scrutatus viscera mucro cum semel hostili resperserit arva cruore, per saltus per saxa fugae divortia querent. Quanta mei vobis sit cura, probare licebit cum gladios hebetes fractos, cum videro quassos ictibus umbones. Ferientis dextera mentis exprimet affectum. Tantum sub pectore vobis carus Alexander, quantum permiserit ensis. Vincite iam victos. Gladio qui parcit in hostem, ipse sibi est hostis. Vitam qui prorogat hosti, derogat ille suae. Non est clementia bello hostibus esse pium. Gravis est sibi dignaque cedi cedis parca manus. Segnes incurrere mortem, dum pavitant, audent sed non occurrere morti. A Persis ducibus quociens illata Pelasgis mentibus occurrunt iniuria prelia cedes! Creditis esse satis patrum luere acta nepotes? Plurimus in penas populus non sufficit iste. Europae strages Asiae pensabo ruinis. Media cum Dario Xersis commissa piabit. Me duce signa, duces, producite; me duce vallum sternite, consertos incedite cede per hostes. Prelia non spolium mecum discernite. Cedant premia preda meis, michi gloria sufficit una.

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den Willen zur Entscheidung. Gold muss [460] durch Eisen besiegt werden. Die weichlichen Schwächlinge haben nur gelernt, Drohgebärden von sich zu geben, vor dem Schwert und vor Wunden schrecken sie indes ängstlich zurück. Wenn das todbringende Schwert erst einmal deren Eingeweide durchwühlt und das Schlachtfeld mit persischem Blut getränkt hat, werden sie über waldige Gebirge und Felsen abseitige Pfade zur Flucht suchen. [465] Wie groß eure Hingabe mir gegenüber ist, wird sich erweisen, wenn ich stumpfe, zerbrochene Schwerter und von Hieben zerborstene Schilde erblicke. Die rechte Faust eines kämpfenden Mannes allein wird dessen Loyalität mir gegenüber zum Ausdruck bringen können. Alexander liegt euch im selben Maße am Herzen, wie euer Schwert dies zulassen wird. [470] Besiegt die bereits Besiegten. Wer das Schwert im Kampf mit dem Feind schont, ist sich selbst Feind. Wer dem Feind das Leben verlängert, der verkürzt sich sein eigenes Leben. Es ist kein Zeichen von Milde, im Krieg den Feinden gegenüber Gnade walten zu lassen. Eine Last für sich selbst und würdig abgeschlagen zu werden, ist eine Hand, die zurückhaltend tötet. [475] Die Schwachen wagen es nur, dem Tod ängstlich entgegenzugehen, dem Tod mutig zu trotzen, wagen sie aber nicht. An wie viel Unrecht, an wie viele Schlachten und an wie viele Bluttaten, allesamt von persischen Anführern begangen, können sich Griechen erinnern! Reicht es eurer Meinung nach aus, dass die Enkel für die Taten der Väter bezahlen? Dieses riesige Volk ist nicht groß genug für die zu erleidende Strafe. [480] Die von den Persern verschuldete Verwüstung Europas werde ich mit dem Untergang des Perserreichs sühnen. Medien und Darius werden für Xerxes’ Taten ihre gerechte Strafe erhalten. Führt unter meiner Führung, ihr Anführer, die Feldzeichen voran; reißt unter meiner Führung die Verschanzungen nieder, durchstoßt mit gezücktem Schwert die zur Schlacht aufgestellten feindlichen Reihen. Teilt mit mir die Schlacht, nicht aber die Beute. [485] Die Beute soll meinen Soldaten als Lohn zuteil wer-

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Rem vobis, michi nomen amo.”

Sic fatur, et ecce concurrunt acies. Persae clamore soluto horrisonis vexant tenues ululatibus auras. Classica terrifico distingunt arva boatu. Fit sonus utrimque, lituis illiditur aer, et referunt raucos montana cacumina cantus, queque sonos iterat purum sine corpore nomen responsura fuit numquam tot vocibus Echo. Arma tamen Darii multo sudore fabrili parta micant referuntque virum monimenta priorum. Emulus ad litem iubar insuperabile solis invitat clipeus septeno fusilis orbe. Fulget origo patrum Darii gentisque prophanus ordo Gyganteae, quorum sub principe Nemphrot Sennachar in campo videas considere fratres terrigenas, ubi, diluvii dum fata retractant, coctile surgit opus. Sermo prior omnibus unus scinditur in varias, dictu mirabile, linguas. Parte micans alia sacram molitur ad urbem rex Chaldeus iter. Fulgent insignia patrum prelia et Hebrea celebres de gente tryumphi.

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den, mir genügt der Ruhm allein. Reichtum für euch und Ruhm für mich wünsche ich mir.« Die Schlacht beginnt (486–493) So sprach er. Da begannen die Heere zu kämpfen. Die Perser ließen ihren Kampfruf erschallen und erschütterten mit schaurig tönendem Geschrei die zarten Lüfte. Trompetenstöße durchdrangen das Schlachtfeld mit schreckenerregendem Schmettern. [490] Auf beiden Seiten herrschte lärmendes Treiben, die Luft erdröhnte von Signalhörnern, die hohen Berge gaben den dumpf tönenden Klang wieder und nicht einmal die widerhallende Echo – nur mehr ein bloßer Name ohne Körper – hätte jemals so vielen Lauten antworten können. Der Schild des Darius (494–529) Weithin aber funkelte Darius’ Schild, von Künstlerhand in schweißtreibender Arbeit [495] gefertigt, und zeigte die denkwürdigen Taten früherer Helden. Rivalisierend forderte der in sieben Kreisen gegossene Rundschild das unbezwingliche strahlende Licht der Sonne zum Wettstreit heraus. Er ließ Darius’ Ahnen und der Giganten gottlose Riege erstrahlen, deren erdgeborenen Brüder man erkennen konnte, wie sie unter der Herrschaft des Nimrod [500] von Schinar sich in der gleichnamigen Ebene niederließen, wo sich in Erinnerung an das Schicksal der Sintflut der aus Backsteinen geschaffene Turm zu Babel erhob. Dort wurde – erstaunlich zu sagen – die einst gemeinsame Sprache in vielerlei Zungen getrennt. Auf einem anderen Teil des Schildes zog [505] der chaldäische König in prunkvollem Glanz in feindlicher Absicht zur Heiligen Stadt. Es erstrahlten die gewaltigen Kämpfe der Väter und die rühmlichen

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Victoris sequitur deiecto lumine currum captivata tribus. Muris temploque redactis in planum, hostilis infertur menibus urbis privatus solio gemina cum luce tyrannus. Ne tamen obscurent veterum preconia regum quorundam maculae, sculptoris dextera magnam preteriit seriem quam pretermittere visum est. Inter tot memoranda ducum regumque tryumphos, agresti victu pastum et fluvialibus undis turpe fuit regem versa mugire figura. Rursus in effigiem sensu redeunte priorem preteriit vixisse patrem, quem filius amens, ne numquam patria regnaret solus in urbe, consilio Ioachim, proch dedecus, alite diro membratim lacerum sparsisse per avia fertur. Ultima pars clipei Persarum nobile regnum inchoat. In sacro libantem Balthasar auro scribentisque manum conversaque fata notantis aspicias, cuius occultum enigma resolvit vir desiderii. Sed totum circuit orbem atque horas ambit clipei celeberrima Cyri hystoria. A tanto superari principe gaudet Lidia et ambiguo deceptus Apolline Cresus.

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Siege über das Geschlecht der Hebräer. Mit gesenktem Blick folgte das in Gefangenschaft geratene Volk der Hebräer dem Wagen des Siegers. Nachdem der Tempel und die Mauern der Stadt dem Erdboden gleichgemacht worden waren, wurde der König von Juda, [510] des Throns und seines Augenlichts beraubt, in die Mauern der feindlichen persischen Stadt getrieben. Damit jedoch die Schandtaten mancher die Lobpreisung der alten Könige nicht verdunkeln, hat die Hand des Künstlers in langer Reihe jene Episoden stillschweigend übergangen, die auszulassen ihm zweckmäßig erschienen. Schmachvoll wäre es gewesen, unter so vielen denkwürdigen Siegen von Anführern und Königen einen [515] mit ländlicher Kost und Wasser aus einem Fluss versorgten König darzustellen, der in verwandelter Gestalt wie ein Ochse brüllt. Auch nicht abgebildet hat der Künstler, dass jener Vater, wieder in die ursprüngliche Menschengestalt verwandelt, noch am Leben war, jener Vater nämlich, den sein wahnsinniger Sohn [520] auf Anraten Joachims – welch eine Schmach – von einem schrecklichen Vogel nach und nach in Stücke zerfetzt, auf abgelegenen Wegen ausgestreut haben soll, um künftig allein in seiner Heimatstadt herrschen zu können. Der letzte Teil des Schildes versuchte das ruhmvolle Reich der Perser darzustellen. Man konnte Belsazar erkennen, wie er aus einem heiligen Goldbecher trank, und die Hand des Schreibers, der dessen umschlagendes Schicksal notierte [525] und dessen dunkles Geheimnis der Mann der göttlichen Liebe deutend entwirrte. Aber das ganze Rund und den äußeren Rand des Schildes umgab die ruhmreiche Geschichte des Cyrus. Von einem solchen König besiegt zu werden, freute sich Lydien und auch der von einem doppeldeutigen Spruch Apollons getäuschte Croesus.

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Ausa tamen Tamiris belli temptare tumultus viribus opponit vires belloque retundit infractum bellis et iniquo sydere mergit tot titulis illustre caput. Proch gloria fallax imperii, proch quanta patent ludibria sortis humanae! Cyrum terrae pelagique potentem, delicias orbis, quem summo culmine rerum extulerat virtus, quem fama locabat in astris, qui rector composque sui, qui totus et unus malleus orbis erat, inbellis femina fregit. Parcite, mortales, animos extollere fastu collatis opibus aspernarique minores. Parcite, victores, ingrati vivere summo victori. Vires sceptrum diadema tryumphos divicias dare qui potuit, auferre valebit.

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Autorexkurs zur Vergänglichkeit irdischer Macht (530–544) [530] Tamyris jedoch stürzte sich wagemutig in das Schlachtgetümmel und setzte Gewalt der Gewalt entgegen, schlug mit Krieg den zuvor im Krieg unbesiegten Cyrus und brachte ein durch so viele Ehren ausgezeichnetes Haupt in einer für diesen König feindlichen Gegend zu Fall. Wie trügerisch ist doch der Ruhm der Macht, wie sehr treibt das Schicksal sein Spiel [535] mit den Menschen! Selbst der zu Land und zu Wasser mächtige Cyrus, der Liebling des Erdkreises, den seine Mannhaftigkeit auf den höchsten Gipfel der Macht geführt hatte, den der Ruhm unter die Sterne versetzt hat, Herrscher und Fürst über sich selbst, unübertroffener Hammer der Welt, unterlag einer dem Krieg abgeneigten Frau. [540] Hütet euch davor, ihr Sterblichen, im Reichtum übermütig zu werden und die Armen und Schwachen zu verachten. Hütet euch davor, ihr Sieger, dem größten und höchsten Sieger gegenüber in Undank zu leben. Denn Gott, der das Szepter, die königliche Macht, Triumphe und Reichtümer geben konnte, wird auch die Macht haben, sie euch wieder zu nehmen.

Liber III Capitula tercii libri Tercius arma canit populosque in fata ruentes. Vincuntur Persae. Darii preciosa supellex diripitur, soror et mater capiuntur et uxor septennisque puer. Capta Sydone Tyroque funditus eversa magno discrimine Gaza vincitur, et Lybicus a paucis visitur Hamon. Interea Darius reparato robore rursus maior in arma ruit. Fit seditionis origo in castris Macedum lunae defectus, et ecce consulti vates duro de tempore tractant.

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Tercius liber Iam fragor armorum, iam strages bellica vincit clangorem lituum, subtexunt astra sagittae, missiliumque frequens obnubilat aera nimbus. Primus in oppositos pretenta cuspide Persas, ocius emisso tormenti turbine saxo, torquet equum Macedo qua consertissima regum

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Buch III Themenübersicht (1–10) Das dritte Buch kündet von Kämpfen und Völkern, die ihrem Schicksal entgegeneilen. Die Perser verlassen als Verlierer das Schlachtfeld. Die wertvolle Ausrüstung des Darius wird geplündert; die Schwester, die Mutter, die Ehefrau und der siebenjährige Sohn werden gefangen genommen. Nach der Einnahme von Sidon [5] und der vollständigen Zerstörung von Tyrus wird auch Gaza nach heftigem Kampf besiegt. Mit kleinem Gefolge besucht Alexander das ägyptische Hammon-Orakel. Darius stürzt sich nach der inzwischen erfolgten Erneuerung seiner Streitkräfte stärker noch als zuvor ein weiteres Mal in den Kampf. Eine Mondfinsternis verursacht im Lager der Makedonen einen Aufruhr, da [10] beraten die hinzugezogenen Seher über die missliche Lage. Die Schlacht bei Issus (1–214) Das Aufeinandertreffen der feindlichen Heere (1–3) Schon übertönte das Klirren der Waffen und die wimmelnde Masse der Krieger das Signal der Hörner, ein Pfeilhagel versperrte den Blick auf die Sonne und eine Vielzahl von Geschossen verfinsterte den Himmel. Alexanders Schnelligkeit und Entschlossenheit (4–10) Als erster lenkte Alexander, [5] schneller als ein von einer Wurfmaschine geschleuderter Stein, mit seinem auf die gegnerischen Perser gerichteten Speer sein Pferd dorthin, wo die zusammengezogenen

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auro scuta micant, ubi plurima gemma superbis scintillat galeis, qua formidabile visu aurivomis patulas absorbens faucibus auras igniti Dario prefertur forma draconis. Querentique ducem quem primo vulnere dignum obruat obicitur Syriae prefectus Arethas, cuius ab aurata volitans ac pendulus hasta vendicat astra leo, galeam carbunculus urit. Primus Alexandri tremebundo traicit ictu Chaldeus clipeum, sed fraxinus asseris artum formidans aditum fracto crepat arida ligno. Gnaviter occurrens ferro Pelleus Arethae dissipat umbonem qua barbara bulla diescit principis in clipeo, nec eo contenta trilicis loricae dissartit opus, cordisque vagatur per latebras animamque bibit letalis harundo. Occidit occisus, largoque foramine manans purpurat arva cruor. Regem clamore fatetur altisono vicisse suum primumque tulisse primicias belli, faustum sibi predicat omen Greca phalanx letoque ferunt ad sydera plausu.

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Schilde der persischen Fürsten golden erstrahlten, wo eine Unzahl von Edelsteinen an stolzen Helmen funkelte, wo man dem persischen König – welch ein schrecklicher Anblick – [10] das Abbild eines feurigen Drachen vorantrug, der mit von Gold gleißendem Rachen die weiten Lüfte verschlang. Alexander gegen Arethas (11–27) Dem Makedonenkönig, der nach einem persischen Fürsten Ausschau hielt, den er – würdig der ersten Wunde – vernichten könnte, stellte sich mit Arethas der Satrap von Syrien in den Weg. Von dessen goldener Lanze hing flatternd das Bild eines Löwen herab, das mit seinem Glanz die Sonne herausforderte, und dessen Helm schien ein Edelstein zu entflammen. [15] Zuerst beschädigte der Chaldäer mit einem gewaltigen Speerwurf den Schild Alexanders, doch der trockene Schaft des Speers zersplitterte krachend, da er nicht ganz durch die schmale Öffnung im schützenden Rund hindurchbrechen konnte. Alexander, der Arethas sogleich energisch entgegeneilte, durchstieß mit der Lanze die Schutzwaffe seines Gegners an eben jener Stelle, wo der Edelstein nach Perserart am Schildbuckel [20] des Fürsten erstrahlte. Doch damit noch nicht zufrieden, durchdrang ein todbringender Pfeil den dreifach geflochtenen Panzer des Persers, blieb in der Tiefe des Herzens stecken und nahm ihm auf diese Weise das Leben. So fiel Arethas geschlagen zu Boden und das aus klaffender Wunde strömende Blut rötete den Boden. Das griechische Heer bekundete [25] mit lautem Geschrei, dass ihr König gesiegt und als erster die Früchte des Kriegs davongetragen habe, es pries diesen Sieg als ein für die eigene Sache günstiges Vorzeichen und mit fröhlichem Beifall trugen die Soldaten ihren Jubel hinauf zu den Sternen.

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Densantur cunei. Clytus et Tholomeus in armis conspicui tanta levitate feruntur in hostes, in thauros quantum geminos rapit ira leones quos stimulat ieiuna fames, causamque furoris adiuvat excussae gravis obliquatio caudae. Hic Tholomeus equo Parthum Dodonta supinat timpora transfixum cerebroque fluente gementem. At conto Clytus Arthofilon evertere temptat, inque vicem sese feriunt, clipeisque retusa utraque dissiluit obtuso lancea ferro. Quadrupedi quadrupes armoque opponitur armus, pectora pectoribus, orbisque retunditur orbe, torax torace, gemit obruta casside cassis. Nec mora poblitibus ambo cecidere remissis vectores vectique simul, similesque peremptis exanimes iacuere diu. Sed corpora postquam convaluere, prior reparato robore rectum inque pedes sese recipit Clytus Arthofiloque surgere conanti solo furialiter ictu demetit ense caput et terrae mandat humandum. Preditus eloquio bello specieque sinistro fuderat in cornu Grecum Mazeus Yollam.

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Ptolemäus gegen Dodontes; Clitus gegen Androphilus (28–47) Einander näher gerückt waren inzwischen die Schlachtreihen. Ptolemaeus und Clitus stürzten sich prächtig gewappnet so schnell auf die Feinde, [30] wie die Kampfeswut zwei von elendem Hunger geplagte Löwen zur Stierherde hintreibt, wobei das heftige Schlagen des schräg gestellten Schwanzes ihre Leidenschaft nur noch vergrößert. Hier warf Ptolemaeus den Parther Dodontes rücklings vom Pferd, von dem – an den Schläfen durchbohrt und mit aufgeplatztem Schädel – nur noch ein Stöhnen zu vernehmen war. [35] Clitus aber versuchte Androphilus mit seinem Wurfspieß zu töten, sie trafen sich gegenseitig, doch von den Schilden aufgehalten, zersplitterten beide Lanzen wegen ihrer inzwischen stumpf gewordenen eisernen Spitze. Pferd wurde geführt gegen Pferd, Arm gegen Arm, zurückgestoßen wurden Brust von Brust und Schild von Schild, [40] es krachte Harnisch an Harnisch und der vom Helm getroffene Helm. Zugleich sanken samt ihrer Pferde die beiden Reiter mit wankenden Knien zu Boden, lange Zeit lagen sie dort wie zwei Tote ohnmächtig da. Nachdem sie aber wieder Herr ihrer Sinne waren, kam Clitus mit frischen Kräften als erster wieder [45] auf die Beine und schlug Androphilus, der gerade noch aufzustehen versuchte, mit dem Schwert in einem einzigen Hieb wütend den Kopf ab und übergab ihn so der Erde zur Bestattung. Iollas gegen Mazaeus (48–49) Auf dem linken Flügel hatte der redebegabte und schöne Mazaeus gerade den Griechen Iollas bezwungen.

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Ultor adest agilis stricto mucrone Phylotas, et quia Mazeum sonipes submoverat, Ochum cominus aggreditur, cuius latus ense bipertit. Interea multa sudantem cede Phylotam Hyrcani cingunt equites, quorum agmina rumpunt impiger Antigonus Cenos Cratherus et ipse Parmenio, sine quo nichil umquam carmine dignum gessit Alexander, sed que provenerit illi talio pro meritis magis arbitror esse silendum. Antigoni iacet ense Phylax, Mida cuspide Ceni. Amphilocum Craterus adit, quem casside rapta abstrahit exanimem curru iungitque ruenti Authomedonta suum, iam viscera rupta trahentem. More suo ruit in Persas dampnatus iniquo sydere Parmenio, cui regibus ortus Ysannes et Dinus incutiunt hastas lateri. Manet ille

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Philotas gegen Ochus (50–52) [50] Als Rächer war mit gezücktem Schwert der schnelle Philotas zugegen. Weil Mazaeus jedoch weitergeritten war, griff er stattdessen Ochus im Zweikampf an, dem er die Seite mit dem Schwert durchtrennte. Parmenions Bedeutung für Alexander (53–58) Inzwischen umringten Philotas, der vom vergossenen Blut nur so troff, hyrkanische Reiter, deren Reihen [55] der rastlose Antigonus, Cenos und Craterus durchbrachen und auch Parmenion selbst, ohne den Alexander niemals irgendetwas eines Heldengedichts Würdiges vollbracht hätte (was jenem als Lohn gemessen an solchen Verdiensten später zuteil wurde, darüber schweige ich lieber). Die Zweikämpfe des Antigonus, Coenus und Craterus (59–62) Phylax starb durch des Antigonus Schwert, Mida durch des Coenus Speer. [60] Craterus griff Amphilochus an, den er mit abgerissenem Helm leblos vom Wagen warf; dem Stürzenden ließ er dessen Wagenlenker folgen, der seine zerrissenen Eingeweide hinter sich herschleifte. Parmenions Bedeutung für die Schlacht bei Issus (63–72) In seiner üblichen Art drängte der unter keinem glücklichen Stern stehende Parmenion gegen die Perser vor. Mit ihren Lanzen trafen der königliche Hysannes [65] und Dimus diesen seitlich am Körper. Jener aber blieb unbeeindruckt stehen und sicherte die Flucht des

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immotus stabilitque fugam pavitantis Horestis, qui pedes exesae tendebat in ardua rupis. Hunc simul intuitus perfossum pectus Ysannem sternit equo profugumque equitem restaurat in arma, instantemque Dinum rapto mucrone lacerto cornipedis planta terit invalidumque relinquit. Hiis Agilon, hiis addit Elan Arabemque Cherippum. Parte alia furit Eumenidus Persasque lacescit nunc gladio nunc missilibus. Mucrone Dyaspen deicit, Eudochii telum in pulmone cruentat, dissicit ossa virum, procerum conculcat acervos. Nec minus in dextro dum pugnat Marte Nicanor, sanguine spargit agros, humectat cedibus equor. Cui iuvenis facie dives sed ditior ortu, quippe genus claro referens a sanguine Cyri, obviat Eclimus clipeumque Nicanoris ictu provocat, ut laterem tecti vaga veris in ortu grando ferire solet sed respuit aeris iram tuta domus. Verum durato corde Nicanor irruit in facinus miserandae cedis, eumque, qua candens oculis aperit lorica fenestram,

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ängstlichen Orestes, der einen ausgesetzten Felshang hinaufeilte. Während er seinen Kameraden im Auge behielt, durchbohrte er zugleich dem Hysannes die Brust, stürzte diesen vom Pferd und ermöglichte damit dem fliehenden Reiter die Rückkehr in den Kampf. [70] Nachdem er dem angreifenden Dimus mit dem Schwert einen Arm abgeschlagen hatte, zermalmte er diesen mit den Hufen seines Pferdes und ließ ihn wehrlos zurück. Den beiden fügte er den Agilus, den Hylas und den Araber Cherippus hinzu. Eumenides gegen Diaspes und Eudochius (73–76) Auf der anderen Seite wütete Eumenides und bekämpfte die Perser bald mit dem Schwert, bald mit Wurfgeschossen. Mit dem Schwert [75] streckte er Diaspes nieder, in der Lunge des Eudochius machte er seine Lanze blutig, zertrümmerte Männern die Knochen und stampfte zahlreiche Anführer nieder. Nicanor gegen Echinus (77–89) Ebenso kämpfte Nicanor auf der rechten Seite des Schlachtfelds, wo er die Fluren mit Blut tränkte und das Schlachtfeld mit dem Lebenssaft der Gefallenen benetzte. Diesem stellte sich Echinus in den Weg, ein junger Mann von erhabener Erscheinung, erhabener indes von Geburt, [80] da er von Cyrus’ berühmter Sippe abstammte; er reizte mit Schlägen den Schild des Nicanor derart, wie ein zu Beginn des Frühlings plötzlich auftretender Hagelschauer oft auf Dachziegel einprasselt, das sichere Haus dem Ansturm des Unwetters jedoch mit Leichtigkeit standhält. Nicanor jedoch [85] stürzte sich mit standhaftem Herzen in das beklagenswerte Gemetzel, traf ihn mit dem Speer an derjenigen Stelle, wo der glänzende Harnisch den Augen den Blick nach außen gestattete, und beraubte ihn so

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cuspide percellit et lumine privat utroque, dumque per unius aditum scelus ausa cucurrit fraxinus, alterius extinxit luminis usum. Stabat in adverso discriminis agmine duri clara propago Nini princeps Ninivita Negusar, doctus in obiectos dubia sevire securi, doctus et a tergo iaculis incessere fata. Nunc iaculo nunc ense furit, nunc vero bipenni excruciat cerebrum: iaculo perfoderat Elim Actoridem, Dorilon gladio viduaverat armo, fuderat Hermogenem cesa cervice securi. Hunc ubi multimoda vastantem cede Pelasgos intuitus, stricto celer advolat ense Phylotas, quaque super conum lucem vomit igne pyropus, pertundit galeam, sed lubrica discutit ictum. Non inpune tamen descendit mucro. Sinistram, quam sibi forte manum frontem pretenderat ante, amputat. Ecce parat ulcisci dextra sororem cedibus exposita et cedis secura securim librat et astanti casum casura minatur, ereptamque sibi gemeret fortasse Phylotas ante dies animam, sed equo prelatus Amintas opposuit clipeum, quem miro traicit ictu machina terribilis medioque umbone retenta est. Retrahere ardenti, qua iungitur ulna lacerto, ense viri instantis a pectore cesa recessit.

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beider Augen; während nämlich der Schaft des Speers mordlustig in das eine Auge eindrang, nahm er ihm damit zugleich auch die Sehkraft des anderen Auges. Philotas gegen Negusar (90–118) [90] Auf der gegenüberliegenden Seite des unerbittlich geführten Entscheidungskampfes stand mit Negusar des Ninus berüchtigter Spross, Herrscher von Ninive, geschult, mit der gefährlichen Doppelaxt im Zweikampf Mann gegen Mann zu wüten, und in der Lage, weit auch von hinten mit dem Speer seiner Feinde Schicksal zu besiegeln. Bald wütete er mit dem Speer, bald mit dem Schwert, bald [95] quälte er das Hirn seines Gegners mit der Doppelaxt: Mit dem Speer hatte er bereits Hilas, Aktors Sohn, durchbohrt, mit dem Schwert den Dorilus an der Schulter verstümmelt und den Hermogenes, vom Beil getroffen, niedergestreckt. Als Philotas sah, wie dieser die Griechen mit vielfachem Tode vernichtete, eilte er geschwind mit gezücktem Schwert herbei, durchstieß ihm den Helm eben an jener Stelle, [100] wo oben an der kegelförmigen Helmspitze die Bronze erglühte; die Glätte des Helms machte den Hieb jedoch unwirksam. Philotas’ Schwert fand jedoch seinen Weg weiter unten am Körper und schlug dem Negusar die Linke ab, die zuvor noch den vorderen Teil des Körpers geschützt hatte. Doch siehe da, die nun schutzlos den Schlägen ausgesetzte Rechte wollte die Schwester rächen, [105] schwang todesmutig das Beil und bedrohte, dem Tode selbst bereits nahe, den Gegner mit dem Tode. Philotas hätte vielleicht sein vorzeitiges Ende beklagt, doch Amyntas fing im vollen Galopp den Hieb mit dem Schild ab, in den [110] die schreckliche Waffe mit einem erstaunlichen Schlag eindrang und mitten am Schildbuckel stecken blieb. Negusar büßte beim Versuch, seine Waffe herauszuziehen, seine Elle ein, durch das Schwert des Angreifers vom Körper genau an derjenigen Stelle abgetrennt,

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Excitat interdum vires dolor. Ille, recisis in bello manibus se corpus inutile cernens, quod potuit fecit et equo se obiecit Yollae, tresque ruere simul. Periit perfossus Yollas et sonipes iaculis. Sed nec tibi, dure Negusar, missilium nimbus nec tanta ruina pepercit. Iam latet herba madens, terramque cadavera celant, arva natant sanie, complentur sanguine valles. Largus utrimque cruor, sed maior inebriat agros Persarum strages. Rarescit barbarus hostis tabescitque animo licet infinitus, eumque pauca manus Macedum non cessat cedere, quorum defectum numeri fervens audacia supplet. Hiis igitur iam terga fugae spondentibus instat fulmineus Macedo, perque invia tela per enses perque globos equitum, peditum stipante corona, ad Darium molitur iter. Sed contrahit agmen Oxathreus, Dario quo nemo propinquior ortu. Hic dolor, hic gemitus. Perit acris utrimque iuventus, involvitque ducum mors uno turbine turbam. Seminat in Persas leti genus omne cruentas excutiens Bellona manus: gemit ille recluso gutture, transiecto iacet ille per ilia ferro.

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wo sie mit dem übrigen Arm in Verbindung steht. Schmerzen steigern bisweilen die Kraft: Nach dem Verlust beider Hände und im Bewusstsein, mit seinem nutzlosen Körper nichts mehr ausrichten zu können, [115] machte er immerhin das, was er noch konnte, und warf sich dem Pferd des Iollas entgegen, alle drei stürzten zugleich. Von Lanzen durchbohrt starben Reiter und Ross; aber auch dich, unerbittlicher Negusar, hat der Geschosshagel, hat der gewaltige Untergang nicht verschont. Der Mut des makedonischen Heeres (119–139) Von Blut triefend war das Gras kaum noch zu erkennen, Leichen überdeckten den ganzen Boden, [120] die Gefilde waren von Eiter überströmt, von Blut überschwemmt waren die Täler. Beide Seiten beklagten herbe Verluste, aber die Perser entrichteten einen höheren Blutzoll. Obgleich in schier unendlicher Zahl angetreten, lichteten sich die persischen Reihen, es schwand ihre Zuversicht und die kleine Schar von Makedonen, deren [125] glühender Mut die zahlenmäßige Unterlegenheit ausglich, ließ nicht darin nach, diese zu zerschlagen. Den Persern also, die bereits ihr Heil in der Flucht suchten, setzte Alexander gleich einem Blitz nach und versuchte sich, ringsum beschützt von den eigenen Fußsoldaten, durch eine schier undurchdringliche Ansammlung von Speeren, Schwertern und Haufen von Reitern seinen Weg zu Darius zu bahnen. Doch [130] Oxathres, der Darius hinsichtlich seiner Abstammung so nahe stand wie sonst keiner, zog die Schlachtreihe wieder zusammen. Schmerzen und Wehklagen beherrschten die Szenerie. Zugrunde ging die hitzige Jugend auf beiden Seiten und der Tod führender Männer stürzte das Gefolge in ein heilloses Durcheinander. Indem Bellona ihre grausamen Hände schüttelte, brachte sie jegliche Todesart über die Perser: Einer jammerte mit durchtrennter [135] Kehle, ein anderer lag da mit einem durch die Eingeweide getriebenen

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Hunc sudis excerebrat, hunc fundit funda vel arcus. Ille vomit saniem fractis cervicibus. Illi intestina cadunt, alium sibi vendicat ensis. Hic obit, ille obiit. Hic palpitat, ille quiescit. Stabat ab opposito niveis pretiosus in armis Memphites Zoroas, quo nemo peritior astris mundanas prenosse vices: quo sydere frugis defectum patiatur ager, quis frugifer annus, unde nives producat hyemps, que veris in ortu temperies inpregnet humum, cur ardeat estas, quid dedit autumpno maturis cingier uvis, circulus an possit quadrari, an musica formet caelestes modulos, vel quanta proportio rerum quatuor inter se novit quis sydera septem impetus oblique rapiat contraria mundo, quot distent a se gradibus, que stella nocivum inpediat sevire senem, quo sydere fiat obice propitius, Martem quis temperet ignis, quam sibi quisque domum querat, quod sydus in isto regnet hemisperio. Motus rimatur et horas colligit, eventus hominum perpendit in astris. Parva loquor, totum claudit sub pectore caelum. Hic ergo in stellis mortem sibi fata minari contemplatus erat, sed enim quia vertere fati

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Speer, einen weiteren beraubte ein Spieß des Gehirns, einen anderen wiederum ließ die Schleuder oder der Bogen sterben. Jener spie mit zerfetztem Nacken eitriges Blut, jenem quollen die Eingeweide hervor, wieder einen anderen bestrafte das Schwert. Der eine starb gerade, ein anderer war schon gestorben. Der eine zuckte noch, ein anderer gab keinen Laut mehr von sich. Der Astrologe Zoroas (140–188) [140] Auf der anderen Seite stand der aus Memphis stammende Zoroas, prächtig in schneeweißer Rüstung: Keiner war kundiger, anhand der Sterne die Wechselfälle des irdischen Lebens im Voraus zu erkennen, als dieser: Ihm war bekannt, unter welchem Sternbild eine Missernte droht, welches Jahr fruchtbar ist, wodurch der Winter den Schnee erzeugt, welche [145] Wärme zu Beginn des Frühlings den Boden durchdringt, warum der Sommer heiß ist, was es dem Herbst ermöglicht, sich mit reifen Trauben zu umkränzen, ob die Quadratur des Kreises möglich ist, ob die Musik die Harmonie der Sphären nachahmt oder welches Verhältnis zwischen den vier Elementen besteht. Auch wusste er, welcher [150] Schwung die sieben Planeten im Unterschied zur Erde schräg mit sich reißt, um wie viel Grad diese voneinander entfernt liegen, welcher Stern den schädlichen Greis [Saturn] daran hindert zu wüten, durch welchen dagegen wirkenden Einfluss der Sterne dieser wohlwollend wird, welches Himmelsfeuer den Mars in die Schranken weist, welches Haus sich ein jeder Planet sucht und welche Sternbilder [155] die bekannte Hemisphäre regieren. Er erforschte der Planeten Bewegungen, berechnete die Stunden für ihren Umlauf um die Sonne und las in den Sternen der Menschen Schicksal. Um es kurz zu machen, er umschloss den ganzen Himmel in seiner Brust. Dieser nun hatte aus den Sternen seinen vom Schicksal bestimmten unmittelbar bevorstehenden Tod herausgelesen. Weil er aber den Lauf des

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non poterat seriem, penetrare audebat ad ipsum rectorem Macedum, toto conamine poscens a tanto cecidisse viro, vitamque perosus, mortem parturiens in prima fronte furoris occurrebat ei, curruque premebat ab alto grandine missilium pertusum principis orbem. Nec solum iaculis sed voce probrisque lacescit, atque ita: “Nectanabi non infitianda propago, dedecus eternum matris, cur vulnera perdis ignavos agitans? In me converte furorem si quid adhuc virtutis habes. Me contere, cuius miliciam claudit septemplicis arca sophiae et caput astriferum sibi vendicat utraque laurus.” Motus Alexander miseretur obire volentis ac placide subicit “proch monstrum, quisquis es,” inquit “Vive precor, moriensque suum ne destrue tantis artibus hospicium. Numquam mea dextera sudet vel rubeat gladius cerebro tam multa scienti. Utilis es mundo. Quis te impulit error ad amnes tendere velle Stigos, ubi nulla scientia floret?” Dixit. At ille pedes terrae se mandat, eique, qua se dissocians ocream lorica relinquit, sauciat ense femur et dedicat arva cruore. Infremuit Macedo, Zoroaeque ut parcere posset, admissum procul egit equum. Sic ergo remotus continuit bilem, verum Meleager eodem irruit, et Zoroae, qua cruri tibia nubit, cedit utrumque genu. Tum cetera turba iacentem comminuunt in frusta virum stellisque reponunt.

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Schicksals [160] nicht abwenden konnte, drang er wagemutig zum Anführer der Makedonen vor. Vom Wunsch beseelt, durch die Hand eines so großen Mannes zu fallen, und des Lebens überdrüssig, griff er diesen todesmutig in der vordersten Reihe des Schlachtgeschehens an, vom hohen Wagen aus bedrängte er Alexanders Schild, indem er diesen [165] mit einem Geschosshagel eindeckte. Doch nicht nur mit Wurfgeschossen, sondern auch mit Schmähworten reizte er den makedonischen König und begann folgendermaßen: »Unbestreitbarer Spross des Nektanabus, ewige Schande deiner Mutter, warum vergeudest du Wunden, während du Feiglinge antreibst? Auf mich richte deinen Zorn, [170] wenn noch irgendein Rest von Mut in dir steckt. Mich richte zugrunde, dessen Kriegsdienst der Schrein der Sieben Künste miteinschließt und dessen sternkundiges Haupt den zweifachen Lorbeer für sich beansprucht.« In seinem Inneren bewegt, bedauerte Alexander den Todesbereiten, und sanft erwiderte er diesem: »Ach du seltsames Wesen, wer auch immer du bist, [175] lebe nur weiter, zerstöre durch deinen Tod nicht die Behausung so großartiger Fähigkeiten. Niemals soll meine Rechte von deinem Blut triefen oder mein Schwert sich von einem derart kenntnisreichen Hirn röten. Du bist der Welt nützlich. Welcher Wahnwitz treibt dich dazu, zu den Fluten des Styx gehen zu wollen, wo keinerlei Wissen gedeiht?« [180] Nach diesen Worten stieg Zoroas vom Wagen und verwundete Alexander mit dem Schwert zwischen Harnisch und Beinschutz am Oberschenkel und weihte die Erde mit dem Blut des makedonischen Königs. Dieser stöhnte zwar heftig auf, riss jedoch sein Pferd im Galopp von Zoroas weg, um diesen schonen zu können. Aufgrund dieser Distanz [185] beherrschte er seinen Zorn, Meleager jedoch stürmte ebendorthin und zerschlug dem Zoroas dort, wo Oberschenkel und Schienbein aufeinandertreffen, beide Knie. Darauf zerstückelte die übrige Schar den am Boden liegenden Mann und versetzte ihn unter die Sterne.

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Tunc vero in Darium pondus discriminis omne conversum est. Quid agat? Videt arva cruore suorum pinguia, se circa videt exanimata iacere corpora tot procerum, fugiuntque quibus super ante fidebat pocius, quin viscera fusa trahentes inter equos auriga iacet cervice recisa. Dum dubitat fugiatne pedes sesene laboret perdere, Perdicas iaculum iaculatur. At illud se capiti affigit, cerebrum tamen ossa tuentur. Excutitur curru Darius nec sustinet ultra ferre aciem turbamque. Pedes declinat et inter degeneres profugosque legit compendia saltus donec ei sonipes oblatus ab Ausone magnum transtulit Eufraten ac se Babilona recepit. Hunc ubi furtiva belli mortisque ruinam evasisse fuga sensit Mazeus et illi quorum victoris animi excellentia nondum evelli campo Martisque furore sinebat, extimplo turbata malis audacia, tantos destituens motus, didicit servire timori, inque metum conversa fides. Fugit agmine facto turba ducum, partesque labant ubi summa movetur, cumque caput nutat, turbari membra necesse est. Ceditur a tergo populus. Furit altera cedes.

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Die Reaktion des Darius (189–202) Nun aber lastete auf Darius’ Schultern der Entscheidung ganzes Gewicht. [190] Was hätte er noch unternehmen können? Er sah die Felder vom Blut der Seinen getränkt, sah um sich herum die Leichen so vieler Vornehmer liegen (es flohen auch jene, auf die er am meisten vertraut hatte), ja sogar solche, die ihre Darmfetzen hinter sich her schleiften, zudem lag sein Wagenlenker mit durchtrenntem Genick bei den Pferden. [195] Während er zögernd noch überlegte, ob er zu Fuß fliehen oder sich gar selbst töten solle, schleuderte Perdikkas seinen Speer auf den persischen König. Auch wenn er von jenem am Kopf getroffen wurde, schützten die Schädelknochen doch das Gehirn. Vom Wagen geschleudert konnte er das Schlachtgetümmel nicht länger ertragen. Sogleich drehte er dem Geschehen den Rücken zu und durchstreifte zwischen [200] feige fliehenden Kriegern auf kürzestem Wege die Wälder, bis ihn ein von Auso gebrachtes Pferd durch den mächtigen Euphrat trug und er sich nach Babylon zurückziehen konnte. Die Folgen der Flucht des Darius (203–214) Als Mazaeus und all diejenigen, deren vortrefflicher Wille zu siegen es noch nicht zugelassen hatte, das Schlachtfeld aufzugeben und den Kampfgeist fahren zu lassen, mitbekamen, [205] dass Darius durch heimliche Flucht der Schlacht und dem Tod entronnen war, gab der durch das schlechte Beispiel sofort untergrabene Mut so hehre Beweggründe preis und lernte der Furcht zu gehorchen. Die Loyalität wich der Angst. Es floh [210] die Schar der persischen Anführer in geschlossenem Zug. Die einzelnen Abteilungen eines Heeres stürzen immer dann, wenn die Führung wankt. Ein schwankendes Haupt lässt notwendigerweise die Glieder erzittern. Zahlreiche von hinten gefällte Perser verloren ihr Leben. Ein weiteres Ge-

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Pro domino patriaque mori dum posset honeste, dedecoris mortisque luem fugiendo meretur. Iam satur ad loculum redit ensis, et ipse Pelasgos victores victor a cede recedere cogens ad gazas properare iubet rapiendaque predae munera, que saltus iacet interclusa latebris. It celer et partas partitur partibus equis victor opes. Onerantur equi, gemit axis avarus. Iam satur est aurumque vomit summo tenus ore sacculus et nexus refugit spernitque ligari. Fessa legendo manus non est saciata ligando, quin caligae patulique sinus turgere docentur. Itur in inbelles agmen muliebre catervas. Quarum ubi marmoreo rapuere monilia collo, extorti torques, et inaures perdidit auris.

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metzel wütete. Während es ehrenvoll wäre, für König und Vaterland zu sterben, erntete man durch die eigene Flucht nur Schande und Tod. Alexanders Sieg bei Issus und seine Folgen (215–242) Die Verteilung der Beute (215–220) [215] Satt schon kehrte das Schwert in die Scheide zurück und der siegreiche Alexander selbst bestärkte seine siegreichen Griechen, das Blutvergießen zu beenden, und hieß sie zu den Schätzen zu eilen und zum Raub des Beutegeschenks, das versteckt im Dunkel des Waldes lag. Alexander eilte hinzu und verteilte als Sieger die eroberten Schätze zu gleichen Teilen. Die Gier der Soldaten nach Gold (220–227) [220] Die Pferde wurden beladen, die Achse des Wagens ächzte voll Habgier. Schon prall gefüllt war der Sack bis zum obersten Rand, deshalb verlor er Goldstücke und ließ sich nicht mehr zuknoten oder verschnüren. Die Hände, vom Einsammeln der Goldmünzen eigentlich müde, stopften die Beute dennoch unablässig in Säcke, ja sogar Stiefel und weite Gewänder lernten zu schwellen. [225] Man ging los auf den wehrlosen Haufen der persischen Frauen. Kaum hatten die Griechen die Ketten vom glänzend weißen Hals der persischen Frauen gezerrt, wurden ihnen die Ringe vom Finger gezogen und die Ohrringe aus den Ohren gerissen.

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Itur in amplexus nuptarum, virginitasque vim patitur. Coit in patulo tractatque pudenda sanguinolenta manus. Coitus pars altera labem contrahit incestus, verum pars altera luget et venit ad veniam, pacientis namque reatum vis illata levat, minuitque coactio culpam. Maiestate tamen salva salvoque pudore tota domus Darii, genitrix et regia coniunx et soror et natus, tanta est clementia regis, curribus auratis in Dorica castra vehuntur. In matrem Darii sic temperat ut sibi matrem eligat, uxori det nomen habere sororis, septennem puerum in natum sibi mitis adoptet. Tantus enim virtutis amor tunc temporis illi pectore regnabat. Si perdurasset in illo ille tenor, non est quo denigrare valeret crimine candentem tytulis infamia famam. Verum ubi regales Persarum rebus adeptis deliciae posuere modum suasitque licere

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Die Hemmungslosigkeit der Soldaten (228–233) Man verging sich an verheirateten Frauen und auch noch unberührten Frauen wurde Gewalt angetan. Ganz offen vergewaltigte [230] die blutrünstige Schar und verübte dabei schändliche Verbrechen. Während der eine Teil den Schandfleck des frevelhaften Beischlafs beging, war ein anderer Teil darüber betrübt und bat um Vergebung, denn die Anwendung von Gewalt schwächte den Vorwurf an jene ab, die ohne einzugreifen nur betroffen zuschauten, der ausgeübte Zwang verringerte ihre Schuld. Alexander und die Familie des Darius (234–242) Mit ungeschmälerter Erhabenheit jedoch und ungebrochener Keuschheit fuhr mit der Mutter, der königlichen Gattin, der Schwester und dem Sohn [235] Darius’ ganze Familie – so groß war die Milde des Königs – auf goldenem Wagen in das Lager der Griechen ein. Gegenüber Darius’ Mutter mäßigte er sich derart, dass er diese für sich zur Mutter erwählte, der Ehefrau gewährte er den Rang einer Schwester und [240] den siebenjährigen Jungen erkannte er gütig als eigenen Sohn an. So sehr nämlich herrschte damals die Liebe zur Tugend im Herzen des makedonischen Königs. Autorexkurs: Die Überschreitung menschlicher Macht (242–257) Wenn Alexander sich jene Gesinnung auf Dauer bewahrt hätte, könnte heute keine mit berechtigten Vorwürfen einhergehende Schmähung den ruhmvoll glänzenden Namen verdunkeln. [245] Sobald ihn aber nach der endgültigen Machtübernahme in Darius’ Reich der königliche Prunk der Perser das rechte Maß hatte vergessen lassen und ihm die durch gewaltige Mittel zugefallene Macht-

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illicitum et licitum genitrix opulentia luxus, corrupit fortuna physim, cursuque retorto substitit unda prior, viciorum cautibus herens. Qui pius ergo prius erat hostibus, hostis amicis inpius in cedes et bella domestica demum conversus, ratus illicitum nichil esse tyranno. Preterea quis pretereat summum sibi patrem usurpasse Iovem? Nam se genitum Iove credi imperat et excedit hominem transgressa potestas, seque hominem fastidit homo, minimumque videtur esse sibi cum sit inter mortalia summus. Mittitur interea cum Parmenione Damascum miles ut a victis extorqueat urbe repostas relliquias gazae. Sed iam censebat habendas victori prefectus opes, dominoque priori proditor infidus caute quos traderet hosti traxerat urbe suos, fortunae namque meatu mutato mutatus erat. Sic unius uno crimine Persarum cesis tot milibus, ipse cum reliquis cecidit. Dario solamen id unum dampnorum luctusque fuit cum nuncius ipsum artificem sceleris afferret in agmine primo arte perisse sua, nec iniquam sustinet ultra dicere Fortunam, que iusta lance rependit

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fülle – die Mutter der Ausschweifung – dazu geraten hatte, sich Unerlaubtes und Erlaubtes zu erlauben, verdarb das Schicksal dessen Natur, nach der Abkehr vom rechten Weg stockte die einstige Woge und säumte die Klippen des Lasters. [250] Derjenige, der zuvor seinen Feinden gegenüber gütig gewesen war, wandte sich schließlich als pflichtvergessener Feind seiner Freunde zu Mord und häuslichem Zank hin und war der Meinung, einem König müsse alles erlaubt sein. Wer auch könnte außerdem unerwähnt lassen, dass er dreist dann auch für sich den höchsten der Götter als Vater beanspruchte? Denn [255] er bestimmte schließlich, dass er als Spross Jupiters zu gelten habe. Göttliche Macht jedoch überschreitet die Möglichkeiten des Menschen, als Mensch verschmähte er sein Menschsein und am wenigsten schien ihm zu gelten, der Größte unter den Sterblichen zu sein. Parmenion nimmt Damaskus ein (258–273) Inzwischen wurden Truppenteile unter Parmenions Führung nach Damaskus geschickt, um den besiegten Persern [260] den restlichen in der Stadt verbliebenen Schatz zu entreißen. Aber der persische Befehlshaber war ohnehin schon der Meinung gewesen, dass die Schätze dem Sieger übergeben werden müssten. Denn treulos dem früheren Herrn gegenüber hatte der Verräter, durch den Umschwung des Schicksals in seiner Haltung verwandelt, listig die Seinen aus der Stadt geführt, um sie dem Feind auszuliefern. Nachdem so durch [265] das eine Verbrechen eines einzigen Mannes Tausende Perser gestorben waren, starb er selbst zusammen mit den von ihm Verratenen. Darius’ einziger Trost für diesen Verlust und dieses Leid war die Nachricht, dass der Anstifter des Verbrechens selbst in vorderster Front an seinem eigenen Kunstgriff zugrunde gegangen war. Nicht länger konnte Darius [270] das Schicksal als ungerecht schelten, das Übeltätern bisweilen gerecht mit der Waag-

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sontibus interdum prout fraus ignava meretur. Hec Dario medicina mali. Sic pene malorum omnia cum quodam veniunt incommoda fructu. Septimus accenso Phebea lampade mundo presserat astra dies cum rex ex more peracto funeris obsequio tendit Sydona vetustam, Phenicum gentem. Quibus in sua iura redactis, ad Tyrios convertit iter, quos omne paratos Martis ad examen murique abrupta tuentes gaudet Alexander, suspecta cominus urbe, invenisse viros. Tot propugnacula muris edita dispositae longo stant ordine turres, que lapidum valeant refugos eludere iactus. At quacumque aditum molitur saxea moles, assunt obiecta clipeorum crate clientes. Plurimus hic fundit fundam iaculator et arcum, plurima suppositis mortem ballista minatur. Verum ubi longa dies afflictis civibus urbem navali modo congressu modo Marte pedestri fregit et appositis utrimque ad menia Graium navibus hostiles impegit machina muros,

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schale so heimzahlt, wie es heimtückischer Betrug verdient. Dies war dem Darius Balsam im Leid. So kommen beinahe alle unerfreulichen Übel mit einem gewissen Nutzen daher. Alexander auf dem Weg nach Phönizien (274–287) Zum siebten Mal hatte der Tag die Sterne mit dem Aufgang der Sonne [275] verdrängt, als der makedonische König nach der dem Brauch gemäßen Erfüllung der Leichenbestattung zum uralten Sidon und zum Volk der Phönizier eilte. Nachdem er diese in ihre Schranken gewiesen hatte, zog er sogleich gegen die Tyrer. Alexander, der aus unmittelbarer Nähe zur Stadt hinaufblickte, [280] freute sich, auf Männer zu treffen, die zu jeglicher kriegerischen Prüfung bereit waren und schon ihre hochragenden Mauern beschützten. So viele Türme – aus der Tiefe emporragende gemauerte Bollwerke – standen in einer langen Reihe verteilt, die ohne Weiteres imstande waren, steinerne Geschosse abprallen zu lassen. Wo auch immer aber die felsenbewehrte Masse einen Zugang bot, [285] standen Schutzmannschaften da mit einem zur Abwehr formierten Flechtwerk aus Schilden. Hier feuerten zahllose tyrische Schützen mit Schleuder und Bogen ihre Geschosse ab, zahlreiche Schleudermaschinen bedrohten die am Fuße der Mauern stehenden Angreifer mit dem Tod. Alexander erobert Tyrus (288–329) Als aber der lange Tag die Stadt mal mit Gefechten zur See, mal mit Kämpfen zu Lande – die tyrischen Bürger zermürbend – [290] in die Knie gezwungen und die Ramme – zuvor war es den griechischen Schiffen gelungen, zu beiden Seiten an die Mauer heranzurücken – gegen das feindliche Bollwerk geschlagen hatte, starben ohne

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absque aliquo periit discrimine sexus et etas omnis, et a nullo scelus equo iudice pensans abstinuit gladius. Etenim cum menia nondum cingeret obsidio, missos a rege quirites, paci ut consulerent angusto in tempore cives, et pace et medii violato federe iuris implicuere neci legatos. Unde tyranno infensi, nec enim veniam meruere mereri, in quibus et veniae et pacis legatio nullam invenit veniam. Macedo iubet ocius omnes cladibus involvi preter quos templa tuentur. Fit fragor et planctus, crebrescit flebile murmur, aurea femineus perstringit sydera clamor, dumque in precipiti rerum discrimine nutant, qua magis incumbit ventorum spiritus urbi, subiciunt ignem. Volat ad fastigia flammae inflammata fames, et eo magis esurit ignis, quo plures tabulata cibos alimentaque prebent. Mixta plebe patres pereunt. Genus omnibus unum mortis, sed species moriendi non fuit una: Iste piram reverens gladios incurrit, at ille, ut gladios fugiat, medios se mittit in ignes. Nonnullos, alia mortem dum morte caverent, urbis semirutae lapsos de menibus ultro, equorei vehemens absorbuit amnis hiatus. Occultas alii latebras vacuosque penates querentes laqueos iugulis aptare parabant et mortem fecere sibi ne morte perirent inflicta a Grais. Alios divortia Martis querere dum puduit, pro iure et legibus urbis in faciem patriae libertatemque tuendo

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Unterschied alle, Jung oder Alt, Männer und Frauen, und keinen mehr schonte das Schwert, das einem gerechten Richter vergleichbar den Frevel der Tyrer ahndete. Als die Mauern nämlich noch nicht von einem Belagerungsring [295] umgeben waren, hatte Alexander Gesandte mit dem Befehl an die Bürger von Tyrus geschickt, auf der Stelle für Frieden zu sorgen. Doch diese hatten die griechischen Gesandten unter Missachtung von Frieden und dem Recht der Völker getötet und dadurch des Königs Zorn geweckt. Diejenigen nämlich haben keinen Anspruch auf Gnade verdient, [300] bei denen eine Gesandtschaft der Gnade und des Friedens überhaupt keine Gnade fand. Sogleich gab der makedonische König den Befehl, alle mit Ausnahme derer, die in Tempeln Schutz suchten, niederzumetzeln. Es erhob sich ein Schreien und Wehklagen, vermehrt war ein beklagenswertes Weinen vernehmbar, das Geschrei der Frauen drang bis zu den goldenen Sternen empor. [305] Als die Tyrer in ihrem letzten Abwehrkampf zu wanken begannen, legten die Griechen am Fuße der Stadt an jener Stelle Feuer, wo der Atem der Winde die Stadt am meisten durchwehte. Es eilte der entflammte Hunger des Feuers nach oben und je mehr Nahrung die Balken boten, umso mehr verlangte das Feuer nach Nahrung. [310] Die Stadtväter starben zusammen mit dem gemeinen Volk. Alle fanden den Tod, die Art des Todes war jedoch nicht für alle gleich. Dieser da rannte in das Schwert, weil er das Feuer fürchtete, jener aber rannte mitten ins Feuer, um dem Tod durch das Schwert zu entgehen. Manche, die sich beim Versuch, einen solchen Tod durch einen anderen Tod zu vermeiden, freiwillig [315] von den Mauern der schon halb zerstörten Stadt gestürzt hatten, verschlang der mächtige Schlund des Meeres. Andere wiederum suchten geheime Verstecke und leerstehende Häuser und schickten sich an, die Schlinge um den eigenen Hals zu legen, und brachten sich so selbst zu Tode, um nicht [320] von der Hand der Griechen zu fallen. Aus Scham, das Schlachtfeld zu verlassen, zogen es wieder andere vor, für das Recht und die Gesetze der Stadt im Angesicht der Heimat

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elegere mori: mortis genus illud honestum et labi sine labe fuit non cedere cedi cedereque et cedi dum non cedantur inulti. Concurrunt, et materiam ferientibus affert gens devota neci. Feriunt, feriuntur et ipsi, dumque necem patiuntur, agunt ad utrumque parati. Nec minus excidium coniunx Cithereius infert. Solvitur in cineres ab Agenore condita primo nobilis illa Tyrus, que, si preclara merentur vatum dicta fidem, famae si credere dignum est, vocum sola notas et rerum sola figuras aut didicit prior aut docuit. Sic ergo tot annis indomitam indomitus domuit Macedum furor urbem. Verum vera fides et pax divina sub ipso Christorum Christo reparatis menibus urbem restituere, ubi nunc plebs orthodoxa flagransque thuribulo mentis crucifixi nomen adorat. Cuius sunt aliae septeni clymatis urbes quas patria ditione tenet longumque tenebit. Premonuisse alias poterat Tyrus obruta gentes ne qua sub arctoo regio presumeret orbe Pellei vires Macedumque lacescere nomen.

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und für die Verteidigung der Freiheit umzukommen: So zu sterben und ohne Schande sein Leben zu beenden, dem Kampfe nicht auszuweichen, [325] zu töten und getötet zu werden, wenn sie nur nicht ungerächt getötet würden, das galt als ehrenhaft. Voranstürmend boten sich die todgeweihten Bewohner der Stadt den Schlächtern zum Morden an. Sie mordeten und wurden selbst auch ermordet, und indem sie den eigenen Tod in Kauf nahmen, waren sie zu beidem bereit. Nicht weniger Zerstörung verursacht gewöhnlich Aphrodites Gemahl Vulcanus. Die historische Bedeutung von Tyrus (330–341) [330] Eingeäschert wurde jenes ursprünglich von Agenor gegründete vornehme Tyrus, das allein, wenn man den berühmten Worten der Dichter Glauben schenken möchte oder wenn die geschichtliche Überlieferung glaubwürdig ist, die Buchstaben und die Schrift entweder zuerst gelernt oder sogar gelehrt hat. So also hat die unbezähmbare Kriegswut der Griechen die so viele Jahre lang [335] unbezwungene Stadt niedergeworfen. Wahrer Glaube jedoch und göttlicher Beistand haben zu Lebzeiten Christi die Stadt mit erneuerten Mauern von neuem erbaut, wo nun das rechtgläubige Volk glühenden Herzens mit Weihrauch den Gekreuzigten anbetet. [340] Es gibt heutzutage noch andere Städte in der uns bekannten Welt, die unter der väterlichen Herrschaft von Tyrus stehen und noch lange stehen werden. Alexander erobert Gaza (342–369) Die Vernichtung von Tyrus hätte anderen Völkern eine Warnung sein können, dass kein einziger Landstrich auf der nördlichen Halbkugel die Streitkräfte Alexanders und das Volk der Griechen noch

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Gaza tamen Darium causamque secuta priorem ausa parem superum muris excludere temptat, fortunam si forte fides evertere possit. Dumque suum Mars explet opus, dum cede cruenta et dampno partis utriusque protervit utrimque, barbarus ad regem veniens ut transfuga, ferrum occultans clipeo, Magni caput appetit ense. Sed quia fatorum stat inevitabilis ordo eventusque hominum series immobilis artat, erravit temulenta manus, ferroque perire non patitur Lachesis, cui iam fatale venenum confectumque diu Lethea fece vitrina pixide condierat, mediante favore suorum porrectura duci dea post duo lustra bibendum. Hic Arabis dextram, quia sic erravit, eodem quem male vibrarat rex imperat ense recidi, quique prius sopitus erat iam fraude recenti Martius evigilat furor, et sub corde calenti ira recrudescit, dumque instat turbidus hosti, ausa nefas levum perstrinxit fraxinus armum, et medium cruris elisit saxea moles. Sed licet accepto bis vulnere, non tamen acri destitit incepto Macedo, sed prodigus aurae vitalis scindit cuneos, ipsumque tyrannum obterit, et victis urbem tradentibus intrat.

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weiter herausfordert. [345] Gaza jedoch hat es – Darius und der alten Verbindung folgend – gewagt, dem gottgleichen Alexander mit ihren Mauern den Zutritt zur Stadt zu verwehren, und unternahm den Versuch, ob Treue das Schicksal zu ändern vermag. Und während Mars sein Werk verrichtete, während er in blutiger Schlacht zum Schaden beider Parteien auf beiden Seiten wütete, trat [350] ein Barbar, das Schwert mit dem Schild verdeckend, wie ein Flüchtling an den König heran und bedrohte Alexanders Haupt mit dem Schwert. Aber weil der Lauf des Schicksals feststeht und die unabänderliche Abfolge der Ereignisse die Erfolgsaussichten der Menschen schmälert, verfehlte die unsichere Hand ihr Ziel. [355] Nicht ließ Lachesis denjenigen durch einen Schwerthieb sterben, für den die Göttin schon lange ein vom Schicksal bestimmtes, aus tödlichem Sud gebrautes Gift in gläsernem Behälter verwahrt hatte, um es nach zehn Jahren unter tätiger Mithilfe der Seinen dem König als Trank zu reichen. Hierauf befahl der König, die rechte Hand des Arabers, da sie ihr Ziel nicht gefunden hatte, [360] mit demselben gerade vergeblich geschwungenen Schwert abzuschlagen. Seine Kampfeswut, die zuvor schon zur Ruhe gekommen war, wurde durch den neuerlichen Betrug wieder geweckt, im glühenden Herzen flammte der Zorn erneut auf, und während er den Feind ungestüm angriff, streifte ein Wurfspieß, den Frevel wagend, seine linke Schulter [365] und ein gewaltiger Felsbrocken zerschmetterte ihm das Schienbein. Aber auch mit zweifach erlittener Wunde ließ der makedonische König nicht von seinem leidenschaftlichen Vorhaben ab, sondern durchbrach ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben die persischen Reihen, tötete eigenhändig den feindlichen König und betrat die von den Besiegten geöffnete Stadt.

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Hinc ubi disposuit procerum discretio regno, tendit in Egyptum. Qua sub ditione redacta, ardet rex Lybici sedes Hamonis adire. Difficiles aditus, iter intolerabile quamvis fortibus et paucis. Rorem sitit arida tellus, et caelum mendicat aquas, estuque perhenni macrescit regio, et steriles moriuntur harenae, cumque tenax sabulum solem concepit et auram inpulsuque pedum concrevit turbo, procellas hic Syrtes habuere suas. Hic altera sicco Scilla mari latrat, hic pulverulenta Caribdis. Pulvereos vomit ille globos, iacet ille sepultus in sabulo. Fortassis eos leviore procella punisset mare Neptuni quam pulveris equor. Nusquam culta virent, hominis vestigia nusquam; nusquam terra oculis, nusquam sese obicit arbor. Iam quater irriguos libraverat aere currus Mennonis impendens lacrimas Aurora sepulchro cum Macedum rector et cetera turba superstes Hamonis subiere nemus fontemque biberunt, quem satis indignum est inter memoranda silere: Cum sol frenat equos, tepidos habet unda meatus. Frigidior glacie est quando ferventior arva exurit Tytan mediae fervore diei. Axe sub Hesperio, cum iam presepia mundans solis equos stabulare mari parat hospita Thetis

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Alexander nimmt Ägypten ein; Alexanders Besuch in der Oase Siwa (370–407) [370] Sobald die Umsicht seiner Unterfeldherren in Gaza alles geordnet hatte, eilte Alexander nach Ägypten. Nach dessen Unterwerfung brannte der makedonische König darauf, zur Stätte des libyschen Hammon zu ziehen. Der Weg dorthin war äußerst beschwerlich, der Marsch war auch für die kleine Gruppe von tapferen Männer kaum zu ertragen. Nach Wasser dürstet dort der trockene Boden, [375] der Himmel sehnt sich nach Regen und das Land breitet sich träge aus, verdorrt von immerwährender Glut und unfruchtbar erstirbt diese Sandwüste. Wenn der haftende Sand die Sonne verfinstert und schon überall in der Luft sich befindet und der Wirbel sich durch das Stampfen der Füße verdichtet, toben hier in den Syrten schlimme Sandstürme. Hier tobt dann eine zweite [380] Scylla im Meer aus Sand, hier tobt dann eine in Staub gehüllte zweite Charybdis. Der eine spie Unmengen Sand, ein anderer lag begraben im Wüstensand. Mit einem leichterem Sturm hätte wohl Neptuns Meer die Griechen bestraft als dieses Meer aus Sand. Nirgendwo ergrünten bestellte Felder, nirgendwo waren Spuren von Menschen zu sehen; [385] nirgendwo zeigte sich dem menschlichen Auge bewachsenes Land, nirgendwo war ein Baum zu erblicken. Viermal schon hatte Aurora – Tränen über Memnons Grabmal vergießend – ihren von morgendlichem Tau benetzten Wagen durch die Lüfte geführt, als der Anführer der Makedonen und die übrige am Leben gebliebene Schar den Hain Hammons betraten und von der Quelle tranken, [390] über die es bei der Aufzählung erwähnenswerter Dinge schändlich wäre zu schweigen: Immer wenn Phoebus die Pferde am Morgen aufzäumt, entströmt der Quelle lauwarmes Wasser. Kälter als Eis ist das Wasser, wenn Titan mit der Hitze des Mittags die Gegend glühend versengt. Wenn sich Thetis am Abend, die Stallungen säubernd, gastfreundlich anschickt, [395] Helius’ Pferde im Meer in den Stall zu bringen,

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ambrosiamque locat et liberat ora lupatis, frigoris excluso paulum torpore tepescit fons Iovis. Ac Phebo torrentior estuat idem cum mundum madidis medius sopor irrigat alis, quoque magis Phebus solitum festinat ad ortum, tanto plus soliti reminiscitur unda teporis, et nocturnus eam cogit decrescere fervor donec Phebeo rursus languescat in ortu. Rex ubi consulto letus Iove munera solvit, regreditur Memphim, licet affectaret adustas Ethiopum gentes et inhospita Mennonis arva, Aurorae sedes atque invia solis, adire. Sed durum Martis et inexpugnabile tempus, et prefixa dies, mundi visura tumultus et strages pugnae, quam maturaverat hostis, vicina instabat, positamque regentis in arto artabant rigidam maiora negocia mentem. Interea Darii reparato robore totus coniuratus adest in prelia mundus, eumque preteriti pudor et spes incentiva futuri

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die Mäuler vom Zaumzeug befreit und den Pferden Ambrosia vorsetzt, erwärmt sich nach dem allmählichen Weichen der Froststarre Jupiters Quelle wieder. Und heißer als Phoebus kocht diese auf, wenn der Mitternachtsschlaf die Erde mit feuchten Schwingen benetzt. [400] Je weiter Phoebus in gewohnter Weise wieder zum Sonnenaufgang hin eilt, umso mehr erinnert sich die Quelle an die gewohnte Wärme am Morgen, und ihre nächtliche Hitze nötigt das Wasser, wieder weniger heiß zu sein, bis es bei Sonnenaufgang von neuem nur noch lauwarm entströmt. Sobald der makedonische König nach der Befragung des Orakels voller Freude Opfer dargebracht hatte, [405] kehrte er nach Memphis zurück, auch wenn er gerne Äthiopiens sonnenverbrannte Völker, die ungastlichen Gefilde Memnons, Auroras Wohnsitz und Phoebus’ weglose Einöden aufgesucht hätte. Vorbereitungen für die Schlacht bei Gaugamela (408–462) Die Schicksalhaftigkeit der Auseinandersetzung (408–412) Aber hart und unabwendbar drohte die Stunde des entscheidenden Kampfes, der vom Schicksal bestimmte Tag stand unmittelbar bevor, der den Aufruhr der Welt und [410] das Gemetzel der Schlacht – vom persischen Feind beschleunigt – sehen würde. Schwierige Schlachtvorbereitungen setzten den in eine bedrohliche Lage gebrachten, doch unbeugsamen makedonischen König unter Druck. Die gewaltige Streitmacht der Perser (413–435) Inzwischen hatte sich Darius’ ganzes Volk mit frischer Kraft und zum Kampfe verschworen versammelt; die Scham über das, [415] was

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rursus in arma vocant. Coeunt in castra quirites permixti agricolis. Queritur cessare ligones radicosus ager et sentibus obsita tellus. Suspirant ad plaustra boves, dorsumque cameli barbaries gentis, elephantes bellica pressit machina turrito gradientes agmine, nec se bubalus absentat. Numquam tot milibus Argos aggrediens hominum siccavit flumina Xerses, sed neque tam multas collegit in Aulide gentes ultor adulterii cum classi defuit equor virgineusque cruor monitu Calcantis iniqui detersit facinus et ventos sanguine solvit. Miratur Macedo, tot milibus ante redactis in nichilum, plures rediviva morte renasci ad mortem populos rursusque ad bella vocari. Non secus Antheum Lybicis Iove natus harenis post lapsum stupuit maiorem surgere donec sublatum rapiens “vana spe duceris,” inquit “Huc, Anthee, cades” vel cum tot cede suorum fecundam capitum domuit Tyrintius Ydram. Iamque per Eufraten discriminis immemor, omnis contemptor numeri, rapidum transegerat agmen terrarum domitor, exustasque ignibus urbes quas aditurus erat fumantesque invenit agros, quos duce Mazeo Darius preceperat uri

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geschehen war, und die anregende Hoffnung auf das, was kommen würde, riefen die Perser erneut zu den Waffen. Gemeinsam ins Lager zogen die Vornehmen ebenso wie die Bauern. Der wurzelreiche Acker und das von Dornsträuchern übersäte Land beklagten die fehlende Bearbeitung. Ochsen keuchten an ihren Wagen, [420] Barbarenvölker belasteten den Rücken von Kamelen; Kriegsgerät beschwerte Elefanten, die in turmhohem Zug einherschritten; sogar Büffel nahmen am Kriegszug teil. Selbst Xerxes hatte bei seinem von mit so vielen Tausend Männern unternommenen Angriff auf Argos niemals Flüsse trockengelegt und auch [425] der Rächer des Ehebruchs nicht so viele Völker in Aulis versammelt, als das Meer die Flotte im Stich gelassen, das Blut der Jungfrau auf Anraten des ungehaltenen Kalchas die Freveltat reingewaschen und er mit Blut die Winde wieder zum Wehen gebracht hatte. Der makedonische König war erstaunt darüber, dass nach der Vernichtung von so vielen Tausend Persern noch mehr Völker – scheinbar vom Tode auferstanden – erneut in den Kampf gerufen und [430] in den Tod getrieben wurden. Nicht anders staunte Herkules darüber, dass Antaeus sich nach seinem Sturz im libyschen Sand noch größer erhob, bis er dem Riesen den Boden entzog und sagte: »Von eitler Hoffnung wirst du geleitet, hier wirst du sterben«, oder als er die Hydra bändigte, [435] der nach dem Verlust so vieler Köpfe stets neue nachwuchsen. Alexander setzt Darius nach (436–462) Und schon hatte der Bezwinger der Welt sein raubgieriges Heer über den Euphrat geführt, ohne dabei an die Gefahren zu denken und die Übermacht des Feindes überhaupt zu berücksichtigen. Er fand diejenigen Städte, die er angreifen wollte, von Feuer zerstört vor, zudem in Rauch gehüllte Äcker, [440] die Darius unter Mazaeus’ Führung niederzubrennen befohlen hatte, um zu einem so

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ut tali articulo fortunae flectere cursum posset et affectos fame defectuque ciborum cogeret audaci Graios desistere cepto, desperare aditum per saxa rigentia flammis molirique fugam cum cuncta exusta viderent et loca feta igni et viduatos gramine campos, ocia cum sulci gemerent victumque negaret in cinerem resoluta Ceres. Sed sorte secunda usus Alexander, ad summum semper honoris aspirans apicem, Tigri velocior ipso, Tigri, qui celeri sortitur ab impete nomen. Tigris aquas superat, qui gurgite saxa volutans grandia marmoreas exit truculentus in undas. Nec mora, ne Dario regni penetrare liceret interiora sui, canis ut venaticus altis occultum silvis Acteona nare sagaci vestigat vel qui venator Gallicus aprum irato sequitur stringens venabula ferro, haut aliter Darium venatur et Arbela preter castra locat. Quem cede sua, quem fraude suorum infamem facturus erat, periturus eodem fixerat infausto iam tunc tentoria vico. Tempus erat dubiam cogens pallescere lucem, cui neque lux neque nox imponit nomen, utrumque et neutrum tenui discrimine. Verius ergo

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entscheidenden Zeitpunkt des Schicksals Lauf wenden zu können und die von Hunger und fehlender Nahrung geschwächten Griechen zu zwingen, von ihrem kühnen Vorhaben abzulassen, den Marsch durch flammenstarrende Felsen aufzugeben [445] und zur Flucht sich zu wenden, wenn sie alles verbrannt, das Land von Feuer verwüstet, die Felder ohne jegliches Gras sähen, wenn die Saatfurchen Untätigkeit beklagten und das in Asche verwandelte Getreide die Nahrung verweigerte. Alexander jedoch, der sein glückliches Schicksal zu nutzen verstand und immer nach dem höchsten [450] Gipfel des Ruhms strebte, überquerte schneller, als der Tigris selbst zu fließen imstande ist – dieser hat seinen Namen von seiner gewaltigen Strömung –, die Fluten des nämlichen Flusses, der mit seiner Strömung gewaltige Felsen vorwärts treibt und wild in das glänzende Meer hinausfließt. Um Darius nicht [455] in das Innere seines Reichs entkommen zu lassen, spürte Alexander diesem nach, wie ein Jagdhund mit feiner Nase den in tiefen Wäldern verborgenen Aktaeon aufspürt, oder verfolgt diesen, wie ein gallischer Jäger mit einem mit eiserner Spitze verstärkten Jagdspieß dem Eber nachsetzt; nicht anders war er hinter dem persischen König her und schlug [460] sein Lager nicht weit von Arbela auf, wo der todgeweihte Darius schon Zelte in eben diesem unheilvollen Dorf hatte errichten lassen, das er durch seine Niederlage und durch den Betrug der eigenen Männer im Begriff war, mit Schande zu erfüllen. Die Mondfinsternis (463–543) Es war die Jahreszeit angebrochen, welche die Tage zwingt zu verblassen, für die weder die Helligkeit des Tages noch die Dunkelheit der Nacht namensgebend sind, beide Zustände sind kaum voneinander zu trennen [465] und keiner von beiden ist eindeutig bestimmbar. Durchaus vernünftig haben die Griechen diese Unein-

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ambiguum cum sit, dixere crepuscula Greci. Hesperus irriguum iam maturaverat ortum, iamque minante oculis caligine sydera solis supplere officium luna mediante parabant cum Phebe, mundo fratris manifesta recessu, exhilarans hominum nascenti clymata giro, palluit, et primo defectum passa nitoris, demum sanguineo penitus suffusa rubore fedavit lumen Macedumque exterruit ipsos cum vulgo proceres, cum terra frenderet hostis cumque instaret eis invito numine belli prefinita dies, parti feralis utrique, celoque aspicerent minitantia sydera tantum exhorrere nefas atque id portendere signum. Non mirum nutare animos armisque refertas dormitare manus. Trepidant concussa recenti corda metu, et rauco crudescunt murmure castra. In causa Macedo est, culpamque refundit in ipsum seditiosa cohors. Iam tedet in ultima mundi invitos a rege trahi. Montana queruntur invia, desertas Vulcano vindice terras, urbesque et fluvios admittere nolle nocentes; velle hominum dominos diis indignantibus esse; astra infensa sibi solitumque negantia lumen; prescriptos homini regem transcendere fines, affectare polum, patriae contempnere sedes; unius ad laudem tot inire pericula, tantas

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deutigkeit Zwielicht genannt. Schon hatte der Abendstern seinen vom Tau befeuchteten Aufgang beschleunigt, schon hatten die Sterne daran gearbeitet, im für die Augen undurchdringlichen Dunkel mit der Unterstützung des Mondes die Aufgabe der Sonne zu erfüllen, [470] als Phoebe, die nach dem Rückzug ihres Bruders normalerweise von den Bewohnern der Erde gut zu sehen ist und mit ihrem Aufgang die Weltgegenden erhellt, plötzlich immer bleicher wurde. Zuerst verlor sie ihren gewohnten Glanz, dann verdunkelte sie zudem ihr Licht – mit blutigem Rot übergossen – und versetzte die griechischen Anführer [475] samt ihrem Heer in Angst und Schrecken; all dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der bereits im Land stehende Feind mit den Zähnen knirschte und ihnen der vorherbestimmte Tag der Schlacht unter ungünstigen Vorzeichen drohte, unheilvoll für beide Parteien; zu einem Zeitpunkt, als sie sahen, dass die am Himmel drohenden Sterne vor einem so großen Frevel zurückschreckten und dieses Zeichen den Frevel ankündigte. [480] Kein Wunder, dass der Mut ins Wanken geriet und die bis an die Zähne bewaffnete Truppe sich gehen ließ. Von der noch frischen Furcht erschüttert, zitterten die Herzen und die Unruhe im Lager nahm zu. Klage führte man gegen den makedonischen König, bei diesem suchte die zum Aufstand bereite Truppe die Schuld. Schon bereute sie es, von ihrem König [485] gegen ihren Willen in den äußersten Winkel der Welt getrieben worden zu sein. Die Soldaten beklagten sich über unwegsame Gebirgslandschaften und Gegenden, die wegen des Vulcanus Rache aufgegeben worden waren, und auch darüber, dass Städte und Flüsse den Eroberern keinen Zugang gewähren wollten, dass sie Herren über diese Menschen sein wollten, obwohl doch die Götter sich darüber entrüsten würden, dass ihnen die Sterne feindlich gesinnt seien und das gewohnte Leuchten verweigerten, [490] dass ihr König die dem Menschen gesetzten Grenzen überschreite, dass er den Himmel erstrebe und die heimatlichen Wohnsitze verachte, dass sie für die Lobpreisung nur eines einzigen Mannes so viele Gefahren

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fortunae variare vices. Iam vulgus in istos exierat questus, iam seditione moveri ceperat, eventu cum rex interritus omni concilium vocat, et vates, quibus arte magistra astrorum dederat divina peritia nomen, consulit, et lunae que causa infecerit orbem, quid superi super hoc caveant, quid enigmata fati significare velint, iubet in commune referri. Inter sortilegos vatum stellasque sequentes stabat Aristander, sterili iam marcidus evo. “Parcite” ait “vanis incessere fata querelis. Fata regunt stellas, et quos ab origine cursus, que loca, quos motus, vel quid portendere magnus ille sator rerum dedit, hoc certo ordine servant, nec quicquam mutare queunt de mente profunda. Quicquid ab eterno providerit ille futurum, seu terrae incumbens extendat litora Thetis gurgitis augmento seu tellus subruat urbes concursu laterum seu morbidus influat aer seu tenebris fuscare diem seu cornua lunae caligare velit seu tardius ire Galerum, omnia descendunt a summo consule rerum, quo nisi consulto nichil est quod sydera possint. Inde est quod lunae pallescit luridus orbis cum terram subitura suos abscondere vultus fertur et humano parat evanescere visu vel cum fraterno premitur splendore Diana, qualiter accensae iubar igniculumque lucernae invida maioris obscurat flamma camini.

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auf sich nähmen und so große Wechselfälle des Schicksals aushielten. Schon hatten sich die einfachen Soldaten in diese Klagen ergeben, schon hatten sie sich zum Aufstand [495] bewegen lassen, als ihr König, den nie ein Ereignis schrecken konnte, eine Versammlung einberief und auch die Seher zu Rate zog, denen nach dem Studium der Astronomie die göttliche Kenntnis der Sterne zu Ruhm verholfen hatte. [500] Und er befahl diesen, allen mitzuteilen, aus welchem Grund der Mond sich gerötet habe, was die Götter darüber hinaus bestimmten und was dieses rätselhafte Ereignis des Schicksals verkünden möchte. Mitten unter den Weissagern und Sterndeutern stand, schon vom saftlosen Alter entkräftet, Aristander und sagte: »Hört auf, das Schicksal mit eitlen Klagen zu tadeln. Das Schicksal lenkt zwar die Sterne, doch auf welchen Bahnen diese von Anbeginn der Zeit ziehen, [505] welche Orte sie einnehmen, welche Bewegungen sie ausführen oder was sie ankündigen, hat jener große Schöpfer der Welt bestimmt, diesen Plan bewahren die Sterne in fester Ordnung und nichts können sie an diesem wohldurchdachten Plan ändern. Was auch immer jener seit Anbeginn der Zeit als zukünftiges Geschehen im Voraus bedacht hat, ob Thetis [510] mit wachsender Flut über das Festland hereinbricht und damit die Küstenlinien ins Landesinnere hinein verschiebt, ob die Erde die Städte mit ihrem Beben zerstört, ob Krankheit bringende Luftmassen in die Städte hineinströmen, ob er den Tag mit nächtlichem Dunkel verfinstern oder die Sicheln des Mondes in Dunkel hüllen will oder er sich dazu entschließt, dass Merkur seine Bahn am Himmel langsamer zieht, alles geht aus vom höchsten Lenker der Dinge, [515] ohne dessen Beschluss die Sterne rein gar nichts tun können. Daher geschieht es, dass der gelb leuchtende Vollmond erblasst, wenn er – wie man sagt – hinter die Erde tritt und auf dem Weg ist, sich dem menschlichen Blick zu entziehen, oder er, wenn Diana vom gleißenden Licht ihres Bruders bedrängt wird, [520] wie die neidische Flamme eines größeren Ofens das kleinere Licht einer brennenden Lampe in den Schatten

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Dogma tamen veterum non vile patrumque secutus Memphios, haut dubitem Grecorum dicere solem, Persarum lunam: cum deficit ille, ruinam Graium, Persarum cum deficit illa, notari.” Dixit et exemplis utens pro teste revolvit Persidis acta ducum quibus incumbente flagello fortunae obscuro lugubris Cinthia cornu palluerat. Stetit ergo ratum quod cana senectus arguerat, meruitque fidem sententia vatis, editaque in medium flexit pavitantia vulgi corda superstitio, qua nil adstrictius ad se inclinat turbam: vulgi ora manusque refrenat. Que cum seva potens mutabilis estuat estu multivagae mentis, vana si forte movetur relligione, ducum spreto moderamine, vatum imperium subit et regum contempnit habenas. Ergo ubi torpentes spes et fiducia fati erexit mentes, armis, dum corda calerent, utendum ratus est Macedo. Ne frigeat ardens impetus, extimplo velli tentoria circa noctis iter medium iubet et precedit ovantes in primis raro contentus milite turmas.

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stellt. Der festen und bedeutsamen Meinung der Alten und der Väter von Memphis folgend, kann ich keinen Zweifel darüber haben, dass die Sonne die Griechen und der Mond die Perser repräsentiert: Eine Sonnenfinsternis weist auf den Untergang [525] der Griechen hin, eine Finsternis des Mondes bedeutet den Untergang der Perser.« So sprach er und bediente sich zum Beweis einiger Beispiele und erinnerte an Taten persischer Führer, nach denen die Unheil verkündende Cynthia mit finsterem Horn bleich geworden war, als die Geißel des Schicksals über diese hereingebrochen war. Fest stand also, was graues Greisenalter [530] bewiesen hatte, und die Meinung des Sehers hatte Vertrauen verdient und seine allen verkündete prophetische Botschaft stimmte die furchtsamen Herzen des einfachen Volkes um. Durch nichts kann eine Menge besser umgestimmt werden als durch die Autorität eines Sehers: Sie hält die Worte und Taten in Schach. Wenn die wilde, mächtige und [535] wankelmütige Menge vom Ansturm eines unsteten Sinns wogt, wenn sie vielleicht durch einen falschen Glauben getrieben wird, gehorcht sie in Missachtung der Befehle der Anführer den Sehern und lehnt die Zügel der Könige ab. Als daraufhin die Hoffnung und das Zutrauen in das Schicksal die mutlosen Männer wieder aufgerichtet hatten, meinte der makedonische König, die Waffen [540] nutzen zu müssen, solange die Herzen entflammt waren. Um ihre heiße Angriffslust nicht erkalten zu lassen, befahl er um Mitternacht herum, auf der Stelle die Zelte abzubauen. Dann gab er den Marschbefehl und schritt, hochzufrieden mit seinem vortrefflichen Heer, den jubelnden Scharen voraus.

Liber IV Capitula quarti libri Quartus ad uxoris Darii lacrimabile funus convertit Magnum. Darium lamenta fatigant falsaque suspicio. Legati certa reportant ad Darium responsa. Astant hinc inde parati ad bellum cunei. Terretur ymagine belli conciliumque vocat Macedo. Responsa suorum reicit et sompnum differt in tempora lucis. Excitus a sompno perniciter induit arma premunitque suos verbis et rebus. Et ecce concurrunt acies, penetratque in sydera clamor.

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Quartus liber Luridus et piceo suffusus lumina fumo quartus anhelanti ferales ante tumultus Lucifer ibat equo, viridesque effusa per agros inter harenosi subiectum gurgitis amnem et silvas summo parientes vertice nubes, desertum rapiebat iter spe ducta Pelasgum imperiosa phalanx cum regia decidit uxor, captivarum inter molles collapsa catervas, quam dolor absentisque viri patriaeque iacentis continuusque viae labor expirare coegit. Non secus indoluit regum fortissimus ille et pius eversor quam si cecidisse peremptas

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Buch IV Themenübersicht (1–10) Im vierten Buch wendet Alexander der Große seine Aufmerksamkeit dem beweinenswerten Leichenbegängnis der Gattin des Darius zu. Wehklagen und ein falscher Verdacht lassen Darius nicht zur Ruhe kommen. Gesandte bringen Alexanders eindeutige Antwort zu Darius. Auf beiden Seiten stehen die Schlachtreihen [5] kampfbereit da. Durch ein Schreckbild über den Krieg wird Alexander in Angst versetzt, er ruft den Kriegsrat zusammen. Die Vorschläge der Generäle weist er zurück. Er schläft bis weit in den Morgen hinein. Aus dem Schlaf gerissen, ergreift er schleunigst die Waffen und stärkt mit Worten und Taten die Seinen. [10] Da stoßen kämpfend die Heere zusammen, bis zu den Sternen dringt das Getöse der Schlacht. Tod der Stateira (1–23) Von pechschwarzem Dunst überdeckt, war der sonst hell leuchtende Luzifer schon das vierte Mal vor der todbringenden Schlacht bleich auf schnaubendem Ross heraufgezogen. Verteilt zwischen grünen Feldern, dem nahe gelegenen Strom mit seiner sandigen Flut unten im Tal [5] und den Wäldern, die hoch auf den Gipfeln Wolken auftürmten, schritt auf verlassenem Weg das mächtige griechische Heer voller Hoffnung voran. Da starb Darius’ Gattin, nachdem sie inmitten der sanftmütigen Schar der gefangenen Frauen zusammengebrochen war; der Schmerz über die Abwesenheit ihres Gatten, über die am Boden liegende Heimat und die [10] ununterbrochene Mühsal des Marsches hatten sie in den Tod gezwungen. Dieses tragische Ereignis schmerzte jenen tapfersten aller Könige und tugendhaften Eroberer nicht anders, als wenn er die

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nuncius afferret una cum matre sorores. Et lacrimis quales Darius fudisset obortis exiit in planctum iuvenis. Iam cana senectus funeris assedit loculo, et que rara tirannis semper inest fregit pietas generosa rigorem principis indomiti lacrimasque extorsit ab hoste. Post raptum semel hanc inspexerat, et preciosa reginae species non incentiva furoris causa sibi fuerat. Custodem se esse pudoris maluit et formae, neutrumque sibi temerare gloria maior erat quam si violaret utrumque. Nuncius ad Darium mediis elapsus Achivis it spado Tiriotes. Quem scissa veste cruentis unguibus et lacero super ora iacente capillo et vultum multo lacrimarum flumine mersum ut vidit, “ne differ” ait “turbare salutis si quid adhuc superest in me. Michi solve timorem in luctum. Didici miser esse malisque retundi. Hoc solamen et hec misero medicina malorum sortem nosse suam. Ludibria cruda meorum affers atque ipsis omni graviora flagello, quod tamen ipse loqui timeo.”

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Botschaft erhalten hätte, seine Schwestern seien zusammen mit seiner Mutter dahingerafft worden. Mit den ersten aufkommenden Tränen, die unter anderen Umständen Darius vergossen hätte, [15] ließ der junge König seiner Trauer freien Lauf. Schon saß die greise Königsmutter Sisigambis am Sarg ihrer Tochter Stateira. Ihr edelmütiges Pflichtgefühl, das Menschen königlichen Geblüts normalerweise selten nur innewohnt, konnte den strengen Sinn des niemals besiegten Herrschers erweichen und brachte den Feind zum Weinen. Nach Stateiras Gefangennahme hatte er diese nur ein einziges Mal genauer betrachtet und die ausgesuchte [20] Schönheit der Königin hatte ihm keinen Vorwand für eine Entehrung geliefert. Er hatte es vorgezogen, Hüter ihrer Schamhaftigkeit und Schönheit zu sein, und größeren Ruhm hatte es ihm bedeutet, keines von beidem zu schänden, als beides zu entehren. Tiriotes und Darius (24–67) Darius befürchtet die Schändung seiner Familie (24–34) Aus der Mitte der Griechen geflohen, eilte [25] der Eunuch Tiriotes zu Darius. Als der persische König diesen mit zerrissenen Kleidern, blutigen Nägeln, ungeordneten, über das Gesicht fallenden Haaren und dessen tränenüberströmtes Gesicht erblickte, sagte er: »Zögere nicht, das zu zerstören, was an glücklicher Zuversicht mir noch bleibt. Verwandle mir meine Furcht [30] in Trauer. Ich habe gelernt, mit schmerzvollen Erfahrungen umzugehen und von Schicksalsschlägen heimgesucht zu werden. Für einen unglücklichen Mann ist das Wissen um das eigene Los der einzige Trost und das einzige Heilmittel gegen die Drangsal. Bestimmt bringst du mir Nachricht von der grausamen Schändung meiner Familie, die für sie selbst entehrender ist als jeder einzelne Peitschenhieb, über den allein zu sprechen mich schon erschaudern lässt.«

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Tunc excipit ille: “Quantuscumque potest reginis” inquit “ab illis cedere qui parent honor et reverentia, tantus a victore tuis. Verum tua nobilis illa et soror et coniunx, quod vix presumo fateri, exiit a medio corpusque reliquit inane.” Tunc vero in gemitum et planctum conversa videres castra. Senex iacet exanimis fedatque verendam pulvere caniciem infelix, ideoque peremptam uxorem, quia casta pati probra nollet, apud se nescius affirmat, unoque spadone retento excludit reliquos. Iurat spado nulla tulisse dampna pudoris eam, nichil importasse molesti raptorem raptae verum gessisse mariti officium lacrimis et dignas indole tanta solvisse exequias. Hinc sollicitudine mixta suspicio graviter animum traiecit amantis. Estuat eger amans, a consuetudine stupri ortum coniectans raptae et raptoris amorem. “Hec captiva” inquit “et forma et sanguine clarens, hic dominus fuit et iuvenis. Voluisse probatur quod potuisse patet.” His estuat anxia curis languida mens Darii donec, testante penates

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Die Todesnachricht (34–39) Darauf entgegnete jener: [35] »Im selben Maße, wie Ehre und Hochachtung Königinnen von ihren Untertanen zuteil werden können, wurden diese vom griechischen Sieger den Deinen entgegengebracht. Deine edle Schwester und Gattin jedoch – ich wage es kaum zu gestehen – ist gestorben und ließ ihren entseelten Körper zurück.« Trauer und Argwohn des Darius (40–58) [40] Darauf aber hätte man das Lager in Seufzen und Klagen verwandelt erleben können: Der Greis lag leblos am Boden, der unglückliche König besudelte im Staub sein ehrwürdiges graues Haar, von falschen Vorstellungen ausgehend, bestärkte er sich selbst in der Meinung, sein Weib sei nur deshalb umgekommen, weil sie in ihrer Keuschheit die Entehrung nicht hatte erdulden wollen. Mit Ausnahme des Eunuchen [45] hieß er alle anderen zu gehen. Dieser schwor seinem König, die Gattin habe keinerlei Schande ertragen müssen, der Räuber habe die geraubte Ehefrau niemals belästigt, vielmehr habe er unter Tränen die Pflicht des Gatten erfüllt und eine ihrer bedeutenden Abstammung würdige Totenfeier abgehalten. Aufgrund dieser Worte [50] bemächtigten sich des Liebenden Seele Argwohn und Sorge. Während Darius im Stillen vermutete, dass die Zuneigung zwischen dem Räuber und der Geraubten ausgehend von der Gewöhnung an den unehelichen Beischlaf ihren Anfang genommen hatte, quälte er sich angstvoll in Liebe. Er sagte: »Die eine war eine durch ihre Schönheit und Abkunft hervorstechende Gefangene, der andere war ihr jugendlicher Herr. Es ist davon auszugehen, dass er – [55] was ihm an Möglichkeiten offenstand – auch gewollt hat.« Von derartigen Sorgen gequält, wusste Darius’ verzagter Geist solange nicht, was er glauben sollte, bis er

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et superos servo castam vixisse maritam, facta fides Dario, tollensque ad sydera palmas et faciem irriguo lacrimarum fonte madentem, “Summe deum pater” inquit “et una potentia rerum, dii patrii et quorum nutu stat Persicus orbis, primum, queso, michi regnum stabilite meisque. Quod michi si tolli iam prefinistis et a me transferri fati iubet imperiosa voluntas, regnum Asiae me post hic tam pius hostis habeto tam clemens victor.” Dixit superosque profusis invitat lacrimis ut vocem fata sequantur. Et quamquam, frustra iam pace bis ante petita, consilia in bellum converterat, hostis amore victus et exemplo, cum Palladis arbore tutos prefectos equitum quibus allegatio pacis commissa est iubet ire decem, quorum unus Achillas, qui quantum eloquio reliquis tam prestitit evo,

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von den Worten des Eunuchen – der Sklave beteuerte bei den Penaten und den himmlischen Göttern, dass die Gattin im Lager der Griechen keusch ihr Leben zugebracht hatte –, überzeugt werden konnte. Darius preist Alexander (58–67) Die Hände zum Himmel erhoben und triefend nass das Gesicht vom hervorquellenden Strom der Tränen, sprach er: [60] »Vater der Götter, einzige Macht über die Welt, Götter der Heimat, durch deren Willen das persische Reich besteht, bewahrt mir und den Meinen – darum bitte ich euch – zuvörderst die Herrschaft. Wenn ihr aber bereits den Beschluss gefasst habt, mir diese zu nehmen, und der mächtige Wille des Schicksals den Befehl erteilt, dass ich in der Herrschaft abgelöst werde, soll dieser so rücksichtsvolle Feind und so gütige Sieger nach mir [65] die Herrschaft über Asien erhalten.« So sprach er und flehte die Götter unter Tränen an, dass sich das Schicksal von seinen Worten leiten ließ. Die Gesandten des Darius (68–108) Das tugendhafte Verhalten Alexanders (68–92) Obwohl Darius seine Planungen nach zwei schon vergeblichen Versuchen, mit dem makedonischen König Frieden zu schließen, auf die kommende Schlacht ausgerichtet hatte, so schickte er nun doch, von der Güte und dem Vorbild des Feindes [70] überwältigt, zehn Reiterpräfekte im Schutze von Pallas’ Zweig zu erneuten Friedensverhandlungen. Einer von diesen, Achillas, seinen Begleitern in der Redekunst überlegen und auch vom Alter her diesen um einiges voraus, begann folgendermaßen zu sprechen: »Kein Zwang, gnä-

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sic cepit: “Darium, rex clementissime, pacem ut tociens a te peteret, vis nulla subegit, sed tua, qua satis es in nostris usus, ab illo expressit pietas. Matrem pia pignora natos absentes tantum captos non sensimus. Harum que superant custos pius et tutela pudoris haut secus ac genitor curam geris. Omine fausto reginas dicis hostilisque inmemor irae fortunae speciem pateris retinere prioris. Luridus in vultu color et liventia fletu lumina coniciunt quanto clementior hoste hostis es, et facies aufert velamina menti. Talis erat Darii cum legaremur ab illo qualis Alexandri patet. Uxorem tamen ille, tu luges hostem. Clipeum iam leva teneret, iam stares acie, iam te vibraret in hostes fulmineus Bucifal, iam te sentiret in armis horrificum Darius nisi coniugis eius humandae cura moraretur. Rata sit concordia. Natam non sine dote offert Darius tibi. Quicquid ubique terrarum est inter Frixei litoris horam Euphratenque, tibi nata mediante, precatur, in dotem capito. Teneatur filius obses et fidei et pacis. Redeat comitata duabus

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digster aller Könige, nötigte Darius, [75] dich so oft um Frieden zu bitten, sondern deine Güte, die du reichlich den Unseren gegenüber an den Tag legtest, hat ihn dazu veranlasst. Wir haben sehr wohl vernommen, dass die Mutter und auch die Kinder als Unterpfand der ehelichen Liebe nur abwesend, nicht jedoch Gefangene waren. Du sorgst dich als tugendhafter Hüter der Überlebenden und als Beschützer ihrer Keuschheit [80] nicht anders um sie als ein Vater. Du nennst sie – ein großes Glück – noch immer Königinnen, den feindlichen Zorn vergessend, gestattest du ihnen, den Anschein ihrer früheren glücklichen Stellung zu wahren. Die fahle Blässe in deinem Gesicht und deine tränenunterlaufenen Augen bezeugen, um wie viel mehr als ein erbarmungsloser Feind du in Wahrheit ein wohlmeinender [85] Gegner bist. Das Antlitz spiegelt die Seele wider. Ebenso wie dein Antlitz deine Milde erkennen lässt, so offenbarte Darius’ Antlitz dieselbe Milde, als wir von jenem als Gesandte geschickt wurden. Jener jedoch betrauert die Gattin, du betrauerst den Feind. Schon würdest du deinen Schild in der Linken tragen, schon würdest du in der Schlacht kämpfen, schon würde dich [90] Bukephalus blitzschnell in die Reihen der Feinde tragen, schon würde Darius dich schrecklich in Waffen sehen, wenn dich nicht die Sorge um die Bestattung seiner Gattin aufhalten würde. Darius’ Friedensangebot (92–99) Eintracht möge zwischen euch herrschen. Darius bietet dir seine Tochter nicht ohne Mitgift an. Was auch immer zwischen Phrixus’ Gestaden und [95] dem Euphrat an Landbesitz liegt, bittet er dich: Nimm es als Mitgift für dich in Besitz zusammen mit seiner Tochter! Als Bürge für Treue und Frieden bleibe sein Sohn in griechischer Gefangenschaft. Es kehre jedoch in Begleitung seiner beiden

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virginibus mater, quarum ter dena talentum milia sunt precium fulvo decocta metallo. Quod nisi te superi maiori pectore fultum humanosque artus divina mente beassent, tempus erat quo non solum pacem dare verum poscere deberes et fedus inire. Videsne quantus in arma ruat Darius, quot ab orbe remoto excierit gentes, quot classibus equor obumbret? Nec mare navigio nec castris terra locandis sufficit. Obiectae claudunt maris ostia puppes. Quid moror? Unus habet quas non habet area vires.” Magnus ut accepit Darii responsa, citatis in cetum ducibus, quidnam super hiis sit agendum consulit. Ambiguum videas mussare senatum, et siluisse diu perhibetur curia donec Parmenio, cuius non tam facundia sollers quam constans animus, nec ei tam dicere promptum fortia quam facere est, “Dudum redimentibus” inquit “reddendos fore censueram cum maxima posset ex ipsis qui vel ob iter periere vel artis

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Töchter auch seine Mutter zurück, der Preis für alle zusammen betrage dreißigtausend Talente aus veredeltem Gold. Darius’ Drohung (100–108) [100] Wenn die Götter dich aber nicht durch einen wacheren Verstand an der Macht gehalten und deinen menschlichen Körper nicht mit einem göttlichen Geist beschenkt hätten, wäre nun die Zeit, in der du nicht nur Frieden gewähren könntest, sondern auch nach ihm fragen und ein Bündnis eingehen müsstest. Siehst du denn nicht, mit wie viel Streitkräften Darius sich in den Kampf stürzt, wie viele Völker er aus entlegenen Gegenden der Welt [105] in Bewegung gesetzt hat, mit wie vielen Schiffen er das Meer bedeckt? Weder reicht das Meer aus für seine Schiffe noch die Erde, um all seine Lager aufzuschlagen. Die in Stellung gebrachten Schiffe blockieren die Ausfahrt ins Meer. Um es kurz zu machen: Dieser allein hat Streitkräfte, welche die ganze Gegend hier nicht in sich aufnehmen kann.« Der Standpunkt des Parmenion (109–130) Als Alexander Darius’ Vorschlag vernommen hatte, fragte er seine [110] zum Kriegsrat einberufenen Generäle, wie man ihres Erachtens auf dieses Angebot reagieren solle. Da hätte man die Generäle unschlüssig erleben können, der Kriegsrat soll lange geschwiegen haben, bis Parmenion, dessen Beredsamkeit weniger ausgeprägt war als dessen feste Haltung und dem es leichter fiel, [115] tapfere Taten zu vollbringen, als über diese zu reden, sagte: »Schon längst war ich der Meinung gewesen, dass die persischen Gefangenen gegen Geld hätten zurückgegeben werden müssen, da mit dem Verkauf derjenigen, die inzwischen – entweder der Reisestrapazen wegen umge-

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conpedibus lapsi fugere pecunia reddi. Id quoque nunc censemus ut auri pondere tanto inbellis populus genitrix cum prole gemella permutetur anus, que Grecorum agmen iterque inpediunt pocius. Tam latum et nobile regnum condicione potes nanciscier absque tuorum sanguinis inpensa. Sed nec reor hactenus Hystrum inter et Eufraten tot possedisse iacentes quenquam alium terras. Tamen et graviora supersunt. Inspice quanta petas quantumque reliqueris orbis post tergum domiti. Patriam, non Bactra vel Indos, pectore habe memori. Post fortia gesta reverti tucius in patriam quam vivere semper in armis.” Consulis arbitrium tulit egre Magnus, et “a me, si essem Parmenius, oblata pecunia palmae preferretur” ait “mallemque inglorius esse quam sine diviciis palmam cum laude mereri. At nunc securus sub paupertatis amictu regnat Alexander. Regem me glorior esse non mercatorem. Fortunae venditor absit. Nil venale michi est. Si reddendos fore constat, gratius hos gratis reddi donoque remitti censeo quam censu. Precium si dona sequatur,

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kommen oder engen Fesseln entronnen – geflohen sind, ein enorm hoher Preis hätte erzielt werden können. Darüber hinaus meinen wir auch, dass die für den Krieg [120] untauglichen Frauen – Darius’ hochbetagte Mutter und dessen beiden Zwillingstöchter –, die für das griechische Heer auf seinem Vormarsch eher hinderlich sind, für eine so große Menge Gold ausgetauscht werden sollten. Ein sich weithin erstreckendes und vortreffliches Reich kannst du dir durch diese Übereinkunft erwerben, ohne das Blut der Deinen zu vergießen. Ich glaube auch nicht, dass bisher irgendein anderer so viele [125] zwischen Donau und Euphrat liegende Länder besessen hat. Es gibt aber noch schwerwiegendere Gründe, auf Darius’ Vorschlag einzugehen: Denke darüber nach, wie viel du noch erstrebst und wie viel vom eroberten Erdkreis du schon hinter dir gelassen hast. Deine Heimat, nicht Baktra oder die Inder, trage im Herzen. [130] Sicherer ist es, nach tapferen Taten in die Heimat zurückzukehren, als immer nur Krieg zu führen.« Alexanders Antwort auf Parmenion (131–141) Die Ansichten seines Feldherrn Parmenion verärgerten Alexander. Diesem entgegnete er: »Wenn ich Parmenion wäre, würde ich auch das angebotene Gold der Siegespalme vorziehen und lieber bliebe ich ruhmlos zurück, als ohne Reichtümer mir die Siegespalme durch Ruhmestaten zu verdienen. [135] Momentan aber hat, furchtlos unter dem Mantel der Armut geborgen, Alexander die Herrschaft inne. König zu sein und nicht Kaufmann, dessen rühme ich mich. Hinweg mit denen, welche die Möglichkeiten, die ihnen das Schicksal bietet, meinen verschachern zu müssen! Ich habe nichts zu verkaufen. Falls wir uns darüber einig sind, die Gefangenen zurückzugeben, [140] bin ich der Meinung, dass es dankenswerter wäre, dies ohne finanzielle Gegenleistung zu tun und sie ihnen lieber zu schenken, als Geld für sie zu verlangen. Wenn Geschenken ein

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gratia non sequitur, nec habent commercia grates.” Hec ubi dicta, super responso consulis intro legatos iubet admitti Darioque referre. “Quod clementer” ait “feci quodque indole dignum, naturae tribuisse meae non eius honori me scierit. Me femineum non sentiet hostem agmen. Alexandrum tuto contempnere possunt soli contempti. Non infero talibus arma qui nequeant armis uti, quibus arma negavit naturae pigra mollicies. Armatus oportet sit quemcumque odiis aut ira fecero dignum. Quod si forte bonae fidei invigilaret ut a me expeteret pacem totoque recederet orbe, ambigerem fortassis an id concedere vellem, cumque meos modo pollicitis ad proditionem sollicitet Darius, modo munere palpet amicos ut mea fatali maturent fata veneno, persequar ad mortem. Nec enim michi iustus ut hostis prelia molitur verum ut sicarius, immo ut verum fatear, ut latro veneficus instat. Condicio pacis quam vos pretenditis, illi, si tulero acceptum, palmam conferre videtur. Que trans Eufraten consistunt omnia, nobis in dotem offertis, unde et vos arbitror esse oblitos ubi colloquimur. Mea transiit ala Eufraten. Metam dotis mea castra relinquunt.

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Kaufpreis folgt, dann folgt dementsprechend auch keine Dankbarkeit; bei Geschäften hat Dankbarkeit nämlich keinen Platz.« Alexanders Antwort an die persischen Gesandten (142–175) Als er sich in dieser Weise über Parmenions Antwort geäußert hatte, erteilte er den Befehl, die Gesandten hereinzulassen, und trug ihnen auf, dem Darius Folgendes zu berichten: »Er soll wissen, dass ich das, was ich gütig und meinem Charakter entsprechend getan habe, [145] meiner Wesensart zuschreibe und ihm damit keine Ehre erweisen will. Ein aus Frauen bestehendes Heer wird mich nicht als Feind erleben. Nur diejenigen, die unbedeutend sind, können Alexander gefahrlos die Stirn bieten. Nicht führe ich Waffen gegen solche, die Waffen nicht zu benutzen verstehen und denen [150] die schwächliche Trägheit ihrer Natur den Waffengang verwehrt. Wen auch immer ich meines erbitterten Zorns für würdig erachte, muss bewaffnet sein. Wenn Darius aber ehrlichen Herzens allen Ernstes darauf bedacht wäre, Frieden von mir zu erbitten und mir sein ganzes Reich zu überlassen, wäre ich unschlüssig, ob ich vielleicht seinen Vorschlag annehmen würde. [155] Da Darius aber die Meinen mal mit Versprechungen zum Verrat anstachelt, mal meinen Freunden mit Geschenken um den Bart geht, um meinen Tod mit tödlichem Gift zu beschleunigen, will ich ihn zu Tode hetzen. Denn nicht führt er Krieg gegen mich wie ein anständiger Feind, sondern wie ein Meuchelmörder, ja, er bedrängt mich sogar, [160] um der Wahrheit die Ehre zu geben, wie ein Räuber und Giftmischer. Das Friedensangebot, das ihr heuchlerisch feilhaltet, scheint, sollte ich es annehmen, nur eurem König die Siegespalme zu verleihen. Ihr bietet uns als Mitgift alles, was jenseits des Euphrats liegt? Dabei beschleicht mich der Eindruck, dass ihr [165] vergessen habt, an welchem Ort wir miteinander verhandeln. Meine Truppen haben den Euphrat bereits überschritten. Mein Lager hat die Grenze

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Pellite abhinc regem Macedum ut vestrum sciat esse quod sibi donatis. Multum michi prestat honoris si me Mazeo generum preponere querit! Ite reportantes vestro hec mea dicta tyranno: Quicquid habet Darius, quecumque amisit, et ipsum esse mei iuris et pugnae premia Grais.” Sic ait et Persas celeres in castra remittit. Mittitur a Dario Mazeus ut occupet hostis quos aditurus erat colles et plana viarum.

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Interea Macedo condivit aromate corpus uxoris Darii tumulumque in vertice rupis imperat excidi, quem structum scemate miro erexit celeber digitis Hebreus Apelles. Nec solum reges et nomina gentis Achee sed Genesis notat historias, ab origine mundi incipiens. Aderat confusis partibus yle et globus informis, vario distincta colore

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deiner Mitgift bereits hinter sich gelassen. Vertreibt doch von dort erst den makedonischen König, damit er weiß, dass dies euer Besitz ist, den ihr ihm schenken wollt. Darius erweist mir große Ehre, wenn er mich als Schwiegersohn dem Mazaeus vorziehen will! [170] Geht und bringt eurem König meine folgende Antwort: Was auch immer Darius besitzt, was auch immer er verloren hat, und auch er selbst ist meiner Macht unterworfen und für die Griechen eine Belohnung für den Kampf.« So sprach er und schickte die eiligen Perser in ihr Lager zurück. Mazaeus wurde von Darius geschickt, die Hügel und Zugangswege, [175] die der griechische Feind gerade im Begriff war einzunehmen, zu besetzen. Das Grabmal der Stateira (176–274) Der Künstler Apelles (176–179) Inzwischen hatte Alexander den Körper von Darius’ Frau mit einer Mischung aus Myrrhe und Aloe einsalben lassen. Dann gab er den Befehl, am höchsten Punkt einer Felswand aus dem Gestein ein in herrlicher Form angelegtes Grabmal herauszuschlagen, das der durch die Kunstfertigkeit seiner Hände berühmte Hebräer Apelles errichtete. Schöpfung von Himmel und Erde; die vier Elemente; Lichtwerdung (180–188) [180] Nicht nur Herrscher und Namen des griechischen Volkes, sondern auch die Erzählungen aus dem Buch Genesis bildete er ab, beginnend mit der Schöpfung der Welt. Zu sehen war die aus kleinen ungeordneten Teilchen bestehende Urmaterie, eine in sich selbst ungeordnete kugelförmige Masse, welche die vier Elemente,

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quatuor inpressis pariens elementa sigillis. Hic operum series que sex operata diebus est deitas, inter que, auro spirante nitorem Luciferum et rutilis lambentibus aera gemmis, de tenebris primam videas emergere lucem. Dignior hic inter animas ratione carentes de limo formatur homo, quem costa fefellit propria, letifero colubri seducta veneno. Exclusis patribus primaque a matre receptis, ignea custodit virgulti romphea limen.

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Inde Cain profugus bigami non effugit arcum. Pullulat humanum genus et polluta propago. Decedit virtus, vicium succedit, adherent coniugio illicito, pietas rectumque recedunt. Factorem, si triste notes in ymagine signum,

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auf eingearbeiteten Reliefs verschieden gefärbt, sichtbar hervorbrachte. [185] Hier war die Reihe der Werke dargestellt, an denen Gott sechs Tage lang gearbeitet hatte; dazwischen trat Lucifer mit goldstrahlendem Glanz hervor, und weil goldgelbe Edelsteine mit ihrem Licht die Lüfte erhellten, konnte man aus der Dunkelheit das erste Licht hervorbrechen sehen. Erschaffung des Menschen; Sündenfall; Vertreibung aus dem Paradies (189–193) Hier wurde aus Schlamm, inmitten der nicht vernunftbegabten Lebewesen, würdiger als diese, [190] der Mensch geformt. Verführt vom tödlichen Gift der Schlange täuschte diesen später die eigene Rippe. Nachdem Adam und Eva und die von der ersten Mutter empfangenen Kinder aus dem Paradies vertrieben waren, bewachte ein flammendes Schwert den Eingang zum Garten Eden. Lamech tötet Kain (194) Unstet und flüchtig entkam Kain nicht dem Bogen des Bigamisten Lamech. Versündigung der Menschen; Sintflut; Kainsmal; Arche Noah (195–200) [195] Das Menschengeschlecht nahm an Zahl zu, zunehmend von Sünde befleckt war dessen Nachkommenschaft. Die Tugendhaftigkeit nahm ab, das Laster trat an ihre Stelle. Unzucht trieben sie frevelnd, Pflichtgefühl und das Gute verschwanden. Wenn man auf dem Bild das Schreckensmal sah, hätte man meinen können, Gott

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penituisse putes hominem fecisse. Laborat archifaber. Genus omne animae clauduntur in arca.

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Post refugos fluctus replet octonarius orbem, vinea plantatur, et inebriat uva parentem. Hic patriarcharum seriem specialius aurum exprimit. Emeritos videas ridere parentes, venantemque Esau, turmisque redire duabus luctarique Iacob. Sequitur distractio Ioseph et dolus et carcer et transmigratio prima.

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habe die Erschaffung des Menschen bereut. [200] Der Erbauer der Arche mühte sich ab. Darin eingeschlossen wurden paarweise jegliche Arten von Lebewesen. Nach der Sintflut; Noah vom Wein betrunken (201–202) Nach der Sintflut bevölkerten acht Menschen die Erde von neuem, Weinstöcke wurden gepflanzt und der Wein machte ihren Vater Noah betrunken. Abraham, Isaak und Jakob; Geburt des Isaak (203–204) Dort stellte überaus fein gearbeitetes Gold die Reihe der Patriarchen dar. Man hätte die alt gewordenen Eltern lächeln sehen können. Der Jäger Esau; Jakobs Rückkehr; Jakobs Kampf mit dem Engel (205–206) [205] Ebenso hätte man den auf der Jagd befindlichen Esau erkennen können und Jakob, der mit zwei Heeren zurückkehrte und den Engel niederrang. Verkauf Josephs; Potiphars Weib; Einkerkerung Josephs; Fortgang der Kinder Israels nach Ägypten (206–207) Es folgten der Verkauf Josephs, die Machenschaften von Potiphars Weib, die Einkerkerung Josephs und der erste Auszug der Kinder Israels nach Ägypten.

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Hic dolet Egyptus denis percussa flagellis. Transvehit Hebreos, equitatus regis et arma subruit, et puro livescit pontus in auro.

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Hic populum manna desertis pascit in arvis. Lex datur, et potum sicienti petra propinat. Succedit Bennun Moysi post bella sepulto. Natio subicitur, Iordanis contrahit amnes. Post cineres Ihericho reus est anathematis Achor. Persolvit Iosue naturae debita postquam funiculo patrium divisit fratribus orbem. Iudicibus tandem populum supponit Apelles, inter quos Samson fortissimus, et tamen illum

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Die zehn Plagen Gottes; Auszug der Kinder Israels aus Ägypten; Untergang des Pharaos (208–210) Hier litt Ägypten, geschlagen von zehnfacher Plage. Moses führte die Hebräer durch das Meer hindurch, [210] vernichtete die Reiterei und die Waffen des Pharaos und das Meer schimmerte in lauterem Gold. Zug durch die Wüste; Versorgung mit Manna; Übergabe der Gesetze; Eröffnung der Quelle (211–212) Dort ernährte Manna in verlassener Wüste das Volk. Das Gesetz wurde überreicht, der Felsen spendete dem Dürstenden Trank. Moses’ Tod; Zerstörung von Jericho; Josua hemmt den Jordan; Verfluchung der Ebene von Achor; Landverteilung durch Josua; Josuas Tod (213–217) Nach Kriegen wurde Moses bestattet, dem Josua nachfolgte. Ihm unterwarf sich das Volk, er hemmte die Wasser des Jordan. [215] Nachdem Jericho in Schutt und Asche gelegt worden war, wurde die Ebene Achor mit einem Fluch belegt. Nachdem Josua mit einer Messschnur das Land seiner Väter verteilt hatte, starb er hochbetagt. Herrschaft der Richter; Blendung Samsons; Raub seiner Haare durch Dalila (218–220) Schließlich unterstellte Apelles das Volk der Herrschaft der Richter, unter denen Samson der kräftigste war. Und doch ließ Dalila jenen

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fortior excecat preciso Dalila crine.

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Ruthque Moabitis viduata priore marito in genus Hebreum felici federe transit. Altera picturae sequitur distinctio, reges aggrediens et funus Heli Samuelis ab ortu. Murmurat in Silo populus. De Beniamin exit qui regat Hebreos, sed enim quia dissonat eius principio finis, Ysai de semine princeps preficitur populo, qui contudit arma Goliae, inque acie belli cum prole cadente tyranno, regia desertos dampnat maledictio montes.

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blenden, selbst nun [220] stärker, nachdem sie diesem im Schlaf das Haar geschoren hatte. Ruth (221–222) Ihres ersten Gatten verlustig, siedelte die Moabiterin Ruth in glücklichem Ehebund zum Geschlecht der Hebräer über. Ankündigung der Könige Israels; Tod des Eli; Geburt des Samuel; Unruhe in Silo (223–225) Ein anderer Teil des Bildwerks folgte: Er zeigte die Könige Israels und Elis Tod, gefolgt von der Geburt Samuels. [225] Das Volk murrte in Silo. Saul erster König Israels; David zweiter König Israels; Sieg Davids über Goliath; Tod des Saul und seiner Söhne; Klagelied Davids (225–230) Aus Benjamins Stamm ging Saul hervor, der über die Hebräer herrschen sollte. Da aber seinem positiven Anfang nicht das böse Ende entsprach, wurde dem Volk mit David ein Fürst aus dem Geschlecht des Jesse an die Spitze gestellt, der Goliaths Waffen zerbrach. Als im Kampf gegen die Philister der König Saul zusammen mit seinen Söhnen fiel, schmähte [230] ein königlicher Fluch die einsamen Berge.

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Hic Asael Abnerque cadunt, incurrit Urias quam tulerat mortem. Patricidam detinet arbor quem fodit hasta viri. Patriam lugere putares effigiem. Sed postquam humanitus accidit illi, construitur templum, vivunt mandata sepulti pacifico regnante patris, nec sacra tuetur ara Ioab, Semeique vorax intercipit ensis.

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Consilio iuvenum phariseat scisma perhenne cum regno populum. Lis est de divite regno. Quodcumque alterutrum preclare gessit, eodem marmore docta manus et res et nomina pingit. Ne tamen infamet gentem et genus, ydola regum,

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Aufstand gegen David (231–234) Hier fielen Asael und Abner, Urija wurde dargestellt, wie ihn der Tod ereilte. Der Ast eines Baums hinderte Absalom am Vatermord, den der Speer eines Mannes durchbohrte. Man hätte meinen können, das Abbild Davids zeige lebensecht dessen Trauer. Tod Davids; Salomo dritter König Israels; Tempelbau; Tod des Joab; Tod des Simei (234–237) Nachdem König David gestorben war, [235] baute man den Tempel, unter Salomos friedenstiftender Herrschaft behielten die Gebote des bestatteten Vaters ihre Gültigkeit, nicht schützte den Joab der geweihte Altar, das verzehrende Schwert ließ Simei sterben. Rat der Ältesten; Rat der Jünglinge; Spaltung des Reichs; Abfall von zehn Stämmen (238–239) Auf den Rat der Jünglinge hin trennte eine dauerhafte Spaltung das Volk und die königliche Herrschaft. Die Pracht des Königreichs weckte Streit. Praeteritio: Götzendienst der Könige; Verderbtheit von Samaria; Tod der Isebel; Tod des Ahab; Justizmord an Nabot; Vernichtung der Fünfzig (240–246) [240] Was auch immer in den Reichen Juda und Israel Großartiges vollbracht worden war, brachte Apelles’ kundige Hand samt der Geschehnisse und Namen in eben diesem Marmor zum Ausdruck. Um jedoch sein Volk und Geschlecht nicht zu kränken, ließ seine

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sordes Samariae, fraterni numina regni preterit, et funus Iezabel de turre cadentis morsque tacetur Achab et vinea sanguine parta. Non ibi cum socio quinquagenarius ardet,

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sed gens sacra Baal gladio feriuntur Helie, discipulusque dolet non comparere magistrum. Quos tamen illustres declarat pagina reges altior ordo tenet. Ezechias ydola purgat et revocat longo sopitas tempore leges. Hic egrotantem videas solisque recursum et clarum titulis celebrantem Pascha Iosiam, preter quos nullus regnavit in omnibus expers labis apostaticae nullusque a crimine mundus.

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Hand die Götzenbilder der Könige, Samarias Verderbtheit und des Bruderreichs Baalsdienst unerwähnt, ebenso verschwieg sie das Leichenbegängnis der vom Turm gestürzten Isebel, [245] den Tod Ahabs und den mit Nabots Blut gewaltsam erworbenen Weinberg. Nicht ging dort der Anführer der fünfzig Mann mit seinen Waffenbrüdern in Flammen auf. Tötung der Baalspriester durch Elija; Trauer des Elisa (247–248) Mit dem Schwert jedoch schlug Elija die abscheuliche Sippe des Baal und der Schüler litt unter der Abwesenheit seines Meisters. Ezechia und Josia von Juda; Beseitigung der Götzenbilder; Wiedereinführung des Passah-Festes; Rücklauf der Sonne an der Treppe (249–255) Die obere Reihe des Bildes jedoch umfasste diejenigen glänzenden Herrscher [250], von denen die Bibel berichtet. Ezechia beseitigte die Götzenbilder und verschaffte den lange Zeit unbeachteten Gesetzen erneut Geltung. Dort hätte man den todkranken Ezechia, den Rücklauf der Sonne und Josia sehen können, der durch ruhmvolle Taten berühmt das Passah-Fest feierte. Abgesehen von diesen beiden regierte keiner unter den Herrschern von Juda ohne [255] schändlichen Abfall vom Glauben und war keiner ohne Verbrechen.

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Ecce prophetarum, quo rege et tempore quisque scripserit, effigies habet altior ordo locatas. Hic signum dat Achaz. “Ecce” inquit filius Amos “virgo concipiet.” Hic sub Ioachim Iheremias occasum dolet et dominum nova monstra creasse in terra, “mulier”que “virum circundabit” inquit. Stansque Ezechiel post captam a gentibus urbem se vidisse refert clausam per secula portam, scilicet intactae designans virginis alvum.

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Die vier großen Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und Daniel (256–257) Schau, die Reihe darüber zeigte die Bildnisse der Propheten und gab an, unter welchem König und zu welcher Zeit ein jeder von ihnen geschrieben hatte. Verkündigung von Marias Empfängnis durch Jesaja an Ahas (258–259) Hier verkündete Jesaja dem Achaz: »Eine Jungfrau wird dereinst ein Kind empfangen.« Jeremia, Zerstörung Jerusalems unter Zedekia; babylonische Gefangenschaft und Ende Judas; Verkündigung der jungfräulichen Geburt Jesu (259–261) Dort klagte Jeremia über den unter der Herrschaft Jojachins [260] eingetretenen Fall Jerusalems und auch darüber, dass Gott neue Scheusale auf Erden geschaffen hat, und er verkündete: »Die Frau wird den Mann umgeben.« Hesekiel; das geschlossene Tempeltor als Sinnbild der Jungfräulichkeit Marias (262–264) Nach der Eroberung Jerusalems durch die Heiden stand Hesekiel da und verkündete, er habe das für Jahrhunderte geschlossene Tor des Tempels vor seinem inneren Auge gesehen, womit er freilich auf den Leib der unberührten Jungfrau anspielte.

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“Occidetur” ait Daniel “post septuaginta ebdomadas Christus.” Vatum bissena secuntur nomina cum titulis et in unum consona dicta. Ultima pars regnum Cyri populique regressum sub duce Zorobabel habet. Hic reparatio templi pingitur. Hystoria hic non pretermittitur Hester causaque mortis Aman stolidaeque superbia Vasti. Hic sedet in tenebris privatus luce Tobias,

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Daniel und die siebzig Jahrwochen (265–266) [265] Daniel sprach: »Gekreuzigt wird Christus nach siebzig Jahrwochen.« Die zwölf kleinen Propheten (266–267) Es folgten auf Inschriften die Namen der zwölf Propheten mit ihren übereinstimmenden Prophezeiungen. Rückkehr der Juden nach Jerusalem und Wiederaufbau des Tempels unter Cyrus; Zorobabel (268–270) Der letzte Teil der Darstellungen umfasste die Herrschaft des Cyrus und die unter Zorobabels Führung erfolgte Rückkehr des jüdischen Volkes. Hier wurde der Wiederaufbau des Tempels [270] abgebildet. Esther wird Königin; Hinrichtung des Haman; Verstoßung der Vasti (270–271) Hier überging man nicht Esthers Geschichte, nicht den Grund für Hamans Tod und den Stolz der törichten Perserkönigin Vasti. Der unerschütterliche Glaube des Tobias (272) Hier saß der seines Augenlichts beraubte Tobias im Dunkeln.

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in castrisque necat Holofernem mascula Iudith, totaque picturae series finitur in Esdra. Magnus ut exequiis tumulo de more peractis inferias solvit, festinus castra moveri imperat et rapido cursu bachatur in hostem, et Menidan raro contentum milite campos explorare iubet ubi rex Persaeque laterent.

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Quo procul inspecto Mazeus prepete cursu contraxit turmas et sese in castra recepit. At Darius, patulis avidus decernere campis, instaurat bellis acies, cuneosque pererrans pectora tam monitis honerat quam prestruit armis.

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Judith tötet Holofernes (273) Im Lager erschlug die mannhafte Judith den Holofernes. Esra und der Wiederaufbau des Tempels (274) Die ganze Reihe der Bilder endete mit Esra. Alexanders Schnelligkeit und kluge Planung (275–279) [275] Nachdem Alexander dem Brauch gemäß die Totenfeiern begangen und die Totenopfer vollzogen hatte, befahl er eilig den Aufbruch und stürzte sich in raschem Lauf auf den Feind. Er beauftragte Menidas, der mit kleinem Geleit sich begnügte, die Gegend zu erkunden, wo Darius und die Perser sich versteckt halten könnten. Szenenwechsel: Vorbereitungen im Lager des Darius (280–284) [280] Nachdem Mazaeus diesen aus der Ferne erblickt hatte, zog er hastig seine Schwadronen zusammen und begab sich zurück ins persische Lager. Darius aber stellte in seinem leidenschaftlichem Bestreben, die Entscheidung in offener Feldschlacht zu suchen, sein Heer in Schlachtordnung auf, die Reihen durchschreitend ermahnte er seine Soldaten energisch und bereitete sie auf den Waffengang vor.

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Iam loca Pelleus castris elegerat unde aurea Persarum poterant tentoria cerni. Iam vexilla ducum spacio distantia parvo, iam stabant acies. Hinc inde volare videres ventorum facili inpulsu per inane dracones cum Macedum furor infremuit, strepituque soluto in Persas raucis stridoribus inpulit auras. Nec minus adversi certant elidere Persae horrifico clangore polum. Tremit orbis et axis ad sonitum, tremuloque genu vix sustinet Athlas perpetuum pondus. Rursus nova bella Gygantum orta putans, replicat iteratos Echo boatus, et patulae rauco respondent gutture valles. Armatas inhibere manus populique furorem vix potuit Macedo quin excitus ordine rupto frenderet incussoque gradu raperetur in hostem. Sed quia iam fessus emenso Cinthius orbe, obtenebrans faciem ne funera tanta videret, emerito mergi certabat in equore curru, ipse iaci vallum et Grais edicit eodem castra locare loco. Paretur, et aggere facto se rapit ad tumulum quo totum cominus hostem

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Griechen und Perser lagern in Sichtweite zueinander (285–300) [285] Schon hatte Alexander einen Platz für das Lager ausgewählt, von wo man die goldenen Zelte der Perser sehen konnte. Schon waren die Feldzeichen beider Feldherrn nicht mehr weit voneinander entfernt, schon standen die Heere in Schlachtordnung da. Hüben wie drüben hätte man sehen können, wie die von einem leichten Windstoß bewegten Drachenfahnen durch die Luft flatterten, [290] als plötzlich sich die Kampfeswut der Griechen entlud und die Lüfte mit hemmungslosem Getöse gegen die Perser und rauem Gebrüll erschütterte. Ebenso trachteten die feindlichen Perser danach, das Himmelsgewölbe mit entsetzlichem Lärm zu zerschmettern. Bei diesem Krachen erzitterten Erde und Himmel, kaum war Atlas noch in der Lage, mit zitternden Knien die für ihn [295] ewige Last zu tragen. Im Glauben, ein neuer Krieg der Giganten habe noch einmal begonnen, erwiderte Echo das wiederholte Dröhnen, die weiten Täler antworteten mit dumpf tönendem Raunen. Kaum noch konnte Alexander den bewaffneten Scharen und seiner Männer Kriegswut Einhalt gebieten, dass sie sich gereizt in mächtigem Sturmschritt, grimmig und ohne die Ordnung zu halten, [300] wild auf die Feinde stürzten. Alexanders Entsetzen (301–327) Als die Sonne den Erdkreis durchmessen hatte und, bereits erschöpft und ihr Antlitz allmählich verfinsternd, sich eifrig bemühte, mit ihrem abgekämpften Wagen im Meer zu versinken, um nicht ein so großes Sterben miterleben zu müssen, gab Alexander den Griechen die Anweisung, einen Wall aufzuschütten und an eben dieser Stelle [305] das Lager zu errichten. Man gehorchte dem Befehl. Nachdem der Schutzwall errichtet war, trieb es ihn auf den Hügel, wo er aus unmittelbarer Nähe das ganze feindliche Heer

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et sparsas oculis potuit revocare phalanges, totaque venturi facies discriminis illi obicitur. Videt armisonas radiare choortes, distinctas acies phaleris auroque superbas, barbariem populi confusaque murmura vocum audit, et horrisonus aures percellit equorum hinnitus. Que cuncta viro, si credere fas est, incussere metum, facilemque ad nobile pectus corque gyganteum reor ascendisse pavorem. Non alio Tiphis curarum fluctuat estu, cui blandita diu Zephiri moderantia solo flamine contentam ducit sine remige puppem, Nereidumque chorus placidis epulatur in undis, si procul instantes videat fervere procellas et celeres phocas imis a sedibus Auster premittens madidis iam verberet aera pennis: Inclamat sociis, laxisque rudentibus ipse convolat ad clavum laterique aplustre maritat. Non secus, ut vidit tot milibus arva prementes barbaricos instare globos, iam credere fas est magnanimum timuisse ducem. Vocat ergo quirites, seu dubiae mentis quid agat seu verius ut sic experiatur eos que sint tractanda requirens. Expectata diu tandem sententia docti

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und die Aufstellung der persischen Schlachtreihen in Augenschein nehmen konnte. Dabei trat ihm das Szenario der nahenden Entscheidungsschlacht in seinem ganzen Ausmaß vor Augen. Schimmern sah Alexander waffenklirrende Kohorten, [310] stolze mit Brustschmuck und Gold geschmückte Schlachtreihen, er konnte die barbarischen Schreie der Perser und das unverständliche Murmeln ihrer Stimmen vernehmen, das schaurig tönende Wiehern der Pferde erschütterte seine Ohren. Alle diese Eindrücke jagten dem makedonischen Helden – man mag es kaum glauben – Angst ein, und mühelos, meine ich, konnte sich die Furcht seines edlen Gemüts [315] und seiner vortrefflichen Seele bemächtigen. Dieselben drängenden Sorgen nehmen einen Steuermann in Beschlag, dem Zephyr zuerst das mit leichtem Wind zufriedene Schiff ohne den Einsatz der Ruder lange angenehm vorwärts bewegt, während der Reigen der Nereiden sich bei ruhiger See erquickt, [320] wenn er dann aber in der Ferne tobende Stürme drohend herannahen sieht und der Südwind, die schnellen Robben aus den tiefsten Gewässern vorab schon vertreibend, mit regendurchnässten Schwingen die Lüfte schon peitscht, er sich rufend an seine Gefährten wendet, selbst zum Steuerruder eilt und wegen der noch schlaffen Schiffstaue das Hinterdeck und die Bordwände fest vertäut. [325] Nicht anders – so darf man wohl annehmen – fürchtete sich der mutige griechische Anführer, als er die barbarischen Scharen, welche die Fluren mit so vielen Tausend besetzten, vorwärtsdrängen sah. Versammlung der Generäle (327–349) Also rief er seine Berater zusammen, entweder aus Zweifel über das weitere Vorgehen oder in Wahrheit doch eher in der Absicht, jene prüfend zu fragen, was nun getan werden müsse. [330] Der kluge Parmenion äußerte schließlich die längst erwartete Ansicht, dass sie

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Parmenionis habet ope noctis eis opus esse, et furto pocius quam bello censet agendum: Attonitos subito casu, caligine noctis oppressos, placidae torpore quietis inertes, moribus et linguis discordes posse repelli ex facili aut cedi gladiis aut cedere victos. Nam si res agitur de luce, horrenda Scitarum corpora et intonsis invisi crinibus Indi et quos Bactra creant, inmensa statura Gygantum, occurrent oculis, et inani quassa pavore pectora terribiles poterunt pervertere formae. Addit et a paucis hominum tot milia gentis nec circumfundi nec bello posse moveri. Preterea Darium probat elegisse iacentes planicie campos, et non, ut contigit ante, Cyliciae angustas inter decernere fauces. Tota fere Macedum laudat manus hoc et in unum consonat. Hos inter Polipercon nocte fruendum asserit et positum Grais in nocte tryumphum. Hunc rex intuitus, neque enim iam Parmenionem sustinet arguere et tumidis offendere dictis, quem modo consultum satyra percusserat acri, “Hic latronis” ait “mos et sollercia furum

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die Hilfe der Nacht benötigten und es besser sei, mit List vorzugehen, als die offene Feldschlacht zu suchen: Mit Leichtigkeit könnten die Feinde, bestürzt durch den plötzlichen Angriff, überfordert durch das Dunkel der Nacht, wehrlos durch die Trägheit eines friedlichen Schlafs und gänzlich verschieden [335] in ihren Lebensgewohnheiten und ihren Sprachen, fortgejagt, mit dem Schwert getötet oder besiegt zur Flucht bewegt werden. Wenn man nämlich bei Tageslicht die Entscheidung suche, würden die furchterregenden Körper der Skythen und die noch von keinem Griechen mit eigenen Augen erblickten Inder mit ihren ungeschorenen Haaren und jene, die Baktra hervorbringt, Riesen von gigantengleicher Gestalt, [340] den Griechen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen; derartige Schreckensgestalten könnten Gemüter, die allein schon durch grundlose Angst erschüttert würden, völlig aus der Fassung bringen. Er fügte noch hinzu, dass von so wenigen eigenen Kriegern wohl kaum so viele tausend Perser umzingelt oder vom Schlachtfeld vertrieben werden könnten. Außerdem gab er zu bedenken, dass Darius für die Schlacht [345] ein ebenes und weites Gelände ausgewählt habe und die Entscheidung nicht mehr wie früher in den engen Schluchten Kilikiens suche. Beinahe die ganze makedonische Schar lobte diesen Vorschlag und stimmte einmütig zu. Unter ihnen empfahl auch Polipercon, die Dunkelheit der Nacht zu nutzen: Der Sieg der Griechen beruhe auf einer nächtlichen Schlacht. Alexanders Verständnis wahren Ruhms (350–373) [350] Alexander blickte diesen scharf an – nicht mehr nämlich ertrug er es, Parmenion eines Irrtums zu überführen und ihn mit aufbrausenden Worten zu kränken – und attackierte den Mann, den er eben noch um Rat gefragt hatte, mit bitterer Ironie: »Euer Vorschlag entspricht der üblichen Vorgehensweise von Räubern und

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quem michi suggeritis, quorum spes unica, voti summa, nocere dolis et fallere fraude latenti. Gloria nostra dolo non militat. Ut nichil obstet quod michi candorem famae fuligine labis obfuscare queat, iam non angustia saltus et Cilicum fauces Dariive absentia segnis nec furtiva placent timidae suffragia noctis. Aggrediar de luce viros. Victoria quam nos molimur gladiis aut nulla sit aut sit honesta. Malo peniteat fortunae et sortis iniquae regem quam pudeat parti de nocte tryumphi. Vincere non tanti est ut me vicisse dolose posteritas legat et minuat versutia palmam. Quin ne fallantur, ne comperiantur ab hoste, Persarum vigiles et in armis stare catervas compertum est. Igitur vestris impendite curam corporibus sompnoque operi reparate diurno, vicinae memores motus instare diei, que vobis medium pessundare debeat orbem.” Hiisque peroratis redit in tentoria miles. Econtra Darius Persas haut segnius armat premunitque suos. Facturum conicit hostem quod facturus erat si Parmenionis haberet consilium vires. Mandunt alimenta furoris quadrupedes frenos, phalerataque terga relucent.

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dem Ränkespiel von Dieben, deren einzige Hoffnung [355] und höchster Wunsch darin besteht, durch Arglist zu schaden und durch hinterlistigen Betrug zu täuschen. Unser Ruhm bedarf nicht der Hinterlist. Nichts soll im Weg stehen, was mir den Glanz meines guten Namens mit einem dunklen Schandfleck beeinträchtigen könnte. Nunmehr missfallen mir die Engstellen der Berge und die Schluchten Kilikiens oder die Abwesenheit des trägen Darius [360] und auch der ängstlichen Nacht verstohlene Unterstützung. Ich will die Perser bei Tage angreifen. Der Sieg, den wir mit unseren Schwertern erstreben, soll entweder ehrenhaft sein oder gar nicht erst Wirklichkeit werden. Ich will lieber ein König sein, der im Falle einer Niederlage mit seinem unglücklichen und ungerechten Schicksal unzufrieden ist, als einer, der sich eines nächtlich errungenen Sieges schämen muss. [365] Ein Sieg ist nichts wert, wenn die Nachwelt dann berichtet, ich hätte mit List nur gesiegt, und der Vorwurf der Verschlagenheit meinen Ruhm schmälert. Überdies ist erfahrungsgemäß davon auszugehen, dass die Wachen und Truppen der Perser auch nachts stets kampfbereit sind, um nicht vom Feind ausgeschaut und überrumpelt zu werden. Sorgt also lieber [370] für euren Körper und stärkt ihn im Bewusstsein, dass die militärische Auseinandersetzung unmittelbar bevorsteht, die euch die Hälfte der Welt verschaffen soll, im Schlaf für den morgigen Kampf.« Nach diesen Worten kehrte die Truppe zu den Zelten zurück. Szenenwechsel: Letzte Vorbereitungen im Lager des Darius (374–390) Auf der anderen Seite rüstete Darius die Perser ebenso schwungvoll für den Kampf [375] und verstärkte seine Truppen im Vorfeld der Schlacht. Er vermutete, der griechische Feind werde, falls sich Parmenions Rat durchsetzen sollte, noch in der Nacht angreifen. Die Pferde kauten am Zaumzeug – Nahrung für ihre Wut – und ihre schmuckverzierten Rücken leuchteten im Dunkel der Nacht. Ent-

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Ignibus accensis acies ardere videntur. Syderibus certant galeae, clipeisque retusus invenisse pares flammas stupet arduus ether, et metuit fieri caelum ne terra laboret. Nec minimum gaudet nox instar habere diei. Nam pro sole sibi Darii datur emula Phebi cassis, et in summo lampas sedet ignea cono, sydera que noctis obscurans solaque solis solius radiis indignans cedere, quantum lumine cedit ei, tantum preiudicat illis. Mille micant lapides in girum. Nullus eorum est quem iubar ardoris non disputet esse piropum. Invasit subitis concussum motibus ingens agmen utrumque timor. Iamque ausa fovere secundum aurea sponda Iovem sed non spondere soporem inplicitum curis corpus regale tenebat. Nunc placet in dextrum cuneum de vertice montis mittere Graiugenas, nunc levum frangere cornu, et nunc oppositis occurrere frontibus hosti molitur, modo falcatos eludere currus, insompnemque trahit, agitat dum talia, noctem, nec capit angustum curarum milia pectus.

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zündeten Fackeln gleich schienen die persischen Reihen zu glühen. [380] Wetteifernd mit den Sternen funkelten die Helme, erstaunt war der hohe Äther, im Widerschein der Schilde dasselbe Leuchten noch einmal zu finden, er hegte sogar die Befürchtung, die Erde beabsichtige, selbst Himmel zu werden. Dem Tage zu gleichen, freute sich die Nacht. Denn man hatte ihr Darius’ Helm, des Phoebus’ Rivalen, gleichsam als Sonne gegeben; [385] ganz oben auf der kegelförmigen Spitze des Helms erstrahlte ein Licht, das die nächtlichen Sterne überstrahlte und allein den Strahlen der Sonne unwillig wich; im selben Maße, wie es mit seinem Leuchten der Sonne nachstand, so überstrahlte es doch die Sterne. Kreisförmig angeordnet blitzten tausend Edelsteine, die alle ohne Ausnahme [390] ihren strahlenden Glanz auf das rote Leuchten des Granatsteins zurückführen konnten. Das Eingreifen der Göttin Victoria (391–453) Alexanders Gedankengefängnis (391–400) Von jäher Erregung überwältigt, wurden beide Heere von gewaltiger Angst erfasst. Und schon umfing den von Sorgen geplagten König das goldene Bett, das es zwar wagte, den zweiten Jupiter zu wärmen, nicht aber den Schlaf zu versprechen. [395] Bald schien es ihm geraten, griechische Kämpfer von der Anhöhe des Bergs auf den rechten Flügel der Perser zu schicken, bald den linken persischen Flügel zu zerschlagen, bald war er gedanklich damit beschäftigt, den Feind frontal anzugreifen, bald den persischen Sichelwagen auszuweichen. Während er solches erwog, verbrachte er eine schlaflose Nacht, [400] und nicht war seine belastete Seele in der Lage, die zahllosen Sorgen zu verarbeiten.

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Insula multifidi quam Tibridis alveus ambit est ipso reverenda loco, que vendicat orbis imperiique caput, quadris ubi freta columpnis stat sita sub clivo lunaris in aere motus regia reginae cuius Victoria nomen. Mille patet foribus tremulisque sonora lapillis intremit a tactu, totique inmurmurat orbi cardo semel flexus. Ad limina prima susurrat introitumque tenet curarum sedula mater Ambitio pernox. Solio sedet intus eburno diva, triumphales lauro mordente capillos, munifica munita manu, cinguntque sorores eius utrunque latus et regia tecta coronant perpetue comites: lirico modulamine carmen inmortale canens et in evum Gloria vivax, Maiestasque premens rugoso secula fastu, conciliansque sibi facilem Reverentia plebem, et dea que leges armat, que iura tuetur, Iusticia, in neutram declinans munere partem. Assidet hiis stabilitque deae Clementia regnum, sola docens miseris misereri et parcere victis. Has inter locuples sed barbara moribus astat fomentum vicii genitrixque Pecunia luxus. Pacifico reliquis prelibans oscula vultu inmemor est odii finis Concordia belli et Pax agricola et cum pleno Copia cornu. Applausus a fronte sedent, qui seria ludis miscentes vario divam oblectamine mulcent,

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Der Palast der Göttin Victoria (401–432) Rings umströmt vom Flussbett des oft sich verzweigenden Tiber lag eine Insel, ehrwürdig durch ihre Lage allein, die für sich den Anspruch erhob, Mittelpunkt von Erdkreis und Reich zu sein. Dort ragte, fest gestützt auf quadratische Säulen, am Fuß einer Anhöhe [405] im Dunst des wandernden Mondlichts der Palast einer Königin – Victoria ist ihr Name – empor. Zugänglich war er durch tausend Tore und bebte, von zitternden Perlen tönend, schon bei leichter Berührung; und wenn sich ein Tor einmal öffnete, sprach es murmelnd zum ganzen Erdkreis. An der ersten Schwelle flüsterte, den Eingang bewachend, die allzu geschäftige Mutter der Sorgen: [410] die rastlose Ambitio. Auf einem elfenbeinernen Thron saß drinnen, versehen mit spendender Hand, die Gottheit Victoria selbst, ein Lorbeerkranz hielt ihre glänzenden Haare zusammen. Zu beiden Seiten umringten sie ihre Geschwister und umgaben kranzartig den königlichen Tempel als beständige Begleiter: zum einen die unvergängliche Gloria, die zum Klang der Leier ihr [415] unsterbliches Lied sang; dann Maiestas, welche die Jahrhunderte mit unerbittlicher Verachtung knechtete; auch Reverentia, die das willige Volk sich freundlich geneigt machte; ebenso die Göttin Iustitia, welche die Gesetze schützte, die Rechte bewahrte und zu keiner Seite hin durch Bestechung sich neigte. [420] Diesen zur Seite saß und festigte der Göttin die Herrschaft Clementia, die allein lehrte, sich der Elenden zu erbarmen und die Besiegten zu schonen. Ebenfalls im Kreise der Geschwister saß, zwar begütert, barbarisch jedoch in ihrem Charakter, Pecunia, Nahrung des Lasters und Mutter der üppigen Pracht; zugegen war auch Concordia, [425] den Hass vergessend, gleichbedeutend mit dem Ende des Kriegs, die mit friedfertiger Miene den anderen Geschwistern Küsse zukommen ließ; auch Pax, die Schutzgöttin des Landbaus, und Copia mit reichem Füllhorn waren vor Ort; vor Applausus saßen jene, die ernste Dinge mit scherzhaften Spielen mischten und die Göttin Victoria mit ab-

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et Favor ambiguus et bleso subdolus ore Risus adulator, commentaque ludicra divae singula policronos optant, et musica circum instrumenta sonant numeros aptante camena. Hec ubi tot curas volventem pectore Magnum vidit, perpetuos cui continuare tryumphos a cunis dederat, metuens ne forte futuri naufragium Martis insompnes mergeret artus, emicat extimplo, velataque nubis amictu antra Quietis adit et desidis atria Sompni, atque ita: “Surge pater, Macedumque illabere regi dum iacet, et curis animum corpusque relaxa.” Dixerat. Ille gravis, vix se torpore soluto excutiens, madidas libravit in aere pennas. Quo se cumque rapit, Letheo tacta liquore sydera dormitant solitos oblita meatus. Ergo ubi torpenti Grecorum castra volatu attigit, expulso curarum examine totus principis incubuit stratis atque inbuit eius rore papavereo respersa medullitus ossa. Sic animum regis prius anxietate gravatum altior oppressit resoluto corpore sompnus posseditque diu donec caligine mersa noctis Yperborei languerent sydera Plaustri ethereosque celer stimularet Lucifer ignes.

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wechslungsreicher Unterhaltung erfreuten, nämlich der launenhafte Favor und der mit zischender Rede schmeichelnde [430] Risus; frei erfundene Belustigungen wünschten der Göttin ein langes Leben, während gleichzeitig Instrumente ringsum erklangen und sich ein Lied passend zum Rhythmus fügte. Victoria und Somnus (433–453) Als Victoria bemerkte, dass der makedonische König, dem sie [435] von Kindesbeinen an beständig Siege gewährt hatte, so viele Sorgen im Herzen hin und her wälzte, stürmte sie aus Furcht, eine Niederlage in der kommenden Schlacht könnte den schlaflosen König vielleicht ins Verderben stürzen, augenblicklich fort und betrat, gehüllt in den Schleier einer Wolke, die Höhle der Quies und die Räume des müßigen Somnus: »Vater«, rief sie, »stehe auf! Dringe ein in den schlaflos [440] daliegenden König der Makedonen und befreie seine Seele und seinen Körper von Sorgen!« So sprach sie. Kaum in der Lage, sich aus tiefer Betäubung zu lösen, hob jener schwerfällig die feuchten Schwingen empor in die Lüfte. Wo auch immer er vorbeikam, vergaßen die Sterne, benetzt vom Trank der Lethe, ihre gewohnten Bahnen und sanken in tiefen Schlaf. [445] Als er nun nach trägem Flug im Lager der Griechen ankam, legte er sich – die zahlreichen Sorgen hatte er schon vertrieben – ganz auf das Lager des Anführers, befeuchtete dessen Knochen und benetzte diese bis ins Mark mit tauigem Mohn. Auf diese Weise überwältigte ein [450] tiefer Schlaf den zuvor noch von Ängsten geplagten König und löste ihm behaglich die Glieder. Lange hielt der Schlaf ihn umfangen, bis die Sterne des Großen Wagens, getaucht in das Dunkel hyperboräischer Nacht, ermatteten und der eilig heraufziehende Lucifer den noch am Himmel leuchtenden Sternen zusetzte.

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Et iam pestiferae ducens presagia lucis prodierat Tytan Nabatheis luridus undis. Conveniunt proceres orta iam luce Pelasgi ad regem, insolito thalamis de more vacantem mirantes: alias vigiles excire solebat et stimulare pigros et maturare morantes. At nunc cum summi discriminis arceat hora, que premat alterutram fatali turbine turbam, explicitum curis torpore quietis inertem mirantur iuvenem. Sunt qui latitare paventem celantemque metum tenebris nec cedere sompno credere sustineant. Tutorum corporis eius nemo vel intrare propiusve accedere fidit, nec munire latus armis sine voce iubentis ire nec in turmas audet sine principe miles. Parmenio, ne qua bellum ratione moretur, utile consilium ratus est. Ut corpora curent utque cibos sumant pronunciat ergo tribunis. Iamque movente gradus adversa parte necesse hiis erat exire. Stratum tunc denique regis dux adiit. Quem sepe vocans cum voce nequiret, excivit leviore manu. “Lux” inquit “oborta est.

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Unsicherheit im griechischen Lager (454–497) Alexander verschläft (454–471) Und schon war Helius, die Vorzeichen des unheilbringenden Tages mit sich führend, bleich aus Arabiens Fluten [455] herausgetreten. Die Anführer der Griechen versammelten sich kurz nach Sonnenaufgang bei Alexander und waren erstaunt, ihren König entgegen aller Gewohnheit noch schlafend im Bett vorzufinden: Sonst immer hatte es nämlich seiner Gewohnheit entsprochen, die Wachen zu überprüfen, die Faulpelze anzuspornen und die Langsamen zur Eile zu mahnen. [460] Ausgerechnet jetzt aber, als ihn die Stunde der letzten Entscheidung, die beide Kriegsvölker mit der wirbelnden Spindel der Parzen bedrängte, in die Pflicht nahm, wunderten sie sich alle darüber, dass ihr junger König, von Sorgen befreit und bedingt durch die tiefe Entspannung, noch schlief. Auch gab es einige, die behaupteten, er halte sich lediglich ängstlich verborgen und verheimliche seine Angst im Dunkel des Zelts, und nicht [465] glaubten sie, dass er noch schlief. Keiner seiner Leibwächter erkühnte sich, einzutreten oder sich dem König zu nähern, auch die Soldaten wagten es nicht, ihre Waffen ohne den Befehl ihres Anführers anzulegen und ohne ihn in Schlachtaufstellung zu gehen. Um die Schlacht in keiner Weise zu verzögern, traf Parmenion eine aus seiner Sicht [470] sinnvolle Entscheidung: Er befahl den Tribunen, den Soldaten Ruhe zu gönnen und sie erst einmal essen zu lassen. Parmenion weckt Alexander (472–497) Und weil sich der Feind schon im Anmarsch befand, war für die Griechen schleunigster Abmarsch geboten. Schließlich trat Parmenion an Alexanders Bettstatt heran. Da er diesen, obgleich er ihn mehrfach gerufen hatte, nicht aufzuwecken vermochte, [475] be-

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Nunc ego te moneo molles excludere sompnos. Que te tanta quies tenuit? Iam Meda propinquant agmina. Iam cuneos admovit cominus hostis, iam Bellona furit, sed adhuc expectat inermis imperium tua turba tuum. Rigor ille vigoris et virtus animi, que nunquam fracta resedit, hec ubi nunc? Sane vigilum pigritantia sompno corda ciere soles.” “Crede” inquit Marcius heros “admitti sompnum michi non potuisse priusquam exonerata graves posuissent pectora curas.” Miranti sine fine duci quod libera curis pectora dixisset Macedo sed querere causam non tamen audenti “cum vicos ureret” inquit “hostis, cum vastaret agros, excinderet urbes, cum fugeret, sese diffidens credere fatis, iusta michi tunc causa metus honerataque curis mens erat, alternam non admissura quietem. At nunc cum Darius coram me totus et eius copia tota michi sese presentet in armis nec fugiens possit divortia querere Martis, quod metuam nichil est. Sed quid moror? Ite parari ut mos est. Alias replicabo licentius ista.” Dixit et armari lituo precone Pelasgos imperat. Ipse suis aptat munimina membris. Erea crure tenus serpens descendit ad imos squama pedes. Natum mordacis acumine dentis

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rührte er ihn sanft mit der Hand und sprach: »Der Tag ist schon angebrochen. Nun muss ich dich ermahnen, dem behaglichen Schlaf zu entsagen. Welch tiefer Schlummer hat dich ergriffen? Schon rücken die persischen Truppen näher. Schon bewegt der Feind seine Schlachtreihen immer näher an unser Lager heran, schon wütet Bellona, aber noch immer warten deine noch nicht gewappneten Männer [480] auf deinen Marschbefehl. Deine unbeugsame Kraft und deine Entschlossenheit, die niemals zuvor entkräftet am Boden lagen, wo sind sie jetzt? Fürwahr, du hast doch sonst immer die vom Schlaf übermannten Wachen geweckt.« Der Kriegsheld antwortete Folgendes: »Glaube mir, ich fand nicht in den Schlaf, bevor ich [485] erleichtert die drängenden Sorgen ablegen konnte.« Als Parmenion sein grenzenloses Erstaunen darüber zeigte, dass der König meinte, er sei nun frei von Sorgen, er es jedoch nicht wagte, nach den Gründen zu fragen, sprach Alexander: »Als der Feind fliehend die Dörfer in Brand steckte, die Äcker verwüstete und die Städte zerstörte, [490] nicht mehr willens, dem Schicksal noch länger Vertrauen zu schenken, da war ich aus triftigen Gründen in Furcht und von Sorgen belastet und konnte nicht zur gewohnten Zeit einschlafen. Jetzt aber, da mir Darius und sein ganzes Heer in Waffen unmittelbar gegenüberstehen [495] und nicht mehr in der Lage sind, durch Flucht der Schlacht zu entgehen, gibt es nichts mehr, was ich fürchte. Aber was halte ich mich hier auf? Bereitet euch wie gewohnt vor. Ein anderes Mal werde ich über die Sache ausführlicher berichten.« Alexanders Rüstung (498–525) So sprach er und ließ seinen Männern mit dem Signalhorn den Befehl erteilen, die Waffen anzulegen. Auch er selbst rüstete seinen Körper mit einem schützendem Panzer. [500] Die Beine hinab, bis ganz zu den Füßen hinunter sich schlängelnd, zogen sich die eher-

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castigare moras et pennas addere plantis calcar inest ut cum profugos prevertere cursu temptabit, si vox non excitet aut tuba lentum cornipedem, saltim stimulos latus audiat acres. At leves humeros et pectus herile tuetur vertice dependens triplici toga ferrea nexu et teretes ulnas maculis circumligat uncis. Sed parcens oculis hostem dat posse videri. Tucior ut lateat duplici protecta galero corporis humani pars dignior, enea cassis inprimitur capiti flammantibus ignea cristis. Inseritur lateri rivos factura cruoris dira lues gladius, per quem Iovis atria nigri manibus expectant vacuos implere penates. Poscitur hinc Bucifal. Cui rex ut prepete saltu insedit domuitque ferum domitor ferus orbis, leva manus clipeo felici federe nubit, sic tamen ut frenis equo iungatur amore. Fraxinus in dextra, cuius flagrante choruscat vexillo cuspis et verberat astra leone. Non magis a primo duri discrimine Martis hunc alacrem videre sui. Veniente suorum in medium Magno, spes sana resuscitat egrum agmen, et in vultu victoria visa sedere.

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nen Schuppen der Panzerung. An dieser haftete ein Sporn, dazu geschaffen, mit einer messerscharfen Spitze jedes Säumen des Pferdes zu bestrafen und ihm Flügel zu verleihen, damit es [505] wenigstens, wenn der Reiter die Flüchtenden einzuholen versuchte, an der Seite den stachligen Dorn spürte, wenn es weder ein Rufen noch das Dröhnen einer Tuba antreiben könnten. Die verletzlichen Schultern und die Brust Alexanders schützte, oben vom Kopf herabhängend, ein dreifach gearbeiteter eiserner Harnisch, der auch die wohlgeformten Arme mit hakigen Maschen umgab. Die Augen sparte er aus und gewährte einen freien Blick auf den Feind. [510] Um den wichtigsten Teil des menschlichen Körpers, schon durch eine zweifache Kappe aus Leder geschützt, noch sicherer zu bewahren, beschirmte das Haupt zudem ein bronzener Helm, feurig glänzend mit einem glühendem Helmbusch. An der Seite war als schreckliches und blutverströmendes Ungeheuer das Schwert angebracht, durch das Plutos Hallen [515] die Hoffnung hegten, ihre leeren Behausungen mit Verstorbenen füllen zu können. Dann verlangte er nach Bukephalus. Mit einem beherzten Sprung schwang sich der König auf den Rücken seines Pferdes und der wilde Bezwinger der Welt bändigte sein wildes Gegenstück. Die linke Hand verband sich in glücklicher Allianz mit dem Schild und hielt zugleich auch mit Freude die Zügel. [520] In der rechten Hand hielt er die Lanze, deren Spitze durch eine glänzende Fahne leuchtete und die Sonne mit einem funkelnden Löwenbildnis herausforderte. Seit Beginn des mühsamen Kriegs hatten die Seinen ihren König niemals entschlossener gesehen. Als Alexander sich unter seine Männer mischte, erweckte frische Zuversicht das zuerst noch verstimmte [525] Heer und im Gesicht eines jeden schien die Siegesgewissheit zurückgekehrt zu sein.

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Ipse suis igitur distinguens partibus agmen disponensque aciem quo debuit ordine, currus falcatos, Dario que spes est sola tryumphi, excipere ordinibus laxis cetuque soluto evitare iubet et non inpune vagari aurigas et equos sed eos involvere telis. Dumque monet munitque suos, dum pectora dictis roborat, elapsus a Medis transfuga Medus transmeat ad regem, Darium qui ferrea terrae instrumenta refert astu mandasse latenti, muricibus nomen quibus, et si viribus hostem vincere non possit, retinere tenacibus uncis sperat et occulta Graios sorbere ruina. Quo semel accepto, Medus ne ficta loquatur, ne capiat sermone suos, rex imperat illum servari, tamen ipse locum fecitque notari monstrarique suis ubi rex Babilonius arte fretus Ulixea terrae mandaverat uncos. Neve repulsa dolis succumberet ardua virtus, omnibus ostendi iubet ostensumque caveri suspectum de fraude locum. Tum vero fluentes precedens acies, verbo nutuque loquaci ad lites animans, “vestris labor ultimus” inquit

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Letzte Vorbereitungen Alexanders (526–546) Er selbst trennte das Heer also in seine Abteilungen auf, legte die Schlachtordnung den Notwendigkeiten entsprechend fest und befahl die persischen Sichelwagen, Darius’ einzige Hoffnung auf den Sieg, mit geöffneten Linien aufzunehmen und ihnen dann in gelöster Ordnung [530] auszuweichen, und zudem die Wagenlenker mit ihrem Gespann nicht ungestraft herumfahren zu lassen, sondern diese mit einem Geschosshagel zu belegen. Während er die Seinen ermahnte und vorbereitete, während er ihnen Mut zusprach, erschien ein vor den Seinen geflohener, treuloser Meder vor Alexander, der ihm berichtete, Darius habe mit heimlicher Kriegslist eiserne [535] Vorrichtungen in der Erde vergraben lassen, auch Fußangeln genannt, und hoffe, sollte er den Feind nicht mit seinen Streitkräften besiegen können, sie mit zähen Haken aufzuhalten und die Griechen mit Hinterlist zu vernichten. Nachdem er diese Nachricht vernommen hatte, gab er den Befehl, den Meder zu bewachen, damit dieser nicht irgendwelche Gerüchte streute [540] und die griechischen Soldaten mit seinem Gerede einnähme. Ungeachtet dessen ließ sich Alexander den genauen Ort bezeichnen und den Seinen zeigen, wo Darius im Vertrauen auf den Listenreichtum des Odysseus die Fußangeln hatte vergraben lassen. Damit ihre hochragende Tugendhaftigkeit nicht von einer List überwunden unterliege, befahl er, [545] die tückische Stelle allen zu zeigen und sich davor in Acht zu nehmen. Alexanders Feldherrnrede vor der Schlacht bei Gaugamela (546–588) Alexander und das Schicksal (546–562) Dann aber ging er den strömenden Heerscharen voran, ermunterte alle mit Worten und sprechenden Gesten zum Kampfe und rief:

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“pre manibus, socii. Bellum quod Granicus amnis vidit et angusto Cilicum victoria saltu quid laudis quid honoris habent nisi fine beato terminet extremum deus et Fortuna tryumphum? Sed Fortuna deus ea que pro viribus astans semper Alexandro tam sub me sceptra tenere quam sub se gaudet alios regnare potentes. Hec, ubi me Macedum moderantem Grecia vidit frena, meos extunc promovit, eisque nocere velle licet liceat sed non audere licebit. Ista nichil preter numerum discriminis affert tam populosa cohors. Sed ad hoc Fortuna laborat, quam pudet exiguos tociens numerare tryumphos, ut michi vincendum semel et simul offerat orbem. Tanto pluris erit nobis victoria, quanto a paucis partam de pluribus esse liquebit. Ite per inbelles gladio ductore catervas. Cernitis ut solem gemmis auroque retusum obscurent clipei lapidumque superbia conos occupet ardentes, ut purpura vestiat agros. Vincere quis nolit ubi sic in bella venitur? Quis nisi mentis inops oblatum respuat aurum? Congestas Orientis opes Arabumque laborem in promptu rapere est. Menti si pareat ensis, si cupido cordi gladii respondeat ictus,

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»Nur noch eine letzte Anstrengung steht euch bevor, Kameraden. Die Schlacht, die der Granikus [550] gesehen hat, und der Sieg im engen Gebirge Kilikiens, wie viel Ruhm, wie viel Ehre bringen sie, wenn nicht die Götter und die Schicksalsgöttin Fortuna mit glücklichem Ausgang auch den letzten Sieg bestimmen? Aber eben diese göttliche Fortuna, die mir, Alexander, nach Kräften stets beisteht, freut sich in gleichem Maße darüber, dass andere Machthaber unter meiner Kontrolle das Szepter führen, [555] wie sie unter ihrer Führung die Herrschaft innehaben. Seit Griechenland mich die Herrschaft über Makedonien ergreifen sah, hat sie die Meinen unterstützt, und so mag es den Persern erlaubt sein, uns schaden zu wollen, nicht wird es ihnen jedoch erlaubt sein, uns tatsächlich zu schaden. Dieses so volkreiche Heer kann nichts als die reine Anzahl an Soldaten in die Waagschale werfen. [560] Aber Fortuna arbeitet darauf hin, darüber beschämt, so oft nur kleine Triumphe zu zählen, mir noch einmal den Sieg zu schenken und mir gleichbedeutend damit das Perserreich anzubieten. Alexanders Ruhm (563–578) Umso wertvoller wird der Sieg für uns sein, je deutlicher zu Tage tritt, dass er von wenigen über viele errungen wurde. [565] Bahnt euch, von eurem Schwert gelenkt, den Weg durch die schwächlichen Scharen. Ihr könnt erkennen, wie die Schilde die mit Juwelen und Gold im Zaum gehaltene Sonne verdunkeln und die stolzen Edelsteine die Helmspitzen einnehmen, wie Purpur die Felder bedeckt. Wer würde bei einem solchen Gegner nicht siegen wollen? [570] Wer würde, abgesehen von einem Tölpel, das angebotene Gold verschmähen? Ein Leichtes ist es, die zusammengetragenen Schätze des Orients und die kunstvollen Arbeiten der Araber zu rauben. Wenn das Schwert sich von eurem Mut leiten lässt, wenn ihr mit Herzenslust Schwerthiebe austeilt, wenn euer Herz sich so

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si tam cedis amans animus siciensque cruoris quam siciens auri, vestrum est quodcunque videtis, non ascribo meum. Tantum michi vincite, predam dividite inter vos. Qui mecum vincere curas, participem me laudis habes, tibi cetera tolle. Exemplar virtutis habe formamque gerendi Martis Alexandrum: nisi primus in agmine primo rex apparuerit, si tergum verterit hosti, excusatus eris, veniamque merebitur ille qui fugiet, qui lentus aget. Si vero remisse nil aggressus ero, si nunquam dixero forti ‘I prior i’ sed ‘in arma veni’ precedere visus, tum demum socios sum dignus habere sequaces. Exemplo moveat fortes, documenta vigoris exhibeat quicunque regit.” Sic fatur, et ecce concurrunt acies. It tantus ad ethera clamor et vulgi strepitus, quantum si dissona mundi in Chaos antiquum rediviva lite relabens machina corrueret, rerum compage soluta horrisonum concussa darent elementa fragorem.

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gierig nach Totschlag und Blutvergießen sehnt [575] wie nach Gold, soll euch gehören, was auch immer ihr seht, nichts will ich für mich haben. Für mich tragt allein den Sieg davon, die Beute teilt untereinander auf. Du da, der du darauf bedacht bist, zusammen mit mir zu triumphieren, hast mich, der am Ruhm seinen Anteil hat, zu berücksichtigen, das Übrige kannst du für dich behalten. Alexanders Tapferkeit (579–588) Nimm dir mich zum Vorbild für Tapferkeit [580] und die Art zu kämpfen: Sollte als König ich nicht als erster in vorderster Front erscheinen, sollte ich fliehend dem Feind den Rücken zuwenden, musst du nicht weiter dein Leben riskieren und Nachsicht wird jener verdienen, der flieht und unmotiviert kämpft. Wenn ich aber nichts nachlässig angehe, wenn ich einem tapferen Mann niemals befehle [585] ›Geh voran, geh‹, sondern vor aller Augen voranschreitend ›Auf in den Kampf‹ rufe, dann erst habe ich es verdient, dass meine Soldaten mir folgen. Wer auch immer herrscht, soll die Tapferen mit dem eigenen Beispiel mitreißen und einen Beweis seiner eigenen Stärke liefern.« Die Schlacht beginnt (588–593) So sprach er. Da trafen die Schlachtreihen aufeinander. Zum Himmel empor erhob sich ein so großes Geschrei [590] und ein solches Getöse der kämpfenden Massen, als stürze der in Unordnung geratene Weltenbau, durch einen neuen Zwist wieder in das alte Chaos versinkend, in sich zusammen, als würden nach Auflösung des Weltengefüges die Urelemente heftig erschüttert ein schaurig tönendes Krachen von sich geben.

Liber V Capitula quinti libri Quintus habet strages varias et funera caris deplorata suis. Victos apud Arbela Persas consulit Arsamides, duro de tempore tractans, an pocius sit ei reparato robore latis Medorum regnis rursus committere fatis. Sed proceres herent. Ad donativa maniplos convocat Eacides et donis vulnera curat. Ecce vir illustris et non inglorius illa precedente acie, stipatus prole virili, Mazeus regem Babilonis menibus infert.

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Quintus liber Lege Numae regis lata de mensibus olim, quintus ab ancipiti descendens ordine Iano mensis erat, roseis distinguens partibus annum, et gemino plausu gaudebant hospite Phebo Ledei fratres, prima cum parte diei concurrere duces, emenso tempore cuius previdisse luem Medis Persisque futuram creditur et scripto Daniel mandasse latenti: Affuit a siccis veniens Aquilonibus hyrcus, ultio divina, proles Philippica, Magnus.

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Buch V Themenübersicht (1–10) Das fünfte Buch schildert das mannigfache Gemetzel und das von den Angehörigen beider Seiten beweinte Sterben. Im Herzen die schwierige Lage bedenkend, fragt Darius seine bei Arbela besiegten Perser um Rat, ob es für ihn vielleicht besser sei, mit frischen Kräften in den Weiten [5] des Mederreichs von neuem sein Glück zu versuchen. Seine Offiziere sind jedoch ratlos. Alexander ruft seine Scharen zur Verteilung der Beute zusammen und heilt ihre Wunden mit Geschenken. Da geleitet Mazaeus, ein in der gerade beendeten Schlacht herausragender und ausgezeichneter Mann, vom persischen Jungvolk begleitet, [10] den makedonischen König nach Babylon hinein. Die Schlacht bei Gaugamela (1–430) Der Zeitpunkt der Schlacht bei Gaugamela (1–10) Folgt man dem einst von König Numa erlassenen Gesetz über die Monate, befand man sich, ausgehend vom doppelgesichtigen Janus, gerade im fünften Monat, der die Jahreszeit mit rosig blühenden Gefilden kenntlich macht. In gemeinsamem Beifall freuten sich die ledäischen Brüder über Phoebus’ Anwesenheit, [5] als beide Könige am Morgen die Schlacht eröffneten. Nach Erfüllung des entsprechenden Zeitraums war der Tag nun gekommen, den Daniel – wie man annimmt – für den Untergang der Meder und Perser vorausgesehen und mit prophetischen Worten der Bibel anvertraut hatte. Vom trockenen Norden kommend hat sich der Geißbock nun eingefunden, [10] der göttliche Rächer, Philipps Sohn, Alexander der Große.

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Quem procul ut vidit galea flammante choruscum Indus Aristomenes, denis elephanta flagellis prodigus excutiens medicata cuspide ferrum inmergit clipeo, sed eo lorica retuso tutatur corpus. At Magnus harundine monstro obviat, et qua se lateri promuscida iungit, vitales aperit ferro mediante latebras. Fit fragor ingentem monstro faciente ruinam. Sed cum precipiti cecidisset belua lapsu, ultor Aristomenen et parcere nescius ensis acephalum reddit. “Nostra est victoria, nostra est!” ingeminant Graii. Persae glomerantur in unum, missiliumque frequens regem circumvolat imber. Sed nec gesa movent nec sevior ense bipennis quem duce Fortuna virtus infracta tuetur. Ille per insertos invictus et inpiger enses telaque prorumpens volat ignoratque moveri, ferreus armatos contundens malleus artus. Quo feriente cadunt Eliphaz Pharaone creatus et Pharos Orcanides: Eliphaz iaculo, Pharos ense, hic eques, ille pedes, Egyptius hic, Syrus ille.

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Alexander gegen Aristomenes (11–25) Als der Inder Aristomenes diesen schimmernd im feurigen Helm von weitem erblickte, trieb er seinen Kampfelefanten mit zehn Peitschenschlägen rücksichtslos an und bohrte seinen an der Spitze mit Gift überzogenen Speer in Alexanders Schild. Obwohl dieser durchschlagen wurde, [15] schützte der Harnisch den Körper des makedonischen Königs. Alexander bekämpfte indes das riesige Tier mit dem Speer, mit dem Schwert durchtrennte er den versteckten Wohnsitz des Lebens am Übergang von Rüssel und Körper. Mit lautem Dröhnen stürzte das riesige Tier gewaltig zu Boden. Nachdem das Ungetüm aber kopfüber zu Boden gestürzt war, [20] ließ das rächende und keine Schonung kennende Schwert Alexanders den Aristomenes enthauptet zurück. »Der Sieg ist unser, uns gehört der Sieg«, riefen die Griechen immer wieder. Die Perser gingen geballt auf den makedonischen König los, dieser sah sich sogleich einem dichten Geschosshagel ausgesetzt. Aber weder Wurfspieße noch die Streitaxt, grausamer als jedes Schwert, konnten jenen vertreiben, [25] den unter Fortunas Führung seine ungebrochene Tugendhaftigkeit schützte. Weitere Kämpfe Alexanders (26–31) Unbesiegt und rastlos eilte jener durch starrende Schwerter, durchbrach den Geschosshagel und kannte kein Zurückweichen, als eiserner Hammer zermalmte er die gepanzerten Körper der Perser. Während Alexander derartig wütete, fielen Eliphaz, des Pharao Sohn, [30] und Pharos, Sohn des Orchanus, beide durch ihn. Eliphaz starb durch den Wurfspieß, Pharos durch das Schwert, der eine zu Pferd, der andere zu Fuß, der eine Ägypter, der andere Syrer.

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Sicca prius sterilisque diu iam flumine fusi sanguinis humet humus, iamque imbuit unda cruoris arterias Cybeles. Cadit infinita vicissim Persarum Macedumque manus. Iacet ense Phylotae Enos et Caynan, Enos quia fuderat ense Hesifilum, Caynan quia Laomedonta securi. Ibat Alexandro vulnus letale daturus, si sineret Fortuna, Geon, maris incola Rubri, informis facie, quem creditur una Gygantum, quippe Gyganteis ducens a fratribus ortum, Ethiopi peperisse viro, qui corpore matrem inmani referens aliumque colore parentem, quos terrere nequit nigredine, corpore terret. Fuderat ergo viros clava ter quinque trinodi, agmina dum Graium sinuoso turbine rumpens ad Magnum molitur iter, ceu dissipat acri dente canes Nemeus aper, cui sudat apertis spuma labris, dorso valli riget instar acuti seta minax, humeroque canes supereminet omnes. Nunc hos a leva, dextra nunc fulminat illos, nunc caput in renes obliquat, rursus ab illis in latus oppositum, partemque tuetur utramque, se non ignarus volucri defendere giro. Ventum erat ad regem. Miratur Martius heros

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Philotas rächt Hesifilus und Laomedon (32–37) In früheren Zeiten trockengefallen und zuvor schon lange Zeit unfruchtbar, war der Erdboden feucht von den Strömen vergossenen Blutes, schon benetzte das wogende Blut die Adern der Cybele. Abwechselnd fielen die schier unendlichen Scharen [35] der Perser und Griechen. Von Philotas’ Schwert getroffen lagen Enos und Caynan am Boden, da Enos zuvor den Hesifilus mit dem Schwert niedergestreckt hatte und Caynan den Laomedon mit dem Beil. Alexander gegen den Riesen Geon (38–75) Jetzt nahte Geon, um Alexander – wenn es freilich das Schicksal zuließe – den Todesstoß zu versetzen, ein Bewohner aus der Gegend des Roten Meeres, [40] unförmig an Gestalt, den eine Riesin (ihren Ursprung leitete sie selbstredend von den Gigantenbrüdern her) einem Mann aus Äthiopien geboren haben soll. Was seine riesenhafte Gestalt anbetraf, kam Geon nach der Mutter, hinsichtlich der Hautfarbe aber nach dem Vater. Wen er nicht mit seiner schwarzen Haut erschrecken konnte, den erschreckte er mit seinem Riesenwuchs. [45] Fünfzehn Männer also hatte er mit seiner dreiknotigen Keule schon niedergestreckt, als er die Reihen der Griechen in einem kreisenden Wirbel durchbrach und zuletzt auf Alexander losstürmte, ganz so wie der Nemeische Eber Jagdhunde mit spitzen Hauern auseinandertreibt, dem aus seinem geöffneten Maul der Schaum trieft und dem auf dem Rücken [50] die drohende Borste wie ein stachliges Bollwerk emporragt und der mit seinen Schultern alle Jagdhunde an schierer Größe überragt. Bald schmetterte er auf der linken Seite diese, bald auf der rechten Seite jene nieder, bald wandte er den Blick nach hinten, bald wieder nach vorne und schützte damit beide Seiten seines Körpers, äußerst erfahren darin, sich mit schnellen Kreisbewegungen zu verteidigen. [55] Jetzt war er

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visa mole viri, dumque arduus ille cruentam erigeret clavam, clamoso gutture regi intonat: “Heus,” inquit “quis te furor egit in hostem, Magne, Gyganteum, quem sydereas Iovis arces affectasse legis, a quo vix fulmine tandem tutus in etherea mansit Saturnius arce?” Nondum finierat, agili cum torta lacerto pinus Alexandri medio stetit ore loquentis, faucibus affigens linguam ne deroget ultra caelicolis. Sed adhuc stantem telumque cruentum mandentem Macedo tunc demum admissus equini pectoris inpulsu quatit, explicitumque per artus reddit humo natum. Plangit percussa iacentem mater humus prolem, tantumque dat icta fragorem, quantus ubi annosam sed adhuc radice superbam montibus evellit Boreae violentia quercum. Concurrunt Argiva phalanx, stratumque Geonta confodiunt iaculis gladiosque in viscera condunt. Quem tandem lacerum vultus et mille retusum pectora vulneribus Acherontis ad antra remittunt. Parte furens alia Parthorum proterit agmen inclitus ille Clytus, cuius soror ubere Magnum lactavit proprio. Sed que provenerit illi gratia pro meritis magis arbitror esse silendum. Hunc ubi germani respersum sanguine vidit

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bis zum Makedonenkönig vorgedrungen. Beim Anblick dieses riesenhaften Mannes staunte Alexander. Während jene riesenhafte Gestalt die blutbefleckte Keule erhob, brüllte er den makedonischen König aus lärmender Kehle an: »Ach, welcher Wahnsinn, Alexander, hat dich gegen einen Feind getrieben, der von einem Giganten abstammt, über den du liest, dass er Jupiters himmlische Wohnstatt [60] heimgesucht hat, und gegen den sich der Sohn des Saturn am Ende nur durch den Blitz vor diesem geschützt im Olymp behaupten konnte?« Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sich Alexanders Wurfspieß – mit schnellem Arm abgefeuert – in den geöffneten Mund des Sprechenden, Zunge an Rachen heftend, hineinbohrte, damit er nicht länger [65] die Götter verunglimpfen konnte. Als sich Geon, der auf dem blutigen Wurfspieß herumkaute, noch immer auf den Beinen halten konnte, ritt Alexander dann erst heran, stieß ihn mit der Wucht seines Pferdes um und streckte den erdgeborenen Sohn, ungebremst durch die Gliedmaßen, auf die Erde dahin. Mutter Erde beklagte erschüttert ihren am Boden liegenden Sohn, schwer getroffen gab sie ein Getöse von sich, [70] wie wenn die Gewalt des Nordwinds eine alte, jedoch zu sehr auf ihre Wurzeln vertrauende Eiche vom Berg stürzen lässt. Die griechischen Soldaten eilten herbei und durchbohrten den am Boden liegenden Geon mit Spießen und trieben ihre Schwerter in dessen Eingeweide. Schließlich schickten sie ihn mit blutig zerfetztem Gesicht [75] und tausendfach durchbohrter Brust zu Acherons Höhlen. Clitus gegen Sanga und dessen Vater Mecha (76–122) Auf der anderen Seite vernichtete jener berühmte Clitus, dessen Schwester einst Alexander als Säugling gestillt hatte, rasend eine Schar von Parthern. Doch meine ich, über den Dank, der jenem später für diese Verdienste zuteil wurde, schweigen zu müssen. [80] Als der aus Damaskus stammende Sanga diesen – mit dem Blut seines

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Sanga Damascenus, fraterno motus amore, ter gemitum dedit, et repetita medullitus alto pectore confusam reprimunt suspiria vocem. Cumque tribus iaculis frendens explere nequiret pectoris affectum, stricto mucrone micanti emicuit curru, quaque huic flagrante piropo ardebat cassis, claro caput arguit ictu, et nisi loricae latuisset tuta galero, plorasset cerebrum terebrata casside cervix. Sed licet attonitus mananti sanguine, Sangae non tamen ignavus gladio respondet, idemque quod modo transierat primi per viscera fratris balneat alterius inter precordia ferrum. Diriguit primo spectata cede suorum Mecha pater, nec quos lacrimarum funderet imbres invenit facies, etenim dolor intus obortas sorbuerat lacrimas, et compluit intima cordis arida decrepitae faciei debitus imber, supplevitque vices oculorum flebile pectus. Palluit exanimis dextra languente gelato corde senex, et mors in vultu visa sedere. Mox ubi mens rediit redivivo sanguine tandem, singultu medias interrumpente querelas, “Tune duos,” inquit “tortor sevissime, fratres, tune duos ante ora patris mucrone vorasti, non veritus patris emeriti miseraeque parentis precipitare dies? Sed ut ulterius tibi nullum non pateat facinus, ferro, fera tigris, eodem quo mea me coram rupisti viscera ferro iunge patrem natis et funera terna remitte coniugis et fratrum viduae plangenda parenti. Si qua tamen coniunx, si quis tibi filius heres

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Bruders besudelt – erblickte, stöhnte er, von Liebe zu diesem bewegt, dreimal laut auf und die Seufzer, die ihm aus tiefstem Herzen entströmten, ließen ihm die verstörte Stimme versagen. Da er zähneknirschend mit dreifachem Speerwurf seinen inneren Aufruhr nicht besänftigen konnte, sprang er [85] mit gezücktem Schwert von seinem schimmernden Wagen und versetzte dem Helm des Clitus an eben jener Stelle einen heftigen Hieb, wo an dessen Helmspitze lodernd die Goldbronze glühte. Wäre der unter einer Panzerung versteckte Nacken nicht geschützt gewesen, hätte er nach der Zerstörung des Helms das herabfließende Gehirn bejammert. [90] Obgleich bestürzt über das doch herabrinnende Blut, antwortete er dem Sanga eilends mit dem Schwert und dieselbe eiserne Waffe, die eben noch die Eingeweide des ersten Bruders durchbohrt hatte, badete nun in des anderen blutiger Brust. Im ersten Moment erstarrte ihr Vater Mecha, als er den grausamen Tod beider Söhne gewahrte, [95] und nicht konnte er Ströme von Tränen vergießen, da der Schmerz den emporquellenden Fluss der Tränen im Inneren aufgehalten hatte, die Tränen, die eigentlich über das gealterte Antlitz rinnen müssten, benetzten das im Inneren liegende Herz und füllten anstelle der Augen die kummervolle Brust. [100] Mit entkräfteter Rechten und erstarrtem Herzen wurde der entseelte Greis ganz bleich, vom Tod schon schien er gezeichnet. Sobald er sich dann aber wieder sichtbar erholt hatte, gab er immer wieder von Schluchzen unterbrochene Klagen von sich: »Hast du mit deinem Schwert, entsetzlicher Schinder, gleich zwei Brüder, [105] hast du vor den Augen des Vaters gleich zwei Brüder niedergestreckt und dich nicht gescheut, die Tage des alten Vaters und der elenden Mutter zu verkürzen? Aber damit dir mit deinem Schwert weiterhin keine Untat verwehrt bleibt, [110] vereine den Vater mit den Söhnen durch dasselbe Schwert, wilder Tiger, mit dem du vor meinen Augen meine Kinder abgeschlachtet hast, und verursache der verwitweten Mutter damit ein dreifach zu betrauerndes Begräbnis: das des Gatten und der beiden Brüder. Falls aber auch du eine Gattin, falls

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aut soror aut mater, Parcarum vindice filo quod doleo doleant et idem quod lugeo plangant.” Dixit et inbelli iaculatus missile dextra torsit in ora Clyti, quod vix umbone moratum ocius avellit Clytus, et qua sancta recurvis canicies nemorosa pilis vergebat in armos, hispida letali perfodit guttura ferro. Ille ruens cecidit, visu miserabile, natos inter semineces, prolemque amplexus utramque tendit ad infernam natis comitantibus urbem. Iamque propinquabat regali prodita luxu ipsa acies Darii, curruque micabat ab alto rex, regem innumera lapidum prodente lucerna. Obstupuit tanta percussus luce Nicanor, utque erat in dextro cornu dux agminis, illuc applicuit cuneum belli quem sorte regebat commissum. Primis arrisit subdola gestis eius et excepit blande Fortuna furentem Parmenione satum. Vix obstitit unda clientum primo congressu stabilemque Nicanoris alam sustinuit tepide donec Remnon Arabites turbidus in medios ruit obsitus imbre quiritum

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auch du einen Sohn als Erben oder eine Schwester oder eine Mutter hast, dann sollen sie durch der Parzen rächenden Faden genau das erleiden, was ich erleide, und dieselbe Trauer verspüren, die ich klagend verspüre.« [115] So sprach er und zielte – mit der schwachen Rechten die Lanze schleudernd – auf Clitus’ Gesicht. Kaum war die Lanze in Clitus’ Schild stecken geblieben, riss der griechische Kämpfer diese schleunigst heraus und durchstieß da, wo das ehrwürdig weiße Haupt – dicht bedeckt von nach oben gekämmten Haaren – in die Schultern überging, die struppige Kehle mit dem todbringenden Schwert. [120] Jener fiel stürzend – ein schrecklicher Anblick – zwischen seinen halbtoten Söhnen zu Boden und beide Kinder umarmend, eilte er von seinen Söhnen begleitet zum Wohnsitz der Toten. Nicanor gegen Rhemnon (123–182) Das zähe Ringen der Truppen (123–144)

Am königlichen Prunk erkennbar näherte sich schon Darius’ Hauptheer, vom hohen Wagen herab erstrahlte der persische [125] König und trat durch den üppigen Glanz der Edelsteine vor aller Augen unzweifelhaft als König hervor. Von einem derartigen Glanz beeindruckt, verharrte Nicanor staunend für einen Moment, dann warf er als Anführer des rechten Heeresflügels die Schlachtformation in den Kampf, die ihm nach unabwendbarem Beschluss des Kriegsrats unterstand. Den ersten Taten des Feldherrn lächelte die trügerische Fortuna zu [130] und unterstützte schmeichlerisch den rasenden Sohn Parmenions. Kaum konnte die wogende Flut der Perser beim ersten Aufeinandertreffen standhalten und nur mit Mühe war sie in der Lage, Nicanors wohlgeordneter Aufstellung Widerstand zu leisten, bis der aus Arabien stammende Rhemnon, von einem Geschosshagel griechischer Soldaten eingedeckt, wild die Reihen

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et stabilit profugos mentesque redintegrat egras. Statur, et inmotis figunt vestigia plantis. Eminus occumbunt iaculis et turbine fundae, cominus et gladio [et] cerebrum siciente securi. Interdum livore sudum verubusque cruentis rem peragunt pedites. Sedes implentur avari Ditis et umbriferi domus insatiabilis antri. Rumpere fila manu non sufficit una sororum, abiectaque colo Cloto Lachesisque virorum fata metunt, unamque duae iuvere sorores.

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Mixta plebe duces pereunt utrinque, sed inter milia tot procerum speciali laude refulgens inclitus emicuit numerosa cede Nicanor perque tot obiectos vestigat Remnona Persas, nil actum credens fusis tot milibus, ipsum cum videat superesse ducem dominumque choortis. Nec mora conspicui turba cedente suorum concurrere duo. Ferit horrifer astra boatus, et populi quatit arva fragor, ferrata subactas cornipedum pedibus putres terit ungula glebas. Cominus admissi sibi vicinantur. Uterque cuspide pretenta superos agnovit in ictu propitios, crudeque licet pulsatus acerno

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durchbrach, [135] fliehende Perser zurückhielt und die verzagten Gemüter seiner Mitstreiter wieder aufrichtete. Alle blieben standhaft und wichen nicht von der Stelle. Manche starben durch Spieße oder Steine der wirbelnden Schleuder – aus weiter Entfernung geworfen –, andere gingen im Nahkampf durch das Schwert oder das Beil zugrunde, das nach dem Hirn des Gegners dürstete. Unterdessen führten die Fußsoldaten [140] den Kampf mit tückischen Pfählen und blutigen Spießen. Es füllte sich des gierigen Pluto Wohnsitz, unersättliche Behausung in schattiger Höhle. Um die Fäden mit der Hand zu zerschneiden, dafür reichte eine der Schwestern nicht mehr aus, vielmehr legten Clotho und Lachesis ihren Spinnrocken nieder und bemaßen ebenso die Lebensspanne der Männer, zwei Schwestern halfen der einen. Nicanor tötet Rhemnon (145–165)

[145] Auf beiden Seiten fielen die Fürsten inmitten einfacher Soldaten, unter so vielen tausenden Vornehmen jedoch strahlte der durch vielfaches Gemetzel weithin bekannte Nicanor durch besonderen Ruhm glänzend hervor. Vorbei an so vielen persischen Gegnern verfolgte er Rhemnon, in der Meinung, nichts sei erreicht – auch nicht nach so vielen tausend persischen Opfern –, [150] wenn er sehen sollte, dass deren Fürst und Kompanieführer selbst noch am Leben sei. Ohne Verzug prallten die beiden im Zweikampf aufeinander, weithin sichtbar wegen der zurückweichenden Menge ihrer Gefolgsleute. Ein schreckliches Gebrüll stieg auf zu den Sternen. Das Kriegsgeschrei der Soldaten erschütterte die Fluren. Der von der Bewegung der Pferde aufgewühlte faulige Boden wurde von ihren eisenbeschlagenen Hufen zertrampelt. [155] Nachdem sie sich im Galopp aufeinander zubewegt hatten, standen sie sich unmittelbar gegenüber. Die Lanzen in Stellung gebracht, erkannten beide Fürsten bei ihrem Wurf die ihnen gewogenen Götter, und mag auch ein Reiter vom Ahornspieß blutig getroffen worden sein,

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stipite, mansit eques tamen. Hic vacuata propinquum vertitur ad capulum manus. Erea casside quassa profluvio rigat arva cruor, nec sustinet iras mucronis clipeus. Genibus cecidere remissis vectores vectique simul. Prior ense retecto surgit Parmenides, et pectora Remnonis acer arcet utroque genu donec vitalia Parthi et ventris latebras capulo tenus induit ensis. Extimplo turbati Arabes et lite relicta vertere terga parant. Sed quos Hyrcania gignit conspicuos in Marte supervenit ala quiritum excedens numerum, inclusumque Nicanora vallo armisonae sepis facta statione coronant. Obruitur primo iaculis. Strepit erea cassis glandibus et saxis, tantamque sibi lacer orbis obstupet innasci veterano robore silvam. Iamque pedes ulnaeque labant, mixtoque cruore membra lavat sudor. Sed mens infractaque virtus et princeps animus capto sub pectore regnant, totque lacessitus iaculis et cestibus ille murus Alexandri, sed non sine nomine, tandem procubuit, multamque sui cum strage ruinam Persarum trahit unius dampnosa ruina, qualis Romulea cecidit cum turris in urbe, turbine fulmineo vicinas obruit edes.

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so konnte er sich doch im Sattel halten. Jetzt griff die vom Wurfspieß befreite Hand zu dem am Körper liegenden Schwert. Nachdem der eherne Helm des Gegners zerschlagen war, [160] benetzte das strömende Blut die Gefilde, und nicht mehr war der Schild in der Lage, die wütenden Schläge des Schwerts zu ertragen. Mit zerschlagenen Knien stürzten Ross und Reiter zugleich. Mit gezückter Klinge erhob sich Nicanor als erster und bedrängte die Brust des Rhemnon mit beiden Knien, bis er die Schwertklinge bis zum Griff in den Höhlungen [165] des Bauches, den lebenswichtigen Stellen am Körper des Parthers, versenkte. Nicanors Tod (166–182)

Sogleich wandten sich die Araber, den Kampfplatz verlassend, verängstigt zur Flucht. Aber zu Hilfe eilte ein zahlenmäßig überlegenes Regiment kampferfahrener hyrkanischer Reiter. Indem diese ihre Pferde zum Stehen brachten, konnten sie Nicanor umzingeln, [170] der sich plötzlich vom runden Wall eines waffenklingenden Zauns umschlossen sah. Zuerst wurde er mit Speeren beschossen. Von geschleuderten Kugeln und Steinen krachte der eherne Helm, der zerfetzte Schild wunderte sich darüber, dass ihm ein so großer Wald auf dem alten Holz emporwuchs. Schon schwankten die Beine und schon ließ er die Arme sinken, ein Gemisch aus Blut und Schweiß [175] rann ihm den Körper hinab. Doch ungebrochen herrschten noch Vernunft und Tapferkeit und ein vornehmer Geist im besiegten Körper. Von so vielen Speeren und Schlagriemen getroffen, sank Nicanor, Alexanders schützendes Bollwerk, doch selbst auch nicht ohne Ruhm, schließlich zu Boden. Dieses einen Mannes verderbliches Ende zog mit dem eigenen Sterben den Tod [180] zahlreicher Perser nach sich. So reißt ein Turm, der in Romulus Stadt eingestürzt ist, in einem blitzenden Wirbel die benachbarten Häuser mit ein.

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Interea Macedum planctu pulsatus acerbo advolat orbata catulis truculentior ursa diluvium mundi Macedo. Pavet obvia turba principis occursum, fugiuntque per avia cursu precipiti, dociles vitam preferre tryumpho. Unus Alexandro reliquis fugientibus instat Mennonides Fidias, cuius lanugine prima signabat roseas facies nivis emula malas, nobilis et patrio referens a sanguine Cyrum, cui nuptura soror Darii. Si cederet illi gloria Martis, erat unde orta superbia. Magno obvius ire parat. Sed nec reverentia patrum nec favor etatis nec rerum copia mortem excutiunt. Parili forma sed dispare fato occurrit iuveni laxis Effestio frenis, et qua flammivomo rictu micat erea tigris, dissicit umbonem, largoque foramine candens admittit ferrum laxo toga ferrea nexu. Transit in occultas feralis harundo latebras pectoris, inque humeros nivea cervice reclini, perpetuae Fidias noctis caligine tectus fertur, et eterno clauduntur lumina sompno. At levo in cornu, cui nulli Marte secundus Parmenio preerat, discors Bellona furebat, sanguineis maculosa iubis sanieque recenti

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Hephaestio gegen Phidias (183–204) Veranlasst durch das bittere Jammern der Seinen, eilte indes – grimmiger als eine ihrer Jungen beraubte Bärin – [185] der Weltenverderber Alexander heran. Die entgegenkommende Menge scheute die unmittelbare Begegnung mit dem Anführer der Griechen, überstürzt flohen die Perser durch wegloses Gelände und zogen damit in weiser Voraussicht das Leben dem Sieg vor. Während alle anderen flohen, stellte sich allein Memnons Sohn Phidias Alexander in den Weg, dessen jugendliche Wangen ein Gesicht – mit der strahlend weißen Farbe des Schnees wetteifernd – [190] mit dem ersten Flaum schmückten. Seine edle Abstammung führte er über die Blutlinie des Vaters auf Cyrus zurück. Darius’ Schwester wollte ihn heiraten, wenn ihm Kriegsruhm zuteil werden würde. Das war auch der Grund für seinen Übermut. Er schickte sich an, Alexander zu stellen. Doch weder der Väter Verehrung [195] noch die Gunst der Jugend oder äußerer Reichtum konnten den Tod vertreiben. Von gleicher Gestalt, doch ungleichem Schicksal galoppierte dem jungen Mann Hephaestion entgegen, spaltete den Schild an jener Stelle, wo mit flammenspeiendem Maul ein bronzener Tiger erstrahlte, das locker zusammengefügte schimmernde Eisengewand [200] gewährte einem Pfeil durch eine große Lücke den Zugang zum Körper. Das tödliche Geschoss drang ein in das verborgene Dunkel des Herzens, der schneeweiße Nacken sank auf die Schultern, hinweggerafft wurde Phidias, vom Dunkel der ewigen Nacht bedeckt, und die Augen wurden geschlossen in ewigem Schlaf. Eine Götterbotschaft für Alexander (205–255) [205] Indes wütete auf dem linken Flügel – diesen kommandierte Parmenion, der im Kampf keinem nachstand – die zänkische Bellona, durch ihren blutbespritzten Helmbusch befleckt und die Haa-

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delibuta comas. Cui spumeus axe cruento, lumine flammifico, tonitrus et fulminis instar, concitus occurrit ferali turbine frater, cui stemit Furor ipse vias, ceduntque ruenti degeneres animi. Comes indivisa Furoris precipites rapit Ira gradus et fellea torquens lumina contempnit humiles rationis habenas, inpaciensque morae levis et male cuncta ministrans, Impetus obliquos versans in pulvere currus. Undique successus sed et infortunia mixtim circumfusa volant, et mille a vertice Martis cum pallore suo nutant per inania mortes. Talis in amplexus veniens per colla sororis brachia diffundit deus horrifer. “Ocius” inquit “labere, cara soror, Macedumque i nuncia regi: Vana spe raperis, Darium qui perdere per te inscius affectas. Scelus hoc a principe tanto amovere dei, nec fas ut dextera mundi sceptra tenens madeat iugulo polluta senili. Altera debetur Dario fortuna: suorum proditione cadet. Celer ergo per arma per hostes assis, et varia populanti cede Pelasgos impiger occurras Mazeo. Quippe rapinis et Macedum spoliis inhiat laxatque solutos compedibus Persas, rursum versa vice vinclis mancipat Argivos. Nec enim tot sufficit ultra milia Parmenio paucis incessere turmis.” Dixit, at imbrifero Bellona citatior Austro fertur et ad dextrum pertransit stridula cornu induiturque genas horrendaque Palladis arma, Gorgonis anguicomos pretendens egide vultus,

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re mit frischem Eiter benetzt. Auf seinem blutüberströmten Wagen eilte ihr schäumend mit flammenden Augen wie Donner und Blitz [210] ihr Bruder Mars entgegen, angestachelt durch den todbringenden Wirbel der Parzen. Furor selbst bahnte ihm den Weg, es wichen zurück vor dem Rasenden die schwachen Gemüter. Als Furors unzertrennliche Begleiterin raste Ira mit stürmischen Schritten daher und verspottete, ihre Augen verächtlich rollend, die schwachen Zügel der Vernunft. [215] Und Impetus, unfähig, den kleinsten Aufschub zu ertragen und irgendetwas richtig zu machen, kippte seinen eigenen Wagen seitwärts in den Sand. Überall verbreiteten sich geschwind Nachrichten über Erfolge und Misserfolge und tausendmal winkte schon vom Kopf des Mars des Todes bleiches Gesicht durch die Lüfte. [220] Der schreckliche Gott umarmte seine Schwester innig und sagte: »Flieg schnell los, teure Schwester, und bring dem König der Makedonen folgende Botschaft: Eitler Hoffnung wirst du beraubt werden, wenn du in deiner Unwissenheit danach strebst, Darius mit eigener Hand zu töten. Dieses Verbrechen [225] haben die Götter von einem so großen König abgewendet, nicht wollen die Götter, dass deine Rechte, die das Szepter über die Welt hält, befleckt vom Blut dieser alten Kehle trieft. Ein anderes Schicksal ist Darius zugedacht: Durch der Seinen Verrat wird er fallen. Darum stürze dich schnell in den bewaffneten Kampf gegen die persischen Feinde [230] und begegne eifrig im Kampf dem Mazaeus, der vielfältig mordend griechische Kämpfer dahinrafft. Er lechzt nämlich nach Raubzügen und griechischer Beute, befreit die von Fesseln erlösten Perser und legt sie umgekehrt wieder den Griechen an. Nicht nämlich ist Parmenion länger in der Lage, mit so wenigen Leuten so viele Tausende Perser zu bekämpfen.« [235] So sprach er. Und schneller als der regenbringende Südwind schwang Bellona sich in die Lüfte, flog zischend hinüber zum rechten Heeresflügel, nahm Athenes Gestalt an, trat in der schrecklichen Waffenrüstung der Göttin auf und trug mit dem Schild das Schlangenhaupt der Medusa zur Schau. Dann zog sie sich, nachdem sie nur

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commemoransque dei breviter mandata recessit infecitque diem ferali nube recedens. Excutitur saltu Macedo profugamque secutus voce deam, “Quocunque venis, dea, cardine, vanum spernimus omen,” ait “non me divellet ab armis et curru Darii licet impiger ales ab alto missus Athlantiades verax michi nuncius ipsas afferat a Persis raptas cum matre sorores. Ex Dario pendet nostri spes unica voti, quem si perdidero, parvi michi cetera parvi perdita momenti. Solum si vicero, solus perdita restituet. Non est michi perdere tanti quod recipi poterit ut non et vincere malim. Sed neque, si turris Darium septemplice muro includat, licet ardenti circumfluus unda sulphureis Acheron defendat menia ripis, eripiet Fortuna michi.” Sic fatus in armis se locat, et summo clipeum feriente lacerto, orbem signiferum ceu vallum et menia muro pectoris opponit, tendensque in sydera pinum, vertice sublato medios ruit hostis in hostes, fumantesque globos torquens testatur adesse pulvis Alexandrum. Fertur temone supino Afer Aristonides, pedibusque attritus equinis occumbit Lysias: Lybicis a Sirtibus Afer

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kurz die Befehle ihres göttlichen Bruders überbracht hatte, zurück [240] und vergiftete im Weggehen den Tag mit einer todbringenden Wolke. Alexander sprang vom Pferd und rief der weichenden Göttin noch hinterher: »Von welcher Weltgegend auch immer du kommst, Göttin, wir verachten deine windige Andeutung. Nicht wird sie mich von den Waffen und Darius’ Wagen wegreißen können, mag auch der rastlose und geflügelte Enkel des Atlas, [245] vom Himmel entsandt, mir als wahrheitskündender Bote berichten, dass meine Schwestern zusammen mit meiner Mutter von den Persern geraubt wurden. Allein von Darius hängt es ab, unser erhofftes Ziel zu erreichen. Wenn ich ihn vernichtet habe, hat das Übrige wenig Bedeutung für mich. Auch die erlittenen Verluste spielen für mich dann keine Rolle mehr. Nur ein Sieg über ihn [250] wird die Verluste ausgleichen können. Etwas zu verlieren, was wiederbeschafft werden kann, hat für mich keine so große Bedeutung, dass ich dafür den Sieg nicht tatsächlich vorzöge. Mag Darius auch ein Turm mit siebenfacher Mauer umgeben oder der Acheron ihn mit in Flammen stehenden Wogen umfließen oder ihn Mauern mit schwefelbedeckten Ufern schützen, [255] Fortuna wird ihn mir nicht entreißen.« Alexander und die Griechen bedrängen Darius (255–282) Nach diesen Worten legte er seine Waffen an. Den Schild mit dem Oberarm haltend, stellte er das wappentragende Rund gleich einem Wall oder einer Schutzwehr der Mauer seiner Brust schützend entgegen und stürzte sich, die Lanze zum Himmel richtend, mit erhobenem Haupt als Feind auf die Feinde. Aufstiebender Sand, [260] der qualmende Brocken hochschleuderte, bekundete Alexanders Anwesenheit. Fortgeschleift durch die rückwärts gebogene Deichsel wurde Afer, Sohn des Ariston, von Pferdehufen zertreten kam Lysias um. Von den lybischen Syrten war Afer gekommen, aus

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venerat, a Sciticis Lysias tetrarcha pruinis. Afrum Craterus, Lysiam deiecit Amintas. Ense iacet Lysias, hastili corruit Afer. Iungitur his Amulon, terebrato gutture rubram exhalans animam, Baradanque iacentibus addit Antigonus, reprimitque globum Tholomeus equestrem, nec minor Eumenidi strages nec gloria Ceni inferior, Meleagre, tua. Truculentior instat Perdicas solito cunctis cernentibus ipsam ante aciem Darii. Polipercon, nocte fruendum qui prius asseruit, redimit de luce patenter consilium de nocte datum. Furit Inacha pubes mente una votoque pari. Furor omnibus idem parque animus bello dominoque simillimus ipsi ut quot Alexander comites si Marte furentes cominus aspiceret, tot se gauderet habere Magnus Alexandros. Iam victoris fragor aures pulsabat Darii, iamque irrumpebat in ipsos consortes lateris funestae turbo procellae. Eger in adversis animus sapientis, et egre consulit ipse sibi cum duro tempore primis diffidit rebus et spes languescit inermis. Nam quid agat Darius? Quo se regat ordine demens? Cui nec tuta fuga est, nec si velit ipse morari, inveniet socios. Nam de tot milibus ante quos sibi crediderat, bello vix mille supersunt

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der Kälte Skythiens der Tetrarch Lysias. [265] Den Afer streckte Craterus nieder, den Lysias Amyntas. Durch das Schwert lag Lysias gefallen am Boden, vom Speer getroffen stürzte Afer zu Boden. All diesen schloss sich Amulon an, der mit durchbohrter Kehle seine blutrote Lebenskraft aushauchte. Antigonus fügte den Gefallenen Baradas hinzu, Ptolemäus trieb die persische Reiterschar zurück, [270] kein geringeres Blutbad vollführte Eumenides, nicht weniger Ruhm als du, Meleager, erntete Coenus. Noch grimmiger als gewohnt drang Perdikkas vor, den alle schon unmittelbar vor den Reihen des Darius beobachten konnten. Polipercon, der zuvor noch gemeint hatte, das Dunkel der Nacht nutzen zu müssen, [275] nahm seinen nächtlichen Rat am hellichten Tage unverhohlen zurück. Es wütete die inachische Jugend mit gleicher Gesinnung und gleichen Wünschen. Alle zeigten denselben Eifer und dieselbe Kampfeslust, sie waren ihrem König dermaßen ähnlich, dass Alexander, wenn er so viele Kampfgefährten in seiner unmittelbaren Nähe hätte wüten sehen, sich darüber gefreut hätte, so viele Männer [280] von seinem Schlag zu haben. Schon drang an Darius’ Ohren das Getöse des Siegers und schon stürzte sich der Wirbel eines stürmischen und todbringenden Angriffs auf dessen Leibwächter. Darius zwischen Kampf und Flucht (283–306) Am Unglück leidet ein vernünftiger Mann, gramvoll ist dieser nur noch auf seine eigene Rettung bedacht, wenn ihm in schwieriger Lage [285] die einfachsten Dinge misslingen und wehrlos die Hoffnung dahinsinkt. Was denn hätte Darius tun sollen? An welchem Grundsatz hätte er in seiner Verblendung sein Handeln ausrichten sollen? Für ihn war weder die Flucht sicher noch würde er ausreichend Kampfgefährten finden, wenn er an Ort und Stelle verweilen wollte. Denn von den vielen tausend Mitstreitern, denen er zuvor sein Vertrauen geschenkt hatte, waren kaum noch Tausend

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qui stent pro patria. Pudor et reverentia famae ne fugiant prohibent, contra timor anxius urget. Dumque vacillanti stupefactus pectore nutat, dum dubitat rapiatne fugam vitamne perosus se sinat ipse capi, Persae velut agmine facto mandant terga fugae rapiuntque per arva relicto rege gradum. Laxis tunc demum invitus habenis nactus equum Darius rorantia cede suorum retrogrado fugit arva gradu. Quo tendis inertem, rex periture, fugam? Nescis, heu perdite, nescis quem fugias. Hostes incurris dum fugis hostem. Incidis in Scillam cupiens vitare Caribdim. Bessus, Narbazanes, rerum pars magna tuarum, quos inter proceres humili de plebe locasti, non veriti temerare fidem capitisque verendi perdere caniciem, spreto moderamine iuris, proch pudor, in domini coniurant fata clientes. Magnus ut ablatum medio de limine mortis accepit Darium, regum super ossa cruentus fertur et ingenti super ipsa cadavera saltu insequitur profugum, pene incomitatus Achivis, inmemor ipse sui, qualem rapit impetus ignem syderis et raris distinguit nubila flammis, quantus ab Alpinis spumoso vertice saxis erumpit Rodanus, ubi Maximianus eoos extinxit cuneos cum sanguinis unda meatum

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im Kampf, [290] die für das Vaterland einstanden. Scham und die Ehrfurcht vor seinem Namen hinderten ihn an der Flucht, andererseits bedrängte ihn quälende Angst. Während er in Lethargie verfiel und unsicheren Herzens schwankte, während er im Zweifel war, ob er fliehen oder im Hass auf sein Dasein die eigene Gefangennahme zulassen solle, [295] ergriffen die Perser gleichsam geschlossen die Flucht und durcheilten ohne ihren König die Steppe. Jetzt erst schwang sich Darius unwillig auf sein Pferd und floh in vollem Galopp, vor den Fluren zurückweichend, die vom Blut seiner Kämpfer getränkt waren. Wohin, todgeweihter König, eilst du auf deiner feigen Flucht? Weißt du nicht, ach du Verlorener, weißt du nicht, [300] vor wem du da fliehst? Während du vor dem makedonischen Feind fliehst, läufst du anderen Feinden in die Arme. Indem du Charybdis zu meiden suchst, fällst du Scylla zum Opfer. Bessus und Narbazanes, ehemals bedeutende Stützen deiner Macht, die du aus niederem Stand in den Adel erhoben hast, scheuen nicht davor zurück, das Treueverhältnis mit Füßen zu treten [305] und dein ergrautes und ehrwürdiges Haupt zu vernichten. Unter Missachtung elementarer Rechtsgebote verschworen sich die Gefolgsleute, welch eine Schande, zum Mord an ihrem eigenen König. Alexander verfolgt Darius (307–318) Als Alexander erfuhr, dass Darius nur knapp von der Schwelle des Todes fortgerissen worden war, stürmte er blutrünstig über die Knochen von Fürsten hinweg und verfolgte in gewaltigem Sprung über Leichen, nahezu unbegleitet von Griechen und rücksichtslos gegen sich selbst, [310] den flüchtenden König. So reißt ein Meteor in stürmischem Lauf sein eigenes Feuer mit sich und erhellt die Wolken mit spärlichem Licht. So auch bricht die Rhone mit schäumendem Strudel aus den Felsen der Alpen hervor, wo Maximian [315] die aus dem Osten kommenden Truppen auslöschte, als nach

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fluminis adiuvit fusa legione Thebea permixtusque cruor erupit in ardua spreto aggere terrarum totumque rigavit Agaunum. Sed iam precipiti per saxa per invia saltu transierat Licum paucis comitantibus amnem Belides, dubiusque stetit stratumne furenti inmersurus aquae properaret frangere pontem, Pelleo clausurus iter. Sed ab hoste premendos dura cede suos timuit si ponte reciso securus fugiens Persarum excluderet agmen. Utile propositum vicit respectus honesti, preposuitque suos Darius sibi. Maluit ergo iustus inire fugam pociusque elegit apertam victori prebere viam quam claudere victis. Fit fuga Persarum, turbatoque ordine passim curritur ad pontem. Sed et intolerabilis estus et cursu duplicata sitis languentia torrent viscera, et exhaustos sudor sibi vendicat artus, pulmonisque vagas agitant suspiria cellas. Unde inopes undae, nemorum per devia docti occulti laticis salientes querere venas, omnibus incumbunt rivis, haustaque gulose cenosi torrentis aqua, precordia limo tensa rigent. Pregnantem uterum simulare coactus, triste parit funus concepto flumine venter.

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der Vernichtung der thebaischen Legion Wogen von Blut die Strömung des Flusses verstärkten, das mit Wasser gemischte Blut steil in die Höhe über die Deiche schoss und ganz Agaunum überschwemmte. Die Flucht des Darius und der Perser (319–349) Aber schon hatte Belus’ Enkel in gefährlichem Sprung über Felsen und wegloses Gelände [320] in Begleitung weniger Gefährten den Lycus überquert. Unentschlossen stand er nun da und fragte sich, ob er schleunigst die Brücke zerstören solle, um den Weg im reißenden Strom in der Absicht zu versenken, Alexander damit den Weg zu versperren. Aber er fürchtete, dass die Seinen notwendigerweise vom Feind mit einem grausamen Blutbad bedrängt würden, wenn er nach Abbruch der Brücke [325] auf sicherer Flucht dem persischen Heer den Rückzug abschneiden würde. Die Rücksicht auf seine Ehre siegte über den nützlichen Plan und Darius hielt die Rettung der Seinen für wichtiger als das eigene Schicksal. Lieber wollte er also mit Anstand die Flucht antreten und dem Sieger den Weg öffnen, als ihn den Besiegten zu verschließen. [330] Die Perser befanden sich auf der Flucht, in wildem Durcheinander eilten alle zur Brücke. Unerträgliche Hitze jedoch und ein durch die anstrengende Flucht verdoppelter Durst dörrten die erschlafften Körper aus, Schweiß rann unentwegt die erschöpften Glieder hinab und das Keuchen plagte die wogenden Kammern der Lunge. [335] Daher beugten sich die nach Wasser dürstenden Perser, erfahren darin, in weglosen Wäldern die sprudelnden Adern verborgenen Wassers zu suchen, trinkend zu allen Bächen hinunter. Nachdem sie gierig das Wasser des morastigen Baches getrunken hatten, verhärteten sich die vom Lehm geschwollenen Gedärme. Genötigt, einen schwangeren Unterleib nachzuahmen, [340] bescherte ihnen der Bauch durch das aufgenommene Wasser ein trauriges Ende. Während einige mit

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Nonnullis, avido fluvium dum gutture sorbent, obstruit occurrens vitales unda meatus aeraque in cecis inclusum suffocat antris. Sed neque tot turmas procerum vulgique phalanges, ad mortem ductore metu sine lege ruentes, explicat unius angustia pontis. Acervos vix capit unda tumens fluviique vorago cadentum. Labuntur passim, lapsosque involvit hyatus fluminis, et virides stupuere cadavera Nymphae. Languentes gladios et hebentia tela suorum intuitus Macedo cum iam declivus Olimpus Phebeis legeretur equis fumantibus arvis Ethiopum et solito pauloque remissius igne ureret Herculeas solis vicinia Gades, causatus preceps in noctem tempus, ad illos quos credebat adhuc in cornu stare sinistro flectit iter. Iamque in levum converterat arma cum premissus eques a Parmenione triumphum nunciat et variis afflictos stragibus hostes. Dumque reducuntur equites in castra, repente vallibus emergens Persarum apparuit agmen, exurens clipeis galeisque micantibus agros. Qui primos inhibere gradus et figere gressum; demum ubi tam paucos Macedum videre, cruentas in Magnum vertere acies. Rex ante quiritum more suo gradiens vexilla, pericula Martis dissimulans potius quam spernens, illud ab hoste

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gieriger Kehle das Wasser schlürften, versperrte die entgegenkommende Welle die lebenswichtigen Bahnen und ließ die in dunklen Höhlungen eingeschlossene Luft nicht mehr entweichen. Auch war eine einzige und zudem noch enge Brücke nicht in der Lage, so viele Fürsten und Krieger zu retten, [345] die angstgetrieben und ohne Ordnung in den eigenen Tod rannten. Kaum konnten die schwellenden Wogen und der tiefe Schlund des reißenden Stroms die Massen der Fallenden aufnehmen. Nach allen Seiten hin stürzten sie von der Brücke, der Schlund des Flusses schluckte die Gestürzten und die grünlichen Nymphen staunten über die Vielzahl der Leichen. Ein letztes Gefecht (350–375) [350] Als Alexander die ermatteten Schwerter und müden Lanzen der Seinen sah, da schon die Pferde des Phoebus die steil abfallenden Flanken des Olymp durchlaufen hatten, die Gefilde Äthiopiens schon dampften und die nahende Sonne das dem Herkules heilige Gades mit ihrem Feuer schon ein wenig sanfter als gewohnt versengte, eilte er [355] wegen der schnell hereinbrechenden Nacht zu jenen, von denen er glaubte, sie befänden sich noch auf dem linken Heeresflügel im Einsatz. Und schon hatte er seine Streitmacht zum linken Heeresflügel hin gewendet, als ein von Parmenion geschickter Reiter vom Sieg der Griechen und von den in verschiedenartigem Gemetzel niedergestreckten Feinden berichtete. [360] Während die Reiter sich ins Lager zurückziehen wollten, tauchte im Tal ganz plötzlich ein persischer Trupp auf, der mit seinen glänzenden Schilden und Helmen die Äcker erstrahlen ließ. Zuerst verlangsamten die Perser ihr Tempo und blieben dann stehen. Als sie so wenige Makedonen erblickten, [365] griffen sie schließlich Alexander blutdürstig an. Der makedonische König stellte – die Gefahren des Kampfes eher leugnend als verachtend – wie gewohnt weit vor sei-

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concussum tociens sed inexpugnabile castrum pectoris opposuit Persis, nec defuit illi perpetua in dubiis rebus fortuna. Choortis prefectum mortis et Martis amore furentem excipit et celeri rimatur viscera ferro. Nec mora Lisimacus et gloria gentis Acheae invasere Arabes passim, neutrisque pepercit Martius ille furor ubi nemo cadebat inultus. Verum cum, Phebi radiis Athlantide stella iam vultus audente suos opponere, Persis Marte videretur fuga tucior, ordine rupto consuluere fugae, laxisque licenter habenis nocte fere media transvecti fluminis amnem, Arbela perveniunt, ubi rex Babilonius illos, quos secum fuga contulerat, lugubris et amens et pariter duro de tempore tractat. Cumque repressisset queruli suspiria cordis, relliquias Macedum lacrimoso lumine spectans, “Fortuitos” inquit “tociens variare tumultus, nunc adversa pati, nunc exultare secundis, nunc caput incurvare malis, nunc tollere sortis humane est. Humilem sic vidit Lydia Cresum. Et sic victorem versa vice femina vicit. Sic quoque Termopile Xerxen videre iacentem, et qui navigiis totum modo texerat equor,

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nen Soldaten den Persern jenes Bollwerk der eigenen Brust entgegen, vom Feind so oft mit Hieben bedacht, [370] wobei die in schwierigen Situationen ihm beständig zur Seite stehende Fortuna ihn auch jetzt nicht im Stich ließ. Alexander fing den persischen Anführer der Kohorte, der mit großer Inbrunst den Kampf suchte, ab und zerfetzte ihm mit dem Schwert die Eingeweide. Sofort griffen Lysimachus und der Stolz der achäischen Jugend die Araber von allen Seiten aus an und beide Parteien [375] verschonte nicht jene grimmige Kriegswut, bei der niemand ungerächt fiel. Darius’ Ansprache an seine Soldaten (376–421) Als aber den Persern die Flucht sicherer schien als der Kampf – Atlas’ Gestirn wagte es schon, seine Lichter den Strahlen des Phoebus entgegenzustellen –, waren sie, ohne die Ordnung zu wahren, nur noch darauf bedacht zu fliehen. In vollem Galopp [380] überquerten sie ungefähr um Mitternacht den Fluss und gelangten nach Arbela. Kopflos und verzweifelt zog der babylonische König dort jene zu Rate, mit denen er gemeinsam geflohen war, und besprach mit ihnen zugleich auch die schwierige Lage. Nachdem er die Seufzer seines klagenden Herzens unterdrückt hatte, [385] blickte er weinend auf jenen Rest von Männern, welche die Griechen am Leben gelassen hatten, und sagte: »Es gehört zum menschlichen Schicksal, dass ein dem Zufall unterliegendes Schlachtgeschehen so oft Veränderungen mit sich bringt. Bald muss man einen Fehlschlag ertragen, bald darf man sich über einen glücklichen Ausgang freuen, bald ist es nötig, das Haupt den Unglücksfällen zu beugen, bald jedoch ist es auch möglich, dieses wieder in die Höhe zu heben. So sah Lydien Croesus am Boden. [390] Und so besiegte eine Frau im Gegenzug einen Sieger. So auch haben die Thermopylen den Xerxes am Boden liegend gesehen und kaum konnte jener, der eben noch das ganze Meer mit Schiffen bedeckt hatte, als Besiegter mit einem

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vix licuit victo sola cum nave reverti. Nulla rei novitas pervertere fortia debet pectora cum nulla teneatur lege fidelis esse homini Fortuna diu. Spes unica victis contra victorem rursus sperare tryumphum. Nec dubito quin victor agros aditurus et urbes civibus exhaustas sed opimis rebus et auro confertas, ubi gens avidissima, gutture toto visceribus siccis siciens letale metallum, temptabit sedare sitim predaque recenti conceptam saciare famem. Nec inutile nobis id reor. Interea fines intactaque bellis regna petiturus Medorumque ultima, vires non egre reparabo meas. Preciosa supellex castraque castratis et multa pelice plena quanti sint oneris et quantum bella gerentes impediant, usu longo didicere potentes. His partis erit inferior, quibus ante remotis maior erat Macedo. Spoliis vincetur onustus qui vicit vacuus. Non auro bella geruntur sed ferro. Non es non oppida regna tuentur sed virtus viresque virum. Penetremus abactos Medorum fines. In duris utile rebus non dictu speciosa sequi docet ipsa facultas. Non secus antiquos primo molimine rerum novimus afflictos sortis discrimine patres, indultis aliquot hostique sibique diebus, fortunam reparasse suam rursusque retusis hostibus adversa de parte tulisse tryumphos.”

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einzigen Schiff in die Heimat zurückkehren. Schicksalhafte Veränderungen dürfen tapfere Herzen nicht erschüttern, [395] da Fortuna durch kein Gesetz gebunden ist, dem Menschen langfristig die Treue zu halten. Besiegten bleibt die einzige Hoffnung, in einem neuen Anlauf auf einen Sieg gegen den Sieger zu hoffen. Ich habe keine Zweifel daran, dass der siegreiche Makedone die Äcker und die entvölkerten und mit Reichtümern und Gold gefüllten Städte übernehmen wird. [400] Dort wird das griechische Volk in seiner grenzenlosen Gier, mit staubigen Kehlen und ausgedörrten Eingeweiden nach dem tödlichen Metall dürstend, versuchen, sein Verlangen zu befriedigen und seine durch die frische Beute geweckte Gier zu stillen. Und ich meine, dass uns dies sehr nützlich sein kann. Inzwischen werde ich mich in die vom Krieg unberührten Gebiete [405] und das grenznahe Reich der Meder begeben und dort mühelos meine Truppen ergänzen. Wie groß die Belastung durch wertvollen Hausrat und ein Lager voller Eunuchen und Konkubinen ist und wie sehr sie bei der Kriegsführung hinderlich sind, wissen Herrscher aus langer Erfahrung. [410] Im Besitz all dieser Dinge, durch die Alexander zuvor stärker war, als er sie noch nicht besaß, wird er zukünftig schwächer sein. Wer frei von diesen Belastungen siegt, wird beutebeladen besiegt werden. Nicht mit Gold werden Kriege geführt, sondern mit Eisen. Nicht Schätze noch Städte beschützen ein Reich, sondern Tapferkeit und Tatkraft der eigenen Männer. Lasst uns [415] in das entlegene Medien ziehen. In harten Zeiten nicht schönklingenden Worten, sondern dem unmittelbaren Nutzen zu folgen, lehrt die Lage selbst. Wir wissen, dass unsere Vorfahren bei ihren ersten Schlachten nicht anders durch die Entscheidung des Schicksals geschwächt wurden, dass sie jedoch, nachdem sie dem Feind und sich selbst einige Tage Ruhe gewährt hatten, [420] das Schicksal wieder auf ihre Seite ziehen und aus einer schwierigen Lage heraus nach Vertreibung der Feinde den Sieg davontragen konnten.«

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Finierat Darius. Vox plena pavoris et exspes visa suis. Cum tot opibus Babilona superbam et reliquas urbes sine defensore relictas esset Alexander primo fracturus Eoo, nulla videbatur reparande copia sortis, sed neque quod superest retinendi gratia regni. Seu confirmato tamen agmine sive sequentes imperium pocius quam consilium ducis, uno maturant animo Medorum visere fines. Nec mora distribuens celebres apud Arbela gazas munificus Macedo, tantis ardenter onusto rebus et inventa saciato milite preda, transcurrit Syriam pluvioque citatior Austro vi vel amicicia superandis civibus ardet obsita coctilibus intrare palacia muris insignemque olim tot regum laudibus urbem cui dedit eternum labii confusio nomen. Cumque Semiramia tantum distaret ab urbe, quantum Secaniis distat Dyonisius undis, ecce vir illustris, stipatus prole beata, impiger occurrit Mazeus transfuga regi, imperio Magni sese Babilonaque dedens. Quem rex complexus avide vultuque benigno suscipiens tacitis suffocat gaudia votis,

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Die Reaktion der persischen Soldaten (422–430) Darius hatte seine Rede beendet. Seine Stimme machte bei den Seinen einen überaus ängstlichen und hoffnungslosen Eindruck. Da Alexander voraussichtlich schon am nächsten Morgen das durch so viele Reichtümer prächtige Babylon [425] und die übrigen ohne Verteidigung zurückgelassenen Städte einnehmen würde, schien die Aussicht gering, das Schicksal wieder in die richtigen Bahnen lenken zu können. Auch bot sich keine günstige Gelegenheit, den von den Griechen noch nicht eroberten Teil des Reichs zu halten. [430] Einmütig eilten sie weiter, die medischen Lande aufzusuchen, entweder weil die Soldaten doch wieder Mut gefasst hatten oder weil sie eher dem Befehl als dem Rat ihres Anführers Folge leisteten. Von Gaugamela nach Babylon (431–455) Unverzüglich verteilte der freigiebige Makedone die berühmten Schätze noch bei Arbela und eilte dann, nachdem seine Soldaten mit so vielen wertvollen Dingen voller Gier beladen und durch die vorgefundene Beute befriedigt worden waren, nach Syrien. Und schneller als der regenreiche Südwind [435] brannte er darauf, nachdem er die Bürger der Stadt mit Gewalt oder Freundschaft bezwungen haben würde, den aus Backsteinmauern bestehenden Palast und die einst durch so viele Könige berühmte Stadt zu betreten, der die Sprachverwirrung ewig währende Bekanntheit verschafft hat. Und als er von Semiramis’ Stadt so weit entfernt war, [440] wie Saint Denis von der Seine entfernt liegt, da kam ihm der tüchtige Mazaeus, ein berühmter Mann, von der glücklichen persischen Jugend begleitet, als Überläufer entgegen und unterstellte sich und Babylon Alexanders Befehl. Während der makedonische König jenen freudig umarmte und mit wohlwollender Miene empfing, [445] unterdrückte er seine Freude mit stillen Gebeten, da er eigent-

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quippe laboris erat longi magnique paratus tot populis et tot munitam turribus urbem obsidione capi nisi machina numine divum coctile cementum crebro dissolveret ictu. Virque manu promptus et non inglorius illa precedenti acie, tociens expertus in armis, exemplo poterat alios ad federa pacis invitare suo. Tunc vero, cohortibus arte dispositis iussisque sequi et retrocedere Persis, agmine quadrato stupefactae illabitur urbi. Splendet in occursu tanti Babilonia regis, et quas congessit veterum sollertia regum exponuntur opes. Ardent altaria gemmis, porticibusque sacris statuae reteguntur avitae. Per fora per vicos et compita serica ridet vestis, et aurivomis ignescunt fana coronis, matronasque graves animis civesque severos tegmina celatis urunt bombicina monstris. Servus et ancillae, iussi lucescere luxu barbarico, insolitos nequeunt sufferre paratus, immemoresque sui dum contemplantur amictus, iam se presumunt servos non esse fateri, hosque, quibus deerat fallax opulentia, iussit inter honoratos fulgere precaria vestis. Iam totum victoris iter lascivia florum texerat et ramis viduata virentibus arbor. Quocumque ingreditur, certant timiamata thuri divinique Arabum pascuntur odoribus ignes

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lich mit einer langen und großen Anstrengung gerechnet hatte, die mit so vielen Völkern und so vielen Türmen bewehrte Stadt, erst nach einer Belagerung einnehmen zu können, außer wenn die Ramme mit göttlicher Hilfe die Ziegelsteinmauern mit häufigen Stoßen zerrütten würde. [450] Und so konnte dieser entschlossene und in der eben vergangenen Schlacht nicht gerade ruhmlose und im Kriegshandwerk vielfach erprobte Mann andere mit seinem Beispiel zum Abschluss eines Friedensvertrags bewegen. Dann aber betrat Alexander, nachdem er sein Heer kunstvoll geordnet hatte und den Persern der Befehl erteilt worden war, seinen Truppen hinten zu folgen, [455] in Schlachtordnung die staunende Stadt. Alexanders Einzug in Babylon (456–490) Babylon erstrahlte bei der Begegnung mit einem so mächtigen Herrscher in vollem Glanz, Schätze wurden zur Schau gestellt, die das kriegerische Geschick früherer Könige erbeutet hatte: Altäre funkelten von Edelsteinen, Ahnenstandbilder wurden in heiligen Säulengängen enthüllt. [460] Auf allen Plätzen, Straßen und Kreuzungen glänzten die Seidendecken der Serer, Tempel leuchteten hell von golden strahlenden Kränzen, mit Wundergestalten bestickte Seidengewänder plagten biedere Matronen und genügsame Bürger. Sklaven und Sklavinnen konnten, geheißen im Prunk [465] der Barbaren zu erstrahlen, die für sie ungewohnte Kleidung nicht ertragen. Ihre Stellung vergessend, nahmen manche beim Anblick ihrer Gewänder schon an, nicht mehr bekennen zu müssen, Sklaven zu sein. Jene, denen der trügerische Reichtum fehlte, wurden genötigt, inmitten der Edelleute in geliehener Kleidung zu erstrahlen. [470] Ausgiebiger Blumenschmuck und Blüten, gezupft von grünenden Zweigen und Bäumen, hatten schon den ganzen Weg des Siegers bedeckt. Wohin er auch schritt, wetteiferte Weihrauch mit Thymiandämpfen, heilige Feuer wurden mit Arabiens wohlriechenden Ge-

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et matutino saciantur aromate nares. Effera prefertur claustro indignata teneri tigris et obstrusi ferrato carcere pardi. Inclusi caveis frendunt inmane leones et quecumque tenet Hyrcanos bestia saltus. Et ne prepediant oculos obiecta sequentum turba frequens, gradibus evecti ad culmina certis quam plures avidique suum cognoscere regem edita murorum longa statione coronant. Occurrunt lyricis modulantes cantibus odas cum cytharis mimi. Concordant cimbala sistris. Tympana psalterio cedunt, nec defuit aures blandius humanas docilis sopire viella, et quos Nyliace tradunt mendacia gentis fatidicos celique notis prenosse peritos sydereos motus et ineluctabile fatum, Memphitae vates currum victoris adorant. Numquam tam celebri iactatrix Roma tryumpho victorem mirata suum tam divite luxu excepit, seu cum fuso sub Leucade Cesar Antonio sexti mutavit nomina mensis lactandasque dedit ydris Cleopatra papillas seu post Emathias acies cum sanguine Magni iam satur irrupit Tarpeiam Iulius arcem, et merito: nam si regum miranda recordans

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würzen entfacht und die Nasen wurden von orientalischen Gerüchen erquickt. [475] Wilde Tiger, darüber erbost, in einem Käfig gehalten zu werden, und in eiserne Zwinger gesperrte Panther führte man vorbei. Eingeschlossen in Käfigen gaben Löwen ihr entsetzliches Gebrüll von sich und ebenso alle möglichen Tiere, die in den Wäldern Hyrkaniens hausten. Und damit die große Menge an Zuschauern sich nicht gegenseitig den Blick nahm, [480] erstiegen so viele wie möglich mit Leitern die Dächer, darauf erpicht, ihren neuen König erstmals mit eigenen Augen zu sehen, und sie besetzten dichtgedrängt die hochragenden Mauern. Mit ihrer Zither kamen Schauspieler daher und begleiteten Lieder mit lyrischen Melodien. Die Zimbeln klangen im Takt mit den Isisklappern. [485] Die Tympana wichen der Harfe, nicht fehlte die Geige, dazu geschaffen, die Ohren der Menschen schmeichelnd zu beruhigen. Und auch die Seher aus Memphis, von denen die Legenden des ägyptischen Volkes berichten, dass sie weissagend sind, kundig darin, durch die Zeichen des Himmels die Bewegungen der Sterne und das unabwendbare Schicksal im Voraus zu erkennen, [490] bewunderten den Wagen des Siegers. Die Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer (491–520) Niemals zuvor hat das prahlerische Rom mit einem so feierlichen Triumphzug seinen Sieger bewundernd verehrt und mit derart aufwendigem Pomp empfangen, weder als Augustus nach seinem Sieg bei Actium über Antonius den Namen des sechsten Monats abänderte [495] und Cleopatra ihre Brust den Giftschlangen zum Saugen der Milch darbot noch als Julius Caesar nach der Schlacht bei Pharsalus, gerade satt vom Blut des Pompeius, die tarpeiische Burg gewaltsam erstürmte. Und das völlig zu Recht: Denn wenn man sich die durchaus bewundernswerten Taten all dieser Herr-

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laudibus et titulis cures attollere iustis, si fide recolas quam raro milite contra victores mundi tenero sub flore iuventae quanta sit aggressus Macedo, quam tempore parvo totus Alexandri genibus se fuderit orbis, tota ducum series, vel quos Hyspana poesis grandiloquo modulata stilo vel Claudius altis versibus insignit, respectu principis huius plebs erit ut pigeat tanto splendore Lucanum Cesareum cecinisse melos Romaeque ruinam et Macedum claris succumbat Honorius armis. Si gemitu commota pio votisque suorum flebilibus divina daret clementia talem Francorum regem, toto radiaret in orbe haut mora vera fides, et nostris fracta sub armis Parthia baptismo renovari posceret ultro, queque diu iacuit effusis menibus alta ad nomen Christi Kartago resurgeret, et quas sub Karolo meruit Hyspania solvere penas exigerent vexilla crucis, gens omnis et omnis lingua Ihesum caneret et non invita subiret sacrum sub sacro Remorum presule fontem.

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scher vor Augen führt und sich bemüht, sie mit angemessenem Lob und entsprechenden Ehrungen hervorzuheben, [500] dann aber noch einmal unvoreingenommen überdenkt, mit welch kleiner Streitmacht der Makedone in noch jugendlichem Alter gegen die damaligen Herren der Welt Großartiges gewagt und nach welch kurzer Zeit sich der ganze Erdkreis Alexander zu Füßen geworfen hat, dann wird die ganze Reihe von Heerführern, mag auch Spaniens Dichtung [505] sie feierlich besingen oder Claudian sie mit erhabenen Versen verherrlichen, gemessen an einem Anführer wie diesem zweifelsohne hintanstehen müssen. Demzufolge dürfte es Lucan angesichts solch hehren Glanzes bereuen, Caesar und den Untergang Roms in einem Epos besungen zu haben, und auch Honorius im Vergleich zu den ruhmreichen Taten der Griechen den Kürzeren ziehen. [510] Falls aber die Gnade Gottes, bewegt durch das Seufzen der Frommen und durch die Gebete der Gläubigen, den Franken einen solchen König wie Alexander zuwiese, so würde auf dem ganzen Erdkreis unverzüglich der wahre Glaube erstrahlen. Gebändigt durch unsere Waffen würde das Partherreich aus eigenem Antrieb fordern, durch die Taufe erneuert in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen zu werden. [515] Das stolze Karthago, das lange mit geschleiften Mauern darniederlag, würde im Namen Christi neu wieder erstehen. Die Banner des Kreuzes würden die Bußstrafe eintreiben, die Spanien schon zur Zeit Karls des Großen hätte entrichten müssen. Jedes Volk würde in seiner eigenen Sprache ein Loblied auf Jesus anstimmen und geradezu begeistert [520] vom heiligen Bischof der Remer die Taufe empfangen.

Liber VI Capitula sexti libri Sextus Alexandrum luxu Babilonis et auro corruptum ostendit. Castrensia munera certis distribuit numeris. Armato milite fines Uxios intrat. Sysigambis liberat urbem et Medatem precibus. A menibus eruta fumat inclita Persepolis. Movet occursus miserorum turbatum regem. Darius discrimina Martis rursus inire parat. Hic sedicio patricidas separat a Dario. Sed eos innata simultas acceptos reddit et credula pectora placat, nec fatum mutare valent decreta Patronis.

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Sextus liber Ecce lues mundi, regum timor unicus, ecce quem tociens poteras, Babilon, legisse futurum eversorem Asiae, sacra quem predixerat hyrcum pagina, quem gemini fracturum cornua regni, presentem mirare virum, nec despice clausum coctilibus septis qui latum amplectitur orbem, cuius inhorrescunt audito nomine reges. Rex erit ille tuus a quo se posceret omnis rege regi tellus si perduraret in illa indole virtutum qua ceperat ire potestas.

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Buch VI Themenübersicht (1–11) Das sechste Buch zeigt, wie Alexander durch den Prunk und das Gold Babylons verführt wird. Der makedonische König verteilt die Aufgaben im Lager nach festen Gruppen. Mit seinem kampfbereiten Heer betritt er das Land der Uxier. Auf Sisigambis’ Bitten hin gibt er die Stadt frei [5] und verschont Medates. Bis auf die Grundmauern zerstört, steigt aus dem berühmten Persepolis Rauch auf. Die Begegnung mit den Elenden rührt den König zuinnerst auf. Darius schickt sich an, erneut die Entscheidung in der Schlacht zu suchen. Hierauf trennt ein Aufstand die Verräter von Darius. Aber angeborene Verlogenheit [10] verschafft ihnen wieder Darius’ Gunst und versöhnt arglose Herzen. Nicht aber können Patrons Ratschläge das Schicksal ändern. Alexander in Babylon (1–32) Apostrophe an die Stadt Babylon (1–15) Babylon, sieh den Verderber der Welt, den einzigartigen Schrecken der Könige, sieh jenen, von dem du so oft hättest lesen können, dass er der Vernichter Asiens sein wird, den die prophetischen Bücher der Bibel schon immer als den Geißbock angekündigt haben, der die Hörner des zweifachen Reichs zerbrechen wird, [5] ihn bestaune nun selbst als leibhaftig anwesenden Mann. Schau nicht verächtlich auf jenen herab, der den weiten Erdkreis beherrscht und bei dessen Namen die Könige erzittern, nur weil er von deinen steinernen Mauern umschlossen wird. Jener wird dein König sein. Jedes Land würde fordern, von diesem König regiert zu werden, wenn er weiterhin jene [10] ihm angeborene Tugendhaftigkeit an den Tag

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Aspice quam blandis victos moderetur habenis. Aspice quam clemens inter tot prospera victor. Aspice quam mitis dictet ius gentibus ut quos hostes in bellis habuit cognoscat in urbe cives et bello quos vicit vincat amore. Hos tamen a tenero scola quos inpresserat evo ornatus animi, poliendae scemata vitae, innatae virtutis opus solitumque rigorem fregerunt Babilonis opes luxusque vacantis desidiae populi quia nil corruptius urbis moribus illius. Nichil est instructius illis ad Veneris venale malum cum pectora multo incaluere mero: si tantum detur acerbi flagicii precium, non uxores modo sponsi sed prolem hospitibus cogunt prostare parentes. Sollempnes de nocte vident convivia ludos quos patrio de more solent celebrare tyranni. Hos inter luxus Babilonis et ocia Magnum ter deni tenuere dies et quatuor, unde terrarum domitor exercitus ille futurus debilior fuerat si post convivia mensae desidis effrenum piger irrupisset in hostem.

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gelegt hätte, mit der er seine Herrschaft zu Beginn ausgeübt hatte. Schau an, wie er Besiegte mit schonenden Zügeln im Zaum hält. Schau an, wie mild er gemessen an so vielen Erfolgen als Sieger sich zeigt. Schau an, wie friedsam er den Völkern eine Verfassung gibt, um jene, die er in Kriegszeiten zum Feind hatte, in der Stadt [15] als Bürger anzuerkennen, und diejenigen, die er im Krieg besiegt hat, mit Zuneigung zu gewinnen. Babylons verderblicher Einfluss auf die Griechen und Alexanders Aufbruch aus Babylon (16–32) Weil nichts verdorbener war als die Sitten jener Stadt, schwächten ihm jedoch Babylons Reichtum und der Luxus eines dem müßigen Nichtstun [20] verfallenen Volkes jene Zierde des Geistes, die ihm schulische Bildung von zarter Kindheit an eingeprägt hatte: die innere Haltung für ein zivilisiertes Leben, die angeborene Tugendhaftigkeit und die gewohnte Unbeugsamkeit. Wenn die Sinne vom vielen Wein erhitzt waren, war nichts förderlicher für das Übel käuflicher Liebe als jene sittliche Verwahrlosung. Wurde nur ein Preis für eine scheußliche Schandtat ausgelobt, zwangen nicht nur Gatten die Gattin, [25] sondern auch Eltern ihre Kinder, sich Gästen für Geld anzubieten. Nachts sahen sich Tischgesellschaften feierliche Spiele an, die Könige nach väterlicher Sitte zu veranstalten pflegten. Vierunddreißig Tage lang hielten Babylons Luxus und Müßiggang den makedonischen König gefangen, wodurch [30] jenes Heer – eigentlich dazu bestimmt, die Länder zu bezwingen – zu diesem Zeitpunkt zu schwach gewesen wäre, wenn es sich nach einem Gastmahl an müßiger Tafel in seiner Trägheit auf einen entfesselten Feind hätte stürzen müssen.

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Ergo Semiramiis postquam Mavortius heros finibus egressus Satrapenis constitit arvis, quedam que dederant patres precepta prioris miliciae mutanda ratus castrensia, certos munera sub numeros arguta mente redegit. Utque suos habeant cyliarchas, queque quiritum milia constituit, quibus indubitata probetur iudicibus virtus equitum dignusque probatis exhibeatur honos ne falso premia poscat qui tepide gessit, ne sub probitatis amictu splendeat improbitas, et ne mercede negata perdiderit titulum qui gessit fortia fortis. Moris apud veteres Macedum patremque Philippum hactenus exstiterat, cum tolli signa iuberent, castra ciere tuba, que prepediente tumultu armorumque sono non pertingebat ad omnes. Sed super hoc cautum est ut pertica signa movendi luce sit in signum, fumus de nocte vel ignis. Neve quis alterius munus vel fortia gesta usurpare suisve ascribere viribus ausit, unumquemque virum vice qua donatur et actis contentum iubet esse suis. Monet allicit artat fortes conductos cives prece munere scripto. Romuleos reges subiecto legimus orbe in populos legem et causas dictasse forenses cum deus ultrices Furias arceret Olympo, Theodosius terris. Sed plus fuit arma tenentes legibus astringi quam victis condere iura,

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Alexanders Neuorganisation des griechischen Heeres (33–62) Nachdem der Kriegsheld also Semiramis’ Land verlassen und im Satrapengebiet ein Lager bezogen hatte, verteilte er – in der Meinung, dass manche Regeln für die Organisation des Lagers, [35] welche die Väter in früheren Kriegen aufgestellt hatten, geändert werden müssten – in durchdachter Weise die verschiedenen Aufgaben auf feste Gruppen. Alexander stellte Abteilungen von jeweils tausend Soldaten mit jeweils einem Chiliarchen auf. [40] Deren Urteil sollte die Tapferkeit der Reiter – wenn sie unzweifelhaft anerkannt war – und auch die verdiente Ehrung bestätigen, damit nicht jemand, der nur schwach gekämpft hatte, fälschlicherweise Belohnungen forderte, nicht unter dem Deckmantel der Rechtschaffenheit Unredlichkeit hervorschimmerte und nicht jenem, der tapfer gekämpft hat, nach Verweigerung des gerechten Lohns der angemessene Ruhm vorenthalten wurde. [45] Sitte war es bei den Vorfahren der Makedonen und sogar noch bei seinem Vater Philipp, das Lager nach dem Befehl zum Abmarsch mit dem Klang der Tuba in Bewegung zu setzen, der jedoch nicht zu allen durchdrang, da der Lärm im Lager und das Waffengeklirre diesen erstickten. Aber diesbezüglich wurde festgesetzt, dass von nun an [50] bei Tage ein langer Stock und bei Nacht Rauch oder Feuer als Zeichen für den Abmarsch zu gelten habe. Auch sollte es keiner wagen, sich die Geschenke und tapferen Taten eines anderen anzumaßen oder seiner eigenen Tatkraft zuzuschreiben. Er erteilte den Befehl, dass jeder Mann mit seinen Taten und der dafür entsprechenden Belohnung zufrieden sein solle. Er mahnte, lockte und nötigte [55] seine Soldaten, Söldner und Landsleute mit Bitten, Geschenken und schriftlichen Befehlen. Nach der Unterwerfung der Welt – so liest man – diktierten die römischen Kaiser den Völkern Gesetze und öffentliche Gerichtsverfahren, als Jupiter die rächenden Furien vom Olymp und Theodosius diese von der Erde abhielt. Doch bedeutender war es, bewaffnete Soldaten [60] mit Gesetzen zu binden, als für Besiegte

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et maius fuit armatos decreta rigoris suscipere in bello quam ius in pace pacisci. Hec ubi mature tractata libentibus omnes accepere animis, Susam tradentibus urbem civibus et multis hilarato milite gazis, agmen ad Uxias convertit turbidus arces. Uxiae regionis onus summamque regebat prefectus Medates, sane vir fortis et ingens exemplar fidei, pro qua suprema subire non veritus, verum Dario servabat amicum. Doctus ab indigenis iter esse latens et opertum civibus ignaris, Graios quod ducat ad urbem, delectis equitum tantum in discrimen ituris prefecit Macedo meriti Taurona probati. Ipse movens circa tenerae primordia lucis angustas superat fauces aditusque locorum, cesaque materies faciendis cratibus apta et pluteis curva testudine surgit in arcem, artificum ut studiis tali munimine tuta funditus erueret muros armata iuventus.

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ein Rechtssystem aufzustellen; eine größere Leistung war es, bewaffnete Kämpfer strengen Regeln zu unterwerfen, als im Frieden ein Rechtssystem zu etablieren. Die Eroberung von Susa und der Krieg gegen die Uxier (63–144) Die Einnahme von Susa und die Schlachtvorbereitungen gegen die Uxier (63–80) Als alle bereitwillig den Vorgaben Alexanders rechtzeitig zugestimmt hatten, lenkte er sein Heer – [65] die Bürger von Susa hatten sich inzwischen ergeben und die Soldaten waren mit vielen Schätzen zufriedengestellt worden – rasch zur Festung der Uxier. Den Oberbefehl über das Gebiet der Uxier hatte im Rang eines Präfekten der mit Darius in wahrer Freundschaft verbundene Medates inne, ein fürwahr tapferer Mann und zugleich ein herausragendes Beispiel von treuer Ergebenheit, für die er in den Tod zu gehen [70] nicht fürchtete. Von ortskundigen Einwohnern darüber in Kenntnis gesetzt, dass es einen den Bürgern der uxischen Hauptstadt unbekannten Schleichweg gebe, der die Griechen in die Stadt hineinführen könne, stellte Alexander den verdienstvollen Tauron an die Spitze einer ausgewählten Reiterschar, die sich einer so großen Gefahr auszusetzen bereit war. [75] Er selbst brach im Morgengrauen auf und überwand die engen Bergschluchten und Zugänge zum Land der Uxier; zurechtgeschnittenes Zweigholz, das zum Flechten einer Schutzwand sich eignete, wuchs bogenförmig zu einem gewölbten Schutzdach empor, damit die bewaffnete Jugend – durch eine solche meisterhaft geschaffene Deckung geschützt – die feindlichen Mauern [80] von unten her zerstören konnte.

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Sed gravis accessus cum dura minetur acutis cotibus et saxis succidi nescia tellus. Nec solum Macedo cum duro dimicat hoste, sed locus est cum quo pugnandum vivaque cautes nativo munita situ; tamen arta subibant et prerupta leves duce precedente cohortes. Quem tamen obiecta testudine, cum peteretur eminus ex alto telorum grandine, nec vi nec prece barbaricis poterant avellere muris, quippe inter primos galeato vertice primus fulminat in muros, nunc grandia saxa volutans, nunc sude suffodiens, nunc frangens ariete portas, nunc tormenta rotat tormentum flebile mundi, impellensque suos, “Pudeat iam, proch pudor,” inquit “victores Asiae, o socii, quibus ante tot urbes cessere, exigui dormire ad menia castri. Que loca, quod subsistat opus? Quis non ruat agger ante manus Macedum? Que menia stare vel arces sustineant? Solidis que fundamenta columpnis inniti valeant cum senserit altus adesse murus Alexandrum? Quamvis equandus Olimpo, corruet, et discent michi condescendere turres.”

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Die Schlacht gegen die Uxier (81–102) Schwierig jedoch war der Zugang zur Stadt, da der steinharte und nicht zu durchdringende Boden mit scharfen Steinen und Felsen drohte. Und nicht allein mit dem ausdauernden Feind kämpfte Alexander, sondern es war auch der Ort, der bekämpft werden musste, ein natürlicher Felsen, [85] geschützt durch seine naturgegebene Lage; doch rückten an den schroffen und steilen Hängen schon die leichtbewaffneten Kohorten unter Führung des in vorderster Front reitenden Tauron heran. Als Alexander, vom ausgebreiteten Flechtwerk zwar einigermaßen geschützt, von oben herab von einem Pfeilhagel eingedeckt wurde, konnten ihn seine Soldaten weder mit Gewalt noch mit Bitten von der Mauer der Feinde wegreißen, [90] da er mit dem Helm auf dem Kopf als erster unter den ersten gegen die Mauern wütete: Bald wälzte er gewaltige Felsbrocken heran, bald drang er mit dem Schanzpfahl unter die Mauer, bald zerbrach er mit dem Sturmbock die Tore, bald ließ er die für die Menschheit leidvolle Wurfmaschine Geschosse schleudern und trieb dabei seine Kampfgefährten folgendermaßen an: »Welch eine Schande, schämt ihr euch nicht, [95] ihr Bezwinger Asiens, meine Kameraden, vor denen in der Vergangenheit schon so viele Städte kapituliert haben, jetzt vor den Mauern eines kleinen Kastells hier nur halbherzig zu kämpfen? Welcher Ort, welches Schanzwerk sollte in der Lage sein, uns Widerstand zu leisten? Welcher Schutzwall sollte nicht zusammenbrechen, wenn die makedonische Streitmacht naht? Welche Mauern oder welche Burgen sollten uns standhalten? Welche Grundmauern – auf feste Pfeiler [100] gestützt – sollten Bestand haben, wenn die ragende Mauer schmerzlich empfindet, dass Alexander dort steht? Sie wird einstürzen, mag sie auch dem Olymp vergleichbar aufragen, die Türme werden lernen, mir vor die Füße zu fallen.«

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Dixit, et in summa Tauron apparuit arce. Quo semel aspecto Grais audacia crevit, corripuitque pavor et desperatio cives. Hiis extrema pati patriaeque impendere vitam, illis corde sedet fuga si modo libera detur. Maxima nubiferam se turba recepit in arcem. Nec mora ter denis victorem flectere missis ut liceat salva victos abscedere vita, triste reportatur responsum a principe nullum esse locum veniae, parvas superesse doloris suppliciique moras. Torpent languore pavoris percussi cives, dociles extrema vereri. Dirigit ergo preces occulto calle per umbras ad matrem Darii Medates ut mitiget iram regis et ut victis invictus parcat et urbi. Non ignarus eam venerari et matris honore a victore coli, Medates eius sibi neptem duxerat, ad Darium cognato sanguine spectans. Rennuit illa diu precibus concurrere quamvis iusta petant, et “fortunae non congruit isti qua nunc versor” ait “tantos admittere fastus. Victorem qua fronte rogem captiva? Repulsam ex merito patitur qui postulat ulterius quam promeruit. Spes, quam meritum non prevenit, a spe deviat, et verum dat ei presumptio nomen. Convenit ut pocius quod sim captiva penes me contempler quam quod fuerim regina recorder. Tot precibus latis vereor ne fessa residat

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Alexanders Sieg über die Uxier (103–144) So sprach er. Hoch oben am Burgberg erschien plötzlich Tauron. Nachdem die Griechen ihn einmal erblickt hatten, wuchs ihre Kühnheit, [105] die feindlichen Bürger hingegen wurden von Angst und Verzweiflung ergriffen. Die einen waren bereit, das Äußerste zu ertragen und ihr Leben für das Vaterland hinzugeben, andere sannen auf Flucht, wenn sich ihnen die Möglichkeit dazu bieten sollte. Der größte Teil der Bürger jedoch zog sich in die wolkenverhangene Burg zurück. Nachdem unverzüglich dreißig Boten geschickt worden waren, den Sieger dahingehend zu beeinflussen, [110] den Besiegten zu erlauben, unversehrt abzuziehen, wurde die für sie traurige Nachricht zurückgemeldet, dass vom Anführer der Griechen keine Gnade zu erwarten sei und sie in Kürze mit Marter und Tod zu rechnen hätten. Die erschütterten Bürger erstarrten in lähmender Angst und fanden sich damit ab, das Äußerste fürchten zu müssen. [115] Im Wissen, dass Sisigambis vom Sieger verehrt und mit der Hochachtung, die normalerweise nur einer Mutter zuteil wird, geschätzt wurde, wendete sich Medates nachts auf heimlichem Pfad mit der Bitte an Darius’ Mutter, Alexanders Zorn zu besänftigen, auf dass dieser als unbesiegter König die Besiegten und die Stadt verschone. Zudem hatte Medates ihre Nichte [120] geheiratet und war so mit Darius verwandt. Jene verweigerte den Bitten lange die Zustimmung, obgleich sie nur Rechtes begehrten, und sagte: »Es passt nicht zu meiner jetzigen Situation, einen so großen Hochmut an den Tag zu legen. Mit welcher Unverfrorenheit soll ich als Gefangene vom Sieger etwas erbitten? Eine Zurückweisung erleidet [125] zurecht, wer mehr fordert, als er verdient hat. Eine Hoffnung, die sich nicht auf einen Verdienst gründet, hört auf, Hoffnung zu sein, und verdient, Anmaßung genannt zu werden. Eher sollte ich mir vor Augen führen, dass ich eine Gefangene bin, als an meine frühere Stellung als Königin zurückzudenken. [130] Ich befürchte, dass des Königs Gnade, erschöpft durch eine so außerordentliche

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neve fatigari queat indulgentia regis.” Ista Sysigambis, suplicum tamen icta dolore, scribit Alexandro: victis si parcere nolit, luce frui Medaten, iam victum iamque fatentem se peccasse, sinat. Que tunc moderatio Magni, que pietas fuerit vel que constantia regis arguit hoc unum quod non Medati modo verum omnibus ignovit et libertate priori concessa captam captivis reddidit urbem. Restituit patrios priscis cultoribus agros immunesque coli mandavit et absque tributo. Si vaga victori Dario Fortuna dedisset urbem pre manibus, non impetrasset ab illo plura parens quam que victis dedit hostibus hostis. Nec mora, divisis cum Parmenione catervis, imperat ut Darium caute vestiget, eumque campestri iubet ire via, tamen ipse retentis delectis equitum iuga tendit in ardua, quorum perpetuum excurrit vergens in Persida dorsum. Non alias Macedo, graviora pericula passus, experto didicit semper variamque sibique dissimilem et nulli fortunam stare perhennem. Perque tot angustas et qua via devia fauces perque tot anfractus et qui vestigia nusquam admittunt hominis gradiens, Pelleus ab hoste desuper obruitur et non inpune frequenter

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Bitte, nachlässt und ermüdet wird.« Vom Schmerz der um Gnade flehenden Bürger getroffen, schrieb Sisigambis nun doch Alexander, er möge, wenn er schon die Besiegten nicht schonen wolle, zumindest Medates, schon besiegt [135] und sich schuldig bekennend, am Leben lassen. Welch eine Mäßigung, welch eine Milde Alexander damals auszeichnete und welch eine Charakterfestigkeit diesem König innewohnte, bewies der einzigartige Umstand, dass er nicht nur Medates, sondern auch allen anderen verzieh und den gefangenen Bürgern durch die Gewährung der alten Freiheit die eroberte Stadt zurückgab. [140] Den Bauern gab er die von den Vätern ererbten Äcker zurück und erteilte den Befehl, diese frei von Abgaben und ohne Tributpflicht zu bebauen. Wenn das unbeständige Schicksal die Stadt einem siegreichen Darius in die Hände gespielt hätte, hätte Sisigambis von ihrem eigenen Sohn nicht mehr erhalten als das, was Alexander als Feind den besiegten Feinden zugestanden hat. Schwere Kämpfe gegen den Statthalter der Provinz Persis (145–160) [145] Nachdem Alexander das Heer zwischen sich selbst und Parmenion aufgeteilt hatte, gab er diesem unverzüglich den Befehl, Darius vorsichtig zu verfolgen und dabei durch das Flachland zu ziehen. Er selbst suchte mit einer ausgewählten Schar von Reitern einen steilen Bergrücken zu erreichen, dessen stetig verlaufender Grat nach Persien hin abfiel. [150] Alexander, der kein anderes Mal schlimmere Gefahren ertragen musste, hat hier durch eigene Erfahrung gelernt, dass das Schicksal wankelmütig und launenhaft sein kann und keinem immerwährend beistehen muss. Während Alexander nämlich durch so viele Engstellen und nahezu unzugängliche Schluchten, durch so viele verschlungene Pfade, die dem Menschen normalerweise nirgendwo [155] Zutritt gestatten, schritt, wurde er von oben herab vom Feind bestürmt. Nachdem er nicht ohne Verluste zum

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compulsus retroferre gradus, multaque suorum sanguinis impensa post tot discrimina tandem hostica confregit collato robore signa, victaque sederunt victricibus arma sub armis. Vix bene purgato noctis caligine caelo, traiciens Macedo molimine pontis Araxen Persepolim festinus adit, captamque redegit in cineres celebrem tot priscis regibus urbem. Diviciis tumidas cum ceperit ante tot urbes, huius opes alias opulentia barbara longe preteriit. Luxum totius Persidis istuc intulerant reges. Sacrum penetralibus aurum et rudis eruitur argenti massa vetusti. Ex aditis rapitur non tantum partus ad usum agger opum, nec ad hoc congessit avara vetustas, quantum ut mirantes traheret speculatio visus. Curritur in predam citius, certatur et inter predones, hostisque loco truncatur amicus, cui preciosior est rapta aut inventa rapina: causa necis preciumque fuit preciosa supellex. Et quod quisque rapit, iam non capit improbus, unde accidit ut quod iam non occupat estimet illud. Purpura diripitur, laceratur regia vestis artificum sudata manu, queque aspera signis

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wiederholten Mal gezwungen worden war, zurückzuweichen, zerschlug er schließlich nach so vielen gefahrvollen Situationen mit vereinten Kräften und mit hohem Blutzoll unter seinen eigenen Männern die feindlichen Scharen. [160] Am Ende lagen die Waffen der Besiegten neben denen der Sieger dicht beieinander. Alexander in Persepolis (161–296) Alexander macht Persepolis dem Erdboden gleich (161–195) Als kaum sich der Himmel vom Dunkel der Nacht befreit hatte, überquerte Alexander auf einer eigens errichteten Brücke den Araxes, griff eilends Persepolis an und legte die durch so viele altehrwürdige Könige berühmte Stadt in Schutt und Asche. [165] Wenn er auch schon zuvor so viele von Reichtümern strotzende Städte erobert hatte, übertraf doch die barbarische Pracht von Persepolis andere Schätze bei weitem. Den Reichtum ganz Persiens hatten die Könige einst hierher bringen lassen. Man raubte das für die Tempel bestimmte Gold und die rohe Masse uralten Silbers. [170] Aus dem Allerheiligsten der Tempel schleppte man einen Berg voller Schätze weg, die nicht so sehr zum Gebrauch erworben worden waren – für diesen Zweck hatten die Alten diese in ihrer Habgier nämlich nicht zusammengerafft – als dazu, dass deren Anblick bewundernde Blicke hervorrufen sollte. Schnell stürzte man sich auf die Beute, man kämpfte wie unter Räubern, der Freund, [175] der sich eine wertvollere Beute unter den Nagel gerissen hatte, wurde anstelle des Feindes getötet: Grund und Preis für den gewaltsamen Tod war die wertvolle Habe. Und was ein jeder raubte, konnte der Plünderer schon nicht mehr tragen. So geschah es, dass er jene Dinge, die er noch nicht in seinen Besitz gebracht hatte, zuvor erst nach ihrem Wert begutachtete. Purpurdecken wurden zerrissen, zerfetzt wurden [180] mühsam von Künstlerhand gefertig-

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aurea vasa rigent, dolabris in fragmina cedunt. Nil sinit intactum nullis contenta cupido. Integra nulla manent. Membris simulacra revulsis plus terroris habent mutilata minusque decoris. Exitus hic urbis, que tot regalibus olim floruerat titulis et que tot gentibus una iura dabat, quondam specialis et unicus ille Europae terror, decies cum mille carinis obstrueret totum numerosa classe profundum, Neptunum fossis inmittere collibus ausa ausaque montanis exponere lintea dorsis. Persarum reliquas urbes tenuere secuti post Magnum reges. Huius vestigia nusquam invenies nisi strata rapax ostendat Araxes menia marmoreis paulo distantia ripis. Dixeris indignam dignamve his cladibus urbem ambigitur, nam cum subiturus menia Magnus pergeret, occurrit agmen miserabile visu. Captivi Macedum tria milia, corpora cesi, auribus orbati, pedibus manibusve recisis, vel labra precisi, penitus vel lumine cassi, aut aliqua a Persis membrorum parte minuti. Preterea que longa sui ludibria servant, frontibus impressa est rudibus nota barbara signis. Hos ubi non homines verum simulachra videri rex ratus in primis tandem cognovit, obortis

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te Königsgewänder, mit üppigem Bilderschmuck verzierte goldene Gefäße wurden mit Hacken in Stücke geschlagen. Die mit nichts zufriedene Gier ließ nichts unangetastet. Nichts blieb unversehrt. Mit abgerissenen Gliedmaßen verbreiteten verstümmelte Statuen mehr Schrecken als Anmut. [185] So endete die Stadt, die einst durch so viele ehrenvolle Königstitel in höchstem Ansehen gestanden und so vielen Völkern allein eine Verfassung gegeben hatte, einst jener besondere und einzigartige Schrecken Europas, als sie mit zehntausend Schiffen das ganze Meer mit einer riesigen Flotte versperrt und das Wagnis in Angriff genommen hatte, das Wasser des Meeres in durchstoßene Hügel zu leiten, [190] und sich erdreistet hatte, den Bergrücken die Segel vor Augen zu stellen. Die Könige, die auf Alexander folgten, behielten die Herrschaft über alle anderen Städte der Perser. Nirgendwo jedoch wirst du noch Spuren von Persepolis finden, es sei denn, der reißende Araxes sollte [195] unweit von seinen hell schimmernden Ufern die niedergeworfenen Mauern auftauchen lassen. Alexander begegnet verstümmelten Kriegsgefangenen (196–212) Man mag unschlüssig darüber sein, ob die Stadt diesen verheerenden Untergang verdient hat oder nicht; als Alexander sich nämlich anschickte, die Stadt zu betreten, kam ihm eine jämmerlich anzuschauende Gruppe von Männern entgegen: Dreitausend makedonische Gefangene mit blutig geschlagenen Körpern, [200] der Ohren beraubt, mit abgetrennten Füßen und Händen, abgeschnittenen Lippen, mit gründlich aus den Höhlen entfernten Augen und auch sonst von den Persern noch anderer Glieder beraubt. Außerdem wurde ihnen als dauerhaftes Sinnbild ihrer Entehrung auf die Stirn ein Brandmal aus kunstlosen Buchstaben eingebrannt. [205] Als Alexander, der auf den ersten Blick der Meinung war, nicht Menschen, sondern Gespenster vor sich zu haben, schließlich seine make-

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intepuit lacrimis, victorque exercitus ille flevit, et in subitum versa est victoria luctum. Rex miseros fortis animi iubet esse, daturum se quicquid peterent, visuros dulcia rura divitis Europae, uxores dulcesque propinquos spondet et in patrio capturos cespite sompnum. Secedit vallo vulgus miserabile donec que potiora petat libra deliberet equa. Hiis Asiae placuit consistere finibus, illis dulcior est patrius alieno cespite cespes. Quorum quem docilis celebrem facundia linguae fecerat Euctemon ita creditur esse locutus: “Quem modo de tenebris et clauso carceris antro ut peteremus opem puduit procedere, trunci corporis exicium patriae qua fronte valebis ostentare tuae, spectacula leta daturus cum sane incertum discrimina tanta tulisse peniteat magis an pudeat? Bene fertur iniqua condicio cum tecta latet. Bene fertur amara condicio miseram si nosti abscondere vitam, nullaque tam nota est miseris tam patria dulcis quam sedes aliena, domus sine teste prioris fortunae. Miseros faciunt loca sola beatos quando beatarum subeunt oblivia rerum. Qui totum ponunt in spe vel amore suorum,

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donischen Landsleute erkannte, rang er unter Tränen um Fassung. Auch jenes siegreiche Heer ließ seinen Tränen freien Lauf, der gerade errungene Sieg verwandelte sich in plötzliche Trauer. Der König hieß die traurigen Gestalten, ihre tapfere Gesinnung zu bewahren, und versprach ihnen zu geben, [210] was sie nur wünschten: das Wiedersehen mit den lieblichen Gefilden des reichen Europa, mit ihren Ehefrauen und der trauten Verwandtschaft und die damit verbundene Möglichkeit, wieder auf heimischem Boden zu schlafen. Das Rededuell zwischen Euctemon und Theteus (213–296) Die bedauernswerten Männer entfernten sich ein wenig vom Wall, bis sie in gerechter Abwägung beraten hatten, was sie für die beste Lösung hielten. [215] Die einen sprachen sich dafür aus, in Asien zu bleiben, die anderen zogen den heimatlichen Boden der Fremde vor. Einer von diesen bedauernswerten Männern, Euctemon, berühmt für seine Fähigkeit, mit der Rede zu überzeugen, soll Folgendes gesagt haben: »Mit welchem Mut wirst du – dich der Lächerlichkeit preisgebend – deinem Vaterland das Grauen deines verstümmelten Körpers zeigen können, der du dich eben noch geschämt hast, aus der Dunkelheit und der verschlossenen Höhle des Kerkers hervorzutreten, [220] um Hilfe zu erbitten, wenn es überaus unsicher ist, ob es eher Missfallen findet oder doch eher Bedauern hervorruft, so schlimme Dinge ertragen zu haben? Leichter erträgt man sein beschwerliches Dasein, [225] wenn es unsichtbar im Verborgenen bleibt. Leichter erträgt man seine schreckliche Lage, wenn man es versteht, sein elendes Leben den Blicken anderer zu entziehen. Keine Heimstatt ist für uns bedauernswerte Geschöpfe so angenehm und vertraut wie ein fremder Wohnsitz, eine Behausung ohne Zeugen des früheren Lebens. Nur einsame Orte machen Elende glücklich, [230] da sie dort ihr vormals glückliches Leben vergessen können. Wer alles in die Hoffnung und Liebe der Seinen

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quam cito sustineat lacrimarum arescere rivus ignorant. Leviter veniunt leviusque recedunt blandiri dociles lacrimae, solasque propinqui impendunt miseris lacrimas. Arentibus illis cum lacrimis arescit amor pietasque tuorum. Sors miseri querula est, felicis vero superbus est status, et tumidae nulla est compassio mentis. Quem fastidit homo non vere diligit. Ille verus amor miserum qui non fastidit amicum. Fortunam alterius dum tractat, quisque recurrit ad propriam et propria consulta sorte requirit tales exterius qualem se noverit intus. Fortunata parem solet alea querere casum. Fastidisse alius alium poteramus et esse obprobrio mixtim nisi mutua fata dedissent omnibus equales inter tria milia casus. Uxores tenerae, quas in fervore iuventae duximus et spretas sumptis dimisimus armis, quam sollempni in socialia federa vultu admittent viles Veneris sine fomite truncos partirique volent genialis gaudia lecti! Usque adeo sexus nobis incognitus ille est? Pectore femineo vernalis certior aura est, mollior est adamas. Felici que solet esse dura viro, miserum poteritne videre maritum? Obsecro vos, olim vita defuncta iuventus, querite quas habitent semesa cadavera sedes. Queramus parili voto lugentibus aptum abiectisque locum. Ignotis lateamus in horis, quos penes agnosci miseri iam cepimus, immo quos penes invisum iam desiit esse cadaver.”

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setzt, weiß nicht, wie schnell der Strom der Tränen in der Lage ist zu versiegen. Mit Leichtigkeit brechen die im Schmeicheln erfahrenen Tränen hervor, leicht jedoch versiegen sie auch. Die einzigen Tränen, die für Elende vergossen werden, [235] stammen von den eigenen Angehörigen. Sind jene Tränen vertrocknet, versiegen mit ihnen auch Liebe und Erbarmen der Deinigen. Das Schicksal eines Elenden ist beklagenswert, hochmütig jedoch ist die Haltung eines glücklichen Menschen und ein aufgeblasener Geist kennt kein Mitgefühl. Nicht liebt man aufrichtig denjenigen, den man geringschätzt. [240] Wahre Liebe besteht darin, einen Freund in einer unglücklichen Lebenslage nicht geringzuschätzen. Während man das Schicksal des anderen betrachtet, setzt es ein jeder in Beziehung zum eigenen Schicksal und sucht, sein eigenes Los überdenkend, in seinem sozialen Umfeld nur solche Freunde, zu denen man inwendig am besten passt. Ein glückliches Los bei dem einen sucht normalerweise ein entsprechendes Schicksal beim anderen. [245] Wir hätten – der eine den anderen – verachten und uns gegenseitig als Schandfleck dienen können, wenn das Los nicht allen dreitausend Männern das gleiche Schicksal zugewiesen hätte. Wie werden unsere liebevollen Ehefrauen, die wir in der Leidenschaft unserer Jugend geheiratet und durch unseren Waffengang schmählich zurückgelassen haben, mit einem wertlosen Rumpf, ohne das Feuer der Lust, [250] mit gewohnter Begeisterung den ehelichen Beischlaf vollziehen und mit uns die Freuden des Ehebetts teilen wollen? Kennen wir die Frauen so schlecht? Der Frühlingswind ist beständiger und weicher der Stahl als das Herz einer Frau [255]. Wird sie das Elend ihres Ehegatten ertragen können, wenn sie normalerweise schon einem glücklichen Mann hart zusetzt? Ihr längst schon dem Leben entrückten Jünglinge, ich bitte euch inständig, sucht Wohnsitze für eure halb zernagten Kadaver. Lasst uns einmütig einen Ort suchen, [260] der sich für Trauernde und Verlorene eignet. Lasst uns an unbekannten Gestaden unter jenen verborgen uns halten, bei denen wir schon als Beklagenswerte anerkannt wurden, ja sogar der

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Hactenus Euctemon, cui sic oriundus Athenis Theteus obiecit: “Nemo estimat” inquit “amicum corporis ex habitu, durae ludibria sortis nemo pius pensat. Non nos natura creatrix sed contemptibiles hostis violentia fecit. Omnibus esse malis me iudice censeo dignum quem pudet eventus, sua cui fortuna pudori est. Desperare solent alios in tempore duro esse miserturos aliis hii qui misereri non vellent si Fata darent contraria fila. Inclementis homo mentis male conicit ex se rara quod humanae sedeat clementia menti. Spe maius votoque deos offerre videtis uxores patriam prolem patriosque penates. Heu liceat clausis erumpere carcere, lucem aeraque et linguam patriosque resumere mores. Cur miser hic et servus eris si patria detur in votis, in qua tantum miser esse teneris? Exulibus tandem fortuneque ultima passis est aliquid patrio se reddere posse sepulchro. Mollius ossa cubant manibus tumulata suorum. In Persis maneant Medorumque aera spirent felices alii quos diffidentia patrum uxorumque potest avellere dulcibus arvis. Me sane regis usurum munere constat Europam patriamque sequi, modo libera detur visendi a superis natalia rura facultas.”

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Hass auf unsere Kadaver nicht weiter fortlebt. So sprach Euctemon.« Diesem entgegnete der aus Athen stammende Theteus: »Niemand bewertet einen Freund [265] nach dem Zustand des Körpers, niemand, der gütig ist, misst den Launen des grausamen Schicksals allzu große Bedeutung bei. Nicht Mutter Natur hat uns verachtenswert gemacht, sondern die Gewalttat des Feindes. Alle Übel hat meines Erachtens derjenige verdient, der ein schlimmes Ereignis beklagt und sich für sein Schicksal schämt. [270] Nur jene verzweifeln normalerweise daran, dass andere in schlimmen Zeiten kein Mitleid mit ihren Nächsten haben, die sich selbst nicht erbarmen wollen, wenn die Parzen ein Verderben bringendes Schicksal spinnen. Ein Mensch ohne jegliches Erbarmen zieht aus der Betrachtung der eigenen Person den falschen Schluss, dass Güte nur selten den Herzen der Menschen innewohnt. [275] Ihr könnt sehen, dass euch die Götter – mehr als ihr zu hoffen und zu wünschen gewagt habt – die Gattin, die Heimat, eure Kinder und den Hof eurer Väter anbieten. Ach, möge es den Gefangenen erlaubt sein, ihrem Kerker zu entrinnen, das Tageslicht und die gewohnte Luft, die eigene Sprache und die väterlichen Sitten wiederzuerlangen. Warum willst du hier elend als Sklave dein Leben verbringen, wenn man dir als Antwort [280] auf deine Gebete die Rückkehr in die Heimat zugesteht, wo du lediglich für einen Pechvogel gehalten wirst. Auch ist es für all diejenigen, die zuletzt als Heimatlose schlimmste Schicksalsschläge erdulden mussten, von nicht geringer Bedeutung, in der Grabstätte ihrer Väter beerdigt zu werden. Weicher ruhen die Gebeine, wenn sie von den Händen der Angehörigen bestattet werden. Alle anderen, die ihr Misstrauen gegenüber ihren Ehefrauen und Vätern von den lieblichen Gefilden der Heimat losreißen kann, sollen [285] beglückt bei den Persern bleiben und die Luft der Meder atmen. Für mich jedenfalls steht es fest, das Geschenk unseres Königs in Anspruch zu nehmen und Europa und der Heimat zu folgen, wenn nur die Götter uns die uneingeschränkte Möglichkeit gewähren, die heimatlichen Fluren wiederzusehen.«

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Finierat Theteus sed paucos repperit huius voti participes. Aliorum pectora vicit consuetudo potens natura fortior ipsa. Quorum consilio concurrens Magnus opimos non solum partitur agros sed prodigus addit es variosque greges et leti farris acervos ne frumenta solo desint, cultoribus era. Hiis ubi consulte providit Martius heros, Medorum ingreditur reparato milite fines, precipitique legens Darii vestigia cursu ne fuga surripiat pleni pars magna triumphi qui solus superest, pardis instantior instat. Sed iam Belides Ebactana venerat urbem, metropolim Mediae. Decreverat inde subire Bactrorum fines. Sed cum loqueretur adesse rumor Alexandrum, cuius satis agmina contra pennatosque gradus distantia nulla locorum longa videbatur, mutato pectore mutans consilium, totos orditur in arma paratus, pugnandoque mori decrevit honestius esse quam victam tociens fatis extendere vitam.

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[290] Theteus hatte seine Ansprache beendet, doch fand er nur wenige, die sein Verlangen teilten. Die Herzen der anderen besiegte die machtvolle Gewohnheit, die stärker ist als die Natur selbst. Der Absicht der Mehrheit entsprechend teilte Alexander nicht nur fruchtbare Äcker zu, sondern fügte in weiser Voraussicht auch [295] Geldmittel und Herden verschiedener Tiere hinzu, darüber hinaus auch große Mengen an üppigem Weizen, damit dem Boden das Getreide nicht fehle und den Bauern das Geld. Darius zwischen Alexander und den Verschwörern Bessus und Narbazanes (297–552) Alexander nimmt die Verfolgung des Darius wieder auf (297–310) Als der Kriegsheld mit Bedacht für diese Elenden gesorgt hatte, zog er nach Ergänzung der Truppen in das Gebiet der Meder. Er verfolgte Darius’ Spur in eiligem Lauf, [300] damit die Flucht der Perser nicht ausgerechnet jenen entführte, der als entscheidender Teil eines vollständigen Sieges noch übrig blieb, und drohte heftiger als ein Panther. Aber Belus’ Enkel war bereits nach Ebaktana, in die Hauptstadt Mediens, gekommen. Er hatte beschlossen, von dort aus in das Gebiet der Baktrer zu ziehen. Als er jedoch [305] gerüchteweise erfuhr, dass Alexander, gegen dessen raumgreifendes Heer offenbar keine Entfernung weit genug zu sein schien, ganz in der Nähe sei, änderte er gewandelten Sinns seinen Plan. Er traf alle Vorbereitungen für den Kampf und ordnete an, dass es ehrenvoller sei, in der Schlacht zu sterben, als ein Leben zu verlängern, [310] das schon so oft vom Schicksal bezwungen worden war.

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Unde viae comites paulo consistere iussos intuitus, “Si me ignavis sors equa laboris iungeret et mortem reputantibus” inquit “honestam, qualiscumque foret, pocius dicenda tacerem quam verbo vellem consumere tempus inani. Sed maiore fide quam vellem quamque decorum esset virtutis expertus robora vestrae, iam didici quam sit venerabile nomen amici, quam sincera fides sinceros inter amicos. Tot rebus monitus presumere debeo tantis me dignum sociis. De tot castrensibus ante unica Persarum superestis gloria, qui me bis profugum, victi bis principis arma secuti. Vestra fides stabilemque probans constantia mentem efficiunt ut non verear me credere regem, ut me Persis adhuc ausit regnare fateri. Qui pocius castris victi elegistis adesse victoris quam signa sequi, me iudice digni, si michi non liceat, pro me quibus etheris ille dignas rector aget grates quia non erit ulla nescia tam recti, tam non obnoxia iustis surdaque posteritas que vos non efferat equis laudibus in caelum, que non memoranda loquatur, que vos et meriti taceat preconia vestri. Vivere per famam dabitur post fata sepultis. Sola mori nescit eclypsis nescia virtus.

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Darius’ Rede an seine Soldaten (311–369) Und so richtete er den Blick auf seine Begleiter, denen er aufgetragen hatte, für einen Moment stehenzubleiben, und sagte: »Wenn mich dasselbe unglückliche Schicksal mit Feiglingen und Männern verbunden hätte, die den Tod grundsätzlich, wie auch immer er eintreten sollte, für ehrenhaft halten, würde ich das, was in dieser Lage gesagt werden muss, lieber verschweigen, [315] als mit nichtigen Worten eure Zeit zu verschwenden. Indem ich durch eure Treue, die jenseits meiner Erwartung liegt und das normale Maß weit überschreitet, die Festigkeit eures Mutes erleben durfte, habe ich gelernt, wie verehrungswürdig aufrichtige Freundschaft ist und wie wahrhafte Treue echte Freunde verbindet. [320] Durch solch ein so häufig gezeigtes Verhalten ermahnt, muss ich mich so großartigen Mitstreitern schon vorab als würdig erweisen. Von einst so vielen Soldaten bleibt ihr allein als der Stolz Persiens übrig; ihr seid mir, dem zweimal geflohenen König, gefolgt und habt euch dem Heer eines zweimal besiegten Königs angeschlossen. Eure Treue und Standhaftigkeit, die einen festen Charakter beweisen, [325] geben mir den Mut, mich weiterhin für euren König zu halten und unerschrocken zu gestehen, dass ich noch immer über die Perser herrsche. Da ihr euch dafür entschieden habt, lieber dem Lager des Verlierers beizustehen, als den Feldzeichen des Siegers zu folgen, habt ihr es meines Erachtens verdient, dass euch, wenn es mir nicht mehr möglich sein sollte, [330] jener Lenker des Himmels anstelle meiner Person einst angemessenen Dank abstattet. Denn die Nachwelt wird nicht so unwissend in der Beurteilung richtigen Verhaltens, nicht so feindlich gesinnt und taub gegenüber gerechten Taten sein, dass sie euch nicht mit angemessenem Lob in den Himmel höbe, nicht über Denkwürdiges spräche und die Lobpreisungen eurer Verdienste unerwähnt ließe. [335] Nur der Ruhm wird den begrabenen Helden nach dem Tod ein Weiterleben ermöglichen. Die Tugendhaftigkeit allein, außerstande unterzugehen, weiß die Zeiten zu

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Unde fugae latebras, quam semper abhorreo, quamvis molirer, virtute animi tantoque meorum consilio fretus, irem tamen obvius hosti. Exulat in regno Darius, sed quousque feretis cives quod patrio rex imperet advena regno? Aut michi defungi vita continget honesta aut revocare meas afflictis hostibus urbes et que perdidimus celeri reparare paratu. Arbitrium victoris an id censetis honestum, victus ut expectem Darioque precaria detur Mazei exemplo sola in regione potestas? Qui modo totius Asiae moderabar habenas, anne reservabor ad tantum dedecus ut sim gloria victoris, in regni parte receptus? Non erit ut capitis decus hoc aut demere quisquam debeat aut demptum michi se michi reddere iactet. Imperium vivus perdam: privabor eodem imperio vitaque die. Preciosa duobus mors Darium vita simul et diademate nudet. Si manet hic animus, socii, si mens ea vobis, nemo supercilium Macedum fastusque nefandos cogetur post fata pati. Sua dextera cuique aut modo finis erit aut ultio digna malorum. Ergo si superi pia bella moventibus absunt, si facinus reputant iustos defendere, saltim finis honestus erit, fortesque licebit honesto mortis more mori. Veterum per gesta parentum, per preciosa precor quondam preconia patrum, illustresque viros quibus hec subiecta tributum

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überdauern. Daher möchte ich im Vertrauen auf die Tugendhaftigkeit und den Rat der Meinen, obgleich ich schon an die Schlupfwinkel einer jederzeit verwerflichen Flucht gedacht habe, doch lieber gegen den Feind kämpfen. [340] Verbannt lebe ich in meinem eigenen Reich. Wie lange noch werdet ihr als meine Landsleute ertragen, dass ein fremder König über unser Vaterland herrscht? Entweder wird es mir gelingen, mein Leben ehrenhaft zu Ende zu bringen, oder meine Städte nach dem Sieg über die Feinde wiederzugewinnen und mit schneller Zurüstung zurückzuholen, was wir verloren haben. [345] Glaubt ihr etwa, dass es ehrenvoll für mich ist, besiegt auf das Urteil des Siegers zu warten, und dass mir nach Mazaeus’ Beispiel die Herrschaft über einen nur kleinen Teil des Reichs gnadenhalber zugestanden wird? Werde ich etwa, der ich eben noch die Zügel über ganz Persien in Händen hielt, für eine solche Erniedrigung aufgespart, dass ich zu [350] des Siegers Ruhm für nur einen Teil des Reichs als Provinzfürst eingesetzt werde? Keiner wird mir die Königskrone wegnehmen dürfen oder sich brüsten, mir diesen Diebstahl zu vergelten. Lebend soll ich mein Reich verlieren? Am selben Tag werde ich beidem, der Herrschaft und dem Leben entsagen. Ein kostspieliger [355] Tod wird mich des Lebens und der Krone zugleich berauben. Wenn ihr euch, Gefährten, diese Haltung und diese Gesinnung bewahrt, wird niemand von euch dann im Tode gezwungen sein, den Hochmut und den gottlosen Stolz der Makedonen zu erdulden. Die eigene Rechte wird jedem entweder in Kürze sein Ende bereiten oder eine dem erlittenen Unheil angemessene Möglichkeit zur Rache bieten. [360] Wenn also die Götter jenen, die gerechte Kriege führen, die Unterstützung verweigern, wenn sie es für eine Untat halten, gerechte Krieger zu verteidigen, wird wenigstens das Ende ehrenhaft sein, und es wird tapferen Männern erlaubt sein, einen ehrenvollen Tod zu sterben. Bei den Taten eurer ehrwürdigen Eltern, bei der einst prächtigen Verherrlichung eurer Vorväter bitte ich euch, [365] bei den ausgezeichneten Männern, denen die Makedonen als unterworfenes

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gens Macedum tociens et vectigalia solvit, obtestor, miles, ut dignos stemmate tanto concipias animos ut te contingat Olimpo teste vel egregia vinci vel vincere pugna.” Hactenus Arsamides, sed non excepit eodem verba cohors animo. Dictis quoque debitus ille defuit applausus quem persuadentibus audax reddere turba solet. Prestruxerat omnia verus ora timor donec Arthabazus, inter amicos regis precipuus, “Nos” inquit “in arma sequemur unanimes regem, nobisque erit exitus idem qui tibi, qui patriae.” Leto excepere loquentem assensu reliqui raucosque dedere tumultus, qualis in Egeo desperans navita ponto, in quem fluctivomus, fracta iam puppe, videtur coniurasse Nothus, socios solatur inertes dissimulansque metum comitum titubantia firmat pectora et invito parat ire per equora vento. At Bessus facinus iam premeditatus acerbum Narbazanesque suus, numeroso milite fulti, iam definierant Darium comprendere vivum ut si Magnus eos sequeretur, munere tanto

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Volk so oft Steuern und Tribut gezahlt haben, beschwöre ich euch, Soldaten, eine eurer trefflichen Abstammung entsprechende Haltung einzunehmen, damit es euch gelingt – die Götter mögen dafür als Zeugen dienen –, in einer herausragenden Schlacht entweder besiegt zu werden oder zu siegen.« Die Reaktion der persischen Soldaten (370–383) [370] So weit des Arsames Sohn. Die persischen Soldaten nahmen die Worte ihres Königs jedoch nicht alle mit Begeisterung auf. Auch fehlte den Worten jener verdiente Beifall, den eine mutige Schar, sollten jene überzeugend sein, zu spenden pflegt. Ein wirklicher Schrecken hatte alle Männer ergriffen, bis Artabazus, [375] einer der besten Freunde des Königs, sagte: »Wir werden dir einmütig in den Kampf folgen und dasselbe Ende erleiden wie du und das Vaterland.« Mit freudiger Zustimmung nahmen alle Artabazus’ Worte auf und spendeten dröhnenden Beifall. So ermutigt seine verzagten Gefährten ein im ägäischen Meer verzweifelt kämpfender Seemann, [380] gegen den sich der wogenspeiende Notus – das Heck ist bereits zerstört – verschworen zu haben scheint, nicht lässt er sich seine Angst anmerken, bestärkt die wankenden Herzen seiner Gefährten und beabsichtigt, das Meer auch gegen den Willen des Windes zu durchpflügen. Die Intrige des Bessus und des Narbazanes (384–424) Bessus jedoch, der zuvor schon an eine ruchlose Freveltat gedacht hatte, und [385] der mit ihm befreundete Narbazanes hatten, von zahlreichen Kriegern unterstützt, schon beschlossen, Darius lebend festzusetzen, um später, wenn Alexander sie verfolgen sollte, mit einem so großen Geschenk leichter die Gunst des Siegers erwirken

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commodius possent victoris inire favorem. Quod si preceleres evadere principis alas sors daret, auderent Dario regnare perempto et vires reparare novumque lacessere Martem. Narbazanes igitur, sceleri iam tempora nactus oportuna suo, “scio, rex, que dixero” dixit “displicitura tibi, nec erit sentencia cordi hec mea grata tuo, sed pregrave vulnus acerbo curatur ferro. Gravis est medicina dolenti. Asperior sanat graviores potio morbos, naufragiumque timens iactura sepe redemit navita quod potuit et dampnis dampna levavit. Scis quod amara geris adverso numine bella. Sors urgere tuos non desinit aspera Persas. Omnibus est temptanda modis fortuna, novisque est opus ominibus. Depone insignia regni ad tempus, bone rex. Alii concede regendam imperii summam, nomen qui regis et omen possideat donec Martis cessante procella, hostibus expulsis Asia, iusto tibi regi restituat regnum. Brevis expectatio facti huius erit. Tot Bactra dabunt totque India gentes ut maior belli moles, maiora supersint robora quam bello que sunt exhausta priori. Cur in perniciem palantes more bidentum irruimus? Fortis animi est contempnere mortem, non odisse tamen vitam sed amare virorum est. Degeneres et quos constat tedere laboris compelluntur ad hoc ut vitam ducere vile quid reputent. Quid mirum? Ignavo vivere mors est. Econtra nichil est quod fortis et ardua virtus

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zu können. Wenn es das Schicksal aber gestatten würde, den eilenden Scharen des makedonischen Königs zu entrinnen, [390] würden sie es wagen, nach Darius’ Ermordung die Herrschaft zu übernehmen, die Streitkräfte zu erneuern und einen neuen Krieg vom Zaun zu brechen. Narbazanes also, der glaubte, einen günstigen Zeitpunkt für sein Verbrechen vorgefunden zu haben, sagte: »Ich weiß, mein König, dass dir meine Worte missfallen werden und meine Meinung [395] bei dir auf Ablehnung stoßen wird, aber eine sehr schlimme Wunde wird nur durch ein scharfes Messer geheilt. Heftig ist eine Medizin für den Leidenden. Nur ein überaus heftiger Trank heilt schlimmere Krankheiten. Ein Seemann, den Schiffbruch befürchtend, hat schon immer möglichst viel über Bord geworfen und dadurch den Verlust durch Verluste gemindert. [400] Du weißt, dass du einen schmerzlichen Krieg ohne Unterstützung der Götter führst. Das widrige Schicksal hört nicht auf, deine Perser zu bedrängen. Auf jede erdenkliche Weise müssen wir unser Glück suchen. Neuer Vorzeichen bedarf es. Lege die Zeichen der Herrschaft rechtzeitig ab, gütiger König. Übertrage einem anderen [405] die Herrschaft über das Reich, der den Titel des Königs und günstige Vorzeichen besitzt, bis er dir, wenn sich der Sturm des Kriegs gelegt hat und die Feinde aus Asien vertrieben sind, die Herrschaft als dem rechtmäßigen König wieder zurückgibt. Folgende Ereignisse erwarten wir in Kürze: Baktra und Indien werden so viele Völkerschaften bereitstellen, [410] dass eine größere Kriegerschar und eine größere Kampfkraft vorhanden sein werden, als im bisherigen Krieg aufgerieben wurden. Warum rennen wir irregeleitet wie Schafe in unser Verderben? Ein Zeichen von Tapferkeit ist es zwar, den Tod zu verachten, das Leben jedoch nicht zu hassen, sondern zu lieben, kennzeichnet erst einen echten Mann. [415] Gewöhnliche Menschen und solche, die sich nicht plagen wollen, treibt es dazu, ein langes Leben für etwas Wertloses zu halten. Kein Wunder. Dem Feigling kommt das Leben vor wie der Tod. Nichts hingegen gibt es, was eine starke und hochragende Tugendhaftig-

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linquat inexpertum: movet omnia et omnia temptat. Tenditur ad mortem cum nil superesse videtur. Ultimus ad mortem post omnia fata recursus. Ergo age, rex, Besso, quem gratia temporis offert, ad presens committe tui moderamina regni ut tibi restituat accepto tempore sceptrum.”

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Hec ubi dicta, animo vix temperat ille benignus et paciens rector. “Iam te invenisse cruentum” inquit “mancipium funesti temporis horam comperio, facinus qua patraturus acerbum, in dominum servus Parcarum stamina rumpas!” Hec ait et stricto poterat mucrone videri occisurus eum nisi vultu supplice Bessus, indignantis habens speciem multoque suorum agmine stipatus, regem exoraret, eumque haut mora vinciret, nudum nisi conderet ensem.

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Tunc vero a reliquis metari castra seorsum precepere suis, at regi Artabazus irae consulit ut parcat, habeat pro tempore tempus. “Equa mente feras” ait “erroremve tuorum stulticiamve. Gravis et prematurus in armis instat Alexander. Blando retinendus amore est

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keit unversucht ließe: Alles bewegt sie und alles versucht sie. [420] Dann erst erstrebt sie den Tod, wenn es ihres Erachtens keinen Ausweg mehr gibt. Erst nach allen möglichen Unglücksfällen ist der letzte Ausweg der Tod. Also wohlan, mein König, übertrage Bessus, den uns die Gunst des Augenblicks anbietet, jetzt die Lenkung deines Reichs, damit er dir zu gegebener Zeit das Szepter zurückgibt.« Darius’ Reaktion auf die Intrige (425–434) [425] Nach diesen Worten konnte sich jener gütige und geduldige Herrscher kaum noch beherrschen und rief: »Grausamer Sklave, ich erkenne sehr wohl, dass du die passende Stunde für meinen Tod gefunden hast, in der du als Sklave eine Freveltat gegen deinen Herrn zu begehen beabsichtigst und mir den Lebensfaden durchtrennen willst.« [430] So sprach er und hätte mit gezücktem Schwert beinahe den Bessus getötet, wenn dieser nicht scheinbar empört und von einer großen Menge seiner Anhänger umgeben mit einer Geste der Demut den König besänftigt hätte. Ohne Zögern hätte Bessus den persischen König in Fesseln legen lassen, wenn dieser das blanke Schwert nicht auf der Stelle eingesteckt hätte. Der Rat des Artabazus an Darius (435–442) [435] Dann aber gaben Narbazanes und Bessus ihren Leuten den Befehl, abseits von allen anderen ein Lager aufzuschlagen, Artabazus gab dem König gleichwohl den Rat, seinen Zorn zu beherrschen und unter diesen Umständen die Lage zu überdenken. Folgendermaßen sprach er ihn an: »Ertrage mit ruhigem Herzen das Vergehen und die Dummheit deiner Männer. Wuchtig und waffenstarrend [440] naht Alexander bedrohlich. Mit gewinnender Liebe

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miles ne sanos turbet discordia sensus neve a rege suos alienent Bactra quirites.” Paruit Arsamides, superosque et fata secutus castra locat. Meror et desperatio, victis indivisa comes, animos illius obumbrat. In castris igitur, que iam rectore carebant, motus erat varius animorum. Proxima regi instabat funesta dies, nec, ut antea, regni dispensabat onus solus tentoria servans regia, pervigiles librans in pectore curas. At duo, conceptum iam mente cupidine regni tractantes facinus, agitabant pectore regem non nisi cum magno comprendi posse labore. Non mediocris enim timor et reverentia regum regnat apud Persas. Maiestas regia magni ponderis esse solet. Etiam gens barbara nomen regis inhorrescit, et quos in sorte secunda barbaries metuit, veneratur numine pressos: Vivit in adversis primae veneratio sortis. Cui semel exhibuit inpendit semper honorem. Et quia tanta fides et gratia regis in illa

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musst du jeden einzelnen deiner Soldaten dir gewogen erhalten, damit die Zwietracht nicht ihre unverdorbene Gesinnung trübt noch Baktra seine Bürger dem König entfremdet.« Darius’ verzweifelte Lage (443–450) Des Arsames Sohn folgte dem Rat des Artabazus. Den Göttern und dem Schicksal folgend bezog er sein Lager. Wehmut und Verzweiflung, [445] den Besiegten unzertrennliche Begleiter, belasteten den persischen König. Folglich schwankte die Stimmung im Lager, das keinen richtigen Anführer mehr hatte. Der unheilvolle Tag stand dem König unmittelbar bevor. Während er sich einsam im königlichen Zelt aufhielt, verteilte er nicht wie früher die Last des Regierens auf viele Schultern, [450] sondern wägte die wachen Sorgen in seiner Brust. Der listige Plan der Verschwörer (451–467) Als aber die beiden Verräter die aus Machtgier geplante Schandtat schon im Geiste bewegten, sorgten sie sich darum, dass der König nur mit großer Mühe gefangen genommen werden könne. Eine durchaus beachtliche Scheu nämlich und eine Ehrfurcht vor ihren Königen [455] herrschten im persischen Volk und die Erhabenheit des Königs hatte gewöhnlich eine große Bedeutung. Auch ein Barbarenvolk erschauderte vor dem Namen des Königs und einen Herrscher, den Barbaren in glücklichen Zeiten fürchteten, verehrten sie auch, wenn dieser vom Schicksal bedrängt wurde. In unglücklichen Zeiten lebte noch die Verehrung aus der glücklichen Anfangszeit seiner Herrschaft. [460] Wem sie einmal Achtung entgegengebracht haben, dem erwiesen sie immer die Ehre. Und da im Volk eine so große Treue zum König und eine so große Gunst

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gente, palam vel vi sine magna cede suorum non poterant Darium sceleris vincire ministri. Ergo dolis operam dare et excusare furorem decrevere suum, simulanti voce reverti ut decet, et tanti se penituisse reatus ficturos, extrema pati pro rege paratos. Crastinus amissum noctis caligine mundum reddiderat Tytan, et signum castra movendi iam dederat Darius. Aderant cum milite multo participes sceleris, caute pretendere docti officium sollempne foris speciemque sequendi principis imperium. Sed in alta mente latebat occultum facinus scelerisque protervia tanti. Sceptrum preradians et adhuc insignia regni gestabat Darius curruque micabat ab alto. Prona iacebat humi supplex veniamque precata sediciosa cohors, et sustinuit venerari tunc patricida ducem, quem post in vincula servus detrusurus erat, lacrimisque coegit obortis credere Belidem vultumque rigare senilem fletibus irriguis. Sed nec tunc fraudis amicos penituit sceleris cum certus uterque videret quam mitis naturae hominem regemque virumque falleret. Ille quidem securus et inmemor horae instantis, quam sors et servus uterque parabant,

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für diesen herrschten, hätten die Helfershelfer des Verbrechens Darius nicht vor aller Augen gewaltsam und ohne große Verluste unter den eigenen Männern in Fesseln legen können. Also beschlossen sie für sich, mit List vorzugehen [465] und ihre Wut zu entschuldigen, heuchlerisch Abbitte zu leisten, wie es sich geziemte, und vorzugeben, dass sie ihren Fehltritt sehr bereuten und dazu bereit seien, für den König das Äußerste zu ertragen. Die Durchführung der List (468–489) Die Morgensonne hatte die in das Dunkel der Nacht gesenkte Welt wieder ins Licht getaucht und schon hatte [470] Darius das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Eingefunden hatten sich mit einer großen Zahl an Soldaten auch die beiden Verschwörer, durchtrieben genug, aus Vorsicht die gewohnte Pflicht im Feld vorzuschützen und den Anschein zu erwecken, den Befehlen des Königs zu folgen. Doch tief im Herzen lebten im Stillen weiterhin die verborgene Tat und der Frevel eines so schlimmen Verbrechens. [475] Noch immer trug Darius das schimmernde Szepter und die anderen Zeichen der Herrschaft und erstrahlte von der Höhe des Wagens. Mit gesenktem Kopf lag die meuternde Schar flehend und um Gnade bittend am Boden, auch zu diesem Zeitpunkt noch heuchelte der Vatermörder gegenüber seinem Anführer, den später ein Sklave [480] in Fesseln legen würde, seine Ergebenheit. Er nötigte den persischen König, seinen hervorströmenden Tränen Glauben zu schenken und das alte Antlitz mit einem Tränenfluss zu benetzen. Aber auch jetzt nicht reute die Betrüger ihr schlimmes Verbrechen, obwohl beide unzweifelhaft erkannten, was für einen gütigen Menschen, König und Helden sie [485] täuschten. Jener freilich strebte, arglos den drohenden Zeitpunkt missachtend, den das Geschick und die beiden sklavenhaften Charaktere für ihn vorbereitet hatten, ausschließlich danach, Alexander und den makedo-

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Pellei Macedumque manus, que sola timebat effugere affectans, laxis properabat habenis maturare fugam finesque subire repostos. At Patron, Greci dux agminis, integer evo et stabilis fidei, Darii non fictus amicus, iam patricidarum comperta fraude, suorum milibus armatis pulchre circumdatus, ibat contiguus regi, fandique ut copia facta est, “Narbazanes” inquit “et Bessas, optime regum, insidias in te conceptas ense cruento effutire parant. Vitae tibi terminus ista lux erit aut illis. Nos ergo corporis esse custodes paciare tui. Tua precipe, dum res expetit, in nostris figi tentoria castris. Liquimus Europam, nec Bactra nec India nobis; arva laremque et spes in te congessimus omnes. Esse tui custos externus et advena numquam expeterem fierique tuae tutela salutis si tibi quemquam alium posse hoc prestare viderem.” Inclita Patronem servati gloria regis fecerat insignem. Si quis tamen hec quoque si quis carmina nostra legat, numquam Patrona tacebit Gallica posteritas. Vivet cum vate superstes gloria Patronis nullum moritura per evum.

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nischen Scharen, vor denen allein er sich fürchtete, zu entkommen. Er versuchte, mit lockeren Zügeln die Flucht zu beschleunigen und entlegene Gebiete zu erreichen. Das wohlmeinende Angebot des Griechen Patron (490–510) [490] Patron aber, Anführer eines griechischen Kontingents im persischen Heer, vom Alter unangetastet und anhaltend treu, Darius in wahrer Freundschaft verbunden, trat jetzt, vom Betrug der Mörder bereits in Kenntnis gesetzt und gänzlich umringt von Tausenden seiner bewaffneten Krieger, dicht an den persischen König heran. Als die Gelegenheit sich ergab, mit Darius zu sprechen, [495] sagte er: »Narbazanes und Bessus, bester König, treffen Vorbereitungen, den mit blutigem Schwert gegen dich geplanten Hinterhalt zu besprechen. Das Licht des heutigen Tages wird entweder für dich oder jene das Ende des Lebens bedeuten. Lass deshalb uns Griechen deine Leibwächter sein. Gib den Befehl, solange es die Situation [500] erfordert, dein Zelt in unserem Lager zu errichten. Wir ließen Europa zurück, weder Baktra noch Indien sind unser Zuhause. Unsere Hoffnung auf Äcker und Wohnsitze haben wir alle auf dich gesetzt. Fremd und von weither entstammend, würde ich niemals wünschen, dein Leibwächter zu sein und Beschützer deines Lebens zu werden, [505] wenn ich erkennen würde, dass irgendein anderer diese Aufgabe übernehmen könnte.« Die Ruhmestat, den Versuch unternommen zu haben, den König zu retten, hatte Patron berühmt gemacht. Wenn dereinst irgendeiner auch unser Gedicht lesen sollte, wird Galliens Nachkommenschaft Patron niemals verschweigen. Zugleich mit dem Dichter wird [510] Patrons Ruhm überleben und für alle Ewigkeit Bestand haben.

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Iam reor eterno causarum secula nexu non temere volvi. Nemo temeraria credat fortuitoque geri mundana negotia casu. Omnia lege meant quam rerum conditor ille sanxit ab eterno. Darius cum vivere posset consilio Graium, fati decreta secutus, “Quamquam nota satis expertaque sepius” inquit “sit michi vestra fides, numquam tamen a populari gente recessurus, nec ab his divortia queram quos tociens fovi. Satis est levius michi falli quam dampnare meos. Quicquid Fortuna iubebit, inter eos me malo pati quam transfuga credi. Si salvum iam me esse mei, si vivere nolint, iam sero pereo, iam mortem ultroneus opto.” Attonitus Patron et desperare coactus consilio regis ad Greca revertitur amens agmina, pro recto iustique rigore fideque cuncta pati promptus. Bessus patricida, Pelasgae ignarus linguae, tanti tamen ipse furoris conscius, occultum capit ex interprete verbum. Iamque peremisset Darium nisi crederet esse tucius ut vivum Pelleo traderet hostem. Quo potiore modo sperabat cedis amica

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Darius lehnt das Angebot des Griechen Patron ab (511–524) Ferner meine ich, dass die Jahrhunderte in ihrer ewigen Verbindung von Ursache und Wirkung nicht ohne Plan ablaufen. Niemand soll glauben, dass die Ereignisse auf Erden von ungefähr und durch blinden Zufall geschehen. Alles bewegt sich nach dem Gesetz fort, das jener Schöpfer der Welt [515] von Beginn an bestimmt hat. Obgleich Darius hätte weiterleben können, wenn er den Ratschlag der Griechen angenommen hätte, folgte er dem Beschluss des Schicksals und sagte: »Obwohl mir eure Zuverlässigkeit bekannt ist und von euch auch schon oft unter Beweis gestellt wurde, werde ich mich niemals von meinem eigenen Volk entfernen, und nicht werde ich die Trennung von denen suchen, [520] die ich so oft unterstützt habe. Sehr viel einfacher ist es für mich, getäuscht zu werden, als die eigenen Leute schuldig zu sprechen. Was auch immer das Schicksal gebietet, lieber will ich unter ihnen leiden, als für einen Überläufer gehalten zu werden. Wenn die Meinen eben jetzt nicht mehr den Wunsch haben sollten, dass ich weiterlebe, werde ich jetzt spät zugrunde gehen, werde ich jetzt freiwillig mir den Tod wünschen.« Der Verschwörer Bessus verunglimpft Patron (525–547) [525] Durch den Beschluss des Königs bestürzt und der Verzweiflung nahe, kehrte Patron verstört zur griechischen Abteilung zurück, entschlossen, alles für den wahrhaft unbeugsamen Sinn und die Treue des rechtmäßigen Königs zu ertragen. Doch der Mörder Bessus – zwar der griechischen Sprache nicht mächtig, doch selbst [530] Zeuge von Patrons leidenschaftlichem Ausbruch – gelangte durch einen Dolmetscher an die geheime Botschaft. Und schon hätte er Darius getötet, wenn er nicht der Meinung gewesen wäre, dass es sicherer sei, Alexander den feindlichen König lebend zu übergeben. Auf diese vermeintlich bessere Art hegten die blutrüns-

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contio victoris sibi conciliare favorem. Distulit ergo nefas in ydonea tempora noctis, noctis, quando solent patrari turpia, noctis, quando inpune placent que sunt de luce pudori, cum timor est audax et frons ignara ruboris. Tunc Dario Bessus grates agere et venerari ficta mente studet quod perfida verba dolosi vitasset lepido et pulchro sermone quiritis. Qui dum spectat opes, Macedum placare tyrannum hac regis cervice parat, funesta daturus munera. Nec mirum. Venalia constat habere omnia venalem et ductum mercede quiritem; vir sine pignoribus lare coniuge pauper et exul emptorum preciis ut circumfertur harundo. Annuit Arsamides, certus tamen omnia vera deferri a Grais, sed eo iam venerat ut res eque dura foret et plena pavoris et exspes, non parere suis et eis se credere nolle quam falli et gladiis caput obiectare suorum.

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tigen Verschwörer die Hoffnung, sich die Gunst des Siegers erwerben zu können. [535] Also verschob er die Freveltat auf die günstigen Stunden der Nacht, in der Schandtaten begangen zu werden pflegen, in der ungestraft Gefallen findet, was tagsüber nur Schande bereitet, wenn furchtsame Zurückhaltung sich erkühnt und das Gesicht nicht errötet. Daraufhin war es Bessus [540] mit tückischem Herzen darum zu tun, Darius Dank und Ehrfurcht entgegenzubringen, da dieser mit einer beeindruckenden und großartigen Rede den unredlichen Worten eines listenreichen Griechen nicht nachgegeben habe. Auf die Reichtümer Persiens schielend, schicke sich Patron schon an, den König der Makedonen mit Darius’ Kopf zu besänftigen, er sei schon im Begriff, ihm die blutige Gabe zu reichen. Kein Wunder. Bekanntlich halte ein bestechlicher Grieche, vom Sold geleitet, [545] alles für käuflich. Ein Mann ohne nahe Verwandte, Heim und Gattin, arm und heimatlos werde von der Belohnung der Auftraggeber wie ein Schilfrohr hin- und hergeworfen. Darius’ Schicksalsergebenheit (548–552) Des Arsames Sohn nickte zwar zustimmend, doch war er sich sicher, dass die Griechen die Wahrheit gesagt hatten. Doch war die Sache schon so weit gediehen, dass es [550] ebenso gewagt, erschreckend und hoffnungslos war, den Seinen nicht nachzugeben und sich ihnen nicht anvertrauen zu wollen, wie von den Seinen getäuscht zu werden und das eigene Haupt ihren Schwertern entgegenzuhalten.

Liber VII Capitula septimi libri Septimus in dominum servos liber armat et eius iusticiam ostendit tandemque in vincula trudit. Interea Darium vestigans Magnus abactos confecit sceleris confuso Marte ministros. Tunc demum Darius iaculis confossus in ipsa morte Polistrato, vivos dum quereret amnes, extremas voces et verba novissima mandat. Inventum Macedo corpus rigat ubere fletu ac sepelit. Rursus vulgi procerumque tumultus comprimit et rapido cursu bachatur in hostem.

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Septimus liber Restitit Hesperio merensque in littore Phebus defixis herebat equis, tristisque remissa luce retardabat venturae noctis habenas, et tantum visura nephas Latonia terris virgo morabatur roseos ostendere vultus. Sed lex eterno que colligit omnia nodo et sacer orbis amor, quo cuncta reguntur, utrumque corripuit iussitque vices explere statutas. Iamque vaporantem fumabat Thetios unda vorticibus clausura diem, requiemque petebat humanus cum sole labor. Sed pena manebat lugentem Darium, positusque in vespere vitae,

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Buch VII Themenübersicht (1–10) Das siebte Buch zeigt Sklaven, die sich gegen ihren Herrn Darius zum Kampf rüsten, bekundet dessen gerechten Sinn, und wie er zuletzt in Fesseln geworfen wird. Inzwischen besiegt Alexander auf der Suche nach Darius in einer verworrenen Schlacht die vertriebenen Handlanger des Verbrechens. [5] Zuletzt vertraut Darius, von Speeren durchbohrt, in seiner Todesstunde dem Griechen Polystratus – dieser sucht für sich gerade nach frischem Quellwasser – seine letzten Worte und seine letzten Gedanken an. Alexander benetzt den Körper des Toten mit zahlreichen Tränen und bestattet ihn dann. Erneut hemmt er den Aufruhr [10] der eigenen Krieger und Fürsten und rast dann in schnellem Lauf gegen den Feind. Die Verschwörung gegen Darius (1–90) Kosmische Zeichen künden von Darius’ Ende (1–16) Am westlichen Gestade hielt Phoebus betrübt inne und rührte sich, die Pferde regungslos haltend, nicht weiter vom Fleck. Auch Latonas jungfräuliche Tochter Diana hemmte bei schwindendem Licht traurig die Zügel für die kommende Nacht und zögerte, als künftige Zeugin eines so grausigen Verbrechens [5] ihr rosiges Antlitz zu zeigen. Aber das Gesetz, das alles in einem ewigen Band verknüpft, und die heilige kosmische Liebe, durch die alles gelenkt wird, ergriff beide und trug ihnen auf, ihr jeweiliges Amt zu versehen. Schon dampften die Wogen des Meeres, [10] im Begriff, mit ihren Strudeln den dunstigen Tag zu beschließen, und der Mensch suchte zugleich mit der untergehenden Sonne Erholung von seinem Tagwerk. Die Bestrafung stand dem trauernden Darius jedoch kurz bevor, am

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occasum facturus erat cum vespere mundi. Clauserat infelix tentoria, solus apud se de se consilians. Sed debile semper et exspes consilium miseri vitamque trahentis in arto. Et tamen hec secum: “Quos me, pater impie divum, distrahis in casus? Quo me parat alea fati perdere delicto? Superi, quo crimine tantas promerui penas, cui nec locus inter amicos et notos superest neque enim securus apud quos debueram dominus tutam deponere vitam? Sed sitit hanc animam manifesto sevior hoste inque senis iugulum parat arma domesticus hostis. Si fuit indignum tanto diademate cingi tociusque Asiae Darium ditione potiri, si male subiectos rexit, si iura tyrannus publica vel patrias temptavit solvere leges, si cives armis populumque tyrannide pressit, si cum in iudicio resideret censor iniquus, avertit surdas a causa pauperis aures, si partem iniustam corruptus munere fovit, si michi persuasit funesta Pecunia iustum vendere iudicium, si fundum tristis avitum et patrias vites per me sibi flevit ademptas

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Abend seines Lebens schon stehend, war er dabei, zusammen mit dem Schwinden des Tages das eigene Ende zu erleiden. Der unglückliche König hatte sein Zelt verschlossen, [15] allein bei sich selbst suchte er Rat über das weitere Vorgehen. Immer jedoch sind die Pläne eines unglücklichen Mannes, der sein Leben in einer misslichen Lage dahinschleppt, kraftlos und ohne jegliche Hoffnung. Darius im Selbstgespräch (17–58) Und doch dachte er bei sich: »In welch ein Ungemach, pflichtvergessener Vater der Götter, zerrst du mich da hinein? Für welch ein Vergehen schickt sich des Schicksals Würfel an, mich zu vernichten? Ihr Götter, für welch ein Verbrechen [20] habe ich eine so schwere Strafe verdient? Kein Platz mehr bleibt mir unter Freunden oder Gefährten, und nicht bin ich bei jenen sicher, denen ich mich als Herr normalerweise hätte gefahrlos anvertrauen dürfen. Wilder doch als der klar erkennbare auswärtige Feind trachtet der Feind in den eigenen Reihen mir nach dem Leben und legt das Messer an meine alte Kehle. [25] Wenn ich es vielleicht nicht wert war, mit einem so großartigen Diadem umwunden zu sein und mich der Herrschaft über ganz Asien zu bemächtigen, wenn ich die unterworfenen Völker schlecht regiert habe, wenn ich auf tyrannische Weise versucht habe, die heimischen Rechte und auch die Gesetze der Väter zu brechen, wenn ich die Bürger mit Waffengewalt und das Volk mit meiner Tyrannei unterdrückt habe, [30] wenn ich tatsächlich als ungerechter Richter im Gerichtssaal saß und der Sache eines Armen die tauben Ohren verschlossen habe, wenn ich, von einem Geschenk bestochen, die unrechte Seite begünstigt habe, wenn mich die verderbliche Pecunia dazu gebracht hat, ein gerechtes Urteil aufzuheben, wenn ein enterbter Sohn voller Gram beweint, dass ihm der angestammte Boden [35] und die vom Vater ererbten Weinreben von mir entrissen wurden, wenn ich mit verdorbenem

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filius exheres, si iura fidemque perosus in stadio mundi non munda mente cucurri: Iam mortem merui, fati non deprecor horam. Iam satis est, superi, vestro quod munere vixi. 40 Crudescant Furiae Besso, deseviat in me Narbazanes, gelidoque senis perfusa cruore tota domus iustas compescat numinis iras. Sed si iusticiae cultor, si iura secutus nil egi nisi quod rationis litera dictat 45 in quantum natura sinit petulansque nocive conditio carnis, gladios removete clientum a domini iugulo: prosit vixisse per evum innocue Darium, mors convertatur in illos qui meruere mori, liceat michi vivere, prosit 50 simplicitas iusto, noceatque nocentia sonti. Quod si fixa deum manet imperiosa voluntas, si michi fatorum series immobilis auras vitales auferre parat, vitamque coartans Atropos incisum maturat rumpere filum, 55 cur alii liceat de me plus quam michi? Vel cur Narbazani servatus ero subtractus Achyvis? Numquid adhuc sanguis, numquid michi dextera, numquid ensis ut hanc dubitem fatis absolvere vitam?” Sic ait, et gelido terebrasset viscera ferro, sed spado qui solus aderat tentoria planctu castraque commovit. Dehinc irrupere citati

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Geist voll Hass gegen Recht und Gesetz so mein irdisches Dasein durchlaufen habe: Dann habe ich den Tod wirklich verdient und erbitte keinen Aufschub für mein Ende. Dann reicht die Zeit wirklich aus, die ich aufgrund eurer Gnade, ihr Götter, gelebt habe. [40] Dann soll Bessus noch schlimmer ergrimmen, dann soll Narbazanes gegen mich wüten und triefend von meinem kalten verbrauchten Blut mein ganzes Geschlecht den gerechten Zorn der Gottheit besänftigen. Aber wenn ich die Gerechtigkeit hochgehalten habe, wenn ich dem Recht folgend – [45] soweit die menschliche Natur und der anstößige Zustand des schädlichen Fleisches dies zulassen – nur das getan habe, was die Vernunft uns Menschen ausdrücklich vorschreibt, dann entfernt die Schwerter der Handlanger von der Kehle ihres Herrn: Möge es mir jetzt von Nutzen sein, mein ganzes Leben ohne Schuld zugebracht zu haben. Der Tod soll sich denen zuwenden, die es zu sterben verdient haben. Mir möge es erlaubt sein, weiterzuleben. [50] Redlichkeit nütze dem Gerechten, eine aufgeladene Schuld schade dem Schuldigen. Wenn aber der mächtige Wille der Götter unverrückbar feststeht, wenn mir die unerschütterliche Abfolge des Schicksals den Lebensatem zu rauben gedenkt und Atropos, mein Leben verkürzend, eilig den bereits eingerissenen Faden zerschneiden möchte, [55] warum soll es dann einem anderen mehr als mir selbst gestattet sein, mein eigenes Schicksal zu bestimmen? Warum werde ich – den Griechen entzogen – für Narbazanes am Leben gehalten? Fehlt mir etwa die Kraft, fehlt mir etwa die Rechte, fehlt mir etwa das Schwert, dass ich zögere, mein Leben mit dem Tod zu vollenden?« Darius wird in Ketten gelegt und verschleppt (59–90) So sprach er. Und mit dem kaltem Schwert hätte er seine Eingeweide durchbohrt, [60] doch der Eunuch, der als einziger bei Darius war, schreckte die Zelte und das Lager mit lautem Gezeter auf.

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cum lacrimis alii, regem cecidisse gementes. Barbarus in castris ululatus, et icta tremendo rura fragore sonant, tremulusque reliditur aer. Nec capere arma sui, gladios ne forte clientum incurrant, audent. Sed ne videantur inique deseruisse ducem, monet arma capescere Persas cum pietate fides. Sed vicit terror utrumque, exclusitque potens reverentia mortis honestum. Ecce per attonitos rapientes agmina Persas, sacrilegi comites strictis mucronibus assunt irrumpuntque aditus, et circumstantibus ense dispersis, regem, quem iam exspirasse putabant, vinciri faciunt. Proch quanta licentia fati, quam vaga que versat humanos alea casus! Quem prius aurato curru videre sedentem et tremuere sui, iam non suus, ille suorum vincitur manibus et in arta sede locatur, captivumque trahit currus angustia regem. Attamen ut regi saltim pro nomine nullus non habeatur honos, vinciri precipit aureis compedibus dominum truculentior aspide servus. Regia diripitur ceu belli iure supellex, utque avidos pressit inventa pecunia currus, per scelus extremum partis iam rebus honusti intendere fugam. Quo tenditis agmine facto Eoum facinus, scelerum fraudisque ministri? Que vos terra feret? Ubi tanti tuta latebit

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Daraufhin stürzten die anderen hastig und unter Tränen in des Königs Zelt und beklagten dessen vermeintlichen Tod. Wildes Geschrei erfüllte das Lager, von schrecklichem Getöse erschüttert erdröhnten die Gefilde, die bebende Luft hallte wider vom Echo. [65] Darius’ Männer wagten es nicht, zu den Waffen zu greifen, um nicht in die Schwerter der beiden Verschwörer zu laufen. Um nicht den Eindruck zu erwecken, ihren König schmählich im Stich gelassen zu haben, mahnten zwar Redlichkeit und Pflichtbewusstsein die Perser, zu den Waffen zu greifen, doch über beide Tugenden siegte die Angst, und die mächtige Furcht vor dem eigenen Tod verhinderte ein tugendhaftes Verhalten. [70] Da nahten mit gezückten Schwertern die gottlosen Verräter und trieben ihre eigenen Männer durch die furchtsam erstarrten Perser hindurch. Sie stürmten den Eingang des königlichen Zelts, trieben die anderen, die anwesend waren, mit Waffengewalt auseinander und ließen den bereits tot geglaubten König in Fesseln legen. Ach, wie groß ist die Willkür des Schicksals, [75] wie schwankend der Zufall, der das Los der Menschen plötzlich in eine andere Richtung lenkt! Derselbe König, den das persische Volk früher voll Ehrfurcht auf einem goldenen Wagen einherfahren sah, wurde nun, nicht mehr Herr seiner selbst, durch die Hände der Seinen in Fesseln gelegt und auf einen schmalen Schemel gesetzt, dann verschleppte ein eng bemessener Karren den gefangenen König. [80] Um jedoch ihrem König wenigstens scheinbar nicht jegliche Anerkennung zu entziehen, befahl der sklavenhafte Verräter – schlimmer als eine Viper – ihrem Herrn die Füße mit Fesseln aus Gold zu binden. Der Hausrat des Königs wurde gleichsam nach Kriegsrecht geplündert. Als der einmal entdeckte Schatz die gierigen Wagen beschwerte, wandten sie sich, [85] beladen mit der verbrecherisch erworbenen Beute, zur Flucht. Wohin breitet ihr geschlossenen Zuges euer orientalisches Verbrechen aus, ihr Diener von Betrug und Verbrechen? Welcher Landstrich wird euch noch ertragen? Wo wird sich ein so gewaltiger Verrat sicher

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inpostura mali? Quis tuto ducere vitam sub servo poterit domini sitiente cruorem? Interea, summis accincto milite rebus, vestigans rapido Darii vestigia cursu terrarum domitor Ebactana cingere facta obsidione parat profugumque capescere regem et delere armis eversam funditus urbem extremamque manum longis imponere bellis. Cum tamen audiret Darium movisse fugaeque intentum celeri liquisse Ebactana, ceptum haut mora flectit iter et Persidis arva relinquens insequitur profugos, animi calcaribus actus. Et quia tendentem famae vulgaverat aura in Mediam Darium, dehinc Bactra subire volentem, in Mediam transire parat. Sed certior ipsum nuncius avertit, retrusum in vincula regem affirmans seriemque rei pulchro ordine pandens. Horruit auditis Macedo, ducibusque citatis “Est brevis iste labor et premia magna laboris qui superest, socii. Darium non hinc procul” inquit “destituere sui vinctumque suprema reservant

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verbergen? Wer wird noch in Sicherheit leben können, [90] wenn ein Sklave gebietet, der nach dem Blut seines Herrn lechzt? Alexander verfolgt Darius (91–378) Die Schnelligkeit und die Handlungsschnelligkeit Alexanders (91–105) In raschem Lauf Darius’ Spuren folgend, plante unterdessen der Bezwinger der Erde – das Heer war für die letzte Entscheidung gerüstet – Ekbatana mit einem Belagerungsring zu umgeben, den flüchtigen König entschlossen zu ergreifen, [95] die Stadt mit seinen Truppen dem Erdboden gleichzumachen und den langen Krieg endgültig zu beenden. Als ihm jedoch zu Ohren kam, dass Darius weitergezogen war und – auf eine schnelle Flucht bedacht – Ekbatana bereits wieder verlassen hatte, änderte er unverzüglich seine schon eingeschlagene Route, verließ die Region Persis und [100] verfolgte entschlossen die Flüchtigen. Und da das Gerücht umging, Darius habe sich nach Medien gewendet und wolle sich von dort aus nach Baktra absetzen, traf er Vorbereitungen, ebenso nach Medien hinüberzuwechseln. Doch ein glaubwürdiger Bote, der den Ablauf der Ereignisse in trefflicher Ordnung schilderte und ihm versicherte, [105] Darius sei in Fesseln gelegt worden, brachte ihn von diesem Plan wieder ab. Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten (106–127) Mit Schrecken nahm Alexander die Botschaft zur Kenntnis, rief die Anführer zusammen und sagte Folgendes: »Nur noch kurz, meine Freunde, ist die Mühsal, groß jedoch ist der Gewinn. Nicht weit von hier wurde Darius von den Seinen verraten und in Fesseln

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ad mala fortunae, finem metamque malorum. Aut iam succubuit fatis aut munere vitae invitus fruitur. Piger ergo citatius equo castigandus equus, et precipitandus in hostem est gradus, afflicto vitam donemus ut hosti. Non minus est, postquam cepit miserabilis esse, parcere confracto quam frangere posse rebellem.” Applaudunt proceres responso regis et instant, seque secuturos per summa pericula spondent. Ergo inito cursu mundi fatale flagellum agmen agit Macedo, sompnoque medente diurnum non relevat fessis requies nocturna laborem. Talis in adversos Iovis irruit ira Gygantes, fulmine quem dextram fingunt armasse poetae. Cum iam centimanus caelo nodosa Typheus brachia porrigeret, Martem flammare videres, Pallada vipereos clipeo pretendere vultus, telaque fatali spargentem Delion arcu. Ventum erat in vicum stellis nascentibus in quo vinxerat Arsamidem furiato pectore Bessus. Occurrere duo qui, prodigiale perosi flagicium Bessi, patricidarum comitatu tutius esse putant Macedum se iungere castris. His ducibus Macedo brevius iam deside Phebo est aggressus iter. Incedens ergo quadrato agmine, sic cursum moderatur ut ultima primis

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[110] für das schlimmste Unheil des Schicksals zurückbehalten, dem Ende und Ziel aller Leiden. Entweder ist er schon tot oder er genießt nur noch unwillig das Geschenk des Lebens. Also müssen wir unsere langsamen Pferde mehr als gebührlich zur Schnelligkeit anspornen und uns auf unsere Feinde stürzen, um dem verzweifelten feindlichen König das Leben zu erhalten. [115] Nicht weniger ist es wert, einen ob seines Niedergangs beklagenswerten Mann zu verschonen, als einen rebellischen Mann zu zerschmettern.« Die Anführer spendeten der Rede ihres Königs Beifall, drängten nach vorne und gelobten, ihm auch unter größten Gefahren zu folgen. Also trieb Alexander, die Schicksalsgeißel der Welt, [120] sein Heer leidenschaftlich voran. Nicht linderte nächtliche Ruhe den erschöpften Männern die Mühsal des Tages mit heilendem Schlaf. So bahnte sich einst Jupiters Zorn den Weg mit dem Blitz zu den feindlichen Giganten, den er nach Auskunft der Dichter kampfestüchtig in seiner Rechten hielt, als der hunderthändige Typhoeus seine knotigen Arme [125] schon gen Himmel streckte und man sehen konnte, wie Mars in Flammen stand, wie Pallas mit ihrem Schild das Schlangengesicht im Kampf nach vorne streckte und wie Apollon mit seinem tödlichen Bogen Pfeile abschoss. Alexander erreicht das Lager der Verschwörer (128–174) Als schon die ersten Sterne am Himmel zu sehen waren, war man in jenes Dorf gekommen, in welchem Bessus wütenden Herzens des Arsames Sohn in Fesseln gelegt hatte. [130] Dort liefen ihnen zwei Männer entgegen, die voll Hass auf Bessus’ ungeheuerliche Schandtat der Meinung waren, dass es sicherer sei, sich dem makedonischen Lager anzuschließen, als sich unter Mördern aufzuhalten. Mit deren Hilfe war der makedonische König bei einbrechender Dunkelheit in der Lage, eine Abkürzung zu nehmen. In geschlossener Ordnung marschierend, [135] passte er die Marschgeschwindig-

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coniungi possit acies. Iam Delius equis disticiis ab utraque domo distabat, et ecce vivere adhuc Darium Brocubelus, transfuga regi, et tantum stadiis affirmat abesse ducentis. “Sed caveatur” ait “ne sic exercitus iste aut incompositus eat aut incurrat inermis armatas acies. Patricidas acrius armat in cedem facinus, ubi desperatio nullum iam veniae superesse locum sub pectore clamat.” Hiis super accensi proceres, maiorque sequendi crevit Alexandro servilia castra cupido. Ergo fatigati laxis fodiuntur habenis et gravius solito stimulos audire iubentur quadrupedes sumptisque volant per inania pennis. Iam sonus audiri strepitusque fragorque rotarum ceperat a Grais, et pars adversa videri posset ab adversis nisi pulveris horrida nubes intuitum eriperet. Paulo subsistere Grecos iussit Alexander donec cessante procella pulveris hostiles possent cognoscere turmas. Bessus ut obliquum sedato pulvere lumen flexit et aerii de vertice montis anhelos vidit adesse viros, armorum luce quirites fulgere, et peditum ferro livere catervas, horruit aspectu, et gelido labefacta pavore pectora monstriferae tremuerunt conscia culpae. Econtra Macedum viso gens aspera Besso accelerat gressum fusoque per ardua cursu estuat inparibus concurrere viribus hosti. Nam si tantum animi tantumque vigoris haberet ad bellum Bessas et Martis munera quantum

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keit so an, dass die letzte Schlachtreihe mit den vorderen Reihen mithalten konnte. Inmitten der Nacht meldete der persische Überläufer Brocubelus, dass Darius noch am Leben und nur zweihundert Stadien entfernt sei. [140] »Hütet euch jedoch davor«, so riet er den Griechen, »unter solchen Umständen das Heer ungeordnet schreiten zu lassen oder schlecht gewappnet auf die bewaffneten feindlichen Linien zu treffen. Noch heftiger rüstet die Schandtat Mörder zum Kampf, sobald die Verzweiflung in ihrem Herzen beklagt, es bleibe ihnen kein Ort mehr der Gnade.« [145] Von diesen Worten ließen sich die griechischen Anführer noch weiter anstacheln, noch heißer spürte auch Alexander das Verlangen, das Lager der Sklaven zu erreichen. Also spornte man mit lockeren Zügeln die müden Pferde und ließ sie härter als sonst den Stachel verspüren. Gleichsam auf Flügeln schienen sie durch die Lüfte zu fliegen. [150] Schon konnten die Griechen den Lärm und das Dröhnen und auch das Rattern der Räder hören. Die feindlichen Abteilungen hätten sich gegenseitig sehen können, wenn nicht eine gewaltige Staubwolke die Sicht behindert hätte. Alexander erteilte seinen Leuten den Befehl, für kurze Zeit innezuhalten, bis die aufgewirbelte Staubwolke sich gelegt hätte [155] und sie die feindlichen Scharen erkennen könnten. Als Bessus den Blick zur Seite hin wendete – die Staubwolke hatte sich inzwischen verzogen – und von einer luftigen Anhöhe aus sehen konnte, wie schnaubende Männer anrückten, die Generäle im Glanz ihrer Waffen erstrahlten und die Fußsoldaten durch ihre Schwerter bleifarben glänzten, [160] fuhr ihm bei diesem Anblick der Schreck in die Glieder und es bebte – der furchtbaren Schuld sich bewusst – sein von nacktem Entsetzen ergriffenes Herz. Im Unterschied dazu beschleunigten die wild entschlossenen Griechen ihren Schritt und brannten darauf – das steile Gelände in rasendem Lauf erklimmend –, sich trotz ungleicher Kräfte auf die Feinde zu stürzen. [165] Wenn Bessus nämlich so viel Mut und so viel Kraft für den Krieg und den Kriegsdienst aufgebracht hätte wie zum Verbrechen, wenn er in der

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ad facinus, tantumque valeret in agmine, quantum in gestu sceleris et proditione valebat, Pellei poterat Macedumque retundere vires ulciscique Asiam. Nam Bessi castra sequentes barbarici tantum prestabant robore quantum et numero Grais, sompnoque cibisque refecti, magna fatigatis pugnae documenta daturi, viribus alternam multum conferre quietem. Sed Macedum terror et formidabile terris nomen Alexandri, momentum non leve bellis, avertit pavidos et desperare coegit vinci posse viros. Fugit indignantibus armis sediciosa cohors, versisque in pectora dorsis, degeneres rapuere fugam. Tunc vero nefandi participes operis, accincti pectore toto ad scelus extremum, Darium descendere curru utque alacer conscendat equum vitamque laboret conservare fuga monitis hortantur et instant. Ille venenosos monitus et dicta repellit, ultoresque deos testatur adesse, fidemque acris Alexandri lacrimis implorat obortis, seque negat scelerum comitari velle clientes. “Nullus” ait “mortis metus aut violentia fati compellet Darium scelerum se iungere castris. Non habet ulterius quod nostris cladibus addat

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Schlacht so viel hätte bewirken können wie als Übeltäter und Verräter, dann wäre er auch in der Lage gewesen, Alexanders griechische Streitmacht zurückzuschlagen [170] und Asien zu rächen. Denn die Barbaren, die dem Lager des Bessus folgten, waren den Griechen sowohl an Kampfkraft als auch an Zahl weit überlegen. Durch Speise und Schlaf erholt, wären sie eigentlich in der Lage gewesen, ihren müden griechischen Feinden eine empfindliche militärische Lektion zu erteilen, dass abwechselnde Ruhezeiten unter den Soldaten für die Schlagkraft der Truppe sehr förderlich sind. Die Flucht der Verschwörer und Darius’ Ermordung (175–209) [175] Aber die Angst vor den Griechen und der überall auf dem Erdkreis Schrecken hervorrufende Name des makedonischen Königs – in kriegerischen Auseinandersetzungen ein oft ausschlaggebender Faktor – brachte die ängstlichen Perser zum Weichen und nötigte sie, die Hoffnung aufzugeben, die Feinde besiegen zu können. Die Bande der Verschwörer machte sich mit widerstrebenden Waffen davon, die verkommenen Gestalten drehten den Griechen den Rücken zu [180] und ergriffen die Flucht. Doch jetzt drängten die Helfershelfer der gottlosen Tat – fest entschlossen zur schlimmsten aller möglichen Schandtaten – Darius dazu, vom Wagen zu steigen, und forderten ihn mit harschen Kommandos auf, sich schnell auf sein Pferd zu schwingen, alle Kräfte zu mobilisieren und sein Leben durch Flucht zu retten. [185] Jener wies die arglistigen Worte und heuchlerischen Ermahnungen zurück, rief die Götter zu Zeugen, dass die griechischen Rächer schon nahe seien, erflehte unter Tränen den Beistand des energischen Makedonen und lehnte es ab, die Mörderbande weiterhin zu begleiten. »Weder Furcht vor dem Tode«, so sprach er, »noch Tücke des Schicksals [190] werden mich nötigen können, dem Lager der Verräter mich anzuschließen. Fortunas Schwert vermag meinem Unheil kein wei-

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Fortunae gladius, mors, quam patricida minatur, antidotum meroris erit, mortisque venenum pro medicamentis curaque laboris habebo.” His super accensi patricide corde sub alto concipiunt bilem dominumque patremque cruentis confodiunt iaculis et in ipsum grandinis instar spicula coniciunt. Quem tandem vulnere multo pectora confossum sparsumque cruore relinquunt. Et fugitiva sequi ne longius agmina possint, curribus assuetos iuga regia ferre iugales afficiunt telis gladiisque, duosque clientes, quos habuit comites in vita, mortis eidem esse iubent socios et eodem funere mergunt. Quo facto ut tanti lateant vestigia monstri, divisere fugam. Festinat Bactra subire Bessus, Narbazanes Hyrcanos visere saltus. Dispersi fugiunt alii vel quos metus urget vel spes in dubiis semper comes optima rebus. Quingenti tantum se collegere quirites, qui pro iusticia patriaeque iacentis honore elegere mori Macedumque resistere turmis, vel quia sperabant armis extendere vitam vel quia turpe fuit regi superesse perempto. Dum tamen ancipiti sermonum barbara motu diffinit legio meliusne sit hoste propinquo dedere terga fugae Graisve opponere pectus,

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teres Leid hinzuzufügen. Der Tod, mit dem mich die Verschwörer bedrohen, wird ein Gegenmittel sein für den Kummer, das Gift des Todes werde ich als Heilmittel und Balsam für die erlittenen Qualen betrachten.« [195] Ob dieser Worte vor den Kopf gestoßen, fühlten die Verräter tief in ihrer Brust schlimmen Verdruss, durchbohrten ihren König und Vater mit blutigen Spießen und schleuderten gleich einem Hagelschlag Speere auf diesen. Schließlich ließen sie ihn – an der Brust von zahlreichen Wunden lebensgefährlich verletzt – blutbefleckt liegen. [200] Und damit das Pferdegespann, längst gewohnt, am Wagen das prächtige Kummet zu tragen, dem fliehenden Haufen nicht länger folgen konnte, verletzten sie auch dieses mit Speeren und Schwertern. Zugleich bestimmten sie zwei Gefolgsleute des Königs, im Leben ihm treu ergeben, im Tod ihm zu folgen, und stürzten sie in dasselbe Verderben. Danach flohen sie auf getrennten Wegen, [205] um die Spuren dieser gewaltigen Schandtat zu verwischen. Auf schnellstem Wege nach Baktra entkommen wollte Bessus, in die Wälder Hyrkaniens eilte Narbazanes. Alle anderen flohen versprengt, von der Furcht getrieben oder auch von der Hoffnung, in schwierigen Lebenslagen immer der beste Rückhalt. Die Schlacht gegen die verbliebenen Perser (210–239) [210] Nur fünfhundert Krieger, die es vorzogen, für Recht und Ehre des am Boden liegenden Vaterlandes zu sterben und dem griechischen Heer Widerstand zu leisten, scharten sich zusammen, entweder weil sie die Hoffnung hatten, mit einem siegreich geführten Kampf ihr Leben zu verlängern, oder weil sie es als Schande empfanden, ihren zu Tode gebrachten König zu überleben. [215] Während die Schar der Perser im Gespräch noch mit sich zurate ging, ob es besser sei, vor dem nahenden Feind zu fliehen oder sich den Griechen im Kampf zu stellen, da erschien überraschend das grie-

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ecce triumphantis animi pernicibus alis vecta supervenit Macedum manus. Omnibus arma, omnibus et vires, et Marcius omnibus ardor. Iam fragor et belli rursus novus ingruit horror, nec timido fuga nec prodest audacia forti: Ceduntur fortes, timidi capiuntur. Et ecce, res indigna fide, dictu mirabile, plures captivi quam qui caperent, numerumque ligantum predonumque gravis excessit copia predae. Non magna sine laude tamen cecidere rebelles, adversae partis clari ter mille quirites. Nec cedis rancor nec funeris ira quievit donec Alexandro gladii revocante furorem cedibus abstinuit cedi devota iuventus. Tunc vero intactum pecudum de more superstes agmen agebatur, nec erat vestigia toto agmine qui Darii Grais ostendere posset. Singula scrutantur Persarum plaustra nec usquam dedecus inveniunt fati regale cadaver. Regis enim trito deserto calle iugales, pectora confossi iaculis, in valle remota constiterant, mortem Dariique suamque gementes. Haut procul hinc querulus lascivo murmure rivus labitur et vernis solus dominatur in herbis. Patrem rivus habet fontem qui rupe profusus purus et expressis per saxea viscera guttis

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chische Heer, getragen von schnellen Flügeln eines siegesgewissen Geistes. Ohne Ausnahme waren alle Griechen gewappnet, [220] waren alle entschlossen und war jeder erpicht auf die Schlacht. Schon wieder brach ein Getöse und ein neues Grauen des Kriegs los, und nicht half dem Feigling die Flucht noch dem Kühnen Beherztheit. Die Kühnen wurden niedergestreckt, die Feiglinge gefangen genommen. Und da geschah etwas schier Unglaubliches, erstaunlich zu sagen: [225] Mehr Gefangene gab es als jene, die Gefangene machten, und die große Zahl wertvoller Beutestücke überstieg die Anzahl jener, welche die Beutestücke zusammenrafften. Dennoch fielen – nicht ohne sich strahlenden Ruhm zu erwerben – auf Seiten des Feindes dreitausend widerspenstige Kämpfer, glänzende persische Krieger. Nicht ruhte der blutige Groll und das tödliche Rasen, [230] bis Alexander seinem wütenden Schwert Einhalt gebot und demzufolge seine dem Mord ergebenen Männer vom Morden abließen. Darauf trieb man die unverletzt gebliebene Meute der überlebenden Perser wie Vieh zusammen, doch gab es unter ihnen keinen, der den Griechen einen Hinweis auf Darius’ Verbleib geben konnte. [235] Die Wagen der Perser wurden einzeln durchsucht, doch konnten die Griechen – was für ein übler Streich des Schicksals – den königlichen Leichnam nirgendwo finden. Das Gespann des Königs war nämlich, den üblichen Weg verlassend und die Brust mit Spießen durchbohrt, in einem entlegenen Tal, des Darius Tod und das eigene Ende beklagend, zum Stehen gekommen. Darius’ letzte Botschaft an Alexander (240–305) [240] Nicht weit von dort floss mit munterem Plätschern ein sanft sprudelnder Bach dahin und ließ die Frühlingsgewächse erblühen. Der Bach besaß seinen Ursprung in einer Quelle, die nach ihrem engen Weg durch das felsige Innere aus einer Steinwand hervorbrach, um im weiteren Lauf ungetrübt dahinzufließen und den tro-

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liquitur et siccas humectat nectare glebas. Ad quem vir Macedo post Martem fessus anhelo ore Polistratus sitis incumbente procella ductus, ut arentes refoveret flumine fauces, curriculum Darii vitam exhalantis opertum pellibus abiectis iumentaque saucia vidit. Vidit et accedens confossum vulnere multo invenit Darium turbatum lumina, mortis inter et extremae positum confinia vitae, cumque rogaretur Indo sermone quis esset, gavisus, quantum perpendi ex voce dabatur, “Fortunae presentis” ait “mortisque propinquae hoc unum Dario et solum solamen habetur quod tecum michi non opus est interprete lingua, quod loquor extremum discretis auribus, et quod non erit extremas incassum promere voces. O quam grata michi Macedum presentia regis esset ut audiret me tam pius hostis et eius colloquio fruerer ut mutua verba serendo sedaret veteres belli brevis hora querelas. Quem quia fata negant, hec, quisquis es, accipe, et ista perfer Alexandro: post tot certamina Magni debitor intereo multumque obnoxius illi quod matrem Darii prolemque modestus et irae inmemor hostilis clementi pectore fovit, quod non hostilem qualem decet esse tyranni sed regalem animum victis vultumque serenum exhibuit victor hostique fidelior hostis quam noti civesque mei. Donata per illum vita meis. Vitam michi surripuere propinqui, regna quibus vitamque dedi. Miserabile dictu,

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ckenen Boden mit ihrem köstlichen Nass zu befeuchten. [245] Als es Polystratus, einen der Griechen, vom Kampf erschöpft und von heftigem Durst gequält, mit keuchendem Mund zu diesem Bach hinzog, um die ausgedörrte Kehle mit dem Wasser zu erfrischen, erblickte er den achtlos mit Fellen bedeckten Wagen des Darius – der persische König war dem Tod bereits nahe – und das verwundete Pferdegespann. [250] Als Polystratus sich dem Wagen und dem Pferdegespann näherte, erblickte und fand er den persischen König, als dieser sich schon, verstört blickend und von zahlreichen Wunden durchbohrt, an der Schwelle zum Tod befand. Darius, in persischer Sprache nach seiner Person befragt, sagte, soweit noch verständlich, voll Freude Folgendes: [255] »Bleibt mir doch wenigstens als einziger Trost im jetzigen Unglück und im anstehenden Tod, dass ich dir gegenüber keinen Dolmetscher benötige, ich meine letzten Worte deinen Ohren allein anvertrauen kann und diese nicht umsonst von mir geben werde. [260] Ach, wie willkommen wäre mir gerade in diesem Augenblick die Anwesenheit des makedonischen Königs, damit mein so gütiger Feind meine letzten Worte vernimmt und ich mich an der Unterredung mit diesem erfreue, auf dass im Laufe des gemeinsamen Gesprächs die flüchtige Stunde die alten Kriegsstreitigkeiten beizulegen vermag. Da mir jedoch das Schicksal die Begegnung mit diesem verwehrt, vernimm, wer auch immer du bist, folgende Worte [265] und berichte Alexander davon: Nach so vielen Schlachten sterbe ich nun, stehe dabei in seiner Schuld und bin ihm zu tiefem Dank verpflichtet, da er meine Mutter und meine Kinder, die feindliche Wut vergessend, mild und maßvoll unangetastet ließ, da er keinen feindseligen Charakter zeigte, wie es sonst Tyrannen ansteht, [270] sondern als Sieger gegenüber Besiegten eine königliche und friedfertige Haltung an den Tag legte und als Feind dem Feind gegenüber eine größere Treue bewies als meine Freunde und eigenen Landsleute. Jener schenkte meiner Familie das Leben. Mir haben meine Nächsten, denen ich Herrschaft und Leben verliehen habe, das Leben entrissen. Traurig zu

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quorum presidio tutus vel ab hostibus esse debuerat Darius, ab eis occisus, et inter hostes incolomis stans, labitur inter amicos. His precor a iusto reddatur principe talis talio pro meritis, qualem patricida meretur quamque repensurus, michi si Fortuna triumphum concessisset, eram. Nec enim hoc discrimine solum alea versatur mea sed communis eorum qui presunt turbae et populi moderantur habenas. In me causa agitur. Decernat pondere iusto Magnus que tantum maneat vindicta reatum, que nova flagitii scelus expiet ultio tanti. Quam si distulerit vel forte remissius equo egerit, illustris minuetur opinio regis decolor et fame multum diversa priori. Adde quod a simili debet sibi peste cavere rex pius et subiti vitare pericula casus, et cum iusticiae status hinc versetur et illinc utilitas, uno tueatur utrumque rigore. Hoc unum superos votis morientibus oro infernumque Chaos, ut euntibus ordine fatis totus Alexandro famuletur subditus orbis, Magnus et in magno dominetur maximus orbe, utque michi iusti concesso iure sepulchri a rege extremi non invideantur honores.” Sic ait et dextram tamquam speciale ferendam pignus Alexandro Greco porrexit, eique

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sagen: Ausgerechnet jene, [275] in deren Schutz ich vor meinen Feinden hätte sicher sein müssen, sind jetzt meine Mörder geworden, und während ich unter Feinden unversehrt blieb, falle ich unter Freunden. Möge von ihm als einem gerechten Richter – und nur dies erbitte ich inständig – an diesen Verrätern derart Vergeltung für ihre Verbrechen geübt werden, wie es Mörder verdienen, eine Vergeltung, [280] die ich selbst üben würde, wenn mir Fortuna den Sieg geschenkt hätte. Nicht nur nämlich ändert sich durch dieses Verhängnis mein eigenes Schicksal, sondern zusammen damit auch das Schicksal jener, die das Heer noch führen und das Volk noch regieren. Mir gibt man die Schuld. [285] So mag Alexander in gerechter Abwägung die Entscheidung treffen, welche Strafe eine so große Schuld notwendigerweise nach sich zieht, was für eine ungewöhnliche Rache ein derartig niederträchtiges Verbrechen zu sühnen imstande ist. Falls er jedoch die Bestrafung aufschieben oder vielleicht nachlässiger ausführen sollte, als es einem gerechten Vorgehen entspricht, wird sein ausgezeichneter Ruf als König verblassen und, seines Glanzes beraubt, nicht mehr wie früher erstrahlen. [290] Sage ihm außerdem, dass auch ein gütiger König sich vor einem ähnlichen Unheil hüten und die Gefahren eines plötzlichen Sturzes vermeiden muss. Wenn der Zustand des Rechts in die eine und der eigene Nutzen in eine andere Richtung streben, soll er beide mit derselben Entschiedenheit auf ausgewogene Art und Weise schützen. Um dies eine noch bitte ich, während meine Gebete sterbend sich schon verlieren, [295] die himmlischen Götter und auch die Gottheiten der Unterwelt: Der ganze unterworfene Erdkreis möge künftig im weiteren Gang des Schicksals dem makedonischen König dienstbar sein und Alexander der Große als bedeutendster König über ein bedeutendes Reich die Herrschaft ausüben. Nicht auch soll der König mir die letzte Ehre missgönnen und meinem Leichnam deshalb das Recht auf eine gebührende Bestattung gewähren.« [300] So sprach er und streckte die Hand gleichsam als besonderes Pfand für Alexander dem ihm unbekann-

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letifer irrepsit per membra rigentia sompnus, et sacer erumpens luteo de carcere tandem spiritus, hospicium miserabile carnis abhorrens, prodiit et tenues evasit liber in auras. Felices animae, dum vitalis calor artus erigit infusos, si pregustare daretur que maneant manes decurso tempore iustos premia, que requies, et quam contraria iustis impius exspectet: non nos funestus habendi irretiret amor, nec carnis amica libido viscera torreret; sed nec predivite mensa patrum sorberet obscenus iugera venter; sed neque ferrato detentus carcere Bachus frenderet horrendum fracturus dolia, nec se inclusum gemeret sine respiramine Liber; non adeo ambirent cathedrae venalis honorem Symonis heredes; non incentiva malorum pollueret sacras funesta Pecunia sedes; non aspiraret, licet indole clarus, aviti sanguinis inpubes ad pontificale cacumen donec eum mores, studiorum fructus, et etas eligerent, merito non suffragante parentum; non geminos patres ducti livore crearent preficerentque orbi sortiti a cardine nomen; non lucri regnaret odor; pervertere formam iudicii nollet corruptus munere iudex; non caderent hodie nullo discrimine sacri

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ten Griechen entgegen. Der todbringende Schlaf kroch ihm langsam in die allmählich erstarrenden Glieder, die ehrwürdige Seele stürzte in Abscheu vor der schlimmen Behausung des Fleisches schließlich aus ihrem schmutzigen Kerker heraus, [305] trat aus diesem hervor und entkam befreit in die zarten Lüfte. Moralexkurs (306–343) Wenn es, o glückliche Seelen, dem Menschen schon zu Lebzeiten gestattet wäre, im Voraus zu kosten, welch ein herrlicher Lohn gerechte Manen nach Ablauf ihres irdischen Daseins erwartet und welch eine tiefe Erholung, und wie sehr [310] die Schurken im Unterschied zu den Gerechten das genaue Gegenteil davon zu gewärtigen haben, dann würden uns weder verderbliche Habgier umgarnen noch Fleischeslust unser Innerstes ausdörren. Weder würde der schamlose Bauch den väterlichen Besitz an einer zu üppig gedeckten Tafel verprassen noch würde Bacchus, im eisenbeschlagenen Kerker gefangen und das Fass schon zu sprengen bereit, schaudervoll [315] mit den Zähnen knirschen, auch nicht würde Liber Klage darüber führen, dass er eingeschlossen im Fass ohne Luftloch verharren müsse. Simons Erben würden sich nicht so sehr um das käufliche Amt eines Bischofs bewerben, nicht würde die unheilvolle Pecunia als Reizmittel des Bösen die heiligen Sitze entehren. [320] Nicht würde ein Knabe, mag er auch von edler Abstammung und sogar glänzend begabt sein, das Amt eines Bischofs anstreben, bevor ihn Charakterbildung – der Ertrag seines Studiums – und ein angemessenes Alter ohne Begünstigung durch verdienstreiche Eltern erwählt haben. Nicht würden die Kardinäle, von Neid getrieben, zwei Päpste wählen [325] und ihnen die Führung über den Erdkreis übertragen. Nicht würde der Gestank der Habsucht obwalten, nicht würde der Richter, mit Geschenken bestochen, die Richtlinien seiner Rechtsprechung ins Gegenteil ver-

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pontifices, quales nuper cecidisse queruntur vicinae modico distantes equore terrae. Sed quia labilium seducta cupidine rerum, dum sequitur profugi bona momentanea mundi, allicit illecebris animam caro, non sinit esse principii memorem vel cuius ymaginis instar facta sit aut quorsum resoluta carne reverti debeat. Inde boni subit ignorantia veri. Inde est quod spreta cupimus rationis habena quod natura negat, facinusque paratus ad omne non reveretur homo quod fas et iura verentur. Inde est quod regni flammatus amore satelles, non reverens homines, non curans numina, Bessus et patris et domini fatalia fila resolvit. Te tamen, o Dari, si que modo scribimus olim sunt habitura fidem, Pompeio Francia iuste laudibus equabit. Vivet cum vate superstes gloria defuncti nullum moritura per evum. Magnus ut accepit Darium expirasse, citatum turbidus accelerat gressum, inventumque cadaver perfudit lacrimis et compluit ubere fletu.

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kehren. Nicht würden heute ehrwürdige Priester wahllos eines gewaltsamen Todes sterben, [330] wie die beiden nur durch ein schmales Meer getrennten Nachbarländer jüngst schmerzlich erfahren mussten. [332] Da aber das Fleisch, verführt von der Gier nach vergänglichen Dingen und auf der Suche nach zeitlichen Gütern der flüchtigen Welt, mit seinen Reizen die Seele verlockt, lässt es nicht zu, [335] dass sie sich ihres Ursprungs erinnert oder darauf bedacht ist, nach wessen Vorbild sie geschaffen wurde, oder wohin sie, vom Fleisch befreit, einmal zurückkehren muss. Dadurch schleicht sich eine Unkenntnis des Guten und Wahren ein. Dadurch geschieht es auch, dass wir gegen jede Vernunft begehren, was die Natur uns verwehrt, und der Mensch, bereit zu jedweder Schandtat, [340] keine Ehrfurcht vor Recht und Gesetz an den Tag legt. Aus demselben Grund auch hat der sklavenhafte Bessus, von Herrschsucht getrieben, den Lebensfaden seines Königs und Vaters durchtrennt, ohne Rücksicht auf Menschen und Götter zu nehmen. Apostrophe an Darius (344–347) Dich jedoch, Darius, wird Franzien, [345] sollte man meiner Dichtung dereinst Vertrauen und Ansehen schenken, mit Recht nicht weniger rühmen als den römischen Feldherrn Pompeius. Der Ruhm des Verstorbenen wird zusammen mit dem Dichter weiterleben und niemals im Laufe der Zeiten vergehen. Alexanders Totenklage (348–378) Als Alexander vom Tod des persischen Königs erfuhr, stürmte er blitzartig heran. Nachdem er Darius’ Leichnam gefunden hatte, [350] benetzte er diesen mit einem ergiebigen Strom von Tränen.

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Sedit complosis manibus, positoque rigore principis, effusum doluit gemuitque iacentem, quem stantem ut caderet tociens incusserat ante. Ergo ubi purpureo lacrimam siccavit amictu purgavitque genas, “Miseris mortalibus” inquit “hoc solum relevamen inest, quod gloria mortem nescit et occasum non sentit fama superstes. Si vitae meritis respondet gloria famae, nulla tuos actus poterit delere vetustas, nec te posteritas, rex Persidis, inclite Dari, oblinet, aut veterum corrodet serra dierum. Claresces titulis totoque legeris in orbe, ausus Alexandro Macedumque resistere fatis. Si michi te vivum servassent omine fausto fata, iugo Macedum levius nichil esse probares. Uno rege minor tantum Magnoque secundus iura dares aliis, in regni parte receptus. Sed quia serviles non permisere catervae, que patris emeritam ferro rupere senectam, ut clemens victo laudarer victor in hoste, quod solum licet, ultorem, defuncte, relinquis hostibus infandis, habuisti quem prius hostem. Sic michi contingat, bellis Oriente subacto, Hesperios penetrare sinus classemque minacem occiduis inferre fretis cursuque reflexo Gallica Grecorum dicioni subdere colla;

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Sitzend verharrte er eine Weile und schlug als Zeichen der Trauer die Hände über dem Kopf zusammen. Ohne die für ihn sonst übliche königliche Strenge an den Tag zu legen, beklagte und betrauerte er den niedergestreckt vor ihm liegenden Gegner, den er zu dessen Lebzeiten so oft noch geschlagen hatte, um ihn zu Fall zu bringen. Sobald er seine Tränen mit dem purpurnen Mantel getrocknet [355] und seine Wangen gereinigt hatte, sagte er: »Der wirklich einzige Trost, den wir als beklagenswerte Sterbliche für uns geltend machen können, besteht darin, dass der physische Tod für den Nachruhm eines Menschen überhaupt keine Rolle spielt. Wenn der Ruhm bei der Nachwelt den Verdiensten im Leben entspricht, dann wird auch der Zeiten Lauf deine Taten nicht auslöschen können, [360] und nicht werden die kommenden Generationen die Erinnerung an dich tilgen, König von Persien, ruhmreicher Darius, oder wird der Zahn der Zeit an deinem Ruhm nagen. Deine ruhmreichen Taten werden erstrahlen und überall auf dem Erdkreis wird man dich preisen, da du es gewagt hast, Alexander und der Bestimmung der Griechen Widerstand zu leisten. Wenn mir unter günstigen Vorzeichen das Schicksal dich lebend erhalten hätte, [365] würdest du nichts leichter anerkennen können als der Griechen Joch. Einem einzigen König nur unterworfen würdest du nach mir als Zweiter über alle anderen gebieten, eingesetzt als Statthalter in einem Teil meines Reichs. Da aber die sklavenhafte Bande, die dem alten und verbrauchten Vater mit dem Schwert das Leben nahm, mir nicht die Möglichkeit eingeräumt hat, [370] als milder Sieger über den besiegten Feind gepriesen zu werden, bleibt dir nur noch, verstorbener König, mich, den du zuvor noch zum Feind hattest, als Rächer für die ruchlosen Feinde zurückzulassen. So möge es mir nach der Unterwerfung des Ostens gelingen, auch in die westlichen Buchten tief einzudringen und die drohende Flotte hinein [375] in die westlichen Meere zu führen und auf dem Rückweg von dort die Gallier der Herrschaft der Griechen zu unterwerfen. So mögen mir die Götter nach der Überquerung der

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sic michi dent superi, traiectis Alpibus, una cum populis Ligurum Romanas frangere vires.” Dixit, et exequiis solito de more solutis, regifico sepelit corpus regale paratu membraque condiri iubet et condita recondi maiorum tumulis, ubi postquam condita, celsa pyramis erigitur, niveo que marmore structa ingenio docti superedificatur Apellis. Coniunctos lapides infusum fusile rimis alterno interius connectit amore metallum. Exterius, qua queque patet iunctura, figuris insculptum variis rutilans intermicat aurum. Quatuor ex equo distantibus arte columpnis sustentatur onus, quarum iacet erea basis. Argento stilus erigitur, capitella recocto imperitant auro fornacibus eruta binis. Has super exstructa est, tante fuit artis Apelles, lucidior vitro, pacato purior amne, crystallo similis caelique volubilis instar, concava testudo librati ponderis, in qua forma tripertiti pulchre describitur orbis. Hic Asiae sedes late diffunditur, illic subsidunt geminae spacio breviore sorores. Hic certis distincta notis loca flumina gentes urbes et silvae regiones oppida montes et quecumque vago concluditur insula ponto, indigeat que terra, quibus que rebus habundet. Frugifera est Lybie, vicinus Syrtibus Hamon

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Alpen zudem erlauben, zugleich mit dem Volk der Ligurer auch die Truppen der Römer zu vernichten.« Das Grabmal des Darius (379–430) So sprach er [380] und bestattete nach dem üblichen Leichenbegängnis den Körper des Königs mit fürstlichem Pomp, ließ ihn einbalsamieren und im Grabe der Ahnen zur letzten Ruhe betten. Nachdem er dort beigesetzt war, errichtete man eine hochragende und aus weißem Marmor errichtete Pyramide, die durch das Genie des gelehrten Apelles über dem Grabmal angelegt wurde. [385] In seinem Inneren verband sich mit den zusammengefügten Steinen passgenau flüssiges, in die Ritzen gegossenes Metall. Außen leuchtete an jenen Stellen, wo die Fugen nicht akkurat schlossen, rötlich schimmerndes und mit verschiedenen Bildern verziertes Gold. Die ganze Last wurde kunstvoll gestützt von vier zueinander in gleichem Abstand stehenden Säulen, [390] deren Basis aus Bronze bestand. Silbern ragte der Schaft der Säulen hinauf, vier in zwei Schmelzöfen entstandene Kapitelle überragten den Bau mit mehrfach geläutertem Gold. Darüber wurde mit wohlverteiltem Gewicht – so groß war Apelles’ Kunstfertigkeit – ein Kuppeldach errichtet, durchsichtiger als Glas, reiner als ein sanft fließender Bach [395] und ähnlich einem Kristall, dem kreisenden Himmelsgewölbe vergleichbar, auf dem man den dreifach geteilten Erdkreis wunderbar dargestellt sah. Hier erstreckten sich oben weithin Asiens Fluren, dort befanden sich im unteren Teil die Zwillingsschwestern mit ihrer jeweils kleineren räumlichen Ausdehnung. [400] Auf diesem Bild ließen sich, mit unverwechselbaren Symbolen genau bezeichnet, die Ebenen mit ihren Flüssen erkennen, die verschiedenen Völker mit ihren Städten, waldbedeckte Gebiete, kleinere Orte, Gebirge und alle Inseln, die vom launenhaften Meer umspült wurden, auch welcher Landstrich Mangel litt und welcher im Überfluss lebte. Fruchtbar

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mendicat pluvias, Egyptum Nilus opimat. Indos ditat ebur vestitaque litora gemmis. Affrica pretendit magnae Kartaginis arces, Grecia divinas famae inmortalis Athenas. Pallanthea domus Roma crescente superbit, Gadibus Herculeis Hyspania, thure Sabei, Francia militibus, celebri Campania Bacho, Arthuro Britones, solito Normannia fastu. Anglia blanditur, Ligures amor urit habendi, Teutonicusque suum retinet de more furorem. Lubricus extremas tantae testudinis oras circuit Oceanus. Asiam tractusque duarum opposito medius discriminat obice pontus, pontus, distortis in quem vaga flumina ripis omnia descendunt, et eo ducente recurvos flexa per anfractus magnum labuntur in equor. Et quia non latuit sensus Danielis Apellem, aurea signavit epigrammate marmora tali: “Hic situs est typicus aries, duo cornua cuius fregit Alexander, totius malleus orbis.” Preterea Hebreos et eorum scripta secutus, preteriti serie revoluta temporis, annos humani generis a condicione notavit usque triumphantis ad bellica tempora Magni. In summa annorum bis milia bina leguntur bisque quadringenti decies sex bisque quaterni.

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war Libyen, das den Syrten benachbarte Ammon [405] bettelte um Regen, der Nil brachte Ägypten reiche Ernten. Elfenbein machte die Inder reich und mit Edelsteinen übersät waren ihre Küsten. Afrika rühmte sich der Burg des großen Karthago, Griechenland verherrlichte das vortreffliche und von unsterblichem Ruhm geprägte Athen. Pallas’ Geschlecht war stolz auf das immer mächtiger werdende Rom, [410] Spanien auf Herkules’ Stadt Cadiz, mit ihrem Weihrauch brüsteten sich die Einwohner von Saba. Franzien rühmte sich seiner Ritter, die Champagne ihres berühmten Weins, die Britannier prahlten mit Arthur, erhobenen Hauptes glänzte in gewohntem Hochmut die Normandie. England schmeichelte, die Habgier verzehrte die Ligurer und der Teutone behielt nach dortiger Gewohnheit sein zorniges Gemüt bei. [415] Der gefahrvolle Ozean umströmte die riesige Kuppel an ihrem äußersten Rand. Ein mittleres Meer trennte mit einer begrenzenden Linie Asien von den beiden kleineren Kontinenten ab – ein Meer, in das mit ihren gewundenen Ufern sämtliche nach allen Seiten hin strömenden Flüsse hinabflossen und zuletzt, dem zunehmend geringer werdenden Gefälle folgend, [420] mit rückwärts gekrümmten Biegungen mäandrierend in das große Meer sich ergossen. Und da dem Apelles die Bedeutung der Worte Daniels sehr wohl bekannt war, versah er den golden schimmernden Marmor mit folgender Inschrift: »Hier liegt symbolisch der Widder begraben, dessen zwei Hörner Alexander, der Hammer der ganzen Welt, zerbrochen hat.« [425] Indem er zudem den Juden und ihren Schriften folgte und den Lauf der Geschichte noch einmal aufrollte, schrieb er die Jahre von der Erschaffung des Menschengeschlechts bis zu den kriegerischen Zeiten des siegreichen Alexander nieder. Zweimal zweitausend Jahre [430] und zweimal vierhundert sowie achtundsechzig Jahre dazu waren alles in allem zu lesen.

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Interea meritos ad donativa quirites invitat Macedo, gemitus et vulnera largis curat muneribus, et ydonea tempora nactus sollempnes epulas et Bachi gaudia totis instaurat castris. Ergo dum pocula tractat deliciisque vacat diffusus in ocia miles, ecce repentinus, vicium sollempne vacantis militiae, rumor subito ferit agmina motu. Fertur Alexandrum, post prospera bella tumentem, hostibus afflictis et adepta Perside, velle ad patrios fines et dulcia regna reverti. Ergo avidi reditus, quamvis auctore careret rumor, discurrunt limphantum more per omnes castrorum vicos. Aptant tentoria plaustris. Sarcinulas et vasa legunt castrensia tamquam mane paretur iter. Oritur per castra tumultus leticiae, mixtosque ferunt ad sydera plausus. Rumor ut attonitas invicti principis aures impulit, occultus animum perterruit horror, contraxitque furor laxas rationis habenas. Mox ubi mens rediit, domito revocata furore, prefectos iubet acciri lacrimisque profusis

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Alexander zwischen Perserreich und Welteroberung (431–538) Alexanders angemessene Gebefreudigkeit (431–435) Inzwischen rief Alexander seine Soldaten zusammen, um ihnen entsprechend ihren Verdiensten Geldzahlungen zukommen zu lassen. Mit großzügigen Geschenken linderte er ihre Schmerzen und pflegte ihre Wunden. [435] Er veranstaltete, die günstige Gelegenheit nutzend, im ganzen Lager einen Festschmaus und ein Trinkgelage. Alexanders Welteroberungspläne (435–466) Während die Soldaten sich also dem Wein hingaben und in müßiger Entspannung Zeit für heitere Gespräche hatten, da machte sich im ganzen Heer – ein gewohnter Fehler unbeschäftigter Truppen – rasend schnell ein plötzlich auftretendes Gerücht breit. Alexander wolle nach dem glücklichem Ausgang des Kriegs, [440] nach dem Sieg über die Feinde und der Eroberung Persiens voller Stolz in die Heimat und die lieblichen Reiche zurückkehren. Also rannten die leidenschaftlich auf Rückkehr erpichten Soldaten, obgleich das Gerücht nicht verbürgt war, nach der Art von Besessenen durch alle Teile des Lagers. Sie luden die Zelte auf Wagen [445] und räumten ihre Habseligkeiten und die Gerätschaften des Lagers zusammen, als ob der Abmarsch bereits für den nächsten Morgen geplant wäre. Im ganzen Lager erhob sich überall Freudengeschrei, gemeinsamen Beifall trugen sie zu den Sternen empor. Als dem unüberwindlichen Herrscher das Gerücht – dieser war deswegen wie vom Donner gerührt – zu Ohren drang, packte ihn ein tiefes Entsetzen [450] und ein gewaltiger Wutausbruch verhinderte im ersten Moment einen vernünftigen Umgang mit dieser Situation. Als ihm aber gleich darauf nach Bezähmung der Wut wieder das vernünftige Denken zurückkehrte, ließ er die Anführer herbeirufen und führte tränenüber-

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limite de medio terrarum a civibus orbem auferri sibi conqueritur, virtutis in ipso limine Alexandro mundi tocius apertum precludi imperium; nichil in patriam nisi probra, fortunam victi se non victoris ad Argos esse relaturum; tantis obsistere ceptis invidiam superum qui fortia pectora semper illiciunt patriaeque trahunt natalis amore; indecoresque viros sine nomine velle reverti ad patrios ortus, indulto tempore magna laude recursuros. Applaudit curia regi promittitque suas in cuncta pericula vires, iussa secuturos proceres et mobile vulgus si modo blandiciis dubias permulceat aures. Ergo tribunali posito ducibusque citatis, in facie procerum plebisque astante caterva, cepit Alexander: “Recolentibus,” inquit “amici, gestarum vobis tytulos et nomina rerum, non mirum patrias animis occurrere sedes, in quibus illustres decantet fama labores et celebris vestras attollat gloria pugnas. Libera iam veteri Persarum patria per vos est exempta iugo. Phenicem Persida Medos Armeniam Syriam vestri domuere lacerti. Lidia Capadoces Parthi Cylicum iuga vestro succubuere iugo. Terras michi vestra subegit plures asperitas aliis quam regibus urbes

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strömt Klage darüber, dass ihm von den eigenen Männern auf halber Wegstrecke der Erdkreis entzogen und er ausgerechnet [455] an der Schwelle zu echtem Heldentum von der nun eigentlich leicht erreichbaren Herrschaft über die ganze Welt ausgeschlossen werde; nichts als Schande werde er in das Vaterland zurückbringen, das Schicksal eines Besiegten und nicht das eines Siegers nach Argos heimtragen; einem derartig kühnen Vorhaben stehe der Neid der Götter im Weg, [460] die immer tapfere Herzen betörten und mit der Liebe zur Heimat verlockten; unehrenhaft und ohne jeglichen Ruhm wollten die Männer in das Land ihrer Väter zurückkehren, wohingegen sie hochgepriesen heimkehren würden, wenn sie noch einen kleinen zeitlichen Aufschub gewähren sollten. Die versammelten Generäle spendeten ihrem König Beifall, versprachen, in allen Gefahren ihre ganze Kraft aufzubieten; [465] der Adel und das leicht beeinflussbare Volk würden seinen Befehlen folgen, wenn er nur ihre Zweifel mit schmeichelnden Worten zerstreue. Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten (467–538) Nachdem also eine Tribüne aufgestellt und die Anführer herbeigerufen worden waren, ergriff Alexander vor dem Adel und in Anwesenheit allen Kriegsvolkes das Wort und sagte: »Nicht wundert es mich, meine Freunde, dass euch im Geiste, [470] wenn ihr den Ruhm und den Glanz eurer Taten noch einmal überdenkt, die heimatlichen Gefilde vor dem inneren Auge erscheinen, in denen Volkes Stimme eure blendenden Taten feiert und ausgezeichneter Ruhm eure auf dem Schlachtfeld errungenen Erfolge verherrlicht. Durch euch ist unsere Heimat nun frei [475] und dem alten Joch der Perser entrissen. Eure Stärke hat Phönizien, die Perser und Meder, Armenien und Syrien in die Knie gezwungen. Lydien und Kappadokien, das Reich der Parther und die Berge Kilikiens haben sich eurem Joch gebeugt. Euer rauer Charakter hat mir mehr Län-

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lubrica sors dederit. Ergo si certa maneret terrarum quas tam celeri virtute subegi perpetuo mecum possessio federe fixa, o cives, etiam vobis retinentibus, ultro ad patrias urbes dulcemque erumpere terram optarem, matrem geminasque videre sorores et parta pariter vobiscum laude potiri. Sed novus est nec adhuc firma radice tenetur imperii status, et nondum subeuntibus equa barbaricis cervice iugum victoria nutat. Ergo brevi nobis opus assuetudine donec barbara mollescant accepto tempore corda et peregrina suos deponant pectora mores. Nam mora maturat fruges, et musta statuto tempore rnitescunt quamvis expertia sensus. Quod natura nequit, animos rabiemque ferarum mulcet longa dies. Sevum indomitumque leonem mitigat humani manus et vox blanda magistri. Vicistis Persas sed non domuistis, et ipsi armis non morum cohibentur lege, futuri quos modo presentes metuunt absentibus hostes. Et, licet extincto Persarum principe, inultus hostis adhuc superest. Bessus patricida retento Narbazanesque suus coeunt in prelia regno. Proch pudor, eternum nati servire clientes, per scelus extremum parta dicione, cruentas extendunt ad sceptra manus. Sed sicut in egris

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der unterworfen, [480] als das launische Schicksal andere Könige hat Städte erobern lassen. Wenn also alle Länder, die ich mit so großer Schnelligkeit und dem mir eigenen Heldenmut unterworfen habe, durch ein ewiges Bündnis mit mir schon unzweifelhaft und fest meinem Machtbereich zugerechnet werden könnten, o meine Landsleute, [485] wünschte ich, auch wenn ihr mich dann zurückhalten wolltet, von selbst sofort zu unseren heimatlichen Städten und ins liebliche Vaterland aufzubrechen, die Mutter und beide Schwestern wiederzusehen und zusammen mit euch den erworbenen Ruhm zu genießen. Neu jedoch ist der Zustand des Reichs und noch nicht ausreichend gefestigt. Unser Sieg steht noch auf unsicherem Boden, solange die Barbaren ihr Joch noch nicht geduldig ertragen. [490] Folglich ist eine kurze Zeit der Gewöhnung vonnöten, bis die Barbaren, der veränderten Lage sich fügend, ihren Widerstand aufgeben und das fremde Volk sein widerspenstiges Verhalten aufgibt. Denn Früchte brauchen zum Reifen Zeit, und ohne es selbst zu bemerken, verliert junger Wein seinen herben Geschmack zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt des Jahres. [495] Was die Natur nicht vermag, die Dauer der Zeit besänftigt die wilde Gemütsart der Tiere. Einen wilden und noch ungezähmten Löwen bändigt die menschliche Hand und des Dompteurs schmeichelnde Stimme. Besiegt habt ihr die Perser, aber noch nicht endgültig bezwungen, durch unsere Waffen und nicht durch Gewohnheit werden sie im Zaum gehalten; dieselben Perser nämlich, die uns jetzt fürchten, solange wir bewaffnet im Land stehen, [500] werden zu den Waffen greifen, sollten wir abziehen. Und mag der persische König auch tot sein, straflos lebt noch immer ein Feind. Der Mörder Bessus und sein Komplize Narbazanes rüsten im ihnen noch verbliebenen Teil ihres Reichs zum Kampf. Welch eine Schande, zu ewiger Dienerschaft geborene Vasallen strecken ihre blutigen Hände aus nach der Herrschaft über das Reich, nachdem sie zuvor [505] mit Meuchelmord die Macht an sich gerissen haben. Doch gleichwie ein Arzt alles in einem Körper herausschneidet, was diesem schadet, so bin

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omnia corporibus medici nocitura recidunt, sic nichil a tergo quod discedentibus obstet esse relinquendum, resecandumque arbitror esse quicquid obesse potest regno post terga relicto. Parva solet magnis causam prestare ruinis, cum neglecta fuit, modicae scintilla lucernae. Tutior ut maneas hostis, nichil est quod in hoste despicias tuto. Iit quem neglexeris ille fortior hoc ipso multoque valentior hostis. “Vicimus idcirco Darium ut Besso patricidae cederet imperium? Procul hunc arcete pudorem, terrarum domini. Brevis est labor et via nobis. Quatridui superest iter ut divortia mortis querere nulla queat Bessus patricida. Tot amnes tot iuga transistis, tot proculcastis hyatus horrendosque lacus, tot saxa tot invia vobis pervia fecistis. Non nos mare dividit estu fluctivago, sed plana iacent et prona tryumpho omnia. Vicina est et in ipso limine palma. Vincendi restant pauci. Memoranda per evum gloria cum servos vestro mediante labore audierit domino penas solvisse perempto credula posteritas. Dignus labor, hercule, nullum, quem patris occisi condempnet opinio, vestras effugisse manus. Hoc uno, miles, honorem perpetuare tuum, Persas Asiaeque favorem conciliare potes.” Sic fatur, et ecce paratas attollunt cuncti quecumque in prelia dextras, seque secuturos per summa pericula spondent unanimes letique senes hilarisque iuventus. Ergo avidis pugnae tentoria vellere Magnus imperat et rapido cursu bachatur in hostem.

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ich der Meinung, dass im Rücken eines abziehenden Heeres keine Gefahren lauern dürfen und dass zuvor alles vernichtet werden muss, [510] was auch immer dem zurückgelassenen Reich schaden könnte. Ein kleiner Funke einer bescheidenen Lampe schon ist gewöhnlich die Ursache für schwere Zerstörungen, wenn man sie unbeaufsichtigt lässt. Nichts gibt es, was man am Feind ohne Risiko unterschätzt, um als Feind auf Dauer geschützter zu sein. Ein Feind, den man unterschätzt, [515] erstarkt im Inneren eben dadurch und ist dann auch tatsächlich um ein Vielfaches stärker. Haben wir Darius aus dem Grunde besiegt, damit am Ende die Herrschaft auf den Mörder Bessus übergeht? Haltet diese Schmach, ihr Herren der Welt, weit von uns weg. Kurz nur ist unsere Mühe und auch der Weg. Ein Marsch von nur vier Tagen ist noch zu bewältigen, [520] um den Mörder Bessus endgültig zu besiegen. So viele Flüsse und so viele Gebirgszüge habt ihr bewältigt, so viele Schluchten und verheerende Sümpfe überwunden, so viele Gebirgspfade und so viele weglose Einöden zugänglich gemacht. Nicht trennt uns ein Meer mit seinen von Wellen getriebenen Wogen, sondern alles liegt flach vor uns und macht unseren Sieg leicht. [525] In greifbare Nähe gerückt ist die Siegespalme. Nur wenige noch gilt es zu bezwingen. Euch wird ewiger Ruhm beschieden sein, wenn die arglose Nachwelt vernehmen wird, dass jene Sklaven durch euren Einsatz den Tod ihres Herrn gebüßt haben. Es lohnt sich fürwahr die Mühe, dass keiner, [530] den der allseits bekannte Vorwurf des Vatermordes trifft, ungeschoren davonkommt. Nur auf diesem Weg, meine Soldaten, könnt ihr euch euren Ruhm dauerhaft sichern und euch bei den Persern und den Völkern Asiens Respekt verschaffen.« So sprach er. Da hoben alle ihre zu jeglichem Kampf entschlossene Hand empor und einmütig gelobten fröhliche Greise und die muntere Jugend, [535] durch die schlimmsten Gefahren ihrem König zu folgen. Also gab Alexander seinen kampfbegeisterten Männern sogleich den Befehl, die Zelte abzubrechen, und stürzte sich in rasendem Lauf auf die Feinde.

Liber VIII Capitula octavi libri Hyrcanos domat octavus nec iniqua ferentem vota pharetratam presentat Amazona regi. Uruntur gaze Macedum, mirabile factu. Detegitur Dymi facinus, sequiturque nefandus in castris gemitus oratio morsque Phylotae. Impius attrahitur monstrum inplacabile Bessus, suspensusque piat manes patricida paternos. Arma Scitis infert Macedo. Legatio postquam nil agit et monitus non flectunt principis iram, gens invicta prius victori subditur orbis.

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Octavus liber Memnonis eterno deplorans funera luctu, tercia luciferos terras Aurora per omnes spargebat radios cum fortis et impiger ille terrarum domitor, in cuncta pericula preceps, Hyrcanos subiit armato milite fines.

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Quos ubi perdomuit vitamque cruentus ab ipso Narbazanes molli Bagoa supplicante recepit, haut mora, visendi succensa cupidine regis, gentis Amazoniae venit regina Talestris castraque virginibus subiit comitata ducentis.

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Buch VIII Themenübersicht (1–10) Das achte Buch zeigt, wie Alexander die Hyrkaner bezwingt und wie die köchertragende Amazone durchaus angemessene Wünsche an den König heranträgt. Alexander lässt die Schätze der Griechen verbrennen, fürwahr eine bewundernswerte Tat. Entdeckt wird das Verbrechen des Dimus, es folgen [5] im Lager ein unsägliches Geschrei sowie Philotas’ Rede und Tod. Den ruchlosen Bessus, das unerbittliche Scheusal, schleppt man herbei, am Kreuze hängend versöhnt der Vatermörder Darius’ Manen. Mit den Skythen beginnt Alexander den Krieg. Da die skythische Gesandtschaft nichts erreicht und ihre Warnungen Alexanders Eroberungsdrang nicht besänftigen können, [10] unterliegt der zuvor unbesiegte Stamm dem Sieger über das Perserreich. Die Eroberung von Hyrkanien (1–5) Memnons Tod in ewiger Trauer beklagend, verbreitete Aurora am Morgen ihre lichterfüllten Strahlen zum dritten Mal über die Welt, als der tapfere und rastlose Bezwinger der Länder, wie immer in alle Gefahren sich stürzend, [5] mit bewaffneter Schar das Land der Hyrkaner bedrängte. Die Amazonenkönigin Thalestris (6–48) Sobald er diese bezwungen und der grausame Narbazanes durch die Bitten des weichlichen Bagoas sein Leben gerettet hatte, tauchte unverzüglich die Amazonenkönigin Thalestris auf, begierig den makedonischen König zu besuchen, [10] und traf, von zweihundert

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Omnibus hec populis, dorso quos Caucasus illinc circuit, hinc rapidi circumdat Phasidos amnis, iura dabat mulier. Cui primo ut copia facta est regis, equo rapide descendit, spicula dextra bina ferens, levo pharetram suspensa lacerto. Vestis Amazonibus non totum corpus obumbrat. Pectoris a leva nudatur, cetera vestis occupat et celat celanda, nichil tamen infra iuncturam genuum descendit mollis amictus. Leva papilla manet et conservatur adultis, cuius lacte infans sexus muliebris alatur. Non intacta manet sed aduritur altera lentos prompcius ut tendant arcus et spicula vibrent. Perlustrans igitur attento lumine regem, mirata est fame non respondere Talestris exiguum corpus, taciturnaque versat apud se principis indomiti virtus ubi tanta lateret. Barbara simplicitas a maiestate venusti corporis atque habitu veneratur et estimat omnes, magnorumque operum nullos putat esse capaces preter eos, conferre quibus natura decorum dignata est corpus specieque beare venusta. Sed modico prestat interdum corpore maior magnipotens animus, transgressaque corporis artus regnat in obscuris preclara potentia membris. Ergo rogata semel ad quid regina veniret, anne aliquid vellet a principe poscere magnum, se venisse refert ut pleno ventre regressa communem pariat cum tanto principe prolem, dignam se reputans de qua rex gignere regni

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Jungfrauen begleitet, im griechischen Lager ein. Alle Völker, die der Kaukasus mit seinen Bergrücken auf der einen Seite und der Strom des reißenden Phasis auf der anderen Seite umschließt, empfingen von dieser Frau das Gesetz. Sobald sie Zugang zum König bekommen hatte, stieg sie, in der Rechten [15] zwei Speere tragend und über der linken Schulter den Köcher haltend, sogleich vom Pferd. Nicht bedeckte die Kleidung den ganzen Körper der Amazonen. An der linken Brust entblößt, bedeckte und verbarg der Rest der Kleidung, was verborgen sein musste, nicht tiefer hinab jedoch reichte der weiche Umhang als bis zur Kniebeuge. [20] Wohlerhalten verblieb ihnen als erwachsenen Frauen die linke Brust, um mit ihrer Milch den weiblichen Nachwuchs zu nähren. Die rechte Brust indes blieb nicht unversehrt erhalten, sondern wurde ausgebrannt, um leichter den geschmeidigen Bogen zu spannen und den Speer besser schleudern zu können. Als Thalestris also den König mit aufmerksamen Augen musterte, [25] wunderte sie sich darüber, dass der kleine Körper dem Ruhm dieses Mannes wenig entsprach, und überlegte im Stillen bei sich, wo sich die doch so außerordentliche Tugendhaftigkeit des unbezwungenen Herrschers eigentlich versteckt hielt. Barbarische Einfalt verehrt und beurteilt alle Menschen nach der Größe und dem Aussehen eines schönen Körpers [30] und hält nur jene Männer großer Taten für fähig, welche die Natur eines anmutigen Körpers für würdig erachtet hat und mit einem schönen Aussehen beglücken wollte. Aber stärker als ein mittelmäßiger Körper erweist sich bisweilen ein zu großen Taten fähiger Geist, und wenn dieser dann die Glieder des Körpers durchströmt, [35] herrscht in einem unauffälligen Körper eine herausragende Kraft. Als die Königin dann also gefragt wurde, aus welchem Grund sie gekommen sei, ob sie womöglich irgendetwas Wichtiges vom König einfordern wolle, gab diese zur Antwort, dass sie sich eingefunden habe, um – dann schwangeren Leibes in die Heimat zurückgekehrt – einem so bedeutenden König ein gemeinsames Kind zu gebären, [40] da sie selbst sich für würdig halte, dem König

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debeat heredes. Fuerit si femina partu prodita, maternis pocietur filia regnis. Si mas exstiterit, patri reddetur alendus. Querit Alexander sub eone vacare Talestris miliciae velit. Illa suum custode carere causatur regnum. Tandem pro munere noctem ter deciesque tulit, et quod querebat adepta ad solium regni patriasque revertitur urbes. Interea Bessus sumpto diademate Bactra moverat et veteri mutato nomine Scitis accitis toto surgebat in arma paratu. Estuat auditis Macedo, sed inertia luxu et bello partis tot rebus onusta moveri agmina vix poterant. Igitur, mirabile factu, cuncta cremanda ratus quecumque moventibus arma esse solent oneri, primum sua deinde suorum in medium proferre iubet. Spaciosa iacebat campi planicies ubi multo sanguine parte exponuntur opes, Arabum Serumque labores, plaustraque diversis rerum speciebus onusta. His ubi congestis rapta face Martius heros ignem supposuit et miscuit omnia flammis,

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einen Thronerben für sein Reich zu bescheren. Sollte es sich bei dem Kind um ein Mädchen handeln, werde die Tochter die Länder der Mutter besitzen, sollte ein Junge geboren werden, werde er zur Erziehung dem Vater übergeben. Alexander stellte ihr die Frage, ob sie bereit sei, [45] in seinem Heer Kriegsdienst zu leisten. Jene lehnte dies mit der Begründung ab, dass ihr Reich dann ungeschützt sei. Schließlich gewährte sie dem makedonischen König dreizehn Nächte lang ihre weibliche Gunst, und nachdem ihr Wunsch in Erfüllung gegangen war, kehrte sie auf den Thron ihres Reichs und in die heimatlichen Städte zurück. Die Vernichtung der Kriegsbeute (49–74) Inzwischen war Bessus, nachdem er die Herrschaft an sich gerissen hatte, nach Baktra [50] gekommen. Nachdem er seinen alten Namen abgelegt und die Skythen zusammengerufen hatte, traf er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Vorbereitungen für den Kampf. Die Nachricht trieb den makedonischen König heftig um, aber das griechische Heer, träge vom Luxus und mit so umfangreicher Kriegsbeute beladen, war kaum noch in der Lage weiterzumarschieren. In der Meinung, dass alles – fürwahr eine bewundernswerte Tat – [55] verbrannt werden müsse, was die Truppe am Vormarsch hindere, befahl Alexander aus diesem Grund, zuerst seine eigenen Schätze, dann die seiner Männer in der Mitte auf einen großen Haufen zu werfen. Es gab im Lager eine weite und ebene Fläche, wo die mit viel Blutvergießen erworbenen Reichtümer vor aller Augen aufgeschichtet wurden, die Früchte ihrer Kriegsanstrengungen gegen Araber und Serer, [60] ebenso mit mancherlei prachtvollen Dingen beladene Wagen. Sobald der Kriegsheld die aufgehäuften Beutestücke mit einer zur Hand genommenen Fackel angezündet und alles hatte in Flammen aufgehen lassen, brannte durch die eigene Hand alles, was sie zuvor immer vor dem Feuer

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ardebant dominis urentibus omnia que ne arderent tociens incensis urbibus igni restiterant; tociens humero subeunte labori, pertulerant avidas multo discrimine flammas. Non tamen audebant tanto sibi parta labore, sanguinis effusi precium, deflere quirites seu vulgus cum regis opes idem ureret ignis. Hic ubi sedatus dolor est, dixisse feruntur a curis gravibus et sollicitudine magna consilio regis ereptas esse cohortes et quos subdiderat regina Pecunia servos, principis exemplo manumissos esse per ignem. Iamque legebat iter, iam Bactra subire parabat exhonerata manus cum rex, invictus et hoste tutus ab externo, pene interfectus ab ipsis consulibus Macedum. Tamen intestina suorum declinavit, adhuc Parcis parcentibus, arma et civile nefas. Erat inter regis amicos precipuus tota maior legione Phylotas, Parmenione satus, sine quo nil carmine dignum gessit Alexander. Qui grande nefas Cebalino indice perlatum certis rationibus ad se suppressit biduo donec, Metrone cruentum comperiente scelus, proprio cadit ense ligatis complicibus Dimus. Vincitur et ipse Phylotas.

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geschützt hatten, um es bei so vielen von ihnen in Brand gesteckten Städten nicht in Flammen aufgehen zu lassen; so oft hatten sie trotz der schweren Last auf ihren Schultern die gierigen Flammen unter großen Gefahren [65] ertragen. Nicht jedoch wagten es die Anführer oder die einfachen Soldaten, die mit so großer Mühe beschafften Beutestücke – Lohn für ihr vergossenes Blut – zu beweinen, da dasselbe Feuer auch die Beutestücke ihres Königs verbrannte. [70] Sobald ihr Schmerz über diesen Verlust nachgelassen hatte, sollen sie gesagt haben, dass die Truppe durch des Königs Entscheidung von schweren Sorgen und großer Unruhe befreit worden sei und der König durch sein Beispiel jene, die zuvor Königin Pecunia fest im Griff gehabt hatte, mithilfe des Feuers vor dem Sklavenleben gerettet habe. Die Verschwörung des Philotas (75–322) Die Entdeckung der Verschwörung (75–91) [75] Und schon war der Marschweg festgelegt, schon wollte die nun leichter bepackte Truppe nach Baktra aufbrechen, als der unbesiegte und vor dem auswärtigen Feind geschützte König beinahe von einigen seiner eigenen Anführer getötet worden wäre. Dennoch konnte er die Verschwörung unter den eigenen Leuten und den heimischen Frevel abwenden, da ihn die Parzen noch immer verschonten. [80] Unter den Freunden des Königs war der vortreffliche Philotas, bedeutender als ein ganzer Truppenverband, Parmenions Sohn, ohne den Alexander nichts vollbracht hätte, was eines Heldengedichts würdig gewesen wäre. Aus guten Gründen verschwieg dieser den schnöden Verrat, der ihm von Cebalinus angezeigt worden war, [85] zwei Tage lang, bis sich Dimus – Metron hatte inzwischen von dem grausamen Verbrechen erfahren – ins eigene Schwert stürzte, nachdem seine Komplizen in Fesseln gelegt worden

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Creditur hoc uno perimi voluisse tyrannum, quod toto bidui spacio suppresserat huius indicium sceleris. Inducitur ergo, revinctis a tergo manibus, faciem velatus, in aulam. Principis edicto populus convenerat armis cinctus, et horrendo pallebat regia ferro. Mussat tota cohors tantique ignara tumultus cur accita foret, arrectis auribus heret donec Alexander, sermone silentia rumpens, detexit scelus, illatoque cadavere Dimi subticuit primo, demum “pene” inquit “ademptus vobis, o cives, Fortunae munere vivo.” Regis ad hanc vocem clamoso perstrepit aula turbarum fremitu. Cunctis poscentibus huius auctores sceleris ut proderet ille, “Quid,” inquit “ille meus, patris ille mei specialis amicus, Parmenio, tantoque aliis prelatus amore, tanti flagitii fuit auctor. Et ecce Phylotas, cum patre concipiens tam detestabile terris et celo facinus, Lecolaum Demetriumque et Dimum, cuius coram miserabile corpus aspicitis, socios delegit et in mea ductor fata subornavit.” Rursus fera contio vocem intonat horrendam. Metron Cebalinus et index

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waren. Auch Philotas selbst wurde festgenommen. Eben deshalb, weil er für ganze zwei Tage [90] die Anzeige dieses Verbrechens für sich behalten hatte, glaubte man, er habe selbst die Ermordung des Königs gewollt. Mit auf den Rücken gefesselten Händen und verhülltem Gesicht wurde er also vor das Zelt des Königs geführt. Alexanders Anklagerede gegen Philotas (92–157) Auf Geheiß des Königs war das Heer in voller Bewaffnung angetreten, der Platz vor dem königlichen Zelt schimmerte fahl vom schrecklichen Eisen. Murmelnd wartete die ganze Truppe und in Unkenntnis über den Grund für den gewaltigen Aufruhr spitzte jeder die Ohren, um in Erfahrung zu bringen, [95] warum er herbeigerufen wurde, bis Alexander das Schweigen wortgewaltig durchbrach und das Verbrechen enthüllte. Nachdem die Leiche des Dimus gebracht worden war, schwieg er zuerst, dann hob er folgendermaßen an: »Beinahe, meine Landsleute, wäre ich euch entrissen worden, nur durch die Gunst des Schicksals bin ich am Leben geblieben.« [100] Auf die Worte des Königs hin erdröhnte der Ort der Versammlung vom lauten Getöse der Menge. Als alle den König aufforderten, den Drahtzieher dieses Verbrechens namentlich zu benennen, sprach er: »Was soll ich sagen? Mein guter Freund Parmenion, schon der besondere Freund meines Vaters, mit so großer Zuneigung allen anderen gegenüber bevorzugt, [105] war der eigentliche Drahtzieher dieses niederträchtigen Verbrechens. Und Philotas – da ist er –, der zusammen mit seinem Vater ein der Erde und dem Himmel derart verabscheuungswürdiges Verbrechen ausheckte, suchte sich als Komplizen Lecolaus, Demetrius und Dimus, dessen bedauernswerte Leiche ihr hier vor euch liegen seht, und stiftete als Anführer diese Männer heimlich dazu an, [110] mich zu ermorden.« Wieder gab die unbarmherzige Versammlung ein schreckliches Lärmen von sich. Als Zeugen machten Metron, Cebalinus

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Nicomacus, testes producti, criminis ortum in medium referunt. Subdit Mavortius heros: “Quo dominum obsequio, quo dilexisse videtur affectu patrem qui cum hoc scelerum scelus” inquit “presciret, siluit? Quod non tamen esse tegendum cede liquet Dimi. Facinus Cebalinus acerbum quod semel accepit, hora non distulit una. Solus non timuit, solus non credidit istud Parmenides; sane patria ditione tumescit. Quem quia prefeci Mediae, maiora superbus sperat et aspirat ad summi culmen honoris. Forsitan hoc animi dedit in mea fata Phylotae quod sine cognatis sum nec michi libera proles nec genitor superest. Erras, funeste Phylota! Tot salvis Macedum ducibus, quorum agmina meme circumstare vides, Magnum ne dixeris orbum. Ecce mei fratres, quos intuor, ecce parentes! Quod celat, quod Dimus eum non nominat inter participes sociosque doli, minus esse nocentem non facit. Indicium est ducis et terroris in illos prodere qui possunt. Qui cum de se fateantur, de duce non audent ducti terrore fateri. Multaque consuevit de me suspecta Phylotas et serere et faciles prebere serentibus aures. Se gaudere michi, genitum quem Iupiter a se affirmabat, ait: miseris tamen esse dolendum, vivendum quibus est tanti sub principe fastus,

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und Nicomachus, der das Komplott als erster hatte auffliegen lassen, öffentlich vor versammelter Menge ihre Aussage über den Ursprung des Verbrechens. Der Kriegsheld verstärkte deren Aussage folgendermaßen: »Mit welcher Hingabe hat Philotas seinen König denn wirklich geachtet, mit welcher Zuneigung [115] hat er seinen Vater denn wirklich geliebt, wenn er geschwiegen hat, obwohl ihm das schlimmste aller Verbrechen schon lange bekannt war? Dass dieses Verbrechen jedoch nicht hätte verschwiegen werden dürfen, zeigt der Selbstmord des Dimus. Einmal in Kenntnis des verwerflichen Mordplans, ließ Cebalinus nicht eine Stunde verstreichen. Allein Philotas hat keine Furcht verspürt, allein Philotas hat jenem Mordplan keinen Glauben geschenkt; [120] stolz schwillt ihm fürwahr die Brust aufgrund der Macht seines Vaters. Weil ich diesem Medien unterstellt habe, hofft er in seinem Hochmut auf größeren Einfluss und strebt nach der höchsten Stellung. Vielleicht hat ihn auch der Umstand dazu bewogen, mich ermorden zu wollen, dass ich keine Verwandtschaft besitze und keinen freigeborenen Sohn [125] und auch mein Vater nicht mehr am Leben ist. Aber du befindest dich im Irrtum, verruchter Philotas! Bezeichne Alexander den Großen angesichts so vieler noch lebender griechischer Anführer, deren Truppen, wie du sehen kannst, mich stehend umgeben, nicht als verwaist. Schau dort, auf die ich gerade blicke, das sind meine Brüder und Eltern! Der Umstand, dass Dimus ihn nicht namentlich nennt und nicht [130] als Mitwisser und Komplize der Freveltat anzeigt, mindert nicht seine Schuld. Eher ist dies ein Zeichen dafür, dass Philotas als Anführer auf diejenigen Druck ausübt, die ihn verraten könnten. Obwohl sie gestehen, selbst schuldig zu sein, wagen sie es aus Angst nicht, ihren Anführer bloßzustellen. Oft säte Philotas großes Misstrauen gegen mich [135] und schenkte jenen bereitwillig Gehör, die dies ebenfalls häufig taten. Er sagt, dass er sich für mich freue, über den Jupiter selbst sagte, dass er mein Vater sei: doch bedauern müsse man die Armen, die unter einem so hochmütigen König leben müssten, der das Maß und die

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excedente modum et stadium mortalis habenae. Et scivi et silui, neque enim fieri michi viles et contemptibiles aliis volui quibus ante tot bona contuleram. Sed iam temeraria lingua vertitur ad gladios, et quod conceperat ore, parturit ense manus. Quo me conferre licebit? Cui caput hoc credam? Prefeci pluribus unum, cui vitae et capitis commisi iura, sed unde presidium petii, venit inprovisa salutis pernicies. Melius cecidissem Marte, futurus hostis preda mei pocius quam victima civis. Nunc Macedo, servatus ab hiis que sola timebat, incidit in lateris socios et in agmina quorum nec vitare manus nec debuit arma timere. Ergo, mei cives, vestra ad munimina civis armaque confugio. Liceat vos esse salutis auctores. Salvus vobis nolentibus esse nec volo nec possum. Si me salvare velitis, vindicis officium pretendite vindice pena.” Hec ubi persuasit ira dictante, relinquit concilium vinctumque iubet proferre Phylotam dicturum causam ne iudiciarius ordo dicatur vires tanti victoris in aula amisisse suas. Manibus stetit ille revinctis

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Möglichkeiten menschlicher Macht überschreite. [140] All das wusste ich und schwieg trotzdem. Nicht nämlich wollte ich mir selbst gegenüber wertlos und allen anderen gegenüber, denen ich zuvor so viele Reichtümer hatte zukommen lassen, verachtenswert werden. Doch seine unbedachten Äußerungen rufen bereits Gewalt hervor, und was er mit dem Mund ausgesprochen hat, möchte die Hand mit dem Schwert ausführen. Wohin mich zu wenden wird mir noch möglich sein? [145] Wem noch kann ich mich anvertrauen? Diesen einen habe ich vielen vorangestellt, ihm habe ich das Recht über Leben und Tod zugestanden, doch ausgerechnet von dort, wo ich Schutz suchte, kommt eine unerwartete Bedrohung für meine Sicherheit. Lieber wäre ich im Krieg als Beute meines Feindes gefallen, als danach Opfer eines griechischen Landsmanns zu werden. [150] Im Krieg gegen die Feinde kaum den Gefahren entronnen, die ich bisher als einzige ernsthafte Bedrohung betrachtet habe, gerät der makedonische König jetzt unter seinen Vertrauten und mitten unter seinen Soldaten, deren Händen er nicht ausweichen und deren Waffen er nicht fürchten sollte, in Lebensgefahr. Deshalb, meine Landsleute, suche ich als Landsmann bei euch und euren Waffen Zuflucht. Möge es euch vergönnt sein, mir das Leben zu bewahren. [155] Wenn ihr das aber nicht wollt, will und kann ich nicht länger am Leben bleiben. Solltet ihr aber gewillt sein, mein Leben zu retten, dann erfüllt mit rächender Strafe auch des Rächenden Pflicht.« Alexander als ungerechter Richter (158–184) Als er die Versammlung zornerfüllt von seinen Argumenten überzeugt hatte, verließ er diese und erteilte den Befehl, Philotas gefesselt vorzuführen, [160] um ihm die Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben, damit man nicht sage, die Rechtsordnung habe am Sitz des übermächtigen Siegers ihre Gültigkeit verloren. Bleich stand je-

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luridus et vili velatus tegmine membra, lugubri facie, multum mutatus ab illo qui nuper princeps equitum Magnoque secundus nobilior ducibus et magnificentior ibat, disponens acies tractansque negocia belli. Hoc habitu quondam Burkardum Flandria vidit solventem meritas occiso consule penas, quem rota penalis tanto pro crimine torsit totaque confregit Ludewico vindice membra. Nutabat pietate cohors, animosque subibat Parmenionis amor, tam clari civis amara condicio, qui cum viduatus prole gemella, Hectore iam pridem magnoque Nicanore nuper, iura daret Medis: absente parente superstes tercius et patrium solus solamen iniquo iudice barbaricis causam dicebat in horis. Herebant animi procerum, poteratque videri sevicie cessisse rigor cum pretor Amyntas regius, intuitus mentes pietate remissas, pluribus obiectis cepit dampnare Phylotam sopitamque ducum dicendo resuscitat iram sedatumque facit rursum crudescere vulgus. Tunc vero attonitus labefacta mente Phylotas avertensque oculos a circumstante caterva nec caput erexit nec flexit luminis orbem, seu quia conciderat sceleris mens conscia tanti

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ner mit gefesselten Händen da, am Körper in einen einfachen Umhang gehüllt, mit traurigem Gesicht, ganz anders als jener Mann, [165] der noch vor kurzem als Anführer der Reiterei und als Zweiter nach Alexander, die Schlachtreihen ordnend und das Kriegshandwerk betreibend, angesehener und erhabener als die anderen aus der inneren Führungsriege einherschritt. In diesem Zustand erblickte Flandern einst den Grafen Burchard, als verdiente Buße ihn traf, nachdem er den Grafen Karl ermordet hatte. [170] Auf Geheiß Ludwigs quälte ihn das Folterrad für diese Freveltat und zerbrach ihm sämtliche Glieder. Mitleidig schwankte die Truppe und die Zuneigung zu Parmenion ergriff ihre Herzen ebenso wie das schlimme Los ihres berühmten Landsmanns, der in diesem Krieg schon zwei Söhne verloren hatte – [175] Hektor schon vor längerer Zeit und den großartigen Nicanor erst vor kurzem – und in Medien das Oberkommando innehatte: In Abwesenheit des Vaters musste sich nun – so dachten sie – der noch lebende dritte Sohn und einziger Trost für den Vater im Land der Barbaren von einem ungerechten Richter den Prozess machen lassen. Die Anführer waren unschlüssig und man hätte den Eindruck gewinnen können, [180] die Strenge des Rechts sei der unvernünftigen Wut gewichen, als des Königs General Amyntas angesichts der vom Mitleid unsicher gewordenen Soldaten begann, Philotas mit zahlreichen Vorwürfen anzuklagen, mit seinen Worten den eingeschlafenen Zorn der Anführer von neuem weckte und das zurückhaltende Fußvolk wieder zur ursprünglichen Strenge zurückführte. Philotas’ Verteidigungsrede (185–301) [185] Da aber wandte Philotas voller Angst erschüttert die Augen von der umstehenden Menge ab und konnte den Kopf nicht heben, geschweige denn seinen Blick auf die anwesenden Männer richten, entweder weil er, sich seiner Schuld für ein derart schlimmes Ver-

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seu quia supplicii nutabat pressa timore. Nec mora, mentis inops super illum corruit a quo ipse tenebatur. At demum mente recepta, abstergens panno faciem vultumque madentem fletibus, “Insonti facile est” inquit “reperire verba; tenere modum misero non est leve, cives. Cumque sit in portu mens hinc mea, criminis expers huius et in nullo sibi conscia, turbidus illinc me tumido fluctu fortunae verberet Auster, inter utrumque situs, utriusque locatus in arto, non video qua lege queam parere vel huius temporis articulo vel mundae a crimine menti. Forti fortunae, pereo, si pareo. Mentem non sinit insontem fortuna potentior esse. Hec secura manet, in me parat illa securim. Hinc spes, inde metus. Hinc salvus, naufragus illinc. Preterea causam ingredior sine iudice, cuius intererat iustae meritum cognoscere causae. Nec video cur absit, ei dampnare nocentem cum liceat soli solusque absolvere possit. Absolvi nequeo nisi causae cognitor ipse et iudex sedeat quia vix continget ut ipso liberer absente a quo sum presente ligatus. Sed quamvis infirma hominis defensio vincti sit qui censorem non instruit, immo videtur

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brechens bewusst, in sich zusammengesunken war oder weil ihn die Angst vor der Strafe heftig umtrieb. [190] Sogleich sank er ohnmächtig zu jenem hinüber, von dem er gestützt wurde. Doch schließlich wieder bei Bewusstsein, wischte er sich das tränenbenetzte Gesicht und die Wangen mit dem Umhang trocken und sagte: »Für einen Unschuldigen ist es leicht, Worte zu finden, schwierig jedoch ist es für einen Mann in einer derart bedrängten Situation, meine Landsleute, in der Rede maßvoll zu argumentieren. [195] Und da ich einerseits ein reines Gewissen habe und mir ohne Anteil an diesem Verbrechen keiner Schuld bewusst bin, da mich andererseits aber auch der wilde Sturmwind des Schicksals mit schwellenden Wogen peitscht, weiß ich nicht, so zwischen beide Extreme gestellt und von beiden in die Enge getrieben, welchem Gesetz ich gehorchen soll: entweder der harten Bedrängnis dieses [200] Moments oder einem vom Verbrechen unbefleckten Gewissen. Wenn ich mich dem machtvollen Schicksal füge, sterbe ich. Das Schicksal lässt nicht zu, dass ein reines Gewissen mächtiger ist als dieses. Mein Gewissen bleibt furchtlos, das Schicksal jedoch hat das Richtbeil für mich schon bereitgestellt. Auf der einen Seite besteht Hoffnung, auf der anderen Seite regiert die Furcht. Hier erwartet mich Rettung, dort Verzweiflung. [205] Außerdem komme ich zur Verhandlung in Abwesenheit des Richters, dem immer etwas daran gelegen war, die Bedeutung eines gerechten Prozesses anzuerkennen. Ich weiß nicht, warum er nicht anwesend ist, da ihm allein es doch zusteht, einen Schuldigen zu verurteilen, und er allein auch einen Unschuldigen freisprechen kann. Einen Freispruch kann ich nicht erwirken, wenn der Kläger [210] und Richter nicht persönlich anwesend ist, da kaum damit zu rechnen ist, in Abwesenheit ausgerechnet desjenigen Mannes, der mich in seinem Beisein in Fesseln hat legen lassen, freigesprochen zu werden. Aber auch wenn die Verteidigung eines gefesselten Mannes, der den Richter nicht aufzuklären vermag und sogar als jemand zu gelten scheint, diesem den Vorwurf zu machen, ungerecht zu sein, wenig überzeugend

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arguere iniusti, tamen hoc, utcumque licebit, mortis in articulo pro me allegabo meique non ero desertor. Sed quo me crimine dampnet curia, non video. De conspirantibus unum vel de complicibus me nemo fuisse fatetur. De me Nicomachus nichil expressit. Cebalinus plus quam Nicomachus, a quo scelus audiit istud, noscere non potuit. Me rex tamen arguit huius criminis auctorem; sed qua ratione videtur subticuisse caput cedis scelerisque magistrum quemque sequebatur tanto in discrimine Dimus? Non verisimile est alieno parcere quemquam qui sibi non parcit. Econtra credere dignum est, ut se maiori tueatur nomine, Dymum inter participes prius expressisse Phylotam. “Scripta ferunt Ytacum, cum furtum Palladis illi Aiax obiceret raptamque in nocte Minervam, Tytite socio factum excusasse decenter et velasse suam Dyomedis nomine culpam, cumque Laerciadae rursus simulasse furorem obiceret bellique metu quesisse latebras, "Sit michi" respondit "latebras quesisse pudori, cum ratione pari crimen reputetur Achillem inter femineas timidum latuisse catervas: cum tanto commune viro non abnuo crimen. Sic ubi tractatur communis causa duorum, interdum maior solet excusare minorem. Dicite, consulti iuris legumque periti, qua ratione perit, mortem quo iure meretur

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sein mag, werde ich dennoch, soweit dies möglich sein wird, [215] in der Stunde meines Todes mein Recht vertreten und nicht zum Verräter meiner selbst werden. Indessen verstehe ich nicht, welches Verbrechen mir das Gericht eigentlich vorwirft. Nicht einer behauptet, ich sei einer der Verschwörer oder Mitwisser des geplanten Verbrechens gewesen. Nicomachus hat meinen Namen nicht genannt. Und Cebalinus, [220] der erst von Nicomachus von diesem Verbrechen erfahren hatte, konnte nicht mehr als sein Bruder wissen. Dennoch beschuldigt mich der König, Drahtzieher dieses Verbrechens zu sein. Weshalb jedoch hat Dimus nach allem, was man weiß, den Rädelsführer des Mordes und den Anstifter des Verbrechens, dem er in einer so gefährlichen Situation angeblich bereitwillig folgte, verschwiegen? [225] Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand einen anderen schont, der sich selbst nicht zu schonen versteht. Ganz im Gegenteil ist es glaubwürdiger, dass Dimus von den Komplizen als ersten Philotas genannt hätte, um sich selbst mit dem größeren Namen zu schützen. So auch berichten die Schriften, Odysseus habe sich angemessen damit entschuldigt, [230] als Ajax ihm den Diebstahl und nächtlichen Raub des Palladiums vorwarf, dass er diese Tat gemeinsam mit des Tydeus Sohn begangen habe, und er somit seine Schuld mit dem Namen des Diomedes bemäntelte. Als er dem Odysseus überdies den Vorwurf machte, er habe vorgetäuscht, wahnsinnig geworden zu sein, und habe sich aus Angst vor dem trojanischen Krieg versteckt, antwortete dieser: [235] ›Auch wenn es für mich beschämend sein mag, mich versteckt zu haben, verschmähe ich nicht die Schmach, die ich mit einem Helden wie Achilles teile, da ihm auf dieselbe Weise als Schmach angerechnet wird, dass er sich ängstlich bei Frauen versteckt hat.‹ Sobald man eine Schuld, die Zweien gemeinsam ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, [240] entschuldigt bisweilen der Angesehenere den weniger Angesehenen. Sagt, ihr Rechtsgelehrten und gesetzeskundigen Männer, aufgrund welcher Beweisführung darf ein Mann sterben, aufgrund welchen Rechts verdient ein Mann

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quem nemo accusat, in quem nec fama laborat nec sua condempnat confessio. Criminis huius nuncius in primis nisi me Cebalinus adisset, non hodie traherer in causam, nemine nomen accusante meum. Sed quod suppresseris ad te delatum facinus quodque his rumoribus aures clauseris, obicitur. Quidni? Puerine querelis est adhibenda fides? Minus est preciosus et absque pondere sermo gravis quem non gravis edidit auctor, rumoresque facit levitas auctoris inanes. Si Dimo culpae socius vel conscius essem, non sinerem sane vel me vel criminis huius participes prodi, biduo cum posset in illo res peragi. Clam sive palam poteram Cebalinum tollere de medio ne regi nuncius iret concepti sceleris. Huius moliminis ad me delato indicio, post detectam michi fraudem qua periturus eram, ferro comitante penates secretos adii regisque cubilia solus. Non video cur distulerim scelus. An sine Dimo ausus non fuerim? Princeps erat ille cruenti et dux consilii. Sub eo latuisse Phylotam creditur et Magno regnum affectasse perempto. Quem tamen e vobis corrupi munere, cives? Quem colui de tot vobis inpensius unum? Sed scripsisse sibi me rex obiecit, honori congaudere suo, genitum quem Iupiter a se

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den Tod, den niemand beschuldigt, gegen den noch nicht einmal gerüchteweise etwas vorliegt und der auch selbst kein Geständnis ablegt? [245] Wenn Cebalinus mich nicht als ersten aufgesucht hätte, um mir von dem geplanten Anschlag zu berichten, würde ich heute nicht vor Gericht gezerrt werden und keiner könnte mich beschuldigen. Aber man macht mir den Vorwurf, ich hätte die mir überbrachte Nachricht über den geplanten Anschlag nicht weitergeleitet und meine Ohren diesen Gerüchten gegenüber verschlossen. Warum nicht? Muss man dem Geschwätz eines Knaben [250] Glauben schenken? Weniger wichtig und von geringerer Bedeutung sind auch schwerwiegende Worte, die von einem nicht ernstzunehmenden Ohrenzeugen stammen, und ein wenig vertrauenswürdiger Ohrenzeuge macht Gerüchte ohnehin unglaubwürdig. Wenn ich Dimus’ Komplize und sein Mitwisser wäre, würde ich freilich nicht zulassen, dass ich oder die Mitwisser wegen dieses geplanten Attentats entdeckt würden, [255] da es doch innerhalb von zwei Tagen hätte ausgeführt werden können. Heimlich oder vor aller Augen hätte ich Cebalinus beseitigen können, damit er das geplante Verbrechen dem König nicht zuträgt. Nachdem mir ein Beweis für dieses verbrecherische Bemühen überbracht worden war und ich den Betrug, [260] durch den nun mein Ende herannaht, aufgedeckt hatte, betrat ich die abgelegene Wohnstatt und den Schlafraum des Königs ganz allein mit dem Schwert. Ich sehe keinen Grund, warum ich das Verbrechen in diesem Moment hätte aufschieben sollen. Oder hätte ich das Verbrechen ohne Dimus allein nicht gewagt? Jener war der Drahtzieher und Anführer des grausamen Plans. [265] Man glaubt, ich hätte mich hinter diesem versteckt und würde versuchen, nach dem Tode des Königs die Herrschaft an mich zu reißen. Wen von euch, meine Landsleute, habe ich jedoch mit Geschenken zu bestechen versucht? Wen von so vielen von euch habe ich als einzigen allzu aufwendig mit Ehrungen bedacht? Aber der König macht mir den Vorwurf, ihm geschrieben zu haben, dass ich mich mit ihm, den Jupiter als seinen Sohn anerkannt

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voce affirmabat, miseris tamen esse dolendum, vivere quos dederat tanti sub principe fastus. Vera fides et amor fiducia consiliique libertas veri sed perniciosa quibusdam, sanaque qua colui regem correptio, vos me decepistis! Et hec fateor scripsisse Phylotam: Hec scripsi regi sed non de rege. Sciebam dignius esse Iovem tacitis agnoscere votis et superum stirpem quam se iactando movere contra se invidiam procerumque lacessere bilem. Quid michi, rex, pro te tociens sudasse, quid armis profuit et tecum et pro te consumpta iuventus continuusque labor Martis, quid in agmine fratres amisisse duos? Nec patrem ostendere possum presentemque malis adhibere nec audeo nomen implorare patris quia creditur huius et ipse criminis esse reus: neque enim satis esse parentem orbatum geminis si non orbatur et uno qui superest natique rogis imponitur insons. Ergo, care pater, et propter me morieris et mecum, vitaeque michi tu causa fuisti, qui tibi mortis ero. Rumpo tibi fila, tuumque filius extinguo senium! Cur ergo creabas hoc in perniciem corpus tibi? Nonne creatum perdere debueras? An ut hos ex stirpe maligna perciperes fructus? Miserabiliorne senectus sit patris natine magis miseranda iuventus, ambigitur. Vernis et adhuc venientibus annis

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hat, über die Ehrenbezeugung freue, [270] man die Armen jedoch bedauern müsse, welche der höchste der Götter dazu bestimmt hat, unter einem so hochmütigen König leben zu müssen. Wahre Treue und Liebe, Vertrauen und die Freiheit eines aufrichtigen Ratschlags – manchen schon haben sie geschadet – und auch heilsame Kritik, mit der ich dem König meine Ehrerbietung gezeigt habe, [275] ihr alle habt mich getäuscht! Ganz offen bekenne ich, jenes geschrieben zu haben, doch schrieb ich es an den König und nicht über den König. Ich war der Meinung, dass es würdevoller gewesen wäre, sich im stillen Gebet zu Jupiter und seiner göttlichen Abstammung zu bekennen, als sich damit zu brüsten und so den Neid gegen sich zu schüren und Verdruss unter seinen Anführern hervorzurufen. [280] Was hat es mir, o König, geholfen, so oft für dich im Schlachtgetümmel meinen Schweiß vergossen und mit dir und für dich meine Jugend geopfert zu haben, was hat mir die ständige Mühsal des Kriegs gebracht, was hat es mir genützt, im Kampf meine beiden Brüder verloren zu haben? Weder kann ich meinen Vater vortreten lassen und ihn im Unglück leibhaftig hinzuziehen noch wage ich es, überhaupt seinen Namen [285] flehend zu nennen, da man der Meinung ist, auch er sei dieses Verbrechens schuldig: Denn nicht ist es genug, dass der Vater bereits zwei seiner Söhne beraubt wurde, wenn er nicht auch des letzten noch lebenden Sohnes beraubt und unschuldig auf den Scheiterhaufen des Sohnes geschleppt wird. Deshalb, mein teurer Vater, wirst du wegen mir [290] und zusammen mit mir sterben, verholfen hast du mir zum Leben, zum Tode werde ich dir nun verhelfen. Den Lebensfaden zerschneide ich dir und der Sohn lässt dein Greisenalter erlöschen. Warum hast du diesen für dich Verderben bringenden Körper gezeugt? Hättest du ihn nach der Geburt nicht umbringen sollen? Oder lag es vielleicht in deiner Absicht, von mir elendem Sproß [295] derartige Früchte zu erhalten? Unklar ist es tatsächlich, ob das Greisenalter des Vaters bedauernswerter oder die Jugend des Sohnes bemitleidenswerter ist. Ich für meinen Teil werde im Frühling meines Daseins und unge-

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de medio tollor. Effeto sanguine patri spiritus eripitur, quem si fortuna morari vel modicum sineret in obeso corpore, iure poscebat natura suo.” Sic fatur, et ecce rex in concilium ferro livente caterva stipatus rediit. Tunc vero exterritus ille supplicii mortisque metu rursusque gelato pectore lapsus humo moribundo languit ore. Ceperat in proceres sententia serpere discors, ancipitique ducum nutabant murmure partes. Censebant alii perimendum more vetusto Parmenidem saxis, alii extorquere volebant supplicio verum. Quorum rex dicta secutus aptari tormenta iubet. Tortoribus ergo exertis manibus in conspectuque Phylotae seviciae misero genus omne parantibus, ille “Non opus est,” inquit “proceres, graviore flagello. Confiteor, volui.” Sed cum gravioribus illum afficerent penis, cum iam lacer ossibus ictus exciperet nudis nec iam superesset in ipso vulneribus locus, exposuit tandem capitales insidias seriemque rei facinusque. Sed anceps coniectura fuit an tanta enormia de se confessus fuerit ut se cruciamine longo eripiens celeri finiret morte dolores.

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achtet eigentlich noch kommender Jahre mitten aus dem Leben gerissen. Dem kraftlosen Vater raubt man den Atem, den die Natur sonst rechtmäßig forderte, wenn ihn das Schicksal noch eine Weile [300] in seinem abgezehrten Körper verweilen ließe.« Philotas’ Tod (301–322) So sprach er, da kehrte der König in die Versammlung zurück, dicht umringt von seiner Leibgarde, die von bleifarbenen Waffen schimmerte. Daraufhin dann sank jener nun vollends eingeschüchtert und aus Angst vor Marter und Tod [305] erneut zu Boden und erschlaffte mit bangem Gesicht und erstarrtem Herzen. Unterschiedliche Ansichten hatten sich unter den Vornehmen breitgemacht, unschlüssig murmelnd schwankten die verschiedenen Fraktionen der Anführer. Manche meinten, Philotas müsse nach altem Brauch gesteinigt werden, andere wollten die Wahrheit [310] durch Folter erpressen. Letzterem Vorschlag folgend gab der König den Befehl, die Folterbank herzurichten. Als die Folterknechte nun jede Art von Grausamkeit für den unglücklichen Philotas vor dessen Augen vorbereiteten und diesen schon an den Händen anbinden wollten, sagte jener: »Ihr Vornehmen, nicht braucht es schlimmere Strafen, [315] ich gestehe, ich habe es gewollt.« Als sie jenen aber mit schlimmeren Qualen misshandelten, als er zerfetzt bereits mit bloßen Knochen die Schläge empfing und an ihm kein Platz mehr für neue Wunden war, gab er schließlich den hinterhältigen Anschlag, den Ablauf des Verbrechens und den Mordplan preis. Und doch konnte man nur Mutmaßungen darüber anstellen, [320] ob er über sich selbst vielleicht nur deshalb so ungeheuerliche Dinge gestanden hat, um sich der langen Qual zu entziehen und die Schmerzen durch einen schnellen Tod zu beenden.

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O quam difficili nisu sors provehit actus lubrica mortales, et quos ascendere fecit, quam facile evertit! Magno fortuna labore fecerat excelsum media de gente Phylotam. Princeps militiae factus ductorque cohortis Parmenione satus, modico post tempore lapsus, scandere dum querit, fato dampnatus et exul obruitur saxis. Certat simul omnis in unum volvere saxa manus, cuius manus ante movendi castra dabat signum. Quam frivola gloria rerum, quam mundi fugitivus honor, quam nomen inane! Prelatus qui preesse cupit prodesse recusat. Sex ubi consumpti post tristia fata Phylotae preteriere dies, propero rapit agmina cursu in Bessum Macedo. Nec destitit ille laborum prodigus et patiens fatalis malleus orbis donec ab eoo monstrum implacabile tractu attrahitur vinctus presentaturque furenti Bessus Alexandro, penitus velamine dempto, nudus et inserta collo pedibusque cathena. Quem rex intuitus flammato lumine, “Cuius, Besse, fere rabies vel que suggesit Herinis tam tibi grande nefas ut promeritum bene regem vincire auderes regnique cupidine vitam

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Autorexkurs: Die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms (323–334) Ach, wie mühsam lässt das schwankende Schicksal der Menschen Werke im Aufstieg gedeihen, [325] wie leicht aber richtet es jene wieder zugrunde, die es zuvor in die Höhe geführt hat! Mit großer Mühe hatte das Schicksal Philotas aus niederem Volke in große Höhen geführt. Zum Feldherrn und Anführer der Reiter bestellt, wurde Parmenions Sohn, während er noch die Erfolgsleiter erklomm, doch nur kurze Zeit später schon wieder im Fallen begriffen, vom Schicksal verdammt und heimatlos [330] unter Steinen begraben. Voller Eifer wälzten alle Hände zugleich Steine über den einen, dessen Hand kurz zuvor noch das Zeichen für den Aufbruch aus dem Lager gegeben hatte. Wie bedeutungslos ist der Ruhm, der sich auf Macht gründet, wie flüchtig ist die Wertschätzung der Welt, wie nichtig ist ein berühmter Name! Und ein Mann, der zu kommandieren begehrt, sträubt sich – ist er einmal erhöht – wieder zu dienen. Die Hinrichtung des Bessus (335–357) [335] Als nach dem traurigen Tod des zu Tode gebrachten Philotas schon sechs Tage vergangen waren, rückte Alexander mit seinem Heer in schnellem Lauf erneut gegen Bessus vor. Und nicht ließ jener Schicksalshammer der Welt, die Strapazen beharrlich ertragend, von seinem Vorhaben ab, bis man das unversöhnliche Scheusal in Fesseln aus östlichen Gefilden [340] anschleppte und Bessus, sämtlicher Kleider beraubt, völlig entblößt und an Hals und Füßen angekettet, dem grollenden Alexander auslieferte. Der makedonische König blickte diesen mit strengem Blick an und sprach folgende Worte: »Das Ungestüm welches Tieres oder welche Erinye hat dir zu einem [345] so scheußlichen Verbrechen geraten, dass du es gewagt hast, einen so bedeutenden König wie Darius in Fesseln zu

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et patris et domini violento claudere ferro?” Hec ait, et fratrem Darii, quem corporis inter custodes pridem terrarum eversor habebat, accivit vinctumque pedes et brachia Bessum tradidit. Ille, sacram longis cruciatibus illi eripiens animam, Stigias ad sacra sorores convocat, et placat fraternos sanguine manes, affixumque cruci iubet ire ad Tartara Bessum. Exitus hic Bessi. Qui dum conscendere temptat, labitur; imperium dum querit et imperat, in se regreditur, domini ponens insignia servus. At Macedo, dudum sicienti pectore regnum affectans Scitiae, pardis velocius agmen ad Tanaim transfert, qui vasto gurgite Bactra a regno Scitiae dirimit, qui terminus idem Europam mediis Asiamque interfluit undis. Gens ea Sarmaciae pars est. Si prisca meretur fama fidem, montes et inhospita lustra ferarum pro thalamis domibusque colunt, questumque perosi contentique cibis quos dat natura, beatam ambitione sacra nolunt corrumpere vitam.

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legen und – von Herrschsucht getrieben – das Leben deines Vaters und Herrn mit dem Schwert zu beenden?« So sprach er und ließ dann Darius’ Bruder herbeirufen, den der Vernichter der Länder schon länger zu seinen Leibwächtern zählte, [350] und überließ ihm den an Händen und Füßen gefesselten Bessus. Indem jener ihm in langsamer Marter die verbrecherische Seele entriss, rief er die stygischen Schwestern zur Opfergabe, besänftigte die Manen des Bruders mit Blut und gebot dem ans Kreuz geschlagenen Bessus, in den Tartarus hinabzusteigen. [355] So endete Bessus. Noch im Aufstieg begriffen, fiel er schon wieder. Während er nach der Herrschaft strebte und tatsächlich auch herrschte, wurde er auf sich selbst zurückgeworfen und legte als sklavenhafter Charakter die Herrschaftsinsignien wieder ab. Die Unterwerfung der Skythen (358–495) Das Volk der Skythen (358–367) Alexander aber, der schon lange mit dürstendem Herzen die Herrschaft über das Reich der Skythen erstrebte, führte sein Herr schneller als ein Panther [360] zum Tanais, der mit seinen gewaltigen Fluten Baktra vom Reich der Skythen schied und zugleich mit seinem Flusslauf die Grenze zwischen Europa und Asien bildet. Dieser Volksstamm bewohnte auch einen Teil von Sarmatien. Wenn man der alten Kunde Glauben schenken darf, hielten sie sich in den Bergen auf und bedienten sich ungastlicher Höhlen von wilden Tieren [365] als Behausung und Wohnstatt. Handel und Gewerbe verachtend, waren sie mit der Nahrung zufrieden, die ihnen die Natur bot, und nicht wollten sie ihr glückliches Leben durch unheilvollen Ehrgeiz zerstören.

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Dumque super Tanaim metatus castra pararet navigium Macedo, fluvium quo sole sequenti transponendus erat Sciticis bellator in horis, ecce peregrino Macedum tentoria cultu horrida cornipedum bis deni terga prementes intravere viri, regi mandata ferentes. Quorum qui reliquis fuerat maturior evo, intuitus regem, “Cupido si corpus haberes par animo” dixit “mentique inmensa petenti, vel si quanta cupis, tantum tibi corporis esset, non tibi sufficeret capiendo maximus orbis, sed tua mundanas mensura excederet horas: ortum dextra manus, occasum leva teneret. Nec contentus eo, scrutari et querere votis omnibus arderes ubi se mirabile lumen conderet et solis auderes scandere currus et vaga depulso moderari lumina Phebo. Sic quoque multa cupis que non capis. Orbe subacto, cum genus humanum superaveris, arma cruentus arboribus contraque feras et saxa movebis, montanasque nives scopulisque latentia monstra non intacta sines, sed et ipsa carentia sensu cogentur sentire tuos elementa furores. An nescis longo quod provocat ethera ramo arboreum robur, firma radice superbum, quodque diu crevit, hora exstirparier una?

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Die Skythen-Rede (368–476) Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit (368–403)

Und noch während Alexander diesseits des Tanais das Lager abstecken ließ und den Bau von Booten in Angriff nahm, auf denen [370] der Kriegsheld am nächsten Tag auf die skythische Seite des Stroms hinübersetzen wollte, da betraten zwanzig Mann, nach fremder Sitte ohne Sattel auf dem Rücken ihrer Pferde sitzend, das Lager der Griechen und überbrachten dem König eine Botschaft. Und der älteste unter ihnen [375] blickte den König an und ließ folgende Worte verlauten: »Wenn du einen Körper hättest, der deinem habsüchtigen Charakter und deinem das Unermessliche fordernden Herzen entspräche, oder wenn dein Körper so groß wäre wie deine Gier, würde dir für deinen Eroberungsdrang auch der riesige Erdkreis nicht genügen, sondern würde deine immense Größe die Grenzen der Welt sprengen: [380] Deine Rechte würde den Westen und deine Linke den Osten umgreifen. Und damit noch immer nicht zufrieden würdest du mit unbedingtem Verlangen begierig erforschen wollen, wo die wunderbare Quelle des Lichts sich verbirgt, und du würdest es wagen, den Sonnenwagen zu besteigen und nach Phoebus’ Vertreibung das schweifende Licht des Tages lenken. [385] Auch so erstrebst du vieles, ohne es jemals erreichen zu können. Nach der Eroberung des Erdkreises und der Unterwerfung des ganzen Menschengeschlechts wirst du blutig besudelt gegen Bäume, wilde Tiere und Felsen Kriege vom Zaun brechen, wirst du den Schnee in den Bergen und in felsigen Schründen verborgen lebende scheußliche Wesen nicht unversehrt lassen, sondern sogar die eigentlich empfindungslosen Urstoffe [390] zwingen, dein rasendes Wüten zu verspüren. Weißt du denn nicht, dass auch ein kraftvoller und auf sein Wurzelwerk stolzer Baum, der mit seiner ausladenden Krone die himmlischen Götter herausfordert, nach langem Wachstum eines Tages entwurzelt zu Fall kommt?

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Stultus qui fructum cum suspicit arboris, altum non vult metiri. Videas, sublime cacumen prendere dum tendis, postquam comprenderis illud, cum ramis ne forte cadas. Avium fuit esca parvarum quandoque leo, rex ante ferarum. Ferrum, cuncta domans atque omni durius ere, consumit rubigo vorax. Sub cardine Phebi tam firmum nichil est cui non metus esse ruinae possit ab invalido. Quis non, dum navigat orbem, debeat occursum mortisque timere procellam? Quid nobis tecum? Non infestavimus armis attigimusve tuam facturi prelia terram. Quis sis, unde trahas genus, ad quid missus et unde, ignorare Scitis liceat fugientibus arma et strepitus hominum nemorumque colentibus antra. “Libera gens Scitiae nichil appetit ulterius quam prima parens Natura dedit, de munere cuius nec cuiquam servire potest nec ut imperet optat. Esse sui iuris hominem, sua seque tueri, contentum esse suis, alienum nolle, beatum efficiunt. Igitur si quid quesiveris ultra, excedunt tua vota modum finemque beati. “Ne tamen ignores mores gentemque Scitarum, sunt armenta Scitis vomer cifus hasta sagitta. Utimur hiis rebus et amicos inter et hostes.

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Töricht ist es, nur nach den Früchten des Baumes zu schauen, [395] nicht aber dessen Höhe zu bemessen. Sieh dich vor, bei deinem Versuch, die oberste Spitze zu erklimmen, zusammen mit dem Geäst nach Erreichen des Wipfels nicht wieder abwärts zu stürzen. Kleiner Vögel Futter ward irgendeinmal der Löwe, zuvor noch König der Tiere. Und das alles bezwingende Schwert, härter als jedes Erz, [400] verschlingt der gefräßige Rost. Denn nichts unter Phoebus’ Himmel ist so stark, dass es nicht seinen durch einen Schwächeren herbeigeführten Sturz fürchten müsste. Wer muss nicht, wenn er den Erdkreis durchmisst, die Begegnung mit dem Tod und dessen Ansturm befürchten? Alexanders Maßlosigkeit: Die grenzenlose Eroberungswut (404–459)

Was willst du von uns? Nicht haben wir jemals deine Heimat mit Waffen bedroht [405] oder mit der Absicht betreten, Schlachten zu schlagen. Möge es den Skythen, die vor Krieg und Menschengetöse flüchten und in Höhlen der Wälder hausen, erlaubt sein, in Unkenntnis darüber zu bleiben, wer du überhaupt bist, von wem du deine Abkunft herleitest und woher und zu welchem Zweck du geschickt wurdest. Nichts weiter erstrebt der freie Volksstamm der Skythen als das, was ihm [410] die Natur als erste Mutter geschenkt hat. Demzufolge können wir weder jemandem dienstbar sein noch hegen wir den Wunsch, über jemanden zu herrschen. Sein eigener Herr zu sein, seinen Besitz und sich selbst zu beschützen, zufrieden zu sein mit dem eigenen Besitz, fremdes Eigentum nicht zu begehren – allein das macht glücklich. Wenn du also etwas darüber hinaus begehren solltest, [415] überschreiten deine Wünsche das rechte Maß und die Grenze menschlichen Glücks. Damit dir jedoch der Volksstamm der Skythen und deren Gebräuche nicht unbekannt bleiben: Viehherden haben wir, verwenden aber auch den Pflug, wir gebrauchen Trinkkelche und bedienen uns Lanzen und Pfeilen. Diese Dinge nutzen wir unter Freunden und gegen unsere

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Diis vinum in sacris patera libamus. Amicis parta labore boum largimur farra; sagitta eminus obruimus inimicos, cominus hasta. Que te terra capit? Quid sufficiet tibi? Lidos Capadoces Syriam domuisti, Persida Medos Bactra subegisti; nunc tendis victor ad Indos. Proch pudor, ad pecudes nostras extendis avaras instabilesque manus. Et cum tibi regna ministrent omnia divicias, tibi pauper inopsque videris. Quid tibi diviciis opus est, que semper avaro esuriem pariunt? Quanto tibi plura parasti, tanto plura petis et habendis acrius ardes. Sicque famem sacies. Defectum copia nutrit. Succurritne tibi quam longo tempore Bactra te teneant? Populum hunc dum subicis, ille rebellat. Nascitur ex bello victoria. Rursus ab illa surgunt bella tibi. Tanaim transibis ut hostes invenias Scitiamque tibi, que libera semper, subicias. Sed nostra tuis velocior alis paupertas. Totius opes exercitus orbis et predam vehit iste tuus. Nos pauca trahentes, unde magis celeres parili levitate fugamus et fugimus. Cum vero Scitas procul esse remotos a te credideris, inter tua castra videbis, cumque capi faciles captosve putaveris hostes, elapsi fugient rapido pernicius Euro. Nulla Scitas inopes opulentia, nulla cupido allicit. Hoc hominum genus oppida spernit et urbes et deserta colit, humani nescia cultus.

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Feinde. Den Göttern zum Opfer spenden wir Wein aus dem Kelch. [420] Freunde beschenken wir reichlich mit Getreide, durch der Ochsen Arbeit dem Boden abgerungen. Mit dem Pfeil töten wir unsere Feinde aus großer Entfernung, mit der Lanze im Nahkampf. Welches Land kann dich in sich aufnehmen? Was wird dir genügen? Lydien, Kappadokien und Syrien hast du bezwungen, ebenso Persien, Medien und Baktra. Nun willst du dir Indien siegreich noch unterwerfen. [425] O Schande, nach unseren Herden streckst du deine gierigen und rastlosen Hände aus. Und wenn dir auch alle besiegten Königreiche Reichtümer verschaffen, wirst du dir selbst nur arm und mittellos vorkommen. Was benötigst du Reichtum, der in einem gierigen Herzen immer größeren Hunger weckt? Je mehr du dir verschafft hast, [430] umso mehr willst du haben und entbrennst noch heißer vor Gier. Und so fördert die Übersättigung nur noch die Habsucht und Überfluss nährt das Verlangen. Kommt dir nicht in den Sinn, wie lange dich Baktra kämpfend schon festhält? Während du das eine Volk unterwirfst, erhebt sich ein anderes. Aus dem Krieg erwächst dir ein Sieg. Aus dem Sieg jedoch [435] erwachsen dir neue Kriege. Den Tanais wirst du überqueren, um neue Feinde zu finden und dir das bisher stets freie Skythien zu unterwerfen. Aber unsere Armut ist schneller als deine Reiter. Dein Heer trägt die Reichtümer und die Beute der ganzen Welt mit sich. Wir dagegen führen nur weniges mit uns, [440] wodurch wir unsere Feinde – stets schneller als diese – mit der gleichen Leichtigkeit in die Flucht schlagen, wie wir vor ihnen fliehen. Solltest du glauben, die Skythen seien weit von dir entfernt, wirst du sie plötzlich mitten in deinem Lager entdecken, und solltest du glauben, die Feinde leicht ergreifen oder sogar festsetzen zu können, werden sie dir schneller als der stürmische Ostwind fliehend entrinnen. [445] Kein Reichtum und keine Habgier vermögen trotz ihrer Armut die Skythen zu locken. Dieser Menschenschlag macht sich nichts aus großen und kleinen Städten, wohnt in abgeschiedenen Einöden und will nichts von der menschlichen Zivilisation wissen. Denke

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“Proinde manu pressa digitisque tenere recurvis fortunam memor esto tuam, quia lubrica semper et levis est numquamque potest invita teneri. Consilium ergo salubre sequens quod temporis offert gratia presentis, dum prospera luditur a te alea, dum celeris Fortunae munera nondum accusas, impone modum felicibus armis ne rota forte tuos evertat versa labores. Nostri Fortunam pedibus dixere carentem, pennatamque manus et habentem brachia pingunt. Ergo manus si forte tibi porrexerit, alas corripe ne rapidis, quando volet, avolet alis. Denique, si deus es, mortalibus esse benignus et dare que tua sunt non que sua demere debes. Si similis nobis homo, te debes reminisci semper id esse quod es. Stultum est horum meminisse ex quibus ipse tui es oblitus. Habebis amicos, bella quibus non intuleris. Firmissimus inter equales interque pares est nodus amoris. Equales sunt sive pares qui nec sibi cedunt nec sese excedunt: hii sunt qui nulla cruenti viribus inter se fecere pericula Martis. Esse tibi cave ne credas quos vincis amicos. Ante feret stellas tellus Septemque Triones

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daher daran, dein Schicksal mit geschlossener Faust und gekrümmten Fingern mit aller Kraft festzuhalten, da es immer unsicher und unbeständig ist [450] und im Grunde genommen niemals gegen seinen Willen festgehalten werden kann. Folge also unserem nützlichen Rat, den dir des Augenblicks Gnade gewährt, solange noch dir das Schicksal gewogen ist, solange du dich noch nicht über die Gaben der allzu raschen Fortuna beklagst, erlege deinen bisher glücklichen Waffentaten ein Maß auf, [455] damit sich das Rad des Schicksals nicht wendet und all deine Mühen zunichtemacht. In unserem Volk erzählt man sich, Fortuna fehlten die Füße, und man stellt sie auf Bildern nicht nur mit Armen und Händen, sondern auch als geflügeltes Wesen dar. Sollte sie dir also ihre Hände entgegenstrecken, ergreife ihre Flügel, damit sie nicht eilends davonfliegt, wenn sie die Lust dazu packt. Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit (460–476)

[460] Zuletzt, wenn du ein Gott bist, ist es deine Pflicht, den Sterblichen mit Wohlwollen zu begegnen und ihnen das zu geben, was dir gehört, und ihnen nicht das zu nehmen, was ihnen gehört. Wenn du jedoch ein Mensch bist wie wir, musst du dir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass du an dein menschliches Dasein gebunden bist. Töricht ist es, immer an das zu denken, wodurch du dich in deiner Existenz als Mensch aufgibst. Du wirst diejenigen als Freunde gewinnen, [465] die du nicht mit Krieg überziehst. Das stärkste Band der Zuneigung besteht zwischen jenen Menschen, die sich als Gleiche unter Gleichen auf Augenhöhe begegnen. Gleich oder einander ebenbürtig jedoch sind sie nur dann, wenn nicht einer dem anderen nachsteht oder einer den anderen übertrifft: das sind diejenigen, die sich gegenseitig niemals gewaltsam den Gefahren eines blutigen Kriegs ausgesetzt haben. [470] Hüte dich aber davor, in einem besiegten Feind einen Freund zu sehen. Eher wird die Erde die Sterne entführen, eher wird der Ozean das Sternbild

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abluet Oceanus et siccum piscis amabit quam servi ad dominum sit veri nexus amoris. Inter eos nulla est concordia. Nam licet extra pax pretendatur, odio confligitur intus. Pacem vultus habet, agitant precordia bellum.” Sic ait, at Macedo nichilominus agmine facto arma Scitis inferre parat, multoque labore flumine transmisso, collatis viribus, hostem deicit et tandem, sed non sine cede suorum, imperio Macedum Scitiam servire coegit, qualis in Alpinis annoso robore saxis astra petens abies multosque inflexa per annos afflatus Euri Zephirum contempsit et Austrum, quam si forte suo Boree de more fatiget spiritus et toto tundat simul aera nisu, nil illi rami veteres, nil horrida musco robora proficiunt sua quominus obruta vento corruat et prono tellurem vertice pulset: Sic licet Assirios Medorum et Persidis arma fregissent, tamen ut Boreae glacialibus alis ocior incubuit et acerbior ille cruentus fatorum gladius, terrarum publica pestis, Magnus Alexander, confractis viribus illi succubuere Scite, superos et fata secuti.

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des Großen Wagens wegspülen und eher werden die Fische das trockene Land bevölkern, als dass zwischen Besiegten und dem Sieger echte Zuneigung besteht. Zwischen ihnen kann niemals Eintracht herrschen. Denn mag man auch nach außen hin [475] Frieden vortäuschen, im Inneren findet ein hasserfüllter Kampf statt. Frieden heuchelt die Miene, das Herz aber sinnt nur auf Krieg.« Alexanders Sieg über die Skythen (477–495) So sprach der Skythe. Doch ungeachtet dieser Worte setzte Alexander seine Soldaten in geschlossener Ordnung gegen die Skythen in Marsch. Nach der mühsamen Überquerung des Tanais schlug er den Feind in einer gemeinsamen Kraftanstrengung [480] in die Flucht und konnte die Skythen nicht ohne eigene Verluste schließlich zwingen, sich der Herrschaft der Griechen zu fügen. Wie eine Tanne, die in den felsigen Alpen mit ihrem uralten Stamm himmelwärts strebend über viele Jahre hinweg unbeugsam den Winden des Eurus, Zephyr und Auster zu trotzen vermochte, [485] deren alte Zweige und moosbewachsener Stamm ihr jedoch nichts mehr nützen, wenn sie von ungefähr der Ansturm des Boreas seiner Art entsprechend ermüdet und zugleich mit voller Wucht trifft, so dass sie vom Sturmwind niedergedrückt schließlich krachend zu Boden fällt und mit ihrem sich senkenden Wipfel den Erdboden peitscht: [490] So sanken die Skythen, auch wenn sie zuvor die Assyrer, Meder und Perser niedergerungen hatten – den Göttern und dem Schicksal folgend –, geschlagen zu Boden, als Alexander der Große, jenes blutige Schicksalsschwert, die allgemeine Geißel der Welt, [495] schneller und wilder als die eisigen Schwingen des Boreas über diese hereinbrach.

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Hunc ubi vicinas dispersit fama tryumphum garrula per gentes, extimplo corda pavorem hauserunt subitum totusque perhorruit orbis, et matutino que sunt loca subdita Phebo, quippe Scitas duris infractos antea bellis audierant nuper Macedum dicione subactos, non animi virtute pares, non viribus equos credebant aliquos mundo superesse potentes cum cecidisse Scitas invictos ante viderent, unde iugum Macedum multi subiere volentes. Non magis arma ducis homines movere suoque subiecere iugo quam quod clementer agebat cum victis. Etenim quos Magnus robore vicit, vinxit amore sibi, nec durus eis nec avarus exactor captos precibus gratisque remisit, absolvitque reos ut facto ostenderet isto se non ex irae stimulis cum gente feroci sed de virtutum motu certamen inisse.

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Die Reaktion der östlichen Völker (496–513) Als die schwatzhafte Fama Alexanders Sieg bei den benachbarten Völkern verbreitete, da packte die Herzen augenblicklich eine plötzliche Furcht und der ganze Erdkreis entsetzte sich heftig. Auch die weit gen Osten lebenden Völker – [500] diesen war nämlich zu Ohren gekommen, die zuvor im Kampf unbesiegten Skythen seien geschlagen und kürzlich der Herrschaft der Makedonen unterworfen worden – waren nach der gesicherten Erkenntnis, dass die vormals unbezwungenen Skythen tatsächlich gefallen waren, zu der festen Überzeugung gelangt, dass nirgendwo auf der Welt ein Volk existiere, das hinsichtlich seiner Tugendhaftigkeit und militärischen Schlagkraft den Griechen gleiche. [505] Viele Völker fügten sich aus diesem Grund freiwillig dem griechischen Machtanspruch. Ebenso sehr wie Alexanders Waffengewalt die Völker beeindruckte und sie seiner Herrschaft unterwarf, vermochte dies sein rücksichtsvoller Umgang mit den Besiegten. Diejenigen nämlich, die Alexander kraftvoll bezwungen hatte, gewann er durch Herzensgüte für sich, und als keineswegs hartherziger oder habgieriger [510] Eintreiber von Tributen entließ er diejenigen Gefangenen, die ihn darum baten, ohne Lösegeld in die Freiheit, sprach Schuldige frei, um damit zu zeigen, dass er nicht von Groll getrieben, sondern von der Aussicht auf tugendhafte Taten geleitet den Kampf mit einem trotzigen Volk begonnen habe.

Liber IX Capitula noni libri In nono Magnus collatis viribus Indos turbidus aggreditur, sed fata deosque moratur armipotens Porus. Speciali flenda duorum mors iuvenum planctu partem turbavit utramque. Magnus ut hostilem tenuit cum milite ripam, concurrere acies. Sed fracto denique Poro franguntur reliqui cum toto Oriente tyranni. Saltus Alexandri mirabilis agmina Graium seditione movet, mirabiliusque stupendae propositum mentis nova mittit in arma cohortes.

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Nonus liber Ultima terribiles Macedum sensura tumultus India restabat multo sudore domanda et gravibus bellis. Quam dum petit ille deorum emulus in terris, Clytus Ermolaus et eius doctor, Aristotili preter quem nemo secundus, extremum clausere diem, documenta futuris certa relinquentes: etenim testatur eorum finis amicicias regum non esse perhennes.

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Buch IX Themenübersicht (1–10) Alle Kräfte vereinend, bedrängt im neunten Buch Alexander mit Wucht die Inder, aber waffenmächtig hält Porus Schicksal und Götter auf. Der beklagenswerte Tod zweier Krieger veranlasst beide Parteien zu besonderer Trauer. [5] Als Alexander das Ufer der Feinde mit seinen Soldaten betritt, ziehen die Schlachtreihen in den Kampf. Doch nach dem Sieg über Porus beugt sich der ganze Osten mit allen übrigen Königen. Ein erstaunlicher Sprung Alexanders von der Mauer der sudrakischen Stadt versetzt das griechische Heer in helle Aufregung. Ein noch erstaunlicherer [10] Plan dieses bewundernswerten Geistes schickt die Truppen in neue Kriege. Alexanders Indienfeldzug (1–325) Alexander als Feind seiner Freunde (1–8) Den schrecklichen Ansturm der Griechen vorab schon verspürend, verblieb zuletzt Indien mit viel Schweiß und schweren Gefechten noch zu bezwingen. Während jener Rivale der Götter auf Erden dorthin eilte, erlitten Clitus, Hermolaus und dessen [5] Lehrer, der abgesehen von Aristoteles niemandem in irgendetwas nachstand, den Tod und hinterließen künftigen Zeiten unbestreitbare Lehren: Ihr Ende bezeugt, dass Freundschaft mit Königen auf Dauer keinen Bestand hat.

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India tota fere nascenti subdita Phebo Eoum spectat audaci vertice tractum, at qua parte situm Lybies despectat et Austrum, altius erigitur tellus et in ethera tendit. Cetera plana iacent ubi magni nominis a se Caucasus emittit rapidis occursibus amnes. Sed reliquis, a quo sortita est India nomen, Indus frigidior; australi a parte iugosis montibus invehitur directo gurgite Ganges, totius fluviis Orientis maior. Uterque turbidus extensis Rubrum mare verberat undis; robora multa, solo radicitus eruta, magna absorbet cum parte soli. Si fortibus undis molle solum reperit, stagnat, tellusque fluentum insula facta bibit. Intercipit in mare Ganges decursurum Achesim. Magnis occurrit uterque motibus, et rapido inter eos colliditur estu. Preterea, volucri famae si creditur, aurum illa fluenta vehunt gemmasque et cetera que sunt ulterius solito nostris preciosa diebus. Gentibus eois hinc est opulentia, namque his ubi vulgavit ditatos mercibus Indos fama loquax, toto celeris concurrit ab orbe natio, ridentes gemmas emptura, Rubentis purgamenta freti que parvi ponderis in se sola sibi fecit hominum preciosa libido.

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Die Geographie Indiens (9–34) Indien erstreckt sich in seiner Gesamtheit beinahe bis an den Sonnenaufgang [10] und breitet sich mit schroffen Gebirgszügen nach Osten hin aus, dort aber, wo es nach Afrika und in Richtung Süden blickt, steigt das Land in die Höhe empor und strebt gen Himmel. Die übrigen Landesteile, in welche der Kaukasus berühmte Ströme mit reißenden Wogen aus dem Gebirge hervorbrechen lässt, bestehen aus Tiefebenen. [15] Der Indus jedoch, der dem Land seinen Namen verleiht, ist kälter als die übrigen Ströme. Auf der südlichen Seite strömt in geradem Lauf durch mächtige Berge der Ganges, der größte Strom im gesamten Osten. Ungestüm peitschen beide Ströme mit ihren wasserreichen Fluten den Indischen Ozean; [20] zusammen mit großen Teilen des Erdreichs reißen sie viele entwurzelte Bäume mit sich. Wenn sie mit ihren heftigen Wogen auf sandigen Untergrund treffen, fließen sie ruhiger dahin und der zur Insel gewordene Erdboden nimmt die strömenden Fluten auf. Der Ganges unterbricht den ungehinderten Lauf des Akesines in das Meer. Beide Flüsse treffen schäumend zusammen [25] und schlagen ihre tosenden Wellen gegeneinander. Ferner führen jene Flüsse, schenkt man der geflügelten Fama Glauben, Gold und Perlen und auch andere Dinge mit sich, die man in unserer Zeit weit mehr als üblich für kostbar hält. Von hier stammt der Reichtum der östlichen Völker. [30] Als nämlich die geschwätzige Fama verbreitete, dass der Reichtum der Inder auf diese Schätze zurückgeht, strömte die Menschheit vom ganzen Erdkreis eilends hierher zusammen, um die glitzernden Perlen zu kaufen – Schwemmgut des Indischen Ozeans –, das die menschliche Gier, obgleich an sich ohne Wert, zur Kostbarkeit machte.

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Ergo ubi Pelleum prolem Iovis omnia mundi regna flagellantem Macedum virtute suisque finibus appulsum stupefactis auribus Indi accepere duces, coeunt formidine mersi muneribus placare deum traduntque refertas diviciis urbes. Sed in illis maximus horis solus Alexandro magno conamine Porus obvius ire parat, veluti cum parte revulsa Alpini lateris ruit alta per ardua rupes, obvia confringens sinuoso turbine saxa, si vero Stigios penetrans radice recessus instar ei montis occurrit saxea moles, fit fragor, et magnis confligunt motibus ambae. Audit Alexander armato milite Porum, Indorum fines regnique extrema tuentem, armorum speciem toto pretendere nisu, oblatamque sibi Poro mediante tryumphi affore materiam gaudens rapit agmina cursu precipiti rapidumque petit festinus Ydaspen. Cuius disponens acies in margine ripe ulterioris erat collato robore Porus. Maior et horridior reliquis elephantibus ipsum belua terribilis inmensa mole vehebat, humanique modum transgressum corporis auro arma tegunt regem niveo distincta metallo. Par animus membris, et quanto corpore cunctos excedit, tanto est reliquis prudentior Indis. Terruerat Grecos non tantum turbidus hostis sed vehemens fluvii rate traicienda vorago.

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Der Inderkönig Porus (35–70) [35] Als nun die indischen Fürsten mit Erstaunen vernahmen, dass der aus Pella stammende Spross Jupiters nach seinen mit griechischer Tapferkeit errungenen Siegen über alle Reiche der Welt nun an ihren Grenzen angekommen war, kamen sie angsterfüllt zusammen, um diesen Gott mit Geschenken zu besänftigen, und übergaben ihm ihre [40] mit Reichtümern angefüllten Städte. Aber Porus, der mächtigste Fürst in diesen Gefilden, traf mit großer Anstrengung als einziger Vorkehrungen, Alexander kriegerisch entgegenzutreten. Beide Heere prallten in heftiger Bewegung in einer Weise aufeinander, wie dann ein Krachen entsteht, wenn ein an steiler Anhöhe ragender Felsen, nachdem sich ein Teil einer alpinen Felswand gelöst hat, mit seinem abwärts gerichteten wirbelnden Sprung im Weg liegende Steine zerbricht, [45] ihm jedoch, stygische Schluchten erreichend, am Fuße des Bergs der massige Fels gleich einem gewaltigen Massiv entgegentritt. Als Alexander erfuhr, dass Porus Indiens Grenzen und den äußersten Teil seines Reichs mit kampfbereiten Truppen zu schützen beabsichtigte [50] und er dementsprechend die glänzenden Waffen mit großem Aufwand in Stellung brachte, freute er sich, dass sich ihm durch Porus’ Einsatz die Gelegenheit für einen großen Sieg bot. In rasendem Lauf führte Alexander sein Heer mit sich und eilte unverzüglich zum reißenden Hydaspes. Porus stand mit gebündelten Kräften [55] unmittelbar am anderen Ufer und ordnete dort seine Schlachtreihen. Größer und schrecklicher als die übrigen Elefanten trug diesen ein riesiges und furchterregendes Tier von gewaltiger Masse, mit Gold und Silber geschmückte Waffen schützten den König, der an Körpergröße das normale menschliche Maß übertraf. [60] Dem Körper entsprach auch sein Geist, und im selben Maße, wie er alle an Körpergröße überragte, so war er auch klüger als seine indischen Landsleute. Nicht nur der schreckliche Gegner hatte die Griechen in Schrecken versetzt, sondern auch die heftigen Strudel des Stromes, der

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Instar erat maris undisoni speciesque profundi quatuor in latum stadiis diffusus Ydaspes. Alveus altus erat, nusquam vada. Transitus ergo navigio querendus erat. Sed barbarus hostis stabat ab opposito, qui tela simillima nimbo in medium spargens facta statione cupita de facili poterat naves avertere ripa. Fluminis in medio terrae radicitus herens insula multa fuit, quo vecta natantibus ulnis arma ferens ibat ab utraque cohorte iuventus, expertura suas parvo certamine vires. Exercebat enim modice discrimine sortis qui gravis instabat summi preludia casus. In castris Macedum, res non indigna relatu, corporibus similes animisque fuere Nicanor et Symachus, quos una dies, ut creditur, una ediderat terris. Par miliciae labor ambos parque ligabat amor. Belli discrimen inibant in lucro dampnoque pares. Si saxa rotare tormento iussi, si claudere menibus hostem, frangere si muros, iunctis umbonibus ibant; si frumentatum missi, si cingere fossis obsessos, hostem noctu si fallere, sive excubiis operam dare, si explorare latentes vallibus insidias, quecumque pericula bellum obiecisset eis, dubiae molimina sortis corporis atque animi socia paritate ferebant.

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mit dem Schiff überquert werden musste. Vergleichbar dem tiefen und wellenrauschenden Meer [65] dehnte sich der Hydaspes der Breite nach vier Stadien weit aus. Tief war sein Flussbett, nirgendwo gab es eine Furt. Also musste ein Übergang für die Boote gefunden werden. Doch auf der anderen Seite stand der grausame Feind, [70] der mit Leichtigkeit die Boote vom Ufer fernhalten konnte, indem er von seinem günstigen Standort aus gleich einem Sturmwind Geschosse in die Mitte des Stromes schleuderte. Nicanor und Symmachus (71–147) Mitten im Fluss gab es eine große Insel, an ihrem Grund mit dem Festland verwachsen, wohin von beiden Parteien junge Männer in Waffen schwammen, um ihre Kräfte in leichten Kämpfen zu messen. [75] Denn in einer weniger bedeutenden Auseinandersetzung übten sie in einem Vorspiel für die letzte entscheidende Schlacht, die drohend bevorstand. Im Lager der Griechen – nicht ist es unwürdig, davon Bericht zu erstatten – befanden sich Nicanor und Symmachus, gleichermaßen kräftig und tapfer und angeblich am selben Tage [80] geboren. Beide verband der gleiche Kriegsdienst und die gleiche diesbezügliche Begeisterung. In gleicher Weise suchten sie die Entscheidung im Kampf und unterschieden sich nicht hinsichtlich Sieg oder Niederlage. Wann immer man ihnen auftrug, mit der Wurfmaschine Felsen zu schleudern, den Feind mit Mauern zu umschließen oder die Mauern der Feinde zu durchbrechen, immer kämpften sie Schild an Schild. [85] Wenn man sie losschickte, Proviant zu holen, die belagerten Feinde mit Gräben zu umgeben, den Feind in der Nacht zu täuschen, sich bei der Wache Mühe zu geben oder in Tälern versteckte Hinterhalte auszukundschaften, welche Gefahren auch immer der Krieg für sie bereithielt, [90] stets ertrugen sie gemeinsam mit gleichen Körperkräften und gleichem Mut die Lasten des wankelmütigen Schicksals. Und

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Horum igitur virides animos animante iuventa, nescio quid magno conceptum pectore tandem effutire parant, primusque “Videsne, Nichanor,” acer ait Symachus “quam fluminis obice parvi hereat et nutet invicti gloria regis? Audendum est aliquid quod nos, de margine ripae hostibus expulsis nostra virtute, coronet victrici lauro, vel si quid fata minantur, induat aeterna nudatos corpore fama.” Vix ea, cum rapto sermone Nicanor “Et ipse hec ego mente diu tacita diis testibus” inquit “concepi. Sed iam mora nulla feramur in hostes, contenti levibus armis.” Nec plura locuti, accincti gladiis rapidos mittuntur in amnes. Lancea pone natat. Ducibus committitur istis multa manus fluvio. Quos ut vicina recepit insula, confusis resonat clamoribus ether, nam predicta frequens loca iam possederat hostis. Fit gravis occursus Indorum. Grandinis instar tela volant multasque ferunt per inania mortes. At Symachus, qui forte prior transnaverat, hostes educto mucrone petit, sociusque Nicanor multo contendit vestire cadavere terram. Iamque satis factum gladiis, iam tela rubebant Marcia, purpureis distincto flumine guttis. Iam poterant iuvenes merita cum laude reverti, sed nullo contenta modo est temeraria virtus. Dumque tryumphatis insultant hostibus, ecce occulte subeunt plures morientibus Indi. Hic dolor, hic planctus, Graium Macedumque ruinae.

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während also die Jugend ihren wachen Mut befeuerte, sprachen sie irgendwelche bisher im Inneren ihres Herzens verborgene Gedanken dann doch aus und als erster sagte voll Eifer Symmachus: »Siehst du denn nicht, Nicanor, wie der Ruhm unseres unbesiegten Königs durch das Hindernis dieses Flüsschens [95] in Gefahr gerät? Wagen müssen wir etwas, was uns, sollten wir die Feinde durch unsere kühne Tat erst einmal vom Uferbereich vertrieben haben, mit dem Siegerlorbeer bekränzt, oder uns, wenn das Schicksal unserem Plan die Unterstützung versagen sollte, ewigen Ruhm verschafft.« [100] Kaum hatte Symmachus gesprochen, als Nicanor ihn unterbrach: »Auch ich habe dies, ihr Götter seid meine Zeugen, bereits lange im Stillen erwogen. Jetzt aber wollen wir uns ohne Verzug und mit nur leichten Waffen auf den Feind stürzen.« Ohne weitere Worte zu wechseln, sprangen sie, nur mit dem Schwert bewaffnet, in die reißenden Fluten. [105] Den Speer zogen sie hinter dem Körper her. Dem Beispiel der beiden Freunde folgend, sprang eine beachtliche Schar von Männern auch in den Fluss. Als sie die nicht weit entfernt liegende Insel erreichten, hallte der Äther von bestürzten Schreien wider, denn der zahlreich angetretene Feind hatte den zuvor erwähnten Ort bereits besetzt. Der Widerstand der Inder war heftig. Einem Hagelschauer vergleichbar [110] flogen die Speere und brachten auf ihrem Weg durch die Lüfte vielfachen Tod. Aber Symmachus, der schwimmend als erster das andere Ufer erreicht hatte, griff den Feind mit gezücktem Schwert an, auch sein Gefährte Nicanor war eifrig bestrebt, den Boden mit zahlreichen Leichen zu bedecken. Und schon genügte den Schwertern das Werk, schon waren [115] die Kriegswaffen durch Ströme von Blut rötlich gefärbt und zeigte der Fluss rötliche Flecken, schon hätten die jungen Männer mit verdientem Ruhm zurückkehren können, doch leichtsinniger Mut ist mit nichts zufrieden. Während sie noch die besiegten Feinde verspotteten, da ersetzten die Inder heimlich in großer Zahl ihre gefallenen Kameraden. [120] Jetzt gab es für Griechen und Makedonen nur noch Schmerz, Wehklagen und Verder-

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Sternitur Andromachus, regum generosa propago, occumbunt clari titulis ter quinque quirites, quos longo gemuit ereptos Grecia luctu. Soli restabant animo non sanguine fratres Graiugenae, vitae socii mortisque futurae. Quos ubi telorum pressit circumfluus ymber, mentibus attonitis hesere quid esset agendum. Nam neque tela viris neque lancea, quippe minutim utraque fracta iacent. Igitur que sola supersunt arma, movent gladios, raptimque feruntur in hostes. Sed reprimunt gressus teneris herentia membris spicula, nec Martis opus exercere dabatur cominus. Ergo viri, quia iam suprema minari fata vident, orant ut premoriatur uterque occumbatque prior socioque superstite, cuius cernere funus erat leto crudelius omni. Obiciunt igitur sibi se certantque vicissim alterius differre necem. Dum se obicit alter, dum tamen hic illum dumque istum protegit ille, ecce gyganteis abies excussa lacertis advolat et mediis conatibus artat utrumque affigitque solo. Sic indivisa iuventus cuspide nexa iacet. Sed nec diuturnus in ipsa morte resedit amor. Amplexus inter et inter oscula decedit, moriensque sua sociique morte perit duplici. Resoluto corpore tandem tendit ad Elisios angusto tramite campos.

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ben. Andromachus, aus edlem Königsgeschlecht stammend, wurde niedergestreckt, fünfzehn verdiente Krieger fielen, welche die griechische Heimat mit anhaltender Trauer beklagte. Einzig die beiden Griechen Symmachus und Nicanor, nicht blutsverwandt zwar, doch Brüder im Geiste, [125] Gefährten im Leben und im baldigen Tod, konnten noch standhalten. Als ihnen der Geschosshagel hart zusetzte, waren sie in ihrer Bestürzung ratlos, welchen Ausweg sie nehmen könnten. Denn nicht mehr konnten sie ihre Lanzen und Speere einsetzen, da diese zerbrochen vor ihnen am Boden lagen. Deshalb [130] griffen sie zu den Schwertern, die ihnen als einzige Waffen geblieben waren, und bedrängten damit stürmisch die Feinde. Aber Pfeile, in den empfindsamen Gliedern steckend, hemmten ihren Schritt, so dass es ihnen nicht gelang, das Kriegshandwerk Mann gegen Mann zu betreiben. Also baten die beiden Männer, da sie ihren Tod schon vor Augen sahen, flehend darum, [135] vor dem anderen zu sterben und zuerst zu erliegen, solange der Gefährte noch lebte, dessen Tod mitansehen zu müssen schlimmer als jeder andere Tod gewesen wäre. Sie warfen sich dem Feind entgegen und strebten abwechselnd danach, des anderen Tod hinauszuzögern. Während sich der eine dem Feind entgegenwarf und sie sich bei alledem gegenseitig Deckung gaben, [140] da flog ein Speer, von gewaltigen Armen geschleudert, herbei und heftete beide, ihre Anstrengungen beschränkend, fest auf den Boden. So lagen die beiden unzertrennlichen jungen Männer da, durch einen einzigen Speer miteinander verbunden. Doch auch in der Stunde ihres Todes blieb die ein Leben lang währende Freundschaft bestehen. In den Armen sich liegend und einander [145] küssend starben sie beide und durch den eigenen Tod und den des Gefährten erlitten beide sterbend einen zweifachen Tod. Und als ihr Körper schließlich erlöst war, zogen beide auf schmalem Pfad in das Elysium ein.

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Erexit Pori victoria visa suorum indomitum pectus nec desperare coegit regum eversorem contemptoremque pericli omnis Alexandrum. Sed qua sibi transitus arte ad Porum pateat, tacito sub corde volutat. Attalus unus erat inter tot milia regi persimilis facie, referens et corpore Magnum. Vestibus ornari rex imperialibus illum imperat ut ripam teneat speciemque videnti exhibeat Poro regem cessare nec esse ultra sollicitum qua transitus arte paretur. At rex preter aquam, Macedum statione relicta, longius abscessit, paucis ut falleret hostem contentus sociis. Animosum numina Magni propositum iuvere ducis, nam fusa per orbem involvit cecis nubes elementa tenebris, tantaque subiectas texit caligo cohortes, alter ut alterius vix nosceret ora loquentis. Hec nubes alii terroris origo fuisset cum foret ignotum classis ducenda per equor, sed cum terreret alios obscurior aer, confisus Macedo, sua tamquam occasio noctem inducat, primam qua vectabatur in undas imperat expelli subducto remige navim. Nec mora, certatim fluvio commissa quiritum turba ducem sequitur, ripaeque appulsa carenti hostibus arma capit, armataque fertur in hostem. Porus adhuc aliam, quam ceperat ante tueri,

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Alexanders List (148–178) Der vor aller Augen errungene Sieg der Seinen ermutigte den bisher unbezwungenen Porus, nicht jedoch konnte er Alexander, [150] den Vernichter der Könige und Verächter jeglicher Gefahr, dazu zwingen, die Hoffnung auf den eigenen Sieg aufzugeben. Ganz im Gegenteil überlegte dieser in aller Ruhe, wie er mit einer List den Übergang zu Porus bewerkstelligen könnte. Unter seinen vielen tausend Männern hatte Attalus als einziger ähnliche Gesichtszüge wie der makedonische König und glich ihm auch im Wuchs seines Körpers. [155] Alexander erteilte den Befehl, jenen in königliche Gewänder zu hüllen, das Ufer zu halten und bei Porus damit den Anschein zu erwecken, er verweile an Ort und Stelle und denke nicht weiter beunruhigt darüber nach, wo er mit List einen Übergang suche. Nachdem Alexander jedoch die Stellung der Seinen verlassen hatte, entfernte er sich mit nur wenigen Helfern ein ganzes Stück weit stromaufwärts, [160] um den Feind zu täuschen. Göttliche Mächte standen dem kühnen Plan des großen Feldherrn bei, denn ein über diese Gegend sich legender Nebel hüllte alles in ein undurchdringliches Dunkel, eine so große Finsternis verbarg die Soldaten, [165] dass der eine kaum mehr das Gesicht seines neben ihm stehenden Gefährten erkennen konnte, wenn dieser ihn ansprach. Einem anderen wäre dieser Nebel ein Anlass zur Furcht gewesen, da die Boote durch ein unbekanntes Gewässer geführt werden mussten. Obwohl der finstere Nebel andere doch erschrecken würde, befahl Alexander im Vertrauen darauf, dass sein Handstreich gleichsam das Dunkel [170] hervorrief, das erste der Boote, auf dem er selbst fuhr, mit ruhenden Rudern den Wellen zu überlassen. Wetteifernd ließen die Krieger die Boote zu Wasser und folgten ihrem Anführer unverzüglich. Nachdem sie das von Feinden verwaiste Ufer erreicht hatten, griffen sie zu den Waffen und stürzten sich so gerüstet auf den Feind. [175] An der ursprünglichen Stelle beobachtete Porus noch immer das andere Ufer, wo noch

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spectabat ripam, qua regis veste choruscans Attalus astabat cum Poro nuncius affert rectorem Macedum et rerum discrimen adesse. Mox ubi lucidior excussit nubila mundus atque adversa phalanx Phebo percussa refulsit, extimplo visis equitum bis milia bina hostibus obiecit Porus centumque cruentis plaustra referta viris, qui tela simillima nimbo late spargentes gemitus mortemque pluebant. Sed quia prefusi terram violentia nimbi mollierat nec erat equitabilis area campi, mole gravi currus molli tellure lutoque herebant et erat minus utilis usus eorum. Econtra Macedo solita levitate per Indos strennuus invehitur. Sequitur levis ala ruentem atque exerta manus. Oritur confusio vocum et lituum clangor, sed ab illa tympana parte castigata sonant. Fervent hinc inde ruentes in mortem cunei: mortalia fila sorores sufficiunt vix nere duae que tercia rumpit. Primus Alexandro laxis occurrere frenis ausus, anhelantem stimulis elephanta fatigans, oppetit Enacides hasta confossus Yulcon. Perque tot obiectos invictus et impiger hostes ad Porum molitur iter Mavortius heros.

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immer Attalus, im königlichen Gewand erstrahlend, dastand, als Porus die Nachricht erreichte, nah sei der König der Makedonen und nah sei die Entscheidung im Kampf. Die Schlacht am Hydaspes (179–325) Die feindlichen Heere treffen aufeinander (179–258)

Als bald darauf ein aufklarender Himmel die Nebelschwaden vertrieb [180] und die vom Sonnenlicht getroffene Schlachtreihe der Griechen erstrahlte, warf Porus augenblicklich den gerade entdeckten Feinden viertausend Reiter und hundert mit blutdürstigen Männern besetzte Wagen entgegen. Diese ließen gleich einem Hagelschauer weithin Pfeile regnen und riefen unter den Griechen Wehklagen und Tod hervor. [185] Aber da der zuvor gefallene Starkregen den Boden aufgeweicht hatte und demzufolge das Terrain für die Pferde wenig geeignet war, blieben die Wagen aufgrund ihres großen Gewichts im weichen und schlammigen Boden stecken und waren nur schlecht zu gebrauchen. In der gewohnten Leichtigkeit hingegen [190] durchbrach Alexander entschlossen die indischen Reihen. Die leichtbewaffnete Truppe und entschlossene Schar folgte ihrem voranstürmenden Anführer. Unter ihnen erhob sich ein Stimmengewirr, Signalhörner schmetterten, auf der Seite der Inder ertönten dumpf dröhnende Handpauken. Auf beiden Seiten entbrannten die Schlachtreihen und stürzten sich in den Tod: Kaum waren zwei der Schwestern imstande, [195] die Lebensfäden zu spinnen, welche die dritte zerschnitt. Hiulcon, des Enaches Sohn, trieb unaufhörlich seinen schnaubenden Elefanten mit dem Stachel an und wagte es dabei als erster, mit großer Geschwindigkeit Alexander anzugreifen, doch vom Speer des makedonischen Königs durchbohrt, fand dieser sein Ende. Durch so viele aufgebotene Krieger bahnte sich der unbesiegte und rastlose Kriegsheld [200] den Weg

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Quem velut exstantem subiectis menibus arcem ut procul inspexit elephantis terga prementem, “Inveni tandem dignumque stupore meoque par animo discrimen,” ait “res ecce gerenda est cum monstris michi cumque viris illustribus una.” Dixit et in levum torquet vestigia cornu, qua gravior belli Poro pugnante tumultus aera vexabat. Sequitur bellator Ariston Polidamasque sui. Ruit ictus Aristonis ense Rubricus et proprio rubricavit sanguine terram. Polidamanta ratus prolixo evertere conto Candaceus, volucri preventus harundine Glauci, oppetit et terrae moriens inmurmurat udae. Iamque Argiva phalanx medium perruperat agmen Indorum, et primis labefactis viribus Indae nutabant acies cum Porus in agmen equestre iussit agi magnis elephantes turribus equos. Sed tardum hoc animal ac pene immobile gressu nec volucres cursus equare valebat equorum. Ergo levis Macedum manus occurrebat et hoste percusso refugis ictus vitabat habenis. Sed neque barbaricis Martem exercere sagitta fas erat. Arcus enim gravis atque ingens nisi primo inprimeretur humo, nisi curvaretur ab imo, non poterat flecti. Iamque aspernantibus Indis imperium Pori, quod fit titubantibus alis, cum ducis imperio metus acrior imperat, illi extenuare aciem, turmas hi iungere rursus,

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zu Porus. Als er den Inderkönig in einiger Entfernung erblickte, wie er auf dem Rücken eines Elefanten gleich einer mit emporwachsenden Mauern in die Höhe ragenden Burg saß, sprach er: »Endlich habe ich einen Entscheidungskampf gefunden, der meine Bewunderung verdient und der meinem Mut entspricht. Seht her, Krieg muss ich führen [205] gegen Bestien und berühmte Männer zugleich.« So sprach er und wandte sich sogleich hinüber zum linken Flügel, wo ein lauter Kriegslärm die Lüfte schwer erschütterte, da Porus dort selbst in die Schlacht verwickelt war. Dem makedonischen König folgten kampfbereit Polydamas und auch Ariston. Vom Schwert des Ariston getroffen, fand [210] Rubricus den Tod und rötete den Boden mit seinem Blut. Als Candaces den Polydamas mit seiner langen Reiterlanze niederstrecken wollte, starb dieser, da ihm der schnelle Pfeil des Glaucus zuvorkam, und murmelte sterbend seine letzten Worte in die vom eigenen Blut benetzte Erde. Und schon hatte sich die griechische Phalanx mitten durch das Heer der Inder gewaltsam ihren Weg gebahnt, [215] schon schwankten die Inder, nachdem ihre ersten Reihen zu Fall gebracht worden waren, als Porus den Befehl gab, die Elefanten – gewaltigen Türmen gleich – in das Reitertreffen zu werfen. Die trägen und langsam voranschreitenden Tiere waren jedoch nicht in der Lage, dem schnellen Lauf der Pferde etwas entgegenzusetzen. [220] Demzufolge rückte die Schar der Griechen leichtfüßig vor und konnte, war einer der Feinde erschlagen, in der Rückwärtsbewegung zugleich auch Treffer am eigenen Körper vermeiden. Auch war es den Barbaren verwehrt, die Schlacht mit Pfeil und Bogen zu führen. Der schwere und riesige Bogen [225] konnte nämlich nicht anders gekrümmt werden, als ihn zuvor fest auf den Boden zu stellen und von unten her zu spannen. Und schon missachteten die Inder die Anweisungen des Porus, was bei wankenden Truppen normalerweise geschieht, wenn die eigene Angst strenger gebietet als die Befehle des eigenen Anführers. Die einen gaben Befehl, das Heer auseinanderzuziehen, andere, die Schlachtreihen wieder zu schließen, wieder

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stare iubent alii, nec erat de milibus unus in medium qui consuleret. Tamen agmine Porus disposito rursus dispersa recolligit arma terribilesque oculis elephantes obicit hosti. Non minimum Grais monstra iniecere pavorem. Nec solum barritus equos sed et horrifer aures moverat humanas tremulusque expaverat aer. Et iam terrificus turbaverat agmina laxis ordinibus stridor et iam mandare parabant terga fugae modo victores cum Magnus, inertes corripiens Macedum cuneos, equites Agrianos et Tracas in monstra iubet convertere gressus. Extimplo redeunt animi, positoque timore mortis in adverso crevit certamine virtus. Exhaurit pharetram manus, et fatalis harundo non sine morte volans homines et monstra cruentat. Dumque avidi quidam nimis incautique sequuntur, obtriti pedibus elephantum certa relinquunt defuncti documenta suis ut parcius instent. Anceps pugna diu Macedum fuit haut sine multa sanguinis inpensa donec vibrare secures cepere unanimes solidosque pedes elephantum informesque manus falcato cedere ferro. Ergo fatigati iaculis tandemque cruentis pressi vulneribus, uno simul impete vecti vectoresque ruunt. Tunc vero exercitus amens terga metu comitante fugit, Porumque serentem missilium nimbos et ab alto culmine monstri spicula fundentem, medio velut equore solum, destituere sui.

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andere, stehenzubleiben. Nicht gab es unter Tausenden einen, [230] der für alle gleichzeitig Sorge trug. Dennoch war Porus noch in der Lage, sein Heer zu ordnen, er sammelte die zersprengten Truppenteile von neuem und hetzte die schrecklich anzuschauenden Elefanten auf den griechischen Feind, dem die riesigen Tiere eine gewaltige Angst einjagten. Das schreckliche Gebrüll der Elefanten und das Beben der Lüfte hatten nicht nur die Pferde, sondern auch die Menschen [235] erschreckt und in Aufruhr versetzt. Und schon hatte ein Schrecken erregendes Schreien die locker gestaffelten griechischen Reihen in Unordnung gebracht und schon waren sie dabei, eben noch siegreich, die Flucht zu ergreifen, als Alexander die verzagten Reihen der Griechen zusammenzog und den agrianischen und [240] thrakischen Reitern befahl, auf die riesigen Elefanten loszugehen. Sogleich kehrte ihnen der Mut zurück und im Kampf selbst wuchs, nachdem sie ihre Furcht vor dem Tod abgelegt hatten, ihre tapfere Gesinnung. Die Hand leerte den Köcher und der verhängnisvolle Pfeil, der, nicht ohne den Tod zu bringen, herbeiflog, besudelte Menschen und Elefanten mit Blut. [245] Und während manche allzu begierig und unvorsichtig nachsetzten, hinterließen sie, von den Füßen der Elefanten zertreten, mit ihrem Tod den Gefährten sichere Lehren, mit größerer Vorsicht voranzustürmen. Unentschieden wütete lange die Schlacht, nicht ohne einen hohen Blutzoll auch unter den Griechen zu fordern, bis [250] alle gemeinsam die Streitäxte schwangen und die gedrungenen Füße und unschönen Rüssel der Elefanten mit dem sichelförmigen Schwert abtrennten. Von Speeren also ermüdet und von blutenden Wunden schließlich zermürbt, brachen bei einem Angriff Reiter und Tiere gleichzeitig zusammen. Furchterfüllt ergriff das indische Heer kopflos [255] die Flucht und die Seinen ließen ihren Anführer Porus, der vom hohen Rücken des Untiers hagelgleich Pfeile abschoss und Speere schleuderte, wie einen allein inmitten des Ozeans treibenden Schiffbrüchigen im Stich.

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Sed cum peteretur ab omni parte, lacessitus hinc inde novemque fatiscens vulneribus lacer, inspiciens auriga tyrannum languentem membris stimulis elephanta fatigat inque fugam vertit. Profugo par fulminis instat ira Dei Macedo. Sed dum fugat, imbre cruento telorum confossus obit, genibusque caducis rege magis posito quam fuso, nobilis ille procubuit Bucifal, qui tanto principe solo solus erat dignus, cuius de nomine dictam tempore post parvo Pelleus condidit urbem. Rex igitur, dum mutat equum, Porumque suosque tardius insequitur. Sed frater Taxilis, Indis qui preerat, rex ipse quidem sed deditus illi quem dederat mundo regem Fortuna, monebat sollicite Porum, fortunae ut cederet utque tam celebri tam propicio se dederet hosti. At Porus, quamquam marcescens corpore toto deficeret sanguis, fato tamen auspice notam excitus ad vocem, “num tu, proch dedecus,” inquit “Taxilis es frater, qui transfuga meque suumque prodidit imperium?” dixit, telumque quod unum nondum corruerat manibus contorsit in hostem. Quod medio iuvenis exceptum pectore tergum rupit et eterno sopivit lumina sompno. Seque fuge rursus commisit. Sed fera multis saucia missilibus penitus defecit eumque hostibus obiecit peditem Magnoque sequenti. Qui ratus extinctum spoliari nobile corpus imperat. At morsu spoliantes cepit amaro

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Alexander verfolgt Porus (258–290)

Als er jedoch von allen Seiten angegriffen wurde, von hier und von dort bekämpft und von neun [260] Wunden zerfetzt, langsam ermüdete, da peinigte der Treiber, der sah, dass die Kräfte seines Königs nachzulassen begannen, den Elefanten des Porus mit dem Stachel an und wandte sich zur Flucht. Gleich einem Blitz setzte Alexander, der Zorn Gottes, dem fliehenden König der Inder nach. Doch während er diesen verfolgte, starb Alexanders Pferd, vom blutigen Hagel der Pfeile getroffen: Nachdem es mit sinkenden Knien [265] den König eher abgesetzt als abgeworfen hatte, sank der edle Bukephalus zu Boden, der allein sich eines so großen Königs würdig erwiesen hatte und den der Pelläer nur kurze Zeit später mit der Gründung der Stadt Bukephala ehrte. Also verfolgte der makedonische König mit einem neuen Pferd Porus und die indischen Kämpfer [270] etwas weniger ungestüm. Aber Taxiles’ Bruder, der auch Inder anführte, selbst König zwar, jedoch jenem ergeben, den Fortuna zum König über die Welt bestimmt hatte, ermahnte Porus besorgt, sich dem Schicksal endlich zu beugen und einem so berühmten und so gütigen Feind sich zu fügen. Obgleich durch den Blutverlust am ganzen Körper entkräftet, [275] erwiderte Porus, dem Tode zwar nah, beim Klang der bekannten Stimme doch heftig erregt: »Bist du nicht des Taxiles Bruder, der – was für eine Schande – als Überläufer mich und mein Reich verraten hat?« So sprach er und schleuderte die einzige Lanze, [280] die er noch nicht geworfen hatte, auf den Feind. Diese durchdrang die Brust des jungen Mannes, durchschlug auch den Rücken und schloss ihm die Augen mit ewigem Schlaf. Wieder ergriff Porus die Flucht. Doch von vielen Geschossen verwundet, brach das riesige Tier schließlich zusammen [285] und setzte den nun am Boden liegenden Porus den Feinden und dem nachsetzenden Alexander aus. In der Meinung, dieser sei tot, gab der makedonische König den Befehl, dem trefflichen Leichnam die Rüstung abzunehmen. Doch mit scharfen

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attentare elephas rursusque inponere dorso seminecem donec multis turgentia telis interius pepulere foras vitalia vitam. At rex ut Porum, quem iam credebat Avernis inmixtum populis, erecto lumine vidit attollentem oculos, odium clementia vicit et “que, Pore, tuos” inquit “dementia sensus ebria pervertit ut cum tibi nota mearum rerum fama foret, in tanto, perdite, fastu auderes michi collatis occurrere signis?” At Porus “Quia queris,” ait “respondeo tanta libertate tibi, quantam michi, Magne, dedisti querendo prius. Ante malum certaminis huius nemo erat in terris quem posse resistere quemve censerem michi Marte parem vel mente, meamque vim noram et meritum, nondum tua fata tuasque expertus vires. Sed quam me fortior esses, eventus belli docuit; tibi vero secundus non minimum felix videor michi. Ne tamen isto attollas animum casu quia viceris. Ipse exemplum tibi sum, qui cum fortissimus essem, fortius inveni. Ne dixeris esse beatum qui quo crescat habet nisi quo decrescere possit non habeat. Satius est non ascendere quam post ascensum regredi, melius non crescere quam post augmentum minui. Gravius torquentur avari amissi memores quam delectentur habendo.

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Zähnen versuchte der Elefant die Männer noch immer anzugreifen und den halbtoten Porus wieder auf seinen Rücken zu nehmen, bis seine Organe im Inneren, von zahlreichen Geschossen angeschwollen, [290] das Leben nach draußen vertrieben. Alexander und Porus im Gespräch (291–325)

Doch als Alexander sah, dass Porus, den er schon im Totenreich wähnte, seinen Blick zu ihm nach oben richtete, besiegte die Milde den Hass, und er sprach ihn folgendermaßen an: »Welch trunkener Wahn, o Porus, hat deine Sinne verstört, [295] dass du es, Verblendeter, in deinem ach so großen Hochmut gewagt hast, mich in offener Feldschlacht zum Kampf herauszufordern, obwohl dir der Ruhm meiner Taten doch bekannt gewesen sein musste?« Doch Porus erwiderte: »Da du mich fragst, antworte ich dir, Alexander, mit derselben Unerschrockenheit, [300] mit der du mich zuvor gefragt hast. Vor der Niederlage in dieser Schlacht gab es niemanden auf der Welt, von dem ich annahm, er könne mir ernsthaft Widerstand leisten oder sei mir an Tapferkeit und Scharfsinn ebenbürtig. Meiner Kampfkraft und meiner Verdienste war ich mir bewusst, ohne dein Kriegsglück und deine militärischen Möglichkeiten bisher erfahren zu haben. Doch wie sehr du mir überlegen warst, [305] hat der Ausgang des Kriegs gelehrt. Indes beglückt es mich nicht wenig, nach dir jetzt Zweiter zu sein. Doch rühme dich nicht allzu sehr dieses Zufalls, der dich hat siegen lassen. Ich selbst kann dir als Beispiel dienen, der ich ungeachtet meiner ungewöhnlichen Tapferkeit einen noch Stärkeren fand. Nicht solltest du jemanden glücklich preisen, [310] der etwas hat, was ihn hoch über alle anderen erhebt, außer ihm bleibt der Absturz erspart. Besser ist es, gar nicht erst aufzusteigen, als nach dem Aufstieg wieder zu Fall zu kommen; besser ist es, überhaupt nicht aufzusteigen, als nach dem Aufstieg wieder herabgesetzt zu werden. Schlimmer werden die Habgierigen durch die Erinnerung an ihre Verluste gequält, als sie

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Proinde tui cursus frenum moderare. Caduca sunt bona fortunae stabilisque ignara favoris.” Miratur Macedo fortunae turbine regem infractum victumque animum victoris habentem. Ergo refrenata mutati pectoris ira, contra spem procerum curavit prodigus egrum, curatum fovit, confirmatumque benigne inter amicorum cetus numerumque recepit. Largius exhibuit dilatavitque prioris imperii metas, tantoque exceptus honore est hostis, quantum sibi vix speraret amicus. Postquam magnanimus Macedum victricibus armis succubuit Porus, succumbere nescius ante, elatus Macedo, cui vix cedentibus astris prodiga tam celebrem dederat Fortuna triumphum, quo mediante sibi fines Orientis apertos censebat, laxis propere festinat habenis orbis in extremas convertere prelia gentes oceanique suis populos adiungere castris. Ocior ergo Nothis Indos extremaque mundi clymata subiciens, populos regesque pererrat, nec minus humanis portenti mentibus infert terrorisve minus nocturni fulguris igne, quem sequitur fragor et fractae collisio nubis

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durch ihre Besitztümer erfreut werden. [315] Zügle deshalb deinen stürmischen Lauf. Vergänglich sind die Güter des Schicksals und fremd ist diesem beständige Gunst.« Der Makedone bewunderte den von den Stürmen des Schicksals ungebrochenen König, der sich ungeachtet seiner Niederlage die Haltung eines Siegers bewahrt hatte. Mit gezügeltem Zorn und gewandelten Sinns kümmerte sich Alexander [320] entgegen der Erwartung der griechischen Anführer voller Hingabe um den Verletzten, unterstützte auch den genesenen König und nahm ihn, als dieser wieder zu Kräften gekommen war, wohlwollend in den Kreis und die Gemeinschaft seiner Freunde auf. Überaus großzügig beschenkte er diesen und vergrößerte ihm die Grenzen des früheren Reichs. Mit einer so großen Ehrerbietung wurde [325] der ehemalige Feind aufgenommen, wie kaum ein Freund dies jemals für sich zu hoffen gewagt hätte. Alexander als Welteroberer (326–340) Nachdem der heldenhafte Porus, ohne zuvor schon einmal die Erfahrung einer Niederlage gemacht zu haben, den siegreichen Waffen der Griechen hatte nachgeben müssen, eilte Alexander, dem die Schicksalsgöttin in ihrer Großzügigkeit mit kaum nachlassender Unterstützung einen so herrlichen Sieg geschenkt hatte [330] und durch deren Beistand seines Erachtens nun auch den Weg in den Orient offenstand, voll Stolz in vollem Galopp geschwind dahin, um die Kämpfe zu den Stämmen am äußersten Ende des Erdkreises zu tragen und die Völker am östlichen Ozean seiner Herrschaft zu unterwerfen. Schneller als der stürmische Südwind unterwarf Alexander die Inder [335] und die äußersten Gegenden der Welt, traf auf zahlreiche Völker und Könige und erfüllte dabei die Herzen der Menschen mit nicht weniger Grausen oder auch Schrecken als das zuckende Feuer eines nächtlichen Blitzes, dem ein Krachen und Aufprall berstender Wolken und ein weithin hallender Donner fol-

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et vaga pallentem motura tonitrua mundum, mentem preteritae memorem terrentia culpae. Ausa tamen fatis Macedumque resistere famae gens Sudracarum validae se menibus urbis inclusit, dubio metuens se credere Marti. Aptari scalas iubet et cunctantibus illis primus in oppositum galeato vertice murum evadit Macedo. Sed erat locus artus ut ipsum vix caperet murus. Sic ergo suprema tenebat ut magis hereret quam staret. Cum tamen ipse mille citaretur iaculis ex turribus unus nec Macedum quisquam gradibus succedere posset, quippe ascendentes removebat ab aggere missus missilium turbo, tandem discrimina vimque telorum vicit pudor et confusio frontis. Nam mora subsidii poterat compellere lenti, dederet ut sese vel morti forte vel hosti. Festinant igitur certatim ascendere vitae pignore postposito, sed festinando morantur auxilium. Nam dum certant evadere, scalas plus onerant. Quibus effractis ruit omnis ab alto in se lapsa manus, et desperare coegit spem Macedum Magnus, quem solum stare videbant, tamquam in deserto fuerit desertus ab illis. Iamque manus, clipeum qua contorquebat ad ictus, lassa minabatur defectum, iamque monebant clamantes socii, celer ut resiliret et ipsum

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gen, der den zitternden Erdkreis erschüttert [340] und die Menschen erschreckt, die einstiger Schuld sich erinnern. Alexanders Kampf gegen die Sudraker (341–500) Doch dem Schicksal und dem Ruhm der Griechen zu trotzen, wagte das Volk der Sudraker und verschanzte sich aus Furcht, auf einen unberechenbaren Krieg vertrauen zu müssen, hinter den Mauern ihrer gut befestigten Stadt. Alexander erteilte den Befehl, Sturmleitern an den Fuß der Mauer zu stellen. Als seine Soldaten zögerten, diese zu erklimmen, stieg er helmbewehrt [345] als erster die vor ihm liegende Mauer hinauf. Doch die Stellung war eng, so dass er auf der Mauer kaum sicheren Halt finden konnte. So hielt er also mehr hängend als stehend die Mauerkrone besetzt. Als er jedoch von den Mauertürmen aus als einziger mit tausend Pfeilen beschossen wurde [350] und ihm kein Grieche hinterhergehen konnte, da ein vom Mauersims abgegebener Sturm von Geschossen jeden verjagte, der hinaufsteigen wollte, obsiegten schließlich doch ihr Schamgefühl und ihre Verlegenheit über die Gefahr und die Wucht der feindlichen Geschosse. Denn die langsam anlaufende Hilfe hätte Alexander verleiten können, [355] sich dem Feind oder dem Tod zu ergeben. Wetteifernd kletterten sie deshalb eilig die Mauern hinauf, ohne dabei Rücksicht auf ihr eigenes Leben zu nehmen, doch verzögerten sie durch ihre übermäßige Eile die Hilfe. Während sie sich nämlich eifrig bemühten, die Mauer zu erklimmen, belasteten sie die Sturmleitern zu stark. Als diese zerbrachen, stürzten alle miteinander [360] aus der Höhe hinab in die Tiefe. Da nötigte Alexander die Griechen, ihre Hoffnung fahren zu lassen, als sie ihn von den Seinen wie in einer einsamen Einöde zurückgelassen ganz alleine dastehen sahen. Schon drohte seiner ermatteten Hand, mit der er seinen Schild auf die Einschläge der Speere ausrichtete, die endgültige Erschöpfung, schon mahnten ihn [365] seine Kampf-

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exciperent, cum rex, ausus mirabile dictu atque fide maius, saltu se prepete dira barbarie plenam preceps inmisit in urbem, indignum reputans divino stemmate, princeps tot clarus titulis si tergum ostenderet hosti. Queritur an fortis facto an temerarius isto rex fuerit, sed si contraria iungere curas, et fortis fuit et facto temerarius isto, cumque capi vivus posset perimive priusquam surgeret, excussit Fortuna potenter utrumque et miro miranda modo protexit alumpnum. Sic etenim Macedo corpus libraverat ut se exciperet pedibus. Stans ergo lacessere pugnam cepit, et a tergo ne posset ab hoste noceri, magnipotens Fortuna duci providerat ante. Stabat enim laurus annoso stipite tamquam nata ducem Macedum vetulis defendere ramis. Huius ut applicuit trunco insuperabile corpus, ultio caelestis clipeum circumtulit, ictus telorum excipiens, cumque omnes eminus unum impeterent, propius accedere nemo manumve conferre audebat. Celeberrima fama verendi nominis, edomitum iam dilatata per orbem, pro duce pugnabat et desperatio, magnae virtutis stimulus, et honestae occasio mortis. Sed clipeum iam missilium perfoderat imber, fractaque plangebat saxorum turbine cassis. Lubrica succiderant genua et labefacta laboris pondere continui vix sustentare valebant

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gefährten schreiend, er solle sich schnell zurückziehen und in ihre offenen Arme hinabspringen, als ihr König ein beinahe unaussprechliches und kaum zu glaubendes Wagnis einging und sich – in der Meinung, es sei seiner göttlichen Abstammung unwürdig, [370] wenn ein so ruhmreicher Fürst dem Feind den Rücken zukehren würde – in einem beherzten Sprung kopfüber in die von wilden Barbaren bevölkerte Stadt hinabstürzte. Zwar stellt sich die Frage, ob der König tapfer oder tollkühn gehandelt hat, doch will man gegensätzliche Dinge miteinander vereinbaren: Gehandelt hat er tapfer und tollkühn zugleich. Obwohl er lebend hätte ergriffen oder getötet werden können, bevor er sich wieder [375] erhoben hätte, verhinderte die treffliche Fortuna machtvoll beides und schützte ihren Zögling auf wundersame Weise. Alexander hatte nämlich seinen Körper so ins Gleichgewicht gebracht, dass er sich auf den Beinen halten konnte. Im Stehen also begann er den Feind zum Kampf herauszufordern. Damit ihm der Feind nicht von hinten Schaden zufügen konnte, hatte [380] die mächtige Schicksalsgöttin zuvor schon Vorkehrungen für den Anführer getroffen. Dort stand nämlich ein Lorbeerbaum mit uraltem Stamm, gleichsam dazu geschaffen, den König mit seinen in die Jahre gekommenen Zweigen zu beschützen. Als Alexander seinen unbezwingbaren Körper an den Stamm dieses Baumes presste, drehte der göttliche Rächer seinen Schild hin und her, [385] um die anfliegenden Geschosse abzufangen. Obwohl alle diesen einen aus der Distanz angriffen, wagte es keiner, näher heranzugehen und den Nahkampf zu suchen. Der glänzende Ruf seines verehrungswürdigen Namens, schon überall auf dem besiegten Erdkreis verbreitet, kämpfte aufseiten des griechischen Anführers, und auch die Verzweiflung, [390] Ansporn für große Tapferkeit, und ebenso die Gelegenheit für einen ehrenvollen Tod. Doch die zahlreichen Geschosse hatten den Schild schon durchschlagen, laut schon dröhnte der von wirbelnden Steinen zerbrochene Helm. Die wankenden Knie waren zu Boden gesunken und konnten geschwächt durch die Bürde des

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egregium corpus. Quem cum spoliare pararent qui stabant propius, hos sic mucrone recepit Magnus ut ante ipsum vita fugiente iacerent exanimes gemini. Quorum sic terruit omnes Sudracas obitus ut nemo lacessere deinceps cominus auderet collato robore Magnum. Ille tamen genibus exceptum corpus, ad omnes ictus expositum, non egre, tygridis instar, ense tuebatur donec per inane sagitta accelerans latus in dextrum scelus ausa cucurrit. Cuius ad introitum crudo de vulnere tantum sanguinis emicuit ut rex tremefactus et amens non posset telum nutanti evellere dextra. Exangues igitur afflicti corporis artus applicuit lauro moribundus et arma remisit. Accurrens alacer iaculum qui miserat Indus exanimem credens regem spoliare parabat. Quem simul ac sensit corpus regale prophana attrectare manu Macedo, “Proch dedecus,” inquit “mene ducem Macedum nosti?” nec plura locutus, languentem revocans animum, nudum latus hostis subiecto mucrone fodit, iungitque duobus exanimem sociis. “Talem decet ire sub umbras,” inquit Alexander “talis michi nuncius esto.” Dixit, et ut moriens invictus dimicet ante quam sacer in tenues erumpat spiritus auras, se clipeo et lauri ramis attollere temptat. Sed neque sic proferre potens venerabile corpus, poblite succiduo rursus procumbit et hostem

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fortlaufenden Ringens kaum mehr [395] den ruhmvollen Körper tragen. Als diejenigen, die näher an ihn herangerückt waren, diesen seiner Rüstung berauben wollten, empfing Alexander sie so mit dem Schwert, dass zwei ihr Leben verloren und schließlich entseelt vor ihm dalagen. Der Tod der beiden erschütterte alle Sudraker so sehr, dass daraufhin keiner mehr das Wagnis einging, [400] Alexander in einem harten Zweikampf herauszufordern. Doch mit dem Schwert verteidigte jener auf Knien gleich einem Tiger seinen Körper – allen Geschossen ausgesetzt – einigermaßen leicht, bis ein Pfeil durch die Luft zischte und – das Verbrechen wagend – des Königs rechte Seite durchbohrte. [405] An der Eintrittsstelle des Pfeils strömte aus der klaffenden Wunde so viel Blut hervor, dass der König zitternd und schon der Bewusstlosigkeit nah mit unsicherer Hand den Pfeil nicht mehr herausziehen konnte. Also lehnte er im Sterben liegend die kraftlosen Glieder seines geschwächten Körpers an den Lorbeerbaum und ließ seine Waffen fallen. [410] Freudig lief der Inder herbei, der den Pfeil auf Alexander abgefeuert hatte, und wollte den tot geglaubten König seiner Rüstung berauben. Als Alexander spürte, wie dieser mit ruchloser Hand nach seinem königlichen Körper griff, herrschte er ihn an: »Kennst du mich nicht, o Schande, den Anführer der Griechen?« Und ohne weitere Worte durchbohrte er [415] in einer erneuten Kraftanstrengung mit seinem von unten angesetzten Schwert die ungeschützte Seite des Feindes und gesellte dessen beiden Gefährten den nun Leblosen hinzu. Alexander sagte: »Ein solcher Schurke verdient es, zu den Schatten des Todes hinabzufahren und mir als Herold zu dienen.« So sprach er. Am Schild und an den Ästen des Lorbeerbaums versuchte er sich aufzurichten, um sterbend und doch immer noch unbesiegt weiterzukämpfen, [420] bevor der heilige Atem in die zarten Lüfte entweichen würde. Doch nicht mehr in der Lage, seinen verehrungswürdigen Körper zu diesem Zweck aufzurichten, sank er erneut auf die wankenden Knie und reizte ungeachtet seiner misslichen Lage dennoch den Feind mit den Worten, ob

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provocat, exerto si quis confligere ferro audeat et tantae spolium sibi tollere palmae. Tandem, alia muri vestigia parte secutus, Peucestes, pulsis propugnatoribus urbis, inpiger irrumpens aditus et claustra retecto ense supervenit. Tremulo quem lumine postquam intuitus Macedo, iam non solatia vitae sed mortis socium ratus advenisse, tepenti excepit clipeo corpus. Subit inde Timeus, deinde Leonnatus et Aristonus. Omnibus isti Indis oppositi regem defendere totis viribus ardescunt. Sed dum tot milia soli reicerent, cecidit preclaro Marte Timeus, Peucestesque, gravi capitis discrimine lesus, deinde Leonnatus. Armis iacuere remissis ante pedes regis. Iam spes in Aristone solo unica restabat. Sed et ipse ruentibus Indis saucius haut poterat tantos inhibere furores. Interea cecidisse ducem intra menia rumor pertulit ad Grecos. Alios tam dira timore fregisset sed eos animavit fama. Pericli tocius inmemores murum fregere dolabris, molitique aditum spreto discrimine mortis, per murum fecere viam. Perit obvia passim turba, cadit sine quo delectu sexus et etas omnis. Alexandro mortis seu vulneris auctor creditur, occurrit quicumque. Nec improbus iram deposuit gladius donec superesse ruinae desiit et dextrae ferienti defuit hostis. Nec mora, concurrunt avidi curare iacentem

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es irgendeiner denn wagen möchte, mit gezücktem Schwert auf ihn loszugehen [425] und die Beute für einen so großen Sieg für sich zu gewinnen. Nachdem Peucestes, der an einem anderen Teil der Mauer Alexanders Spuren gefolgt war, die Beschützer der Stadt vertrieben hatte, stürmte er die verschlossenen Tore und eilte mit gezücktem Schwert seinem König schließlich zu Hilfe. [430] Als Alexander mit flimmernden Augen diesen erblickte, war er der Meinung, dass dieser nicht als Retter seines Lebens gekommen sei, sondern als Gefährte im Tod und ließ seinen Körper auf den unbrauchbar gewordenen Schild sinken. Da kam Timaeus zu Hilfe, darauf Leonnatus und auch Aristonus, die allen Indern zum Trotz darauf brannten, ihren König [435] mit aller Macht zu beschützen. Doch während sie ganz auf sich gestellt so viele Tausend Inder zurückwarfen, fiel in einem ruhmreichen Gefecht Timaeus. Peucestes wurde in einem schweren und bis zum Äußersten gehenden Kampf verwundet, dann auch Leonnatus. Ihrer Waffen entblößt, lagen sie beide zu Füßen ihres Königs am Boden. Jetzt blieb [440] als einzige Hoffnung Aristonus übrig. Doch beim Angriff der Inder verwundet, konnte auch er sich schwerlich einer so großen Wucht erwehren. Inzwischen fand das Gerücht den Weg zu den Griechen, ihr Anführer sei innerhalb der sudrakischen Mauern gefallen. Andere hätte ängstlich eine so schlimme Nachricht sicherlich entmutigt, die Griechen jedoch befeuerte sie. [445] Ohne auf die Gefahren zu achten, zerstörten sie die Mauern mit Brechäxten, schufen sich auf diese Weise einen Zugang und bahnten sich dann ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben den Weg durch die Mauern. Die von überall herbeigeeilten Sudraker fielen, es starb ausnahmslos jeder, egal welchen Geschlechts oder Alters. [450] Man hielt jeden Sudraker, der ihnen begegnete, für schuldig an Alexanders Tod oder an dessen Verwundung. Und nicht legte das unersättliche Schwert seinen Zorn ab, bis nur noch Ruinen übriggeblieben und der schlagenden Rechten die Feinde ausgegangen waren. Vom innigen Wunsch beseelt, den am Boden liegenden Alexander zu retten,

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Pelleum proceres referuntque in castra deorum invidiam. Cuius nudato vulnere magnus inter doctores medice Critobolus artis comperit hamata percussum cuspide regem nec posse educi nisi vulnus docta secando augeret manus et ferrum, multumque cruoris ne traheret fluxum cuspis retracta, trementi mente verebatur. Igitur cum fata videret, si male curaret regem, sibi triste minari inque suum reditura caput mala, pectore stabat attonito. Quem rex stupidum ut percepit amictu siccantem lacrimas et captum mente, “Quid” inquit “expectas, cum sit hoc insanabile vulnus, me saltim lento moriturum absolvere leto? Cumque michi possis celeri succurrere morte, an metuis ne sis fati reus huius?” At ille, sive nichil metuens tandem sibi sive timorem dissimulans, supplex oravit ut ipse tenendum preberet corpus, teli dum velleret hamos, quippe levem motum quantumlibet affore vitae non leve discrimen. “Non est” ait ille “decorum vinciri regem, Critobole, sive teneri. Libera sit regis et semper salva potestas.” Sic ait, et quod vix auderes credere, corpus prebuit inmotum, neque vultus signa doloris contraxit rugas. Sed abacta cuspide postquam largior emicuit patefacto vulnere sanguis, suffudit caligo oculos, animumque labantem suspendit tantus dolor ut moribundus ab ipsis qui circumstabant vix exciperetur amicis.

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liefen alle Anführer unverzüglich zusammen und trugen ihren König, [455] den selbst die Götter beneideten, ins eigene Lager zurück. Als Alexanders Wunde freigelegt war, musste Critobulus, ein ausgewiesener Fachmann unter den Gelehrten der Medizin, feststellen, dass der König von einem mit Widerhaken versehenen Pfeil durchbohrt worden war und er diesen nicht herausziehen konnte, ohne dass seine erfahrene Hand die Wunde mit einem Schnitt des Messers noch weiter vergrößerte, und er hegte die schlimme Befürchtung, [460] dass die Entfernung des Pfeils eine schwere Blutung nach sich ziehen könnte. Weil ihm bewusst war, dass ihm sein eigenes Ende entsetzlich drohte, wenn er den König nicht retten würde und jedes Scheitern allein auf ihn zurückfallen würde, stand er bestürzt einfach nur da. Als der König den Mann erblickte, wie er ergriffen mit dem Gewand [465] seine Tränen trocknete, sprach er ihn an: »Warum wartest du, wenn meine Verwundung unheilbar ist, mich, der ich im Sterben liege, wenigstens von einem langsamen Tod zu erlösen? Oder fürchtest du etwa, später zur Rechenschaft gezogen zu werden, weil du mir zu einem schnellen Tod verholfen hast?« Jener bat, [470] vielleicht nicht mehr bange oder seine Angst auch verhehlend, demütig seinen König nun doch, er möge, solange er die Widerhaken der Pfeilspitze zu entfernen versuche, seinen Körper festhalten lassen, da nämlich die kleinste Bewegung in höchstem Maße lebensgefährlich sei. Alexander erwiderte darauf: »Unehrenhaft ist es, Critobulus, [475] als König gefesselt oder auch nur gehalten zu werden. Unantastbar und frei soll immer die Macht eines Königs sein.« So sprach er. Und was man kaum zu glauben gewagt hätte, er überantwortete dem Arzt seinen still daliegenden Körper, ohne auch nur ansatzweise das Gesicht schmerzverzerrt zu verziehen. Als jedoch das Blut nach der Entfernung der Pfeilspitze in Strömen aus der offenen Wunde [480] hervorquoll, trübte sich sein Blick ein und ein so gewaltiger Schmerz durchdrang den niedersinkenden König, dass der Todgeweihte von seinen Freunden, die ihn umstanden, mit Mühe nur aufgefangen werden konnte. Als

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Quod simul acceptum est, oritur per castra tumultus flebilis, et Macedum ruit in lamenta iuventus, confessi se omnes unius vivere vita. Nec prius obticuit clamor quam pollice docto restrinxit fluxum medicis Critobolus herbis. Tunc demum sompno licuit succumbere Magnum. Tunc demum, accepta regis per castra salute, exule mesticia turmas statuere per omnes prodiga leticiae positis sollempnia mensis, qualis in Egeo Borea bachante profundo exoritur clamor cum fracta puppe magister volvitur in medios inverso vertice fluctus; fit fragor, et similem timet unusquisque ruinam, seque omnes anima periisse fatentur in una: Si tamen incolomem revocare tenacibus uncis et clavum reparare queunt, sonat aura tumultu leticiae, et primum vincunt nova gaudia luctum. Postquam Pellei curato vulnere pauci effluxere dies, cum nondum obducta cicatrix posse videretur graviorem gignere morbum, impaciens tamen ille morae parat arma repostis gentibus Oceani et celeres inferre sarissas, perdomitoque sibi nascentis cardine Phebi, querere nescitum Nili mortalibus ortum. Regibus Indorum Poro Abysarique, iuvante Taxile, navigii mandatur cura parandi. Rumor hic attonitas implevit militis aures,

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dies im Lager bekannt wurde, entstand dort ein [485] beweinenswerter Tumult, unter den griechischen Soldaten setzte Wehklagen ein und sie bekannten offen, dass sie alle nur durch des einen Leben gelebt hätten. Und nicht eher verstummte das Geschrei, als bis Critobulus mit kundigem Daumen den Blutfluss mit Hilfe von Heilkräutern hemmen konnte. Jetzt erst fand Alexander in den Schlaf. [490] Jetzt erst, als die Rettung des Königs im Lager bekannt wurde und die Traurigkeit wie weggeblasen war, wurden in allen Heeresabteilungen an freudvoll hergerichteten Tischen ausgiebige Feiern veranstaltet. Ein ebensolcher Lärm bricht los, wenn im ägäischen Meer beim Wüten des Boreas [495] der Kapitän vom beschädigten Heck kopfüber in die Fluten gespült wird, beim Krachen der Planken ein jeder den gleichen Untergang befürchtet, davon überzeugt, alle gemeinsam mit dem Kapitän nun sterben zu müssen. Doch wenn sie ihn dann mit festen Schiffshaken lebend aus dem Wasser ziehen und das Ruder instand setzen können, hallt die Luft wider [500] von ihrem Jubelgeschrei und die neu entstandene Freude siegt über die frühere Trauer. Craterus mahnt Alexander (501–544) Obwohl Alexanders Wunde kaum richtig verheilt war und die noch nicht mit Haut überzogene Narbe eine überaus gefährliche Krankheit hätte hervorrufen können, traf jener nach wenigen Tagen, jeder weiteren Verzögerung müde, dennoch Vorbereitungen, entlegene [505] Völker am Rande des Ozeans zu unterwerfen und die schnellen Lanzen gegen diese zu richten und nach dem Sieg über diese östlichen Reiche die den Menschen noch unbekannten Nilquellen zu suchen. Die Inderkönige Porus und Abisares beauftragte er deshalb, mit Taxiles’ Unterstützung für die Bereitstellung von Schiffen zu sorgen. [510] Diese Nachricht drang auch an die Ohren des erstaunten Heeres, und weil die Anführer sich Sorgen um die Ge-

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cumque fatigati regisque suaeque saluti consulerent proceres, cuncti velut agmine facto convenere duces, quorum Craterus, ad ipsum vota precesque ferens, “Tua, regum maxime, virtus” inquit “et esuries mentis, cui maximus iste non satis est orbis, quem proponunt sibi finem vel quem sunt habitura modum? Tua si tibi vilis ut nunc est vel cara minus, preciosa tuorum sit saltim tibi, Magne, salus. Gens omnis in istos conspiret iugulos, lateat sub classibus equor, cuncta venenatos acuant animalia dentes, quelibet occurrat ignoto belua vultu, omnibus obice nos terrae pelagique periclis dummodo te serves, dum tu tibi parcere cures. Ad nova tendentes semper discrimina quis nos invictos tociens poterit prestare? Secunde res ita se prebent ut nulli fas sit in uno semper stare gradu. Sed quis spondere deorum audeat hoc, Macedum diuturnum te fore sydus? Quis te precipitem per mundi lubrica possit incolomem servare diu? Cur te manifestis casibus obicis ut capias ignobile castrum? Cum labor et merces equa sibi lance coherent et causis paribus respondent premia dampnis, dulcior esse solet fructus maiorque secundis rebus et adversis maius solamen haberi. Esto tibi deinceps et nobis partior in te. Obice nos cuivis portento. Ignobile bellum, degeneres pugnas, obscura pericula vita. Gloria quantalibet vili sordescit in hoste.

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sundheit ihres angeschlagenen Königs und auch um ihr eigenes Wohl machten, kamen sie alle geschlossen zusammen, deren Wünsche und Bitten Craterus an Alexander herantrug: »Mächtigster aller Gebieter, dem selbst der riesige Erdkreis nicht genügt, welches Ziel erstreben dein Mut [515] und deines Geistes Begierde oder welches Maß werden sie zukünftig einhalten? Wenn dir dein eigenes Wohlergehen – wie jetzt gerade – wertlos oder zumindest weniger wert ist, so möge dir, Alexander, wenigstens das Wohlergehen deiner eigenen Leute am Herzen liegen. Mögen uns alle Völker zusammen [520] die Kehle zudrücken wollen, mag das von feindlichen Schiffen bedeckte Meer kaum noch zu erkennen sein, mögen alle wilden Tiere ihre Giftzähne schärfen, mag jedwedes Untier mit einem uns unbekannten Aussehen auf uns losgehen, setze uns allen Gefahren zu Land und zu Wasser aus, solange nur du auf dich Rücksicht nimmst und dich zu schonen verstehst. [525] Wer wird für uns, die wir so oft unbesiegt geblieben sind, dann eintreten, wenn wir zu immer neuen Kämpfen eilen? Das Glück verhält sich so, dass es keinem erlaubt ist, beständig auf einer Stufe stehen zu bleiben. Doch wer von den himmlischen Göttern dürfte es zu versprechen wagen, dass du für immer die Zierde der Griechen sein wirst? [530] Wer könnte dich, durch die Unsicherheiten der Welt ins Verderben stürzend, lange unversehrt bewahren? Warum setzt du dich dem sicheren Tod aus, um eine unbedeutende Burg zu erobern? Erst wenn Aufwand und Ertrag in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen und der Lohn gleichermaßen dem erlittenen Schaden entspricht, [535] ist die Befriedigung im Falle eines Erfolgs gewöhnlich angenehmer und größer und spendet umgekehrt im Falle des Scheiterns auch größeren Trost. Gehe fortan für dich und für uns schonender mit dir um. Jedwedem Ungeheuer setze uns aus, doch vermeide ruhmlosen Krieg, unbedeutende Schlachten und glanzlose Gefahren. Der eigene Ruhm wird, wie groß er auch immer sein mag, wertlos im Kampf mit unbedeutenden Feinden. [540] Überaus unwürdig ist es, den eigenen Ruhm

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Indignum satis est ut consumatur in illis gloria vel virtus ubi multo parta labore ostendi nequeat.” Eadem Tholomeus et omnis concio cum lacrimis confusa voce perorat. Non fuit Eacidae pietas ingrata suorum, atque ita “Non minimum vobis obnoxius” inquit “aut ingratus ero, non solum quod scio nostram vos hodie, proceres, vestrae preferre saluti sed quod ab introitu regni vel origine belli erga me nullum pietatis opus vel amoris pignus omisistis. Verum non est michi prorsus mens ea que vobis, neque enim desistere ceptis aut bellum finire volo. Non me capit etas, sed neque me spacio etatis vel legibus evi metior. Excedit evi mea gloria metas. Hec sola est, vestrum metiri qua volo regem. Degeneres animi pectusque ignobile summum credunt esse bonum diuturna vivere vita. Sed mundi rex unus ego, qui mille tryumphos non annos vitae numero, si munera recte computo Fortunae vel si bene clara retractem gesta, diu vixi. Tracas Asiamque subegi. Proximus est mundi michi finis, et absque deorum ut loquar invidia, nimis est angustus et orbis, et terrae tractus domino non sufficit uni. Quem tamen egressus postquam hunc subiecero mundum, en alium vobis aperire sequentibus orbem

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und die eigene Tapferkeit im Kampf mit jenen zu vergeuden, wo keine mühevoll errungene Beute gezeigt werden kann.« Entsprechend äußerte sich Ptolemäus, und die ganze Versammlung pflichtete Craterus unter Tränen und schluchzend bei. Alexanders Antwort an Craterus (545–580) [545] Durchaus willkommen war Alexander die Treue der Seinen, und er antwortete ihnen folgendermaßen: »Ich werde euch immer verpflichtet und dankbar sein, nicht nur, weil ich heute gesehen habe, dass ihr mein Leben, ihr Vornehmen, wichtiger nehmt als euer eigenes Wohlergehen, sondern weil ihr seit meiner Machtübernahme und seit Beginn dieses Kriegs keine Treuepflicht und keinen Beweis eurer Zuneigung [550] mir versagt habt. Allerdings habe ich ganz andere Pläne als ihr, und nicht will ich vom Begonnenen ablassen oder den Krieg beenden. Nicht kann mich mein Alter aufhalten, auch ist für mich nicht der Maßstab des Lebens begrenzte Zeit mit seinen ewigen Gesetzen. [555] Mein Ruhm sprengt die Kategorien der Zeit, an dem allein ihr euren König bemessen sollt. Einfache Menschen und gewöhnliche Geister sind der Ansicht, das höchste Gut sei ein langes Leben. Doch als inzwischen einziger König der Welt, der tausend Siege [560] und nicht die Jahre seines Lebens zählt, währt mein Leben, wenn ich die Gaben der Schicksalsgöttin richtig einordne oder wenn ich mir auch meine glänzenden Taten vor Augen führe, schon lange. Die Thraker und ganz Asien habe ich meiner Macht unterworfen. Ganz nah am Ende der Welt stehe ich nun, und um es zu bekennen, ohne die Missgunst der Götter hervorzurufen, zu eng ist mir wahrlich der Erdkreis, [565] und nicht reicht dem einzigen Herrn über die Welt die gesamte Ausdehnung der Länder. Und wenn ich nach der Unterwerfung dieses Erdteils weiterziehe, da habe ich für mich den Entschluss gefasst, euch – solltet ihr mir folgen – die andere Hemisphäre zu

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iam michi constitui. Nichil insuperabile forti. Antipodum penetrare sinus aliamque videre naturam accelero. Michi si tamen arma negatis, non possum michi deesse. Manus ubicumque movebo, in theatro mundi totius me rear esse, ignotosque locos vulgusque ignobile bellis nobilitabo meis, et quas Natura removit gentibus occultas calcabitis hoc duce terras. Hiis operam dare proposui nec rennuo claram si Fortuna ferat vel in hiis extinguere vitam.” Dixit et ad naves socios invitat. At illi, ducat eos quocumque velit, hortantur, et ecce nauticus exoritur per fluminis ostia clamor.

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öffnen. Nichts ist für einen tapferen Mann unerreichbar. Schleunigst will ich der Antipoden Buchten erkunden und die andere [570] Welt sehen. Doch auch wenn ihr mir keine Waffenfolge leisten wollt, wird es mir nicht an waffenfähigen Männern fehlen. Wohin auch immer ich meine Hände ausstrecken werde, glauben werde ich stets, ich sei auf dem Schauplatz der ganzen Welt unterwegs, unbekannte Orte und unbedeutende Völker werde ich mit meinen Kriegszügen berühmt machen [575] und unter meiner Führung werdet ihr verborgene Länder betreten, die Natura dem Zugriff fremder Völker entrückt hat. Dieses Vorhaben versuche ich in die Tat umzusetzen, und nicht versage ich meine Zustimmung, mein ruhmvolles Leben dort zu beenden, wenn dies die Schicksalsgöttin verlangen sollte.« So sprach er und rief die Gefährten zu den Schiffen. Jene aber forderten ihn auf, sie dorthin zu führen, wohin auch immer er wolle, und schon [580] erhob sich über die Mündung des Flusses hinweg das Rufen der Schiffsleute.

Liber X Capitula decimi libri Oceanum decimus audaci classe fatigat. Infernum Natura Chaos civesque Iehennae conquestu monitisque movet. Redit equore Magnus occeani domito, mirandaque pectore versans occiduum bellis proponit frangere mundum navigiumque parat. Sed territus orbis in unum confluit et misso veneratur munere Magnum. Qui, licet invictus ferro, mediante veneno vincitur, et luteo resolutus carcere tandem liber in ethereas vanescit spiritus auras.

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Decimus liber Sydereos fluctus et amicum navibus amnem prebuerat Zephirus, et iam statione soluta longius impulerat acclinis navita classem, ignarus quo tendat iter vel quam procul absit hactenus Oceani populis incognitus amnis.

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Buch X Themenübersicht (1–10) Im zehnten Buch zerwühlt die verwegene griechische Flotte das Meer. Die Göttin Natura versetzt mit Wehklagen und Mahnungen den Abgrund des Chaos und die Bewohner der Hölle in Aufruhr. Alexander kehrt vom bezwungenen Ozean zurück. Erstaunliche Ideen erwägend, fasst er den Entschluss, [5] die westliche Welt im Kampf zu erobern, und lässt dafür eine Flotte ausrüsten. Doch angstvoll strömt der ganze Erdkreis zusammen und bezeugt mit Geschenken Alexander seine Verehrung. Obgleich im Krieg niemals besiegt, wird dieser indes durch Gift niedergeworfen. Dem schmutzigen Kerker des Körpers entronnen, [10] entschwindet seine Seele schließlich befreit in die himmlischen Lüfte. Alexanders Aufbruch zu den Antipoden (1–5) Sanfte Fluten und eine für Schiffe günstige Strömung hatte Zephyr gewährt, nach Lichten des Ankers hatte der Seemann mühelos schon länger die Flotte vorangetrieben, ohne zu wissen, wohin die Reise ihn trug oder welche Ausdehnung [5] der den Völkern unbekannte Ozean besaß.

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Interea memori recolens Natura dolore principis obprobrium mundo commune sibique, qui nimis angustum terrarum dixerat orbem archanasque sui partes aperire parabat gentibus armatis, subito turbata verendos canicie vultus, ylen irata novumque intermittit opus et quas formare figuras ceperat, et variis animas infundere membris turbida deseruit, velataque nubis amictu ad Stiga tendit iter mundique archana secundi. Quo se cumque rapit, cedunt elementa sueque artifici assurgunt. Veneratur pendulus aer numinis ingressum. Terrae lascivia vernis floribus occurrit. Solito mare blandius undis imperat, et tumidi tenuere silencia fluctus. Omnia Naturam digne venerantur et orant ut sata multiplicet fetusque et semina rerum augeat infuso mixtoque humore calori. Illa suis grates referens servare statutas iussit et in nullo naturae excedere metas. “Ad Stiga descendo, michi provisura meisque,” inquit “Alexandri, quem terra fretumque perhorrent, eversura caput, nobis commune flagellum.” Dixit et obscuros aperit telluris hyatus Tartareumque subit declivi tramite limen.

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Das Strafgericht in der Unterwelt (6–167) Descensus ad inferos – Die Göttin Natura in der Unterwelt (6–107) Die Charakterisierung der Göttin Natura (6–30)

Zornerfüllt und das ehrwürdige alte Antlitz verzerrt, unterbrach unterdessen die Göttin Natura, in unversöhnlichem Schmerz an die Schande des Fürsten denkend, die dieser der Menschheit und auch ihr selbst mit der Bemerkung zugefügt hatte, der Erdkreis sei ihm zu eng, und mit der Absicht, ihre geheimsten Reiche [10] bewaffneten Völkern öffnen zu wollen, plötzlich ihre Arbeit an der Urmaterie und ließ das neue Werk und die Gebilde, die sie bereits zu formen begonnen hatte, unbearbeitet liegen. Nicht mehr kam sie dazu, den verschiedenen Körpern die Seelen einzuhauchen. Von einem Wolkenschleier verborgen, [15] eilte sie zum Styx und zu den geheimen Gefilden der anderen Welt. Wohin auch immer sie sich eilends bewegte, wichen die Elemente zurück und erhoben sich vor ihrer Schöpferin. Die schwebenden Lüfte bezeugten dem Einzug der Gottheit ihre Verehrung. Mit Blumen des Frühlings lief ihr heiter die Erde entgegen. Sanfter als gewohnt gebot das Meer den Wellen [20] und Stille umgab die schwellenden Fluten. Alles brachte der Göttin Natura die angemessene Ehrerbietung entgegen und bat sie darum, die Saaten zu mehren und durch Feuchtigkeit und Wärme die Triebe und Samen der Pflanzen gedeihen zu lassen. Jene gab, ihren Schützlingen dankend, die Anweisung, [25] die von ihr gesetzten Grenzen zu wahren und niemals zu verletzen. Folgendermaßen sprach sie: »Zum Styx steige ich hinab, um für mich und die Meinen Vorkehrungen zu treffen und Alexander, vor dem Länder und Meere erschaudern, diese uns allen gemeinsame Geißel, zu vernichten.« Nach diesen Worten öffnete sie die verborgenen Schlünde der Erde [30] und näherte sich auf abschüssigem Pfad der Schwelle des Tartarus.

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Ante fores Herebi Stigiae sub menibus urbis liventes habitant terrarum monstra sorores, inter quas antris aliarum mater opacis abscondit loculos et coctum mille caminis faucibus infusum siccis ingutturat aurum, explerique nequit sitis insatiabilis ardor. Subsannans alias cunctis supereminet una dedignata parem flagrante Superbia vultu. Mersa iacens ardente luto torquetur et ardet pube tenus totis exhausta Libido medullis. Nauseat Ebrietas, Gula deliciosa ligurrit et mendica suos consumit morsibus artus. Immemor Ira sui est et quo rapit impetus illuc ebria discurrit et se sociasque flagellat. Prodicioque, Doli comes, et Detractio, macri filia Livoris, que cum bene facta negare non possit, quocumque modo pervertere temptat et minuit laudes quas non abscondere fas est. Has colit Ypocrisis marcenti livida vultu sedes et summus hodie processus in aula Pestis adulandi, bibulis studiosa potentum auribus instillans animae letale venenum. Huic aulae vicio tanta est concessa potestas ut rerum dominis humanas subtrahat aures. Has ubi preteriens obliquo lumine fixit rerum prima parens, urbis se menibus infert, qua videt aeternis animas ardere caminis.

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Die Laster am Eingang zur Unterwelt (31–57)

Am Fuße der stygischen Burg hausten vor Erebus’ Toren die neidischen Geschwister, die Scheusale der Erde. Unter ihnen verbarg Avaritia, Herrin der anderen, in schattigen Höhlen Geldschatullen [35] und verschlang – in ihren trockenen Schlund gegossen – in tausend Öfen geschmolzenes Gold. Und doch konnte auch damit nicht die Glut ihrer unstillbaren Gier gelöscht werden. Durch spöttische Gebärden die anderen mit funkelndem Blick verhöhnend, verachtete Superbia als einzige der Geschwister die anderen und verschmähte eine gleichberechtigte Stellung. Überdeckt von glimmendem Unrat lag Libido da, wälzte sich hin und her und brannte vor Begierde, [40] in ihrem Inneren hinunter bis zur Scham vollkommen ausgezehrt. Ebrietas erbrach sich, Gula schlemmte voller Gier und biss bettelarm sich die eigenen Gliedmaßen ab. Rücksichtslos zu sich selbst war Ira, und wohin sie ihr Ungestüm trieb, dorthin raste sie berauscht und schlug sich selbst und auch ihre Geschwister. [45] Proditio, Gefährtin des Dolus, und Detractio, Tochter des hageren Livor, versuchten auf jegliche Art und Weise großartige Taten, die man nicht leugnen konnte, zumindest zu schmälern, verminderten den Ruhm, den zu verschweigen verbrecherisch gewesen wäre. Dieselben Räume bewohnten neidisch mit bleichem Gesicht Hypocrisis sowie Pestis adulandi, [50] auch heutzutage am Hofe in höchstem Maße erfolgreich, wenn sie eifrig den geneigten Ohren der Mächtigen das für die Seele tödliche Gift einflößt. Diesem Laster wird am Hofe eine so große Macht eingeräumt, dass sie den Mächtigen dieser Welt das klare Urteilsvermögen raubt. [55] Und noch während die erste Mutter der Schöpfung diese im Vorbeigehen mit seitlichen Blicken musterte, betrat sie die Mauern der Stadt, wo sie Seelen erblickte, die im ewigen Feuer brannten.

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Est locus extremum baratri devexus in antrum, perpetua fornace calens ubi crimina punit et sontes animas ultricis flamma Iehennae. Et licet unus eas atque idem torreat ignis, non tamen infligunt equas incendia penas omnibus. Hii levius torquentur, sevius illi. Sic se conformat meritis cuiusque Iehenna ut qui deliquit levius, levioribus ille subiaceat penis, et qui graviore reatu excessit gravius, graviorem sentiat ignem. Sunt quibus, excepta primi levitate parentis, nulla fuit vitae contagio vel venialis. Hiis nichil aut modicum penae vapor igneus infert. Sicut in estivo cum tempore noxius agros Syrius exurit, sub eodem lumine solis sanus lascivit, cruciatur et estuat eger. Illic perpetuae miscens incendia mortis Leviathan, medii stans in fervore baratri, ut procul inspexit numen, fornace relicta tendit eo, sed eam ne terreat, ora colubri ponit et in primam redit assumitque figuram quam dederat Natura creans cum sydere solis clarior intumuit tantumque superbia mentem extulit ut summum partiri vellet Olympum. Quo dea conspecto “Scelerum pater” inquit “et ultor, quem matutini superantem lumine vultum Luciferi tumor etherea deiecit ab arce,

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Erster Ort der Bestrafung – Leviathan und das Fegefeuer (58–81)

Es gab einen Ort, der steil in den tiefsten Bereich der Hölle hinabführte, wo das Feuer der rächenden Hölle – im ewigen Ofen geschürt – Verbrechen [60] und schuldige Seelen bestrafte. Und mag diese Seelen auch ein und dasselbe Feuer versengen, peinigte der Brand doch nicht alle mit der gleichen Vergeltung. Die einen wurden weniger heftig gequält, andere hingegen schlimmer. Dergestalt bemaß die Hölle die Schuld eines jeden, [65] dass derjenige, der nur leichterer Sünden sich schuldig gemacht hatte, auch nur leichtere Strafen zu gewärtigen hatte, derjenige aber, der schlimmere Sünden begangen hatte, auch ein schlimmeres Feuer zu spüren bekam. Auch gab es welche, die – abgesehen vom Leichtsinn unseres Urvaters – in ihrem Leben keine oder eine zumindest verzeihliche Schuld auf sich geladen hatten. [70] Diese Menschen peinigte das Höllenfeuer gar nicht oder nur mäßig, vergleichbar der Situation, wenn im Sommer der schädliche Hundsstern die Äcker ausdörrt, der Gesunde dabei ausgelassen sein Leben verbringt, der Kranke unter derselben Glut der Sonne jedoch von der Hitze entsetzlich gequält wird. [75] Als Leviathan, der mitten im Höllenfeuer stehend die Flammen des ewigen Todes schürte, von ferne die Göttin erblickte, verließ er unverzüglich die Feuerstätte und eilte ihr entgegen. Um sie jedoch nicht zu erschrecken, legte er seine Schlangengestalt ab und nahm die erste Gestalt wieder an, die Mutter Natur einst ihm gegeben hatte, [80] als er heller als das Licht der Sonne erstrahlte und ihn der Hochmut so sehr mit sich fortriss, dass er seinen Teil vom Himmel begehrte. Die Klagerede der Natura am ersten Ort der Bestrafung (82–107)

Als die Göttin Leviathan erblickte, rief sie: »Vater und Rächer der Sünden, den Hochmut aus der himmlischen Burg hinabstürzte, als du mit deinem Licht das strahlende Antlitz des Morgensterns hast

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ad te confugio tandem miserabilis, ad te, quem, ne nulla tibi perdenti sydera sedes esset, in hac saltim terrarum nocte recepi. Ad te communes hominumque deumque querelas affero. Scis etenim quantis elementa fatiget motibus armipotens Macedo. Qui classe subacto equore Pamfilico Darium ter vicit et omnem confringens Asiam Porum servire coegit indomitum bellis. Nec eo contentus eoas vestigat latebras et nunc vesanus in ipsum fulminat Oceanum. Cuius si fata secundis vela regant ventis, caput indagare remotum a mundo Nyli et Paradysum cingere facta obsidione parat, et ni tibi caveris, istud non sinet intactum Chaos Antipodumque recessus alteriusque volet nature cernere solem. Ergo age, communem nobis ulciscere pestem. Que tua laus, coluber, vel que tua gloria primum eiecisse hominem si tam venerabilis ortus cedat Alexandro?” Nec plura locuta recessit. Ille secutus eam dictis promittit in omnes eventus operam nec se desistere donec

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verblassen lassen, [85] bei dir, den ich wenigstens in diesem Dunkel der Erde aufgenommen habe, damit du nach dem Verlust deines himmlischen Wohnsitzes nicht ohne Zuhause bist, suche ich klagend zuletzt meine Zuflucht. An dich trage ich alle gemeinsamen Klagen von Menschen und Göttern heran. Denn du weißt, wie heftig [90] der waffenmächtige Makedone die Elemente bedrängt. Nachdem er das pamphylische Meer mit seiner Flotte durchmessen hatte, besiegte er Darius dreimal und auf seinem Eroberungszug durch Asien hat er auch den zuvor im Kampf niemals besiegten Porus gezwungen, sich ihm zu unterwerfen. Doch damit noch nicht zufrieden, spürt er nun östliche Schlupfwinkel auf und richtet sein wahnsinniges Toben [95] gegen den Ozean selbst. Wenn ihm das Schicksal mit günstigen Winden die Segel spannen sollte, wird er die entlegenen Nilquellen aufspüren und das Paradies belagern. Wenn du nicht aufpasst, wird er die Unterwelt nicht unberührt lassen und wünschen, die geheimen Reiche der Antipoden [100] und die Sonne auf der anderen Hemisphäre zu sehen. Deshalb wohlan, nimm Rache an der uns gemeinsamen Geißel. Welche Bedeutung hat noch dein Ansehen, o Schlange, was noch bedeutet dein Ruhm, den ersten Menschen aus dem Paradies vertrieben zu haben, wenn ein so ehrwürdiger Garten dem Alexander erliegen sollte?« Ohne weitere Worte eilte die Göttin Natura von dannen. [105] Leviathan aber folgte ihr und versprach der Göttin für alle erdenklichen Begebenheiten seine Unterstützung. Und nicht eher werde er davon ablassen, bis der Feind aller Menschen im Dunkel der Hölle versenkt sei.

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inferni tenebris mergatur publicus hostis. Nec mora, rugitu tenebrosam concutit urbem conciliumque vocat. Iacet inveterata malorum planicies, durata gelu et nive saucia, cuius nec sol indomitum nec mitigat aura rigorem. Hic sontes animae passim per plana iacentes mortis inauditae torquentur agone, quibus mors est non posse mori. Quia quorum hic mortua vita in culpa fuerit, ibi vivet semper eorum mors in suppliciis ut qui hic delinquere vivus non cessat, finem moriendi nesciat illic. Attritus glacie nivium, de frigore transit ad prunas. O supplicium miserabile! Semper et numquam moritur quem carcer torquet Averni. Hic ubi collecti satrapae Stigis et tenebrarum consedere duces, tria gutture sibila rauco edidit antiquus serpens, quibus omne repressit murmur et infernis indicta silentia penis, umbrarumque graves iubet obmutescere planctus. Ergo ubi compressit gemitus a pectore, surgens in medium mandata deae proponit et addit: “Nam quis erit modus, o socii, aut que meta flagelli huius” ait “quo cuncta tremunt, prolixior illi si mora pro libitu frangendum indulserit orbem? Ecce, sed id taceo, rupto parat obice terrae

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Die Unterweltsversammlung (108–167) Zweiter Ort der Bestrafung – Leviathan und die Hölle (108–125)

Unverzüglich ängstigte er die finstere Wohnstatt mit seinem Gebrüll und berief eine Versammlung ein. Seit jeher liegt hier die Ebene der Sünden, [110] im Frost erstarrt und vom Schnee zerfurcht, deren unbändige Strenge weder die Sonne noch ein Lufthauch zu mildern vermögen. Nach allen Seiten verstreut auf der Ebene liegend, erleiden hier die schuldigen Seelen im Kampf mit einem außergewöhnlichen Tod unendliche Qualen. Tod bedeutet für diese nämlich, nicht sterben zu können. Diejenigen, deren erloschenes Leben auf Erden [115] voller Sünde war, werden dort eben darum einen Tod in Bestrafung erleben, so dass jene, die hier zu Lebzeiten von der Sünde nicht abließen, dort kein Ende des Sterbens kennen. Ermattet vom eisigen Frost gehen jene aus der Kälte hinüber in die glühende Hitze. O elende Buße! Unablässig [120] und doch niemals sterben jene, welche der Kerker der Unterwelt martert. Sobald die hier versammelten Satrapen des Styx, die Fürsten der Finsternis, sich niedergesetzt hatten, zischte die uralte Schlange dreimal aus heiserer Kehle, untersagte ihnen jedwedes Murmeln, erlegte den höllischen Martern schweigende Stille auf [125] und gab den Befehl, das laute Wehklagen der Schatten verstummen zu lassen. Die Rede des Leviathan am zweiten Ort der Bestrafung (126–142)

Sobald er also das Wehklagen unterdrückt hatte, stand er in der Mitte der Versammlung auf und enthüllte erbost den Auftrag der Göttin. Und er fügte Folgendes noch hinzu: »Welches Maß, ihr Gefährten, welche Grenze wird es denn für diesen Verbrecher geben, vor dem alles erzittert, [130] falls man jenem noch länger die Gelegenheit dazu geben sollte, den Erdkreis nach Belieben zu zertrümmern? Gebt acht, auch schickt er sich an – lieber würde ich dies

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Tartareum penetrare Chaos belloque subactis umbrarum dominis captivos ducere manes. Est tamen in fatis, quod abhominor, affore tempus quo novus in terris quadam partus novitate nescio quis nascetur homo qui carceris huius ferrea subversis confringet claustra columpnis, vasaque diripiens et fortia fortior arma, nostra triumphali populabitur atria ligno. Proinde, duces mortis, nascenti occurrite morbo et regi Macedum. Ne forte sit ille futurus inferni domitor, leto precludite vitam.” Vix ea ructarat cum blando subdola vultu Proditio surgens “labor iste brevissimus,” inquit “est michi mortiferum super omnia toxica virus, quod nec testa capit nec fusilis olla metalli nec vitri species nec vas aliud nisi solum ungula cornipedis. Dabitur liquor iste Falerno mixtus Alexandro. Presto est occasio dandi. Nam meus Antipater, Macedum prefectus, ab ipsis cunarum lacrimis pretendere doctus amorem voce sed occultis odium celare medullis, ad regem ire parat, Babylona citatus ab ipso ut sub eo senium consumat et aspera rursus perferat emeritus castrensis tedia vitae. Hoc, ego si dea sum qua nulla potencior inter noctigenas, si me vestram bene nostis alumpnam, hoc mediante duci virus letale datura

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doch verschweigen –, nach Sprengung der Schwelle zwischen Erde und Tartarus in unsere Welt vorzudringen und die Manen gefangen zu nehmen, nachdem er die Herren der Schatten im Kampf besiegt hat. Vorherbestimmt ist es doch – was mich erschaudern lässt –, dass eine Zeit anbrechen wird, [135] in der auf Erden irgendein neuartiger Mensch – durch eine neuartige Weise geboren – das Licht der Welt erblicken wird, der die Säulen des Hades umstürzen, die ehernen Riegel zu diesem Kerker aufbrechen, unsere Werkzeuge und machtvollen Waffen mit größerer Macht zerstören und unsere Wohnstatt mit dem siegreichen Kreuz verwüsten wird. [140] Deshalb tretet, ihr Fürsten des Todes, dem Unheil schon in seinen Anfängen entgegen und stellt euch dem König der Makedonen in den Weg. Bringt ihn zuvor schon zur Strecke, damit er in Zukunft nicht über die Hölle herrscht.« Die Rede der Proditio am zweiten Ort der Bestrafung (143–167)

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als sich Proditio mit schmeichelnder Miene erhob und heimtückisch sagte: »Dies ist mir ein Leichtes, [145] bin ich doch im Besitz eines todbringenden und über alle Maßen giftigen Suds, den außer dem Huf eines Pferdes weder ein tönerner Krug noch ein Topf aus Metall noch ein Behälter aus Glas noch irgendein anderes Gefäß aufnehmen kann. Diesen Sud wird man vermischt mit Falernerwein Alexander reichen. Die Gelegenheit dazu ist günstig. [150] Denn der mir gewogene Antipater, ein makedonischer Kommandant, seit frühester Kindheit darin geübt, mit Worten Gefolgschaft zu heucheln, Hassgefühle jedoch tief im Herzen zu verbergen, ist auf dem Weg zu Alexander, von ihm selbst nach Babylon gerufen, um bei ihm sein betagtes Alter zu verbringen [155] und eigentlich schon Veteran von neuem die harten Mühen des Feldlagerdaseins zu ertragen. Wenn ich unter den Töchtern der Nacht als mächtigste Göttin gelte, wenn ich als euer Zögling trefflich bekannt bin, will ich zur Oberwelt eilen, um mit

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evehor ad superos.” Sic fatur, et omnis in unum conclamat tenebrosa cohors, laudatur ab omni provida concilio quod sic studiosa pararet infractum bellis armato frangere potu. Nec mora, Prodicio faciem mutata vetustam emergit tenebris, Siculumque per aera pennis vecta venenatis, thalamum tandem intrat alumpni. Quem satis instructum blando sermone relinquens, ad Chaos eternum solitasque revertitur umbras. Iamque reluctantem Pelleus classe minaci fregerat Oceanum, iamque indignantibus undis victor ab Oceano Babylona redire parabat. Constituebat enim miser ignarusque futuri, dispositis rebus Asiae, transferre sarissas Penorum in fines, et Numidiae peragratis finibus Hyspanas, quibus Herculis esse columpnas fama loquebatur, ultra descendere metas occiduumque sibi bello submittere solem. Gentibus his domitis animi sitientis in arce concipere audebat post hec transcendere montes velle Pyreneos armisque domare rebelles Gallorum populos Renumque adiungere victis, tunc demum patriam Macedumque revisere fines. Alpibus abiectis agitabat et inter eundum Italiam servire sibi Romamque docere Grecorum portare iugum. Pretoribus ergo precepit Syriae faciendae querere classis

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seiner Unterstützung dem König den tödlichen Sud zu bringen.« Nach ihren Worten [160] brach die ganze finstere Schar gemeinsam in lauten Jubel aus, die fürsorgliche Göttin wurde von der ganzen Versammlung gepriesen, da sie entschlossen sich anschickte, den im Krieg niemals besiegten König mit dem mächtigen Trank zu vernichten. Unverzüglich stieg Proditio mit verändertem Aussehen aus der Unterwelt empor und betrat zuletzt, [165] nachdem sie mit giftigen Flügeln durch die Lüfte geflogen war, auf Sizilien das Schlafgemach ihres Schützlings. Nachdem sie diesen in ausreichendem Maße mit schmeichelnden Worten unterwiesen hatte, verließ sie ihn wieder und kehrte in das Reich der ewigen Finsternis und zu den vertrauten Schatten zurück. Alexanders weitere Pläne (168–190) Und schon hatte Alexander mit drohender Flotte den widerspenstigen Ozean überwunden, schon war er dabei, [170] als Sieger über die empörten Wogen vom Ozean nach Babylon zurückzukehren. Denn ohne zu wissen, was die Zukunft ihm bringen würde, fasste der Unglückselige den Entschluss, nach der Ordnung der Angelegenheiten in Asien den Krieg in das Gebiet der Punier hinüberzutragen, nach der Durchquerung Numidiens über das äußerste Ende Spaniens, [175] wo – wie Fama erzählt – die Säulen des Herkules stehen sollen, hinaus seinen Fuß zu setzen und sich die Länder im Westen durch Krieg zu unterwerfen. Nach der Unterwerfung dieser Völker wollte er dann als Gipfel seiner unersättlichen Gier wagemutig die Pyrenäen überqueren, die widerspenstigen [180] gallischen Stämme mit Waffengewalt unterwerfen, den Besiegten die Völker am Rhein hinzugesellen, um dann erst die makedonische Heimat wiederzusehen. Auf dieser Route beabsichtigte er nach Bezwingung der Alpen Italien zu lehren, ihm dienstbar zu sein, und Rom begreiflich zu machen, das Joch der Griechen zu tragen. [185] Und so

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materiam. Dolet aerias procumbere cedros Lybanus et virides addictas fluctibus alnos. In classem cadit omne nemus, stupet ethera tellus arboreis viduata comis umbraque perhenni, miranturque novum nudata cacumina solem. Quo tendit tua, Magne, fames? Quis finis habendi, querendi quis erit modus aut que meta laborum? Nil agis, o demens. Licet omnia clauseris uno regna sub imperio totumque subegeris orbem, semper egenus eris. Animum nullius egentem non res efficiunt sed sufficientia. Quamvis sit modicum, si sufficiat, nullius egebis. O facilem falli qui cum parat arma, paratur eius in interitum quod comprimat arma venenum. Crescit avara sitis iuveni, sed potio tantam comprimet una sitim. Nam proditor ille, scelestis instructus monitis, ventis advectus iniquis, venerat Antipater Babylona, ubi cum patricidis complicibusque suis facinus tractabat acerbum. Quis furor, o superi? Quid agis, Fortuna? Tuumne protectum tociens perimi patieris alumpnum? Si fati mutare nequis decreta volentis ut pereat Macedo, saltim secreta revela carnificum. Potes auctores convertere leti et mortis mutare genus. Converte venenum

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erteilte er den Statthaltern Syriens den Befehl, Holz für den Schiffsbau zu beschaffen. Der Libanon war betrübt, dass hochragende Zedern und grüne Erlen – für die Fluten bestimmt – krachend zu Boden stürzten. Jeglicher Hain fiel für die Flotte, die ihres Laubwerks und des beständigen Schattens beraubte Erde bestaunte den Himmel, [190] die nackten Gipfel wunderten sich über die ungewohnte Intensität der Sonne. Autorexkurs: Klage über Alexanders Ende (191–215) Wohin, Alexander, dehnt deine Gier sich noch aus? Welche Grenzen noch kennt deine Herrschsucht? Welches Maß haben deine Eroberungen noch? Welches Ende denn hast du deinen Mühen gesetzt? Gar nichts bewirkst du, Verblendeter. Magst du auch alle Reiche unter einem Befehl halten und den ganzen Erdkreis dir unterwerfen, [195] immer wirst du bedürftig sein. Nicht Reichtum macht den Menschen bedürfnislos, sondern Genügsamkeit. Obgleich du nur wenig besitzt, wirst du nichts entbehren, wenn es zum Leben ausreicht. Wie mühelos wird jener getäuscht! Noch während er Vorbereitungen für den Krieg traf, wurde für dessen Tod das Gift vorbereitet, das den Krieg verhindern sollte. [200] Heißes Verlangen nach Macht wuchs in dem jungen Mann, doch wird der eine Trank selbst einen derart großen Durst löschen. Denn schon war Antipater, unterrichtet von den ruchlosen Weisungen und von missgünstigen Winden geleitet, nach Babylon gekommen, wo jener Verräter mit verbündeten Mördern die grässliche Tat vorbereitete. [205] Welch ein Wahnsinn, ihr Götter! Was willst du jetzt unternehmen, Fortuna? Wirst du jetzt zulassen, dass dein von dir so oft beschützter Zögling niedergestreckt wird? Wenn du den Willen des Fatums, Alexander zu vernichten, nicht abwenden kannst, enthülle wenigstens die geheimen Pläne der Henker. Vielleicht kannst du jene umstimmen, die den Mord planen oder zumindest [210] die

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in gladium. Satius et honestius occidet armis is qui plus deliquit in hiis. Sed forsitan armis non potuere palam superi quem vincere dirum clam potuit virus. Fuit ergo dignius illum occultum sentire nephas quam cedere ferro. Ut tamen ante diem extremum, quem fata parabant, omnia rex regum sibi subdita regna videret, fecit eum famae sonus et fortuna monarcham. Tantus enim terror et consternatio gentes invasit reliquas ut post domitos Orientis tocius populos turbata medullitus omnis natio contremeret longeque remota paveret insula fluctivago quecumque includitur estu. Oblatis igitur cursum flexura tyranni muneribus toto peregrina cucurrit ab orbe ad mare descendens plenis legatio velis. Non dedignantur subdi Kartaginis arces imperio Magni, sed et Affrica tota remoto scribit Alexandro sese servire paratam. Scribit idem solo terrore coercita quamvis tuta situ et multis pollens Hyspania bellis, totaque terrificum misso diademate, quod vix credere sustineam, veneratur Gallia regem.

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Todesart ändern. Vertausche das Gift mit dem Schwert. Besser und ruhmvoller wird jener durch Waffen sterben, der mit diesen die meiste Schuld auf sich geladen hat. Doch vielleicht hätten die Götter einen solchen Mann offen mit Waffen gar nicht besiegen können, den heimlich nur ein schreckliches Gift zu besiegen vermochte. Demzufolge passte es dann doch besser zu Alexander, [215] den Tod durch ein tückisches Verbrechen zu erleiden als durch das Schwert zugrunde zu gehen. Die Versammlung der Völker in Babylon (216–325) Der Aufmarsch der Völker in Babylon (216–248) Aber damit noch der König der Könige, bevor ihm das Schicksal den letzten Tag bereitete, alle ihm untergebenen Reiche zu Gesicht bekam, machten ihn der Klang seines Namens und seine Stellung zum Monarchen. Eine so große Furcht nämlich und ein so großes Entsetzen ergriff die übrigen Völkerschaften, [220] dass nach der Unterwerfung des ganzen Ostens alle Menschen, bis ins Mark erschüttert, erzitterten und jede auch noch so weit entfernt liegende Insel, die von den wogenden Fluten des Meeres umgeben war, angstvoll erbebte. Um also mit der Überreichung [225] von Geschenken den König vom eigenen Land fernzuhalten, ließen fremde Gesandte vom ganzen Erdkreis Schiffe mit vollen Segeln zu Wasser und fuhren nach Babylon. Nicht verschmähte es Karthagos Burg, sich der Macht Alexanders zu beugen, aber auch ganz Afrika meldete, dem weit entfernten König bereitwillig dienstbar zu sein. [230] Auch Spanien verkündete, allein durch den Schrecken gebändigt, schriftlich Gefolgschaft, obgleich seine Lage es schützte und es in vielen Kriegen seine Wehrhaftigkeit unter Beweis gestellt hatte. Und auch Gallien verehrte den furchterregenden König und schickte – was ich kaum glauben kann – eine Krone. Selbst die Ger-

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Mitescit Reni rabies, positoque furore Teutonicus mixto tendit Babylona Sicambro. Nec minor Italiae gentes servire coactas invasit metus, et licet hinc natura nivosas obiciat cautes, illinc maris obice tuta continui maneat, tamen insuperabile Magno nil credens, regis spontanea prevenit iram muneribus sedare datis. Trinacria montes infernosque lacus proli servire Philippi imperat et scribit. Sed quid moror? Omnis in unum natio concurrit clarasque Semiramis arces equore vecta petit. Legatos inde videres affluere et naves rerum speciebus onustas quadrupedumque greges quo pervenisse loquacem credere vix posses famae premobilis auram. Magnus ut accepit quod confluxisset in unum ipsius exspectans adventum territus orbis, ardet adire locum mortis remisque citata classe Semiramiam tendit festinus ad urbem. Non aliter procul inspecto grege tygris equorum, cuius fulmineas urit sitis aspera fauces, excutitur stimulante fame vivumque cruorem inmitis bibit et laceros incorporat artus: Quam si forte sequens occulto tramite pungat cuspide venator, plangit fusoque per herbam

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manen entsagten dem Grimm und es eilten, jeglicher Wut sich enthaltend, [235] Teutonen vereint mit Sigambern nach Babylon. Nicht weniger fürchteten sich die Völker Italiens vor aufgezwungener Knechtschaft. Auch wenn die Natur das Land auf der einen Seite durch schneebedeckte Berge absperrte und auf der anderen Seite durch einen ununterbrochenen Riegel des Meeres sicherte, sorgten sie doch freiwillig vor, den Zorn des Königs mit der Übergabe von Geschenken zu beschwichtigen, [240] da man der Meinung war, nichts sei für Alexander unüberwindlich. Sizilien erteilte den Bergen und den zur Unterwelt führenden Seen den schriftlichen Befehl, dem Sohn Philipps zu dienen. Aber was soll ich noch weitere Worte darüber verlieren? Der ganze Erdkreis strömte an einem einzigen Ort zusammen [245] und eilte über das Meer zu Semiramis’ Burg. Man hätte von dort Gesandtschaften herbeiströmen sehen können, ebenso mit allerlei Dingen beladene Schiffe und zahllose Pferde, und kaum hätte man es für möglich gehalten, wohin überall die überaus flinke Fama mit ihrer schwatzhaften Zunge gelangen konnte. Alexanders Rückkehr nach Babylon (249–282) Als Alexander erfuhr, dass der entsetzte Erdkreis, seine Ankunft erwartend, [250] an einem einzigen Ort zusammengeströmt war, entbrannte er, den Ort seines Todes zu betreten, und segelte mit seiner Flotte – von Rudern zusätzlich vorwärts getrieben – eilends zu Semiramis’ Stadt. Nicht anders wird auch ein vom Hunger getriebener Tiger fortgerissen, dessen tödliches Maul ein heftiges Verlangen quält, wenn er in der Ferne eine Herde von Pferden entdeckt hat, grausam [255] das warme Blut trinkt und die zerfetzten Glieder verschlingt: Ebenso jammert er auch, wenn ihn dann der Jäger, ihm auf heimlichem Pfad folgend, mit dem Speer verletzt, und er noch immer nicht satt und immer noch durstig dann stirbt, wenn über die

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inmoritur sitiens nec adhuc saciata cruore. Iam sibi fatales Pelleus, proch dolor, arces agmine quadrato stipatus inibat, et ecce obvia mirifico splendebat turba paratu. Occurrunt proceres. Quibus ut comitantibus urbem arduus intravit sumpsitque insignia regni, legatos iubet admitti positumque monarcha ascendens solium victo sibi victor ab orbe munera missa capit: clypeum quem Gallia gemmis miserat intextum, galeam Kartago pyropo desuper ardentem, visumque sitire cruorem Teutonicus gladium, spumantem Hyspania labris cornipedem vario distinctum membra colore aureaque attritis mandentem frena lupatis. Tortilis argento digitis intexta Cyclopum traditur a Siculo veniens lorica tyranno. His tamen exceptis, quot mundi regna tot illi tradita designant regum diademata regem. His varie gentis cultus, his plurima miris purpura texta modis, his quicquid ubique repertum est quod mentem alliciat, quod delectare tuendo mortales oculos queat, additur omne metallum et lapidum splendor. His, ut brevius loquar, orbis adduntur tocius opes. Quibus ille receptis, “Gratia diis,” inquit “quorum michi parta favore regna, triumphatae quas nondum vidimus urbes. Nec minor a vobis debetur gratia celo

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Gräser sein Blut in Strömen dahinfließt. [260] Schon betrat Alexander, umgeben vom geschlossen marschierenden Heer, o Schmerz, die für ihn todbringende Stadt. Da kam ihm eine von wunderbarem Gepräge erstrahlende Menge entgegen. Babylons bedeutendste Persönlichkeiten eilten herbei. Als er in deren Begleitung in die Stadt einzog und stolz die Krone des Herrschers empfing, [265] erteilte er den Befehl, die Gesandtschaften vorzulassen. Dann bestieg der Monarch den aufgestellten Thron und nahm als Sieger die vom besiegten Erdkreis dargebotenen Geschenke entgegen: Einen mit Edelsteinen versehenen Schild hatte Gallien geschickt, Karthago einen an seiner Spitze golden schimmernden Bronzehelm, [270] Germanien ein blutrünstig wirkendes Schwert, Spanien ein an den Lefzen schäumendes Pferd mit scheckigen Gliedern, das auf ein goldenes und mit abgewetzten eisernen Stacheln versehenes Zaumzeug biss. Vom Tyrannen aus Sizilien kommend, wurde als Geschenk ein von Zyklopenhänden geflochtener und mit silbernem Draht gewundener Panzer übergeben. [275] Doch auch wenn er diese Geschenke alle empfangen hatte, zeichneten jenen doch erst die ihm aus aller Welt überreichten Diademe als König der Könige aus. Ihnen fügte man hinzu die Pracht verschiedener Völker: eine Vielzahl auf wunderbare Weise gewebte purpurne Stoffe und was auch immer man sonstwo gefunden hatte, was das Herz der Menschen bezauberte und [280] das menschliche Auge bei seinem Anblick erfreuen konnte, und auch Metalle jeglicher Art und den Glanz von Edelsteinen, kurzum: den Reichtum des ganzen Erdkreises. Alexanders Ansprache (282–329) Nachdem er all diese Dinge empfangen hatte, sagte Alexander: »Den Göttern sei Dank, durch deren Gnade ich mir alle Reiche verschaffen konnte und ich noch nie gesehene Städte bezwungen habe. [285] Nicht weniger müsst ihr dem Himmel danken, da ihr euch

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quod sine conflictu bellorum, quod sine vestri sanguinis impensa, Macedum certamina nondum cominus experti, nostrae cessistis habenae. Cui si se Darius posito diademate supplex commisisset, eo regnorum in parte recepto, sensisset nichil esse iugo mansuetius isto. Porus in exemplo est qua mansuetudine victis presideam victor, nedum parentibus ultro. Quosque iugum nostrum vis nulla subire coegit subiectos michi mortales ita vivere salva libertate volo ut iam non sit servitus, immo libertas, servire michi. Distinctio nulla libertatis erit inter quos nemo rebellis.” Hec ubi legatis breviter, conversus ad illos egregia quorum virtute subegerat orbem, “Vos quoque victores, quorum labor arduus” inquit “egit ut in nostro conspectu terra sileret, premia digna manent. Dignissimus, hercule, miles hic me rege meus, et rex hoc milite dignus, milite quem nec hiemps fregit glacialibus horis nec medius Lybiae torpentem reddidit estus. Indica viderunt Macedum deserta catervae his vestris manibus domitis lugentia monstris. Quid referam Dario triplicem vivente tryumphum, Mennona deiectum, Porique et Taxilis arma? Quid loquar informes vobis cessisse Gygantes? Nunc quia nil mundo peragendum restat in isto, ne tamen assuetus armorum langueat usus, eia, queramus alio sub sole iacentes Antipodum populos ne gloria nostra relinquat vel virtus quid inexpertum quo crescere possit

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kampflos und ohne Blutzoll und ohne die Erfahrung einer unmittelbaren kriegerischen Konfrontation mit uns Makedonen meinem Machtanspruch gebeugt habt. Wenn Darius auf die Krone verzichtet und sich mir demütig anvertraut hätte, wäre jenem – [290] eingesetzt in einem Teil seines ursprünglichen Reichs – deutlich geworden, dass nichts milder als meine Herrschaft ist. Porus dient als Beispiel, mit welcher Milde ich als Sieger noch mehr als die eigenen Eltern Besiegte umsorge. Und jene mir hörigen Völker, die nicht gewaltsam gezwungen wurden, sich meiner Herrschaft zu fügen, [295] sollen nach meinem Willen wohlbehalten so in Freiheit leben, dass mir zu dienen nicht Knechtschaft bedeutet, sondern ganz im Gegenteil Freiheit bezeugt. Unter Völkern, die sich nicht gegen mich auflehnen, wird es keine unterschiedliche Bemessung von Freiheit geben.« Sobald er dies den Gesandtschaften in aller Kürze mitgeteilt hatte, wandte er sich jenen zu, [300] durch deren herausragende Tapferkeit er den Erdkreis unterworfen hatte: »Auch euch, ihr siegreichen Männer, deren unermüdlicher Einsatz im Krieg dazu geführt hat, dass die Welt bei unserem Anblick schweigend erstarrte, erwartet ein würdiger Lohn. Beim Herkules, überaus würdig sind meine Soldaten meiner Person als König, und auch der König ist seiner Soldaten würdig, [305] Soldaten, die weder der Winter in eisigen Gefilden brechen noch die gleißende Hitze im Inneren Libyens aufzuhalten vermochte. Makedonische Scharen sahen die Einöden Indiens in Trauer, nachdem mit euren Händen die dortigen Scheusale bezwungen waren. Was soll ich den dreifachen Sieg – noch war Darius damals am Leben – über die Perser erwähnen, [310] Memnons Sturz oder die Schlachten gegen Porus und Taxiles? Was soll ich darüber sprechen, dass euch das abscheuliche Geschlecht der Riesen nachgeben musste? Da in dieser Welt nun nichts mehr zu tun bleibt, so lasst uns doch, damit nicht der Waffenübung Gewohnheit erlahmt, die auf der anderen Hemisphäre wohnenden Völker [315] der Antipoden aufsuchen, auf dass unsere ruhmreiche Tapferkeit nichts unversucht lässt, wodurch sie weiter

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vel quo perpetui mereatur carminis odas. Me duce nulla meis tellus erit invia. Vincit cuncta labor. Nichil est investigabile forti. Plures esse refert mundos doctrina priorum. Ve michi, qui nondum domui de pluribus unum! Scitis enim, socii, quia cum michi miserit olim Roma per Emilium regni diadema michique scripserit ut regi, opposita modo fronte resumptis cornibus excedit corrupto federe pactum. Nunc igitur vestris ne pars vacet ulla tryumphis neve meis desit tytulis perfectio, Romam imprimis delere placet.” Dedit hoc ubi, solvit concilium, proni curru iam deside Phebi. Iam maris undisonis rota merserat ignea solem fluctibus, et preceps confuderat omnia tetro nox elementa globo. Tenuit prodire volentes in lucem stellas solito lugubrior aer nocturnus. Lunam noctique preesse statuta sydera caligo nubesque suborta repressit. Illa nocte oculis Cinosuram nauta requirens nunc Elicen vetitumque mari se mergere Plaustrum, cum nusquam auderet sine sydere flectere cursus, in medio iacuit prora fluitante profundo. Funus Alexandri mortis presaga futurae omnia lugebant. Moriturum flevit Olympus, quem modo nascentem signis portenderat istis:

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wachsen oder sich die Heldengesänge eines unsterblichen Liedes verdienen kann. Unter meiner Führung wird meinen Männern kein Land dieser Erde unzugänglich sein. Tatkraft siegt über alles. Nichts ist für einen tapferen Mann unerforschlich. [320] Der Vorväter Weisheit lehrt, dass mehrere Welten existieren. Wehe mir, der ich von vielen Welten noch nicht einmal eine bezwungen habe. Denn ihr wisst, meine Gefährten, dass mir Rom, obwohl es mir einst durch Aemilius die Krone des Reichs geschickt und mir wie einem König geschrieben hat, vor kurzem mit trotziger Stirn und mutig geworden nach dem Bruch des Vertrags nun doch [325] die ursprüngliche Übereinkunft aufgekündigt hat. Deshalb will ich nun, damit nicht irgendein Teil dieser Welt von euren Triumphen unberührt bleibt oder meinem Ruhm die Vollkommenheit fehlt, Rom zuerst vernichtend schlagen.« Nach diesen Worten löste er bei Sonnenuntergang die Versammlung auf. Unheilvolle Vorzeichen (330–355) [330] Schon hatte der feurige Wagen die Sonne in die wellenrauschenden Wogen des Meeres getaucht und die schnell eintretende Nacht hatte alles in einem wenig ansehnlichen Klumpen unkenntlich gemacht. Der nächtliche Nebel hielt trüber als sonst den Aufzug der Sterne auf. Dunkle Wolken verdeckten den Mond und [335] die Sterne, eigentlich dazu bestimmt, der Nacht zu gebieten. In jener Nacht lag der Seemann auf der Suche nach den Sternbildern des Kleinen und Großen Bären und des Wagens, der niemals ins Meer tauchen darf, mit seinem mitten im Meer treibenden Schiff untätig da, weil er das Wagnis nicht eingehen konnte, den Kurs ohne das Licht der Sterne in irgendeine Richtung zu ändern. [340] Den unmittelbar bevorstehenden Untergang ahnend, betrauerte alles den Tod Alexanders. Der Olymp beweinte den Todgeweihten, dessen Ende die Götter schon bei seiner Geburt mit mancherlei

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De celo veri lapides cecidere. Locutus agnus in Egypto est. Peperit gallina draconem, et nisi digna fide mentitur opinio vulgi, tecta patris culmenque super gemine sibi tota qua peperit regina die velut agmine facto conflixere aquilae. Tot presignatus ab ortu prodigiis Macedo, superi, quo crimine vestrum demeruit vite in tanta brevitate favorem? Sed si mortali contentus honore fuisset, si se gessisset humilem inter prospera, si sic dulcia fortunae velut eius amara tulisset, forsitan et gladium et gladio crudelius omni vitasset fato sibi disponente venenum. Iam piger expleta flectebat nocte Bootes emeritos currus, teneraeque infantia lucis sopierat tenebras. Sed nec tunc lucis in ortu roscidus aurorae super herbam decidit humor, nec volucres cantu tremula sub fronde canoro prevenere diem. Venturi prescia luctus vocis amoriferae cytharam phylomena repressit, Luciferumque ferunt primum cessisse diei venture et reliquis nondum cedentibus astris. Primus ad occidui versa vice litora ponti flexit iter pronus hebetique relanguit ore, sed tandem, licet invitus quia fata morari

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Zeichen prophezeit hatten: Vom Himmel fielen damals wahrhaftige Steine, in Ägypten konnte ein Lamm plötzlich sprechen, eine kleine Schlange entschlüpfte dem Ei einer Henne, [345] und wenn der vertrauenswürdige Glaube des Volkes nicht lügt, dann kämpften am Dachfirst des väterlichen Hauses, während die Königin ihren Sohn zur Welt brachte, zwei Adler den ganzen Tag wie Krieger gegeneinander. Für welches Verbrechen, ihr Götter, hat Alexander, seit Anbeginn seines Lebens von so vielen Wunderzeichen in seiner Bestimmung im Vorhinein festgelegt, [350] eure Gunst in einem so kurzen Leben verwirkt? Wenn er aber mit irdischem Ruhm zufrieden gewesen wäre, wenn er in glücklichen Zeiten demütig sich gezeigt hätte, wenn er Fortunas süße Gaben ebenso wie die bitteren ertragen hätte, vielleicht hätte er dann das todbringende Schwert und – grausamer als jedes Schwert – [355] das ihm vom Schicksal bestimmte Gift vermieden. Alexanders letzter Tag (356–432) Das unaufhaltsame Fatum (356–377) Schon wollte Bootes am Ende der Nacht ermattet den müden Wagen wenden, das erste Licht hatte die Dunkelheit schon vertrieben, doch weder senkte sich bei Sonnenaufgang an diesem Morgen der feuchte Tau auf die Gräser [360] noch kündigten die Vögel im bewegten Laubwerk mit ihrem melodischen Gesang den kommenden Tag an. Im Bewusstsein der kommenden Trauer hielt die Nachtigall den saitengleichen Klang ihrer Liebe erweckenden Stimme zurück und Lucifer soll sich als erster dem aufziehenden Tag und den anderen noch am Himmel stehenden Sternen verweigert haben. [365] Titan wandte sich anders als sonst in umgekehrter Reihenfolge zuerst abwärts zur Küste des westlichen Meeres und erlahmte bereits mit mattem Antlitz, erhob schließlich dann – zwar

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non poterat, Tytan Nabatheis extulit undis armatum radiis caput, et nisi provida fati obstaret series, toto conamine currus velle minabatur flexo themone reverti. Siste gradum, venerande parens et lucis et ignis, siste gradum. Nisi luciferum converteris orbem, extinguet Macedum tua, Phebe, lucerna lucernam. Sed iam magnanimi fatalis venerat hora rectoris mersura caput, nec fata sinebant differri scelus ulterius mundique ruinam. Eois redolens fulgebat odoribus aula quo populus procerumque sacer convenerat ordo. Cum quibus ut fando pars est consumpta diei plurima, tunc demum, cum donarentur opimis a duce muneribus ditati, vina ministris circumferre iubet. Et qui securus ab hoste in bello tociens hostilia fuderat arma, et pater et dominus cadit et perit inter amicos. Diriguit totum subita torpedine corpus, vixque sui compos, demisso poblite, lecto redditur. Extimplo ferali tota tumultu regia concutitur, necdum proferre dolorem in medium audebant quia Fortunae medicinam affore sperabant, que semper adesse ruenti quoslibet in casus consueverat. Ergo ubi venas infecit virus et mortis certa propinquae signa dedit pulsus, media sibi iussit in aula

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ungern, da er das Schicksal nicht aufhalten konnte – doch sein strahlenbewehrtes Haupt aus Arabiens Fluten. Wenn ihn der vorbestimmte Ablauf des Schicksals [370] nicht daran gehindert hätte, hätte er seinen Wagen nach dem Schwenken der Deichsel drohend mit aller Kraft gewendet. Bleib stehen, verehrungswürdiger Vater des Lichts und des Feuers, bleib stehen! Denn wenn du dein strahlendes Rund nicht wendest, wird dein Licht, Phoebus, das Licht der Griechen auslöschen. [375] Aber schon war die Schicksalsstunde gekommen, das Haupt des edlen Gebieters zu senken, und nicht gewährte das Schicksal einen weiteren Aufschub für das Verbrechen und für die Verwüstung der Welt. Alexanders Tod (378–432) Von Gerüchen des Morgenlandes durchzogen, erstrahlte der königliche Palast, wo das gemeine Volk und der ehrwürdige Adel zusammengekommen waren. [380] Als Alexander mit diesen den größten Teil des Tages im Gespräch zubrachte, ließ er erst dann seine Diener für alle den Wein bringen, nachdem er seine Männer mit reichen Gaben beschenkt hatte. Da sank plötzlich der Vater und Gebieter zu Boden [385] und lag jener Mann im Kreis seiner Freunde im Sterben, der im Krieg furchtlos gegenüber dem Feind so oft die feindlichen Linien vernichtend geschlagen hatte. In plötzlicher Lähmung erstarrte der ganze Körper, und kaum seiner mächtig bettete man ihn mit hängenden Knien wieder auf das Sofa. Augenblicklich wurde der ganze Königspalast von schrecklicher Unruhe erfasst, [390] aber noch wagten seine Freunde es nicht, ihren Schmerz den anderen offen zu zeigen, da sie die Hoffnung hegten, dass die Schicksalsgöttin Fortuna, die Alexander bisher in allen schwierigen Situationen stets unterstützt hatte, Abhilfe schaffen könnte. Als das Gift jedoch die Adern durchströmte und der schwache Pulsschlag sichere Zeichen des nahenden Todes verriet,

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aptari lectum. Quo postquam exercitus amens convenit mixtoque ducum manus inclita vulgo, undantes lacrimis et arantes unguibus ora intuitus, “Quis, cum terris excessero,” dixit “talibus inveniet dignum? Iam sufficit orbem terrarum rexisse michi. Satis axe sub isto prospera successit parentibus alea bellis. Iam tedere potest membris mortalibus istam circumscribi animam. Consumpsi tempus et evum deditus humanis, satis in mortalibus hesi. Hactenus hec. Summum deinceps recturus Olympum ad maiora vocor, et me vocat arduus ether ut solium regni et sedem sortitus in astris cum Iove disponam rerum secreta brevesque eventus hominum superumque negocia tractem. Rursus in ethereas arces superumque cohortem forsitan Ethneos armat presumptio fratres duraque Typhoeo laxavit membra Pelorus. Sub Iove decrepito superos et sydera credunt posse capi ex facili rursusque lacessere temptant. Et quia Mars sine me belli discrimen abhorret, consilio Iovis et superum, licet ipse relucter, invitus trahor ad regnum.” Sic fatur, at illi querere cum planctu lacrimisque fluentibus instant quem velit heredem mundique relinquere regem. “Optimus” inquit “et imperio dignissimus esto rex vester.” Sed vox postquam non affuit, aurum

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gab er den Befehl, [395] das Sofa in der Mitte des Palasts aufzustellen. Nachdem das Heer – der Generäle berühmte Schar mitsamt den gemeinen Soldaten – bestürzt am Sterbebett ihres Königs zusammengekommen war, blickte er seine Gefährten an, die ihr tränenüberströmtes Gesicht mit Fingernägeln zerfurchten, und sagte zu ihnen: »Wer wird nach meinem Tod jemanden finden, der solchen Männern würdig sein kann? Lange genug [400] habe ich über den Erdkreis geherrscht. Oft genug hatte ich in dieser Himmelsgegend das Kriegsglück auf meiner Seite. Schon kann ich es kaum mehr ertragen, dass meine Seele von diesen sterblichen Gliedern eingeengt wird. Mit menschlichen Dingen beschäftigt, habe ich nun die Zeit und mein Leben aufgebraucht, lange genug habe ich mich mit irdischen Problemen aufgehalten. [405] Doch hiervon genug. Zu Höherem berufen, werde ich bald ganz oben im Olymp herrschen, mich ruft der hochragende Äther, damit ich nach der Übernahme des himmlischen Throns gemeinsam mit Jupiter über die Geheimnisse der Welt bestimme, mich um das vergängliche Schicksal der Menschen kümmere und die Belange der Götter verwalte. [410] Von neuem werden vielleicht die Ätnäischen Brüder in ihrer Anmaßung gegen die himmlischen Burgen und die Gemeinschaft der Götter die Waffen erheben und Pelorus hat vielleicht schon dem Typhoeus die schwerfälligen Glieder gelöst. Denn sie glauben, da Jupiter vom Alter geschwächt ist, die Götter besiegen und den Himmel mit Leichtigkeit einnehmen zu können, und versuchen ein weiteres Mal, diese herauszufordern. [415] Und da Mars ohne mich vor der Entscheidung zum Krieg zurückschreckt, werde ich auf Anraten Jupiters und der anderen Götter – mag ich selbst mich auch sträuben – gegen meinen Willen zur Herrschaft bestimmt.« Nach diesen Worten bedrängten ihn indes jene wehklagend und tränenüberströmt mit der Frage, wen er als Erben und König über die Welt eigentlich einzusetzen gedenke. [420] Alexander entgegnete: »Der beste Mann und derjenige, welcher der Herrschaft am würdigsten ist, soll euer König sein.« Als ihm aber die

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detractum digito Perdice tradidit, unde presumpsere duces regem voluisse supremum in regni sibi Perdicam succedere summam. Nec mora, vitalis resolutum frigore corpus destituit calor, et luteo de carcere tandem spiritus erumpens tenues exivit in auras. Tunc vero in luctum dolor est resolutus amarum. Tunc vires habuere suas lamenta, nec ultra mobilis horrendos suppressit turba tumultus. Non tantus ciet astra fragor cum quatuor axem stelliferum quatiunt agitando tonitrua fratres. O felix mortale genus si semper haberet eternum pre mente bonum finemque timeret qui tam nobilibus media quam plebe creatis inprovisus adest. Animae discrimine magno dum queruntur opes, dum fallax gloria rerum mortales oculos vanis circumvolat alis, dum petimus profugos qui nunc venduntur honores, verrimus equoreos fluctus vitamque perosi et caput et merces tumidis committimus undis. Cumque per Alpinas hiemes turbamque latronum Romuleas arces et avare menia Rome cernere solliciti, si cursu forte beato ad natale solum patriumque revertimur orbem, ecce repentinae modicaeque occasio febris dissolvit toto quecumque paravimus evo. Magnus in exemplo est. Cui non suffecerat orbis,

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Stimme versagte, übergab er den von seinem Finger gezogenen goldenen Ring an Perdikkas. Daraus zogen die Generäle den Schluss, dass nach Alexanders Willen Perdikkas ihm an der Spitze des Reichs als mächtigster Mann nachfolgen solle. [425] Unverzüglich verließ die lebenspendende Wärme nun endgültig den bereits von der Kälte erschöpften Körper, aus dem schmutzigen Kerker des Körpers entwich schließlich die Seele und entschwand in die zarten Lüfte. Da aber wandelte sich der Schmerz in bittere Trauer. Da kannte ihr Wehklagen kein Halten mehr [430] und die leicht erregbare Schar konnte nicht weiter ihre schreckliche Erschütterung unterdrücken. Nicht erschüttert ein so gewaltiges Dröhnen die Sterne, wenn die vier Brüder mit ihren krachenden Donnerschlägen den Sterne tragenden Himmel erbeben lassen. Moralexkurs (433–454) Glücklich wäre das Menschengeschlecht, wenn es sein ewiges Heil und sein Lebensende immer vor Augen hätte, [435] das für den Adel ebenso wie für das einfache Volk unvorhersehbar eintritt. Während die Menschen unter großer Gefahr für ihr Seelenheil nach Reichtümern streben, während der trügerische Ruhm sie mit eitlen Schwingen umflattert, während wir flüchtige Ehrenstellen erstreben, die zu unserer Zeit feilgeboten werden, [440] fahren wir über die Meeresfluten dahin und vertrauen, das Dasein verachtend, unser Leben und unsere Habe den sturmgepeitschten Wogen des Ozeans an. Und während wir uns den unwirtlichen Alpen und Diebesbanden aussetzen, um in unserer Selbstverblendung des Romulus Burg und die Mauern des habgierigen Rom mit eigenen Augen zu sehen, reicht – sofern wir dann wieder glücklich [445] nach Hause kommen – ein plötzlich auftretendes Fieberchen aus, um alles zunichtezumachen, woran wir unser ganzes Leben gearbeitet haben. Dafür steht beispielhaft Alexander. Ihm, dem der ganze Erd-

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sufficit exciso defossa marmore terra quinque pedum fabricata domus, qua nobile corpus exigua requievit humo donec Tholomeus, cui legis Egyptum in partem cessisse, verendi depositum fati toto venerabile mundo transtulit ad dictam de nomine principis urbem. Sed iam precipiti mersurus lumina nocte, Phebus anhelantes convertit ad equora currus. Iam satis est lusum, iam ludum incidere prestat. Pyerides, alias deinceps modulamina vestra alliciant animas. Alium michi postulo fontem, qui semel exhaustus sitis est medicina secundae. At tu, cuius opem pleno michi copia cornu fudit, ut hostiles possim contempnere linguas, suscipe Galteri studiosum, magne, laborem, presul, et hanc vatis circum tua timpora sacrae non dedigneris ederam coniungere mitrae. Nam licet indignum tanto sit presule carmen, cum tamen exuerit mortales spiritus artus, vivemus pariter, vivet cum vate superstes gloria Guillermi nullum moritura per evum.

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kreis nicht ausgereicht hat, muss jetzt eine mit Marmor verzierte Behausung [450] von fünf Fuß im ausgeworfenen Boden genügen. Dort ruhte der edle Leib in spärlicher Erde, bis Ptolemäus, dem – wie man liest – die Herrschaft über Ägypten zugefallen war, das auf der ganzen Welt verehrte Unterpfand des erhabenen Schicksals in die nach Alexander benannte Stadt am Nil brachte. Walters Abwendung von der antikisierenden Dichtung (455–460) [455] Aber um bei schon hereinbrechender Nacht seine Fackel zu löschen, wandte Phoebus das schnaubende Gespann hinab in das Meer. Schon genug ist getändelt, schon ist es besser, das Spiel zu beenden. Mögen hinfort, Pieriden, eure Melodien andere Seelen gewinnen. Mich verlangt es nach einer anderen Quelle, [460] die – einmal getrunken – heilend den zweiten Durst stillt. Walters Widmung an seinen Gönner Wilhelm von Blois (461–469) Du aber, dessen innerer und äußerer Reichtum mir Hilfe aus vollem Füllhorn gespendet hat, empfange, damit ich gehässiger Schmähsucht wirksam entgegentreten kann, erhabener Erzbischof, das gelehrte Werk Walters, sträube dich nicht, [465] mit dem Efeu des Dichters um deine Schläfen herum die heilige Mitra zu schmücken. Denn mag auch meine Dichtung eines so bedeutenden Erzbischofs nicht würdig sein, werden wir beide zugleich, wenn die Seele unsere sterblichen Glieder einmal verlassen hat, am Leben bleiben, mit dem Dichter wird der Ruhm Wilhelms überdauern und in ewiger Zeit niemals vergehen.

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EINFÜHRUNG ZUM PROLOG Beherrschendes Thema des Prologs ist die Problematik missgünstiger Neider, die aus unterschiedlichen Motiven heraus meinen, ein Werk herabwürdigen zu müssen. Um sich schon vorab gegen eine derartige Kritik zu wappnen, führt Walter mit Vergil und Hieronymus im Sinne einer captatio benevolentiae zwei weithin anerkannte Autoritäten an, die ungeachtet ihrer herausragenden literarischen Qualitäten eben diese Erfahrung gemacht haben. Doch ist der Schutz vor missgünstigen Neidern durch das argu­ mentum ad verecundiam nicht der einzige und vermutlich auch nicht der wichtigste Grund für die explizite Bezugnahme auf den augusteischen Dichter und den lateinischen Kirchenvater. Vor dem Hintergrund nämlich, dass die Alexandreis in ihrer grundsätzlichen Anlage – allein schon durch die Auswahl eines heidnischen Feldherrn wie Alexander als wichtigstem Protagonisten des Epos bedingt – die antik-pagane Ebene mit christlichen Vorstellungen zu verbinden sucht – als Beispiele lassen sich etwa der doppelte Musenanruf im Prooemium oder auch das Nebeneinander von aristotelischer Tugendlehre und christlichen Moralvorstellungen anführen  –, repräsentieren Vergil und Hieronymus auf paradigmatische Weise die beiden im Epos Walters zugrunde gelegten Darstellungsperspektiven. Doch bei Walters Auswahl scheint noch ein weiterer, darüber hinausgehender Aspekt eine Rolle zu spielen. Bei beiden prominenten Vertretern ihrer jeweiligen Zeit lassen sich nämlich ebenso wie in der Alexandreis insgesamt eine antik-pagane und eine christliche Seite ausmachen. Ohne Zweifel ist Vergil in erster Linie der antike lateinische Epiker par excellence. Doch hat die Wertschätzung für den augusteischen Dichter im Mittelalter ihren Ursprung bekanntlich in der christlichen Auslegung der vierten Ekloge in der Oratio ad Sanctos Kaiser Konstantins genommen, womit durch die historisch erstmalige Deu-

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tung oder – wie Wlosok diesen Vorgang treffender bezeichnet – die Usurpation des puer nascens als Jesus Christus der antik-pagane Dichter Vergil zum vates Christianus avancierte (vgl. Wlosok 1983, 437). Nicht anders verhält es sich – allerdings in vertauschten Rollen – mit Hieronymus, der als Verfasser der Vulgata und als Autor zahlreicher Kommentare zu biblischen Büchern selbstredend in erster Linie die christliche Dimension innerhalb der Alexandreis verkörpert, der jedoch auch – und dies in besonderer Weise – mit dem antik-paganen Schrifttum in Verbindung gebracht werden kann. Denn in einem im Jahre 384 n. Chr. verfassten Brief an Julia Eustochium – eine vornehme junge Römerin, die sich der Jungfräulichkeit verschrieben hatte und mit welcher der Kirchenvater eine langjährige intensive Korrespondenz pflegte – berichtet Hieronymus von einer Traumvision, in der ihn der himmlische Richter beschuldigt, sich mehr mit der antik-paganen Literatur zu beschäftigen als mit der Bibel, und ihm den schwerwiegenden Vorwurf macht, eher ein Anhänger Ciceros zu sein als ein Christ (vgl. Hier., epist. ad Eust. 22, 30: Cum subito raptus in spiritu, ad tribunal judicis pertrahor; ubi tantum luminis, et tantum erat ex circumstantium claritate fulgoris, ut projectus in terram, sur­ sum aspicere non auderem. Interrogatus de conditione, Christianum me esse respondi. Et ille qui praesidebat: Mentiris, ait, Ciceronianus es, non Christianus). Auch wenn Hieronymus in seiner Traumvision nach schmerzhaften Peitschenschlägen versprechen muss, sich zukünftig wieder vornehmlich der Heiligen Schrift zu widmen, zeigt dieser Brief, wie sehr sich der Kirchenvater auch der antik-paganen Literatur verpflichtet wusste. Vor diesem Hintergrund kann man das von Walter im Prolog auf Hieronymus bezogene noster auch als einen Hinweis auf die Gemeinsamkeit mit den Gelehrten des 12. Jahrhunderts in Frankreich verstehen, die sich ebenso wie der spätantike Kirchenvater neben der christlichen Literatur im Allgemeinen und der Bibel im Besonderen auch mit den Werken der heidnischen Antike intensiv beschäftigten und diese ungeachtet ihres christlichen Glaubens zu würdigen wussten (vgl. Einleitung 1).



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Ein weiterer Beleg für die an dieser Stelle vorgenommene Verflechtung des antiken Dichters mit dem spätantiken Kirchenvater findet sich zudem in Walters Formulierung siquis tamen hoc captus amore leget, mit welcher der mittelalterliche Autor – wie Janka/ Stellmann (2020) 68–69 in ihrem Beitrag Die Alexandreis als ty­ pologisches Epos aufzeigen – nicht nur einen unmittelbaren Bezug zu Hieronymus herstellt – der Kirchenvater benutzt die Worte in seiner Vorrede zu den Hebraici Quaestiones in Genesim in ganz ähnlicher Weise –, sondern zugleich auf eine Stelle aus der sechsten Ekloge Vergils verweist, die wiederum Hieronymus als Quelle gedient hat (vgl. Alex., prol. 30–31; zu Walters Formulierung hinsichtlich seines Überbietungsanspruchs vgl. Komm. prol., 30–36). Dies macht deutlich, dass Walter es auf virtuose Weise versteht, die Alexandreis schon über die gezielte Auswahl der im Prolog aufgeführten Persönlichkeiten zwischen antik-paganer und christlicher Deutungsebene zu positionieren. Das Alleinstellungsmerkmal der Alexandreis wird durch die explizite Erwähnung des Servius unterstrichen, indem der Kommentator der Aeneis Vergils als Zeuge angeführt wird, dass keiner der antiken Dichter es gewagt hat, ein Alexander-Epos zu verfassen (vgl. Alex., prol. 35). Darüber hinaus dient die ausdrückliche Nennung des spätantiken Grammatikers in seiner Eigenschaft als Kommentator als greifbarer Hinweis nicht nur auf die Kommentierungswürdigkeit, sondern vielmehr auch auf die aufgrund der intertextuellen Mehrdeutigkeit der Alexandreis vom mittelalterlichen Autor intendierte Kommentierungsbedürftigkeit. Janka/Stellmann (2020) 72 betonen zu Recht, dass es Walters poetischer Strategie entspricht, durch intertextuelle Mehrdeutigkeit – wie die duplizierte Referenz des Eklogen-Zitats von Vergil zu belegen vermag – beim Leser ein Bedürfnis nach Kommentierung zu wecken, um dem Epos zusammen mit dem Dichter und seinem Gönner über eine dauerhafte und kontroverse Auseinandersetzung mit dem Werk ebenso wie der Aeneis Vergils einen die Zeiten überdauernden Ruhm – vivet cum

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vate superstes  | gloria Guillermi nullum moritura per aevum – zu verschaffen (vgl. Komm. prol., 30–36; vgl. auch Komm. I, 209–211; vgl. auch Alex. X, 468–469). Als besondere Pointe kann in diesem Zusammenhang der bemerkenswerte Umstand gelten, dass Walter mit diesen Worten sogar ein Selbstzitat aus seinem Tractatus contra Iudaeos vornimmt, in welchem er den Leser ebenso wie in der Ale­ xandreis um Nachsicht für sein Werk bittet (vgl. Walter v. Châtillon, Tract. contra Iud. III, 14, col. 458: De caetero ab illis qui hoc opus lectu­ ri sunt, si quis tamen hoc captus amore leget, de omissis vel non sane dictis, veniam postulamus). Damit erweitert sich die intertextuelle Mehrdeutigkeit noch um eine intratextuelle Ebene und steigert somit die Möglichkeit der Sinnbezüge, wohlverstanden im Sinne einer von Walter intendierten potenzierten Kommentierungsbedürftigkeit (vgl. Janka/Stellmann 2020, 72). Mit einer an der typologischen Bibelauslegung angelehnten Ausdrucksweise versucht Walter dem Leser gegen Ende des Prologs zudem die für das Verständnis der Alexandreis notwendige Rezeptionshaltung zu vermitteln, die darin ihren Ausdruck finden sollte, das Epos inhaltlich und formal in die Auslegungstradition der Bibel einzubetten (vgl. Komm. prol. 36–39).

KOMMENTAR ZUM PROLOG Die Problematik der Neider (1–13) P 1–13 Moris est usitati, cum in auribus multitudinis aliquid novi recitatur … et facilius sit ei ambigua depravare quam in partem interpretari meliorem: Der Prolog beginnt – wie Janka/Stellmann (2020) 60 zutreffend formulieren – mit einer Reflexion über die antizipierte Rezeption und Interpretation der Alexandreis. Im Zuge dessen schildert Walter die unterschiedlichen Reaktionen des Publikums, die gewöhnlich bei der Neuerscheinung einer Dichtung – selbstredend hat er mit diesen Worten ungeachtet der an dieser Stelle allgemein gehaltenen Aussagen sein eigenes Werk vor Augen – üblicherweise zu erwarten sind und von wohlwollender Anerkennung bis zu schmerzhafter Ablehnung reichen können. Mit diesen einleitenden Worten folgt Walter den Empfehlungen eines Matthäus von Vendôme oder eines Galfredo de Vinosalvo, eine Dichtung mit einem Sprichwort oder einem Beispiel zu beginnen, mit dem der Dichter mit seinen Lesern einen gemeinsamen literarischen Raum betritt, welcher der Bezeugung und der Bestätigung einer gemeinsamen Erfahrung dient. Damit fügt sich Walter in einen bereits existierenden Diskurs ein, der mit der eigenen Dichtung nun aufgenommen und fortgesetzt werden soll (vgl. Brinkmann 1966, 85–86). ⇔ Ohne auf die möglichen Gründe für die öffentliche Anerkennung eines Werks näher einzugehen, wendet sich Walter im Folgenden ausschließlich den kritischen Stimmen zu. Dabei verwendet er den aus dem apologetischen Schrifttum der Kirchenväter – unter den christlichen Schriftstellern hat insbesondere der von Walter gegen Ende seines Prologs explizit erwähnte Hieronymus die für die Patristik charakteristische Auseinandersetzung mit missgünstigen Kritikern gesucht – übernommenen Topos der böswilligen Neider, die

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ein Werk ungeachtet der dargebotenen Qualität mit ihrer Verachtung und ihrem Hass strafen (vgl. Schmeidler 1916, 26–27). Wie das Vorwort des Honorius Augustodunensis zu seinem um 1100 datierten, in Canterbury verfassten Elucidarium zu zeigen vermag, in welchem sich der gelehrte Benediktinermönch ebenfalls mit böswilligen Neidern auseinandersetzt, war Walter nicht der einzige Gelehrte des 12. Jahrhunderts, der diesen Topos verwendete (vgl. Hon. Aug., Eluc. praefatio, col. 1109–1110: Nomen autem meum ideo volui silentio contigi, ne invidia tabecens suis juberet utile opus contemnen­ do negligi). Im Widmungsbrief zum ersten Buch der Imago Mundi greift Honorius diesen Topos noch einmal auf, wo nicht nur die Schmähung des kritisierten Werks, sondern auch dessen heimliche Aneignung durch weniger talentierte Dichter zur Sprache gebracht wird (vgl. Hon. Aug. De imagine mundi, Epistola ad Christianum, de eodem, col. 119–120: Periculosum autem propter invidos qui cuncta quae nequeunt imitari non cessant calumniari, et quae assequi non possunt venenoso dente, ut setiger hircus lacerare non omittunt, ut ea quae publice arguunt, furtive intente legunt, atque de labore nostro sibi scientiam usurpant). ⇔ Dass die von Walter zum Ausdruck gebrachten Befürchtungen jedoch nicht nur topischen Charakter besitzen, vermag eine Stelle aus dem Anticlaudianus des ebenso wie Walter aus Lille stammenden Alanus ab Insulis zu belegen, der mit der böswilligen Imitation der Eingangsworte der Alexandreis – gesta ducis Macedum – Walters Werk mit scharfer Zunge herabzuwürdigen suchte (zur Interpretation der Stelle bei Alanus ab Insulis vgl. Ratkowitsch 1991, 237–241). Zum Leidwesen seines Intimfeindes Alanus war Walters Epos jedoch nicht nur unmittelbar nach seinem Erscheinen – wie die am praktischen Unterricht ausgerichtete Glossierung der Handschriften der Alexandreis belegen – äußerst erfolgreich, sondern konnte sich auch in den auf Walter folgenden Jahrhunderten als vielgelesene Schullektüre durchsetzen. ⇔ Des Weiteren bringt Walter die aus seiner Sicht unlautere und auch unqualifizierte Kritik auch an hochrangigen Werken in einen



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inneren Zusammenhang mit dem seit der Schöpfung des Menschen und dem Sündenfall zunehmenden moralischen Verfall, durch den der Mensch im Zweifel eher dazu neigt, das literarische Werk eines Dichters zu verurteilen als anzuerkennen. In diesem Kontext wirbt Walter mit dem für ihn positiv konnotierten Begriff ambigua dafür, die in seinem Alexander-Epos bewusst angelegte intertextuelle Mehrdeutigkeit nicht als störend zu empfinden, sondern im Sinne eines Qualitätsmerkmals als integralen Bestandteil seiner Dichtung anzuerkennen und zu würdigen (zur intertextuellen Mehrdeutigkeit in der Alexandreis vgl. auch die Einführung zum Prolog). Wie Janka/Stellmann (2020) 61–62 aufzeigen, bedient sich Walter mit der Formulierung versus bene tornatos incudi reddendos esse dabei einer Stelle aus der Ars poetica des Horaz, welche diese über die gesamte Alexandreis hinweg wirksame und auf einem kontrastiven Vorgehen beruhende poetische Strategie des mittelalterlichen Dichters eindrücklich zu beleuchten vermag (vgl. Hor., Ars poet. 441: et male tornatos incudi reddere versus). Während bei Horaz schlecht geschmiedete Verse wegen ihrer fehlenden Eindeutigkeit zur Verbesserung auf den Amboss zurückgeschickt werden, beklagt Walter in Umkehrung des Horaz-Zitats die Tatsache, dass auch gut geschmiedete Verse trotz ihrer geistreichen Mehrdeutigkeit – auch an der vorliegenden Stelle hat Walter zweifellos sein eigenes Epos vor Augen – möglicherweise nicht die angemessene Anerkennung finden. Damit kritisiert Walter die durch mangelnde Bildung bedingte Ahnungslosigkeit mancher Leser, da sie den wahren Gehalt seiner Dichtung nicht zu erkennen vermögen, womit Walter kontrastierend dazu auch die Verbindung zur gebildeten Leserschaft des 12. Jahrhunderts als der eigentlichen Zielgruppe seines dichterischen Schaffens herstellt. Mit der von Walter über eine Apostrophe an die Alexandreis gerichteten Aufforderung, sich zu den literarischen Denkmälern der Antike zu gesellen, verkehrt der Autor der Alexan­ dreis zudem eine Ovid-Stelle aus den Briefen vom Schwarzen Meer in ihr Gegenteil, in der ausdrücklich betont wird, dass der Text des

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antiken Dichters nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist (vgl. Alex., prol. 14–19: o mea Alexandrei … ut demum auderes in publica venire monimenta; vgl. auch Ov., Pont. I, 1, 5: Publica non audent [libelli] intra monumenta venire; vgl. Janka/Stellmann 2020, 63). Damit dokumentiert Walter zum einen den eigenen Wunsch und auch den eigenen Anspruch, dass sein Epos gelesen werden soll – der mittelalterliche Autor bezeichnet sein Publikum dementsprechend auch mit den Begriffen multitudo und turba –, auch wenn das Werk und sein Autor dadurch unweigerlich der öffentlichen Kritik ausgesetzt werden. Zum anderen ist es Walter unter poetologischen Aspekten mit einer derartigen, auf Mehrdeutigkeit angelegten Kontrastierung jedoch auch darum zu tun, seinen aemulativen Anspruch gegenüber den wichtigsten Werken der Antike zum Ausdruck zu bringen (vgl. Komm. prol. 30–36; vgl. auch Einleitung 6). Das Vorbild Vergil (13–23) P 13–23 Hoc ego reveritus diu te, o mea Alexandrei, in mente habui semper supprimere … ut demum auderes in publica venire monimen­ ta: Im Anschluss an die Schilderung der verdorbenen, zu Neid und Missgunst neigenden und inzwischen entgegen ihrer wahren Natur sich im moralischen Verfall befindlichen Menschheit berichtet Walter davon, dass er aus Furcht vor missgünstigen Kritikern daran gedacht habe, sein Werk vollständig zu vernichten oder zumindest zu Lebzeiten nicht zu veröffentlichen. ⇔ Mit dieser Bemerkung stellt sich Walter demonstrativ in die Nachfolge des augusteischen Dichters Vergil – die Donatvita berichtet, dieser habe testamentarisch verfügt, die unvollendet gebliebene Aeneis zu vernichten –, der im Mittelalter als der lateinische Epiker par excellence galt und, wie im weiteren Verlauf der Alexandreis noch zu sehen sein wird, insbesondere mit der Aeneis in vielfacher Hinsicht als Orientierung und wichtiger Bezugspunkt für Walter fungiert. Auch mit der ex-



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pliziten Erwähnung der für die Abfassung benötigten Zeit nimmt Walter Bezug auf die in der Donatvita für die drei Hauptwerke Vergils diesbezüglich gemachten Angaben. ⇔ Im folgenden Textabschnitt, in welchem nach den unübersehbaren Hinweisen auf den antiken Dichter in Form einer Antonomasie auch der Name Vergils fällt, liefert Walter nun die Begründung für das zuvor geschilderte Zögern, sein Werk zu veröffentlichen: Wenn schon Vergil, dem zu Lebzeiten keiner gleichkommen konnte, nach seinem Tod Schmähungen ausgesetzt war, was hat dann erst der Autor der Alexandreis, der hier Vergils Überlegenheit zumindest vordergründig anerkennt, zu erwarten (vgl. Alex., prol. 19–20: Non enim arbitror me esse me­ liorem Mantuano vate)? Auch für diesen Passus steht die Donatvita Pate, in der Vergil mit Homer in Beziehung gesetzt wird (vgl. Vitae Vergilianae, Donatvita, § 43: Obtrectatores Vergilio numquam de­ fuerunt, nec mirum, nam nec Homero quidem). Auffällig ist dabei insbesondere die sprachliche Anlehnung von obtrectantium linguae gegenüber den obtrectatores bei Donat. Gleichzeitig stellt sich Walter mit dieser Bezugnahme geschickt nicht nur in die Nachfolge des augusteischen Dichters, sondern reiht sich auf dem Umweg über Homer auch in die gesamte epische Tradition der Antike ein (vgl. Wulfram 2000, 222–269). Das Vorbild Hieronymus (24–29) P 24–29 Sed et Ieronimus noster, vir tam disertissimus quam chri­ stianissimus … cum virum tam nominatae auctoritatis pupugerit stimulus emulorum: Nach dem antik-paganen Vorbild Vergil fällt mit Hieronymus nun auch der Name der christlichen Autorität, der – wie bereits erwähnt – in den Prologen zu seinen Werken in besonderem Maße die Auseinandersetzung mit missgünstigen Kritikern gesucht hat. Walter bezieht sich mit seiner Aussage, dass gemäß Hieronymus kein Schriftsteller mehr vor übelwollender Kritik

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sicher sei, wenn sogar Vergil von derartigen Schmähungen betroffen gewesen sei, auf den Prolog der von Hieronymus verfassten Hebrai­ cae Quaestiones in Genesim, in denen der Kirchenvater den antiken Dichter als Opfer böswilliger Kritiker in Schutz nimmt, die diesen eines wörtlich übernommenen Homerzitats wegen als Plünderer der Alten diskreditieren (vgl. Hier., Liber Hebraicarum Quaestio­ num in Genesim, praefatio, col. 983: Hoc idem passus est ab æmulis et Mantuanus vates, ut cum quosdam versus Homeri transtulisset ad verbum, compilator veterum diceretur. Quibus ille respondit, magna­ rum esse virium, clavam Herculi extorquere de manu). Walters aemulativer Überbietungsanspruch (30–36) P 30–36 In hoc tamen lectores huius opusculi … quam nullus veterum poetarum teste Servio | ausus fuit aggredi perscribendam: Walter geht es ungeachtet seiner vordergründigen Anerkennung der Überlegenheit Vergils indes nicht nur um eine imitatio des antiken Dichters, sondern auch darum, mit diesem in einen aemulativen Wettstreit zu treten. Dabei möchte Walter mit drei Argumenten – erstens der Tatsache, dass er sein Werk nach einigem Zögern im Unterschied zu Vergil – die Aeneis wurde nach dem Tod des vates Mantuanus erst auf Betreiben des Augustus veröffentlicht – schließlich doch selbst herausgab, zweitens dem im Vergleich zur Aeneis kurzen Abfassungszeitraum von fünf Jahren – die Donatvita gibt für die Aeneis elf Jahre an – und drittens der Erhabenheit des Stoffes, an die sich dem Kommentar des Servius zur Aeneis Vergils zufolge keiner der antiken Dichter herangewagt hat – seinen Überbietungsanspruch artikulieren (die von Walter angesprochene Servius-Stelle ist nicht erhalten, so dass eine Überprüfung dieser Behauptung nicht möglich ist). ⇔ Mit den Worten nullus veterum poetarum – keiner der antiken Dichter – ist jedoch nicht nur Vergil angesprochen, sondern insbesondere auch Lucan, der mit seinem ebenso auf zehn Bü-



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cher angelegten, im engeren Sinne historiographischen Epos über den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius einen mindestens ebenso wichtigen Maßstab für Walter darstellt. ⇔ Wie Janka/ Stellmann (2020) 68–70 zeigen, bedient sich Walter in seinen diesbezüglichen Ausführungen mit der Formulierung siquis tamen hoc captus amore leget – der Wortlaut findet sich leicht abgewandelt auch bei Hieronymus in dessen Vorrede zum Genesis-Kommentar – zudem einer Stelle aus der sechsten Ekloge Vergils, in der mit vergleichbaren Worten die Bitte um eine wohlmeinende Rezeption der bukolischen Dichtung zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Verg., Buc. VI, 9–10: Si quis tamen haec quoque, si quis | captus amore leget; vgl. auch Hier., Hebr. Quaes. in Gen., praef., col. 935–936: Unde lectorem obsecro, … si quis tamen haec quoque, si quis. Captus amore leget; zu der hier besprochenen Stelle vgl. auch die Einführung zum Prolog). Auch mit dieser kontrastierenden Imitation gelingt es Walter, seinen aemulativen Anspruch zum Ausdruck zu bringen, indem er mit seinem Alexander-Epos hinsichtlich der Stilhöhe – er selbst spricht dabei bezeichnenderweise von der altitudo materiae – die Hirtendichtung seines antiken Vorbilds übertrifft (Antike und Mittelalter unterscheiden bezogen auf Vergil zwischen dem niedrigen Stil – dem stilus humilis – für die Eclogae, dem mittleren Stil – dem stilus medius – für die Georgica und dem hohen Stil – dem stilus gravis – für die Aeneis). Walters Rezeptionsanweisung (36–39) P 36–39 et ad hoc | habito respectu discant saltim ex dispensacione | debere tolerari que, siquis de scripto iure | ageret, poterant de rigore condempnari: Wie Janka/Stellmann (2020) 73 darlegen, gibt Walter in diesem Abschnitt dem Leser eine Rezeptionsanweisung an die Hand, die dahingehend zu verstehen ist, dass die an dieser Stelle in den Kontext der typologischen Bibelexegese eingebettete

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Alexandreis in derselben Weise gelesen werden sollte wie die Heilige Schrift. Sie begründen ihre These mit Hilfe der Wiener Scholien, in denen zum einen der von Walter benutzte Begriff dispensacio mit der in der Zeit sub gratia wirksamen misericordia in Verbindung gebracht wird, zum anderen mit dem gegensätzlichen Begriff des rigor eine Anspielung auf die Zeit sub lege vorliegt, in welcher der Mensch noch nach dem Buchstaben des Gesetzes – de scripto iure – handelte. Auf Walters Epos übertragen ist der Leser mit anderen Worten nur dann in der Lage, die Alexandreis in ihrer ganzen Bedeutung zu verstehen, wenn er analog zu den in der Bibel angelegten typologischen Bezügen zwischen Altem und Neuem Testament und dem darin zum Ausdruck gebrachten göttlichen Heilsplan – bezeichnenderweise hat der Begriff dispensacio im Kirchenlatein auch die Bedeutung Heilsplan bzw. göttliche Vorsehung angenommen – über die einfache Wortbedeutung hinaus und jenseits eines Rigorismus des Buchstabens und des Gesetzes auch den dreifachen geistigen Sinn des Epos zu erfassen vermag. Diese Erkenntnis verweist unmittelbar auf die von Claudia Wiener in ihrem Beitrag Proles vaesana Philippi totius malleus orbis für die Alexandreis fruchtbar gemachte Lesart vom vierfachen Schriftsinn und das damit verbundene Geschichtsverständnis bzw. die Geschichtsdeutung Walters, ohne deren Berücksichtigung man dem vielschichtigen Alexander-Epos tatsächlich nicht gerecht werden würde (vgl. Einleitung 7). ⇔ Doch berührt die Rezeptionsanweisung Walters, die Alexandreis zu lesen wie die Bibel, noch einen weiteren für das Verständnis von Walters Alexander-Epos überaus bedeutsamen Aspekt. In vergleichbarer Weise nämlich, wie in der Bibel das Alte Testament spiegelbildlich zum Alten Testament aufgebaut ist – was im Alten Testament angekündigt bzw. verheißen wird, findet bekanntlich im Neuen Testament seine Erfüllung bzw. Vollendung – und dabei der Kreuzestod Christi bzw. dessen Auferstehung die zentrale Spiegelachse bildet, oder auch einzelne Teile der Bibel formal-strukturell – als Beispiel lässt sich in diesem Kontext etwa der Psalm 23 anführen, in welchem



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zwei Gebete in der Mitte von zwei äußeren Bekenntnissen zu Gott eingerahmt werden – nach diesem chiastischen Prinzip angeordnet sind, so ist auch die Alexandreis sowohl in ihrem Gesamtaufbau als auch in einzelnen Teilen – etwa der als eigene und in sich konsistente Einheit ausgewiesene Perserkrieg oder auch die Aristoteles-Rede in Buch I – einer derartigen, auf einer um eine hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Gesamtwerk zentrale Stelle herum gestalteten Struktur miteinander korrespondierender Rahmenteile unterworfen (zur Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; zur Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. 7.3; zur Struktur der Aristoteles-Rede vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ Bezüglich dieser von Walter für sein Epos zugrunde gelegten Gestaltungsprinzipien stellt die Alexandreis im Mittelalter – wie das am Ende des 11. Jahrhunderts verfasste Proslogion des Anselm von Canterbury zu zeigen vermag – dabei keinen Einzelfall dar. Wie Corbin (1986) 225 aufzeigt, besitzt beispielsweise auch das Werk des scholastischen Philosophen und Theologen, in welchem der sogenannte ontologische Gottesbeweis entwickelt wird, einen vergleichbaren konzentrischen Aufbau, über den die zentrale Botschaft von Gottes «Über-Unbegreiflichkeit» in die Mitte des Werks gerückt wird. Hinweis auf die Themenübersichten (39–42) P 39–42 Sed hec hactenus … totum opus per capitula distinguamus: Der Prolog endet mit dem Hinweis auf eine jedem der zehn Bücher vorangestellte Themenübersicht – von Walter als capitula bezeichnet –, die dem Leser den Überblick über die Schilderung der Geschehnisse erleichtern soll. Diese Themenübersichten sind sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass Walter mit seinem Epos über Alexander den Großen eine breite Rezeption im mittelalterlichen Schulunterricht antizipiert (vgl. Janka/Stellmann 2020, 74).

Einführung zu Buch I Vor der eigentlichen Erzählung legt Walter dem Leser die wesentlichen Linien seines Epos in einem aus zwei Teilen bestehenden, kunstvoll gestalteten Prooemium dar. Im ersten Teil mündet die von großer Anerkennung oder gar von Bewunderung getragene Wiedergabe von Alexanders wichtigsten Taten – genannt werden dabei dessen Siege über den persischen König Darius und den Inderkönig Porus sowie die Befreiung Griechenlands von den Tributzahlungen an die Perser – gleich im ersten Satz in einen antiken Musenanruf (vgl. Alex. I, 1–5). Mit Bedauern stellt Walter im Anschluss an seine sprachlich ausgefeilte Lobrede fest, dass die weltgeschichtliche Bedeutung von Alexanders Taten noch größer gewesen wäre, wenn er durch den Willen der Parzen – mit der Erwähnung der drei Schicksalsgöttinnen wird zugleich eine erste transzendente Macht für die Alexandreis eingeführt – ein längeres Leben gehabt hätte, so dass dann sogar der Ruhm der Römer völlig verblasst wäre (vgl. Alex. I, 5–11; zum Götterapparat und zur Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Mit dieser über das ganze Epos hinweg auszumachenden Distanzierung gegenüber den Leistungen der römischen Antike geht es dem Autor der Alexandreis auf poetologischer Ebene nach Maßgabe seines gerade für einen mittelalterlichen Dichter charakteristischen aemulativen Anspruchs dabei immer wieder auch um die Überbietung der römischen Epiker (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Der zweite Teil des Prooemiums enthält die Widmung an seinen Gönner Wilhelm von Blois und führt nach der ausführlichen Würdigung der eindrucksvollen Karriere und der herausragenden Bildung des Erzbischofs von Reims folgerichtig auch zur Anrufung der christlichen Muße (vgl. Alex. I, 12–26). Damit erfüllt Walter auch



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zeitgenössische Anforderungen an ein Epos und dokumentiert im Zuge dessen schon zu diesem frühen Zeitpunkt seines carmen he­ roicum, dass – gerade auch durch die Auswahl eines antiken Helden wie Alexander als wichtigstem Protagonisten bedingt – das Nebeneinander antik-paganer und christlich geprägter Vorstellungen ein wiederkehrendes Element in der Alexandreis darstellt (vgl. die Einführung zum Prolog). Einen ersten Schwerpunkt innerhalb der eigentlichen Erzählung bildet die Aristoteles-Rede. Um die Bedeutung der darin aufgeführten aristotelischen Tugenden – entsprechend der Mesotes-Lehre des Aristoteles geht es bei den genannten Tugenden dabei immer um die entscheidende Frage, inwieweit ein Mann in der Lage ist, den Impuls des im Augenblick gerade vorherrschenden Affekts der jeweiligen Situation entsprechend von der Vernunft gesteuert in eine moralisch richtige Handlung zu überführen – deutlicher herauszuarbeiten, ist es im Hinblick auf bestimmte Tugenden geboten, die deutsche Übersetzung gegenüber der in der modernen Forschung gängigen Praxis dahingehend zu ändern und anzupassen, dass dadurch jeweils das gesamte Spektrum der entsprechenden Tugend besser abgebildet werden kann. Beispielsweise gibt Wolf (2006) 357 das im Gegenstandsbereich des Zorns angesiedelte griechische πρᾳότης mit dem einseitigen und irreführenden deutschen Begriff der Sanftmut wieder, womit dem Umstand, dass es bezogen auf die nämliche Tugend nicht um die grundsätzliche Schonung eines Feindes geht, sondern unter bestimmten Umständen durchaus auch die Zerstörung einer Stadt impliziert sein kann, in keiner Weise Rechnung getragen wird. Pieper (1974) 1141 beschreibt dieses Manko der deutschen Sprache hinsichtlich dieser Tugend treffend wie folgt: Es macht mir kein sonderliches Vergnügen, die Inzuchtnahme der Zürnkraft mit diesem allzu schlaff und harmlos klingenden Namen ›Sanftmut‹ zu bezeichnen. Doch ist wieder einmal festzustellen, daß wir für eine großartige Sache keinen lebendigen, wirklich verdeutlichenden oder gar bewegenden Namen zur Verfügung haben. […] Sanftmut bedeutet ja gerade nicht, daß

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die ursprüngliche Kraft des Zürnens abgetötet werde. Sanftmut heißt, diese Kraft nicht zu schwächen, sondern zu ordnen. Die Unfähigkeit zu zürnen hat mit Sanftmut nicht das Mindeste zu tun. Solche blaßgesichtige Leisetreterei, die sich leider oft mit Erfolg als Sanftmut ausgibt, soll doch niemand für eine christliche Tugend halten.

Auch die von Krapinger (2020) 624 für diese Feldherrntugend verwendete Übersetzung mit dem nicht minder einseitigen deutschen Begriff der Milde vermag an dieser unbefriedigenden Situation nichts Wesentliches zu ändern. Aus den genannten Gründen soll in der vorliegenden Arbeit das griechische πρᾳότης bzw. das lateinische humilitas im Deutschen deshalb mit dem verdeutlichenden Begriff der angemessenen Zürnkraft wiedergegeben werden, da damit die unterschiedlichen Handlungsoptionen innerhalb dieser Feldherrntugend besser zum Ausdruck gebracht werden können. Ebenso unpräzise ist die Wiedergabe der im Gegenstandsbereich des Gebens und Nehmens angesiedelten Tugend der ἐλευθεριότης bzw. der liberalitas mit dem deutschen Begriff der Freigebigkeit, da damit die innerhalb dieser Tugend auch vorhandene Seite des Nehmens keine ausreichende Berücksichtigung findet (vgl. Wolf 2006, 357; vgl. auch Krapinger 2020, 624). Deshalb soll an dieser Stelle für diese Tugend der deutsche Begriff der angemessenen Gebefreudigkeit eingeführt werden, um deutlich zu machen, dass es dabei nicht ausschließlich um das großzügige Verteilen von Geschenken geht, sondern mitunter auch die Verweigerung von Geschenken und sogar die Zurücknahme von Beute impliziert sein können (vgl. Komm. VIII, 49–74). Nicht anders verhält es sich mit der im Gegenstandsbereich des menschlichen Miteinanders angesiedelten und mit dem undeutlichen deutschen Begriff der Freundlichkeit wiedergegebenen Tugend der φιλíα bzw. der amicicia (vgl. Wolf 2006, 358; vgl. auch Krapinger 2020, 624). Auch mit diesem Begriff ist letztlich eine zu große Einseitigkeit verbunden, die den Blick lediglich auf die positive Zuwendung des Feldherrn gegenüber seinen Soldaten richtet, ohne jedoch auch die unter Umständen notwendige Fähigkeit



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zur deutlichen Distanzierung gegenüber den eigenen Gefolgsleuten mit in den Blick zu nehmen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, im Deutschen besser von angemessener Zuwendung zu sprechen, da mit diesem Begriff auch hier das innerhalb dieser Tugend vorhandene Spektrum als Ganzes besser abgebildet werden kann (vgl. Komm. IV, 131–141). Auch bei der im Gegenstandsbereich des richtigen Umgangs mit der Ehre angesiedelten μεγαλοψυχία – Krapinger (2020) 624 gibt diese Tugend im Deutschen mit dem unzureichenden Begriff der Großmut und ebenso wie Wolf (2006) 357 auch mit dem noch immer nicht eindeutigen Ausdruck Stolz wieder – bedarf es einer deutschen Übersetzung, die der Tatsache Rechnung trägt, dass mit dieser Tugend die Eigenschaft oder Fähigkeit eines Mannes beschrieben wird, auf der Grundlage einer realistischen Selbsteinschätzung einen seinen Taten entsprechenden Stolz zu empfinden. Demzufolge soll in der vorliegenden Arbeit im Kontext dieser Tugend der verdeutlichende deutsche Begriff des angemessenen Stolzes Verwendung finden. Mit der kunstvoll gestalteten Aristoteles-Rede gelingt es Walter, die darin aufgeführten aristotelischen Tugenden so miteinander in Beziehung zu setzen, dass durch die dabei entstehende Struktur die für den Erfolg des aus christlicher Sicht mit der Eroberung des Perserreichs entscheidenden Unternehmens unabdingbaren Feldherrntugenden und innerhalb dieser Feldherrntugenden die herausragende Bedeutung der Tapferkeit durch ihre zentrale Positionierung unmittelbar sichtbar werden (vgl. Abb. 3; vgl. auch Gartner 2018, 38; zur Stellung der Aristoteles-Rede innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3). Nach der Legitimierung von Alexanders Macht durch die Krönung zum makedonischen König und zum Hegemon des Korinthischen Bundes sieht sich Alexander noch vor seinem Aufbruch nach Persien gezwungen, zuerst einmal seinen Führungsanspruch innerhalb der griechischen Welt durchzusetzen. Während Athen gerade

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KOmmentar Hinführung zur Aristoteles-Rede

59–81

Definition des aristotelischen Tugendbegriffs 82–104 GERECHTIGKEIT 105–114

ANGEMESSENE ZÜRNKRAFT

FELDHERRN

115

TAPFERKEIT

TUGENDEN

116–143

ANGEMESSENE GEBEFREUDIGKEIT 144 WAHRHAFTIGKEIT – ANGEMESSENE FREUNDLICHKEIT 163

BESONNENHEIT 164–182 Angemessener Stolz 182–183

Ausleitung der Aristoteles-Rede 184–201

Abb. 3: Die Struktur der Aristoteles-Rede in der Alexandreis (vgl. Gartner 2018, 38)

noch rechtzeitig seinen Widerstand gegen Alexander aufgibt und seine Bereitschaft bekundet, unter makedonischer Führung mit in den Perserkrieg zu ziehen, statuiert Alexander am abtrünnigen Theben ein Exempel und macht die Stadt dem Erdboden gleich (zu Athen



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vgl. Komm. I, 268–283; zu Theben vgl. Komm. I, 284–348). Mit dieser Darstellung der im Hinblick auf die Tugend der angemessenen Zürnkraft unterschiedlichen Reaktion des makedonischen Königs auf die Unabhängigkeitsbestrebungen beider Städte wird erstmals in der Alexandreis Walters im weiteren Verlauf des Epos noch häufig anzutreffendes Bestreben erkennbar, Alexander als einen Feldherrn und König zu inszenieren, der sich in seinem Handeln nach den in der Aristoteles-Rede aufgeführten Vorgaben in moralischer Hinsicht vorbildlich verhält und dessen Vorgehen demzufolge auch von Erfolg gekrönt ist (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Mit Alexanders Ankunft in Kilikien – der unhistorische Landungsort ist der als eigene Einheit innerhalb der Alexandreis angelegten Struktur des Perserkriegs geschuldet – beginnt die kriegerische Auseinandersetzung mit dem Perserreich, die den größten Teil der Alexandreis einnimmt und erst zu Beginn von Buch VIII mit der Eroberung von Hyrkanien ein für Alexander erfolgreiches Ende findet (zur Stellung der unhistorischen Landung Alexanders innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2). Die Information über die leicht zu besiegenden Völker Kilikiens dürfte Walter dabei Justin entnommen haben (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 11, 1–2: Ciliciamque sine certamine recipit). Noch vor der ersten Schlacht am Granikus im Nordwesten der kleinasiatischen Halbinsel kommt Alexander nach Troja und besucht dort das Grab des Achilles. Walter nutzt diese Episode dabei nicht nur, um sich als zweiten Homer zu stilisieren, sondern gibt mit Alexanders megalomanen Vorstellungen über eine zukünftig von ihm allein beherrschte Welt erstmals in der Alexandreis in Form eines Vorverweises auf die Zeit nach dem Perserkrieg auch einen Hinweis auf die aus Sicht des christlichen Autors moralisch verwerfliche Hybris seines wichtigsten Protagonisten, die im Epos letztlich zum Tod des makedonischen Helden führt (vgl. Komm. Alex. I, 468–492; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Ein-

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leitung 7.4; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6; zur Stellung der Troja-Episode innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2). Das erste Buch endet damit, dass Alexander am Vorabend der Schlacht am Granikus seinen Soldaten von einer Vision berichtet, die er schon zwei Jahre zuvor in Pella empfangen hatte und ihm in der Person des jüdischen Hohepriesters Jaddus den Sieg über das Perserreich unter der Bedingung versprochen hatte, bei seinem Eroberungsfeldzug Jerusalem zu verschonen (vgl. Komm. I, 493–554). Diese Episode hat in der modernen Forschung eine vergleichsweise große Aufmerksamkeit gefunden und immer wieder Anlass zu kontroversen Diskussionen geboten. Im Mittelpunkt dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung steht dabei die übergeordnete Frage nach der moralischen Bewertung des makedonischen Königs durch den christlichen Autor des Epos, deren Beantwortung auch für die Gesamtinterpretation der Alexandreis eine richtungsweisende Rolle spielt (zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Ale­ xandreis vgl. Einleitung 7.4). Dabei geht es im Wesentlichen darum, inwiefern der mit der Kritik des christlichen Autors assoziierte Trojabesuch Alexanders inhaltlich und strukturell mit der im Erzählablauf unmittelbar folgenden Jerusalem-Episode in Verbindung steht. Ratkowitsch und Lafferty etwa glauben in den Worten omnem gen­ tem des jüdischen Hohepriesters Jaddus – und dies stellt das zentrale Missverständnis in dieser Frage dar – eine göttliche Zusage für die Unterwerfung der ganzen Welt erkennen zu können und ziehen daraus den Schluss, dass Walter damit in Fortsetzung der innerhalb der Troja-Episode zum Ausdruck gebrachten Autorkritik auch in der Jerusalem-Episode den Ruhmesdurst des makedonischen Königs negativ herausstellen wolle (vgl. Ratkowitsch 1996, 115; vgl. auch Lafferty 1998, 48–49; zum Verständnis wahren Ruhms in der Ale­ xandreis vgl. Einleitung 7.4). Anders jedoch, als Ratkowitsch und Lafferty bei ihrer diesbezüglichen Übertragung der Troja-Episode auf die Jerusalem-Episode vermuten, ist mit den Worten omnem



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gentem des jüdischen Hohepriesters keineswegs die aus christlicher Sicht ohne Zweifel inakzeptable Herrschaft über die ganze Welt im Sinne von jedes Volk gemeint, sondern lediglich die heilsgeschichtlich legitimierte Herrschaft über das ganze Volk der Perser (vgl. Alex. I, 533: omnemque tibi pessundabo gentem). Denn es ist nicht davon auszugehen, dass Walter ausgerechnet über die Person des jüdischen Hohepriesters Jaddus – immerhin vertritt dieser mit seinem Auftritt vor Alexander die Position des jüdisch-christlichen Gottes – dem makedonischen König ein Weltreich in Aussicht stellt, das über dessen in den prophetischen Büchern der Bibel festgehaltene heilsgeschichtliche Aufgabe hinausgeht (zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Abgesehen davon kann Alexander die nämlichen Worte des jüdischen Hohepriesters ohnehin nur auf den Perserkrieg bezogen verstanden haben, da sie innerhalb der Jerusalem-Episode die Funktion einer Antwort auf die kurz vor der eigentlichen Vision von ihm selbst zum Ausdruck gebrachten Zweifel bezüglich des taktischen Vorgehens bei der in absehbarer Zeit bevorstehenden Konfrontation mit dem persischen Erbfeind besitzen. Somit stellen die Worte des Hohepriesters für Alexander eine göttliche Legitimation und zugleich eine göttliche Erfolgsgarantie für die Stoßrichtung seines weiteren Handelns und seine konkreten militärischen Pläne dar. Genau aus diesem Grund auch berichtet Alexander seinen Soldaten erst am Vorabend der Schlacht am Granikus von dieser bereits zwei Jahre zurückliegenden Vision, um ihnen einen anderen Blickwinkel auf den gerade begonnenen Perserkrieg – Neu vos excutiat cepto, gens provida, bello – und die unmittelbar vor ihnen liegende, objektiv betrachtet nur schwer lösbare militärische Aufgabe zu verschaffen (vgl. Alex., I, 493). Er führt seinen Soldaten mit dieser Erzählung vor Augen, dass der Sieg und die Herrschaft über das persische Reich ungeachtet der zahlenmäßigen Überlegenheit der feindlichen Truppen eine von der göttlichen Vorsehung beschlossene Sache ist (vgl. Lehmann 2018, 15–22). Auch der von Ratkowitsch bei Alexanders Einzug in Jerusalem an dessen Adresse gerichtete Vorwurf, er bringe

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dem jüdischen Hohepriester nur deshalb die gebührende Ehrerbietung entgegen – Walter gibt dies mit der auf Alexander bezogenen Wendung pronus adorare wieder –, weil ihn sein Streben nach Weltherrschaft dazu treibe und er deshalb die demütige Verehrung des Namens Gottes vermissen lasse, ist bei genauer Betrachtung der Textstelle und deren Einordnung in den zeitgenössischen Horizont nicht haltbar (vgl. Alex. I, 546–547: Quem tamquam cognoscat equo descendit eumque | pronus adoravit; vgl. Ratkowitsch 1996, 117; vgl. auch Lehmann 2018, 18). Die Wendung pronus adorare bezeichnet nämlich – und dies spielt für einen gebildeten Leser des 12. Jahrhunderts die entscheidende Rolle – in der Vulgata neben der demütigen Verehrung von Menschen, die in einer besonderen Beziehung zu Gott stehen – man denke dabei an den jüdischen Hohepriester Jaddus – eben auch und gerade die demütige Verehrung Gottes. Mit dieser an der lateinischen Bibel orientierten Wortwahl führt Walter dem gebildeten zeitgenössischen Leser vor Augen, dass sich Alexander bei seinem Einzug in Jerusalem ganz im Gegenteil zum Deutungsversuch von Ratkowitsch moralisch völlig korrekt verhält. Genauso wenig nachvollziehbar ist der ebenfalls im Kontext der Jerusalem-Episode von Ratkowitsch als Hybrisvorwurf zu verstehende Gedanke, Alexander ursurpiere mit der auf ihn bezogenen Wendung pacifica offerre – der Leser erwarte ihres Erachtens eigentlich ein pacem offerre – in der Übertragung auf Salomon die Rolle Christi als Friedensfürst (vgl. Alex. I, 551–552: obtulit illic | pa­ cifica et multo ditavit munere templum; vgl. Ratkowitsch 1997, 118; vgl. auch Lehmann 2018, 18–19). Ratkowitsch übersieht dabei den bedeutsamen Umstand, dass auch diese Wendung gerade in der Vulgata in häufigem Gebrauch steht und dort damit ausnahmslos die kultische Handlung eines Friedensopfers oder eines Heilsopfers bezeichnet wird. Somit schildert Walter auch an dieser markanten Stelle des Epos den makedonischen König eben gerade nicht als einen gedankenlosen und überheblichen Eroberer, sondern ganz im Gegenteil als einen verständigen Herrscher, der die religiösen Tradi-



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tionen des jüdischen Volkes kennt und durchaus auch zu respektieren versteht. Wiener (2001) 76–77 weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Kirchengeschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts hin, in der wie in der Historia scholastica des Petrus Comestor das korrekte Vorgehen Alexanders bei dessen Einzug in Jerusalem im Unterschied zum Einzug des Pompeius und dessen Truppen positiv kontrastierend hervorgehoben wird (vgl. Lehmann 2018, 18–19). Der innere Zusammenhang zwischen dem Trojabesuch Alexanders und der Jerusalem-Episode besteht demzufolge lediglich auf der Ebene des sensus historicus, der die Ereignisse in Troja über die Erzählung der Vision bis hin zur ersten Schlacht am Granikus in ein sinnvolles Nacheinander einfügt. Auf der Ebene des sensus spiritua­ lis – wie insbesondere am sensus allegoricus und am sensus tropologi­ cus aufgezeigt werden kann – macht Walter durch zahlreiche kontrastierende Bezüge deutlich, dass beide Episoden inhaltlich eben gerade nicht als Einheit verstanden werden dürfen. Während beim Trojabesuch Alexanders nämlich die zur Sprache gebrachten Vorstellungen einer Herrschaft über die ganze Welt tatsächlich als Ausdruck einer christlich motivierten moralischen Kritik am grenzenlosen Ruhmesdurst des makedonischen Königs verstanden werden müssen, ist dieser Vorwurf – wie oben bereits dargelegt – nicht auf die Jerusalem-Episode übertragbar, da es darin lediglich um die heilsgeschichtlich legitimierte und damit aus christlicher Sicht moralisch gerechtfertigte Herrschaft Alexanders über das Perserreich geht. Der Gegensatz dieser beiden Episoden wird auch dadurch deutlich, dass der im Rahmen des Trojabesuchs Alexanders zum Ausdruck gebrachte Hybris-Vorwurf als Vorverweis auf die Zeit nach dem Perserkrieg gestaltet ist, während es sich bei der Erzählung der noch in Pella erhaltenen Vision um eine Rückschau handelt. In dieselbe Richtung weisen zudem die von Walter eingesetzten kontrastierenden Bezüge, die beispielsweise vom Brand der antik-paganen Stadt Troja einerseits und von der Rettung der jüdisch-christlichen Stadt Jerusalem andererseits über die für Alexander verständlichen grie-

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chischen Schriftzeichen (epygrammata) auf Achills Grabmal und den für diesen im Gegensatz dazu nicht verständlichen hebräischen Schriftzeichen (tetragrammata) auf der Stirn des jüdischen Hohepriesters reichen (vgl. Alex. I, 470; vgl. auch Alex. I, 525). Ebenso wie die angeführten inhaltlichen und sprachlichen Gründe sprechen darüber hinaus auch strukturelle Überlegungen gegen einen unmittelbaren inneren Zusammenhang zwischen dem Troja-Besuch Alexanders und der Jerusalem-Episode. Bezogen auf den Zeitraum des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs ist die Jerusalem-Episode aus kompositorischen Gründen nämlich gerade nicht mit Alexanders Trojabesuch verknüpft, sondern muss vielmehr als Teil einer inneren kompositorischen Klammer mit der in Buch VII wiedergegebenen Beschreibung des von Apelles geschaffenen Darius-Grabmals – auch dort macht Walter unter expliziter Bezugnahme auf die Danielprophetie deutlich, dass Alexanders Sieg über das Perserreich heilsgeschichtliche Relevanz besitzt – in Verbindung gebracht werden (vgl. Komm. VII, 379–430; zur Stellung der Jerusalem-Episode innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2). Die Jerusalem-Episode ist jedoch auch noch unter einem weiteren Aspekt in höchstem Maße bemerkenswert. Denn Walters Schilderung eines zutiefst verunsicherten Helden, der in einer für ihn selbst krisenhaften Situation erst durch eine transzendente Erfahrung zu einer Entscheidung fähig ist, stellt unter motivischen Gesichtspunkten eine interessante Parallele zu der in Buch V der Aeneis Vergils geschilderten Vision des Aeneas dar, innerhalb derer ihm sein jüngst auf Sizilien verstorbener Vater Anchises im Auftrag Jupiters zur Weiterfahrt nach Italien rät und ihn zudem zum Besuch der Unterwelt auffordert (vgl. Verg., Aen. V, 700–745). Damit ist Walter in der Lage, mit einer in imitativer Absicht gestalteten epischen Inszenierung einer für die Gattung des Epos typischen Entscheidungsszene die Schicksalsgebundenheit beider Akteure herauszuarbeiten, die ungeachtet ihres sonstigen Verhaltens der Unterstüt-



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zung einer außerhalb ihrer Person liegenden Macht bedürfen (vgl. Schultheiss 2012, 255–274; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Im selben Maße nämlich, wie der antike Dichter Vergil mit der Aeneis seinem teleologischen Geschichtsverständnis entsprechend das augusteische Rom als goldenes Zeitalter im Sinne eines von der Vorsehung bestimmten Konvergenzpunktes betrachtet, versteht der mittelalterliche Dichter Walter von Châtillon in der Alexandreis das mit der Eroberung Mediens und Persiens entstehende Weltreich Alexanders auf Grundlage seines eschatologischen Geschichtsverständnisses als eine von den prophetischen Büchern der Bibel angekündigte und in den Heilsplan Gottes eingebettete Zwischenstation auf dem Weg zum letzten Reich Gottes (vgl. Lehmann 2018, 15–34; zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3; zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Insofern lässt sich hinter der vorliegenden Darstellung auch eine aemulative Absicht Walters vermuten, der mit seinem eschatologischen Ansatz alle vier in der Danielprophetie angekündigten Weltreiche umfasst, während Vergil mit seinem teleologischen Ansatz lediglich das römische Reich in den Blick nimmt und damit gerade aus christlicher Sicht hinsichtlich der weltgeschichtlichen Bedeutung mit seiner Darstellung zurückzustehen hat (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. auch Einleitung 6; zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2).

Kommentar zu Buch I Themenübersicht (1–10) C 1–2 Primus Aristotilis imbutum nectare sacro  | scribit Alexan­ drum sceptroque insignit et armis: Mit dem heiligen Nektar nimmt Walter konkret Bezug auf Aristoteles und die Nikomachische Ethik des antiken Philosophen, die ihm in Gestalt der als Ethica Vetus bekannten lateinischen Teilübersetzung des Burgundio von Pisa vorgelegen und die er als inhaltliche Grundlage insbesondere für die innerhalb der Aristoteles-Rede aufgeführten Feldherrntugenden herangezogen hat (vgl. Komm. I, 82–183; zur Aristoteles-Rede vgl. auch die Einführung zu Buch I; zur Quellenfrage der AristotelesRede vgl. auch Einleitung 3). C 3 Cicropidas regi rursus confoederat: Als Bewohner Attikas stammen die Cicropidae dem Mythos zufolge vom sagenhaften König und Gründer Athens namens Kekrops ab. Walter weist damit an dieser Stelle auf zwei Ereignisse hin, die jeweils in einem brüchigen Bündnis zwischen Makedonien und Athen ihren Abschluss fanden. ⇔ Das erste Mal hatte Alexander nach der Schlacht von Chaironeia (338 v. Chr.) – durch die damalige Niederlage Athens und seiner Verbündeten war die Hegemonie Makedoniens über Griechenland endgültig besiegelt worden – noch als Kronprinz im Auftrag seines Vaters Philipp II. von Makedonien den Bündnisvertrag mit Athen ausgehandelt. Nach Philipps Ermordung (336 v. Chr.) und den daraus resultierenden Unabhängigkeitsbestrebungen der wichtigsten griechischen Städte – in diesem Kontext sind insbesondere Athen und Theben zu nennen – führte Alexander dann als neuer make-



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donischer König die Verhandlungen mit den wankelmütigen Athenern, die auf Betreiben des begabten Redners Demosthenes kurz davor waren, das ursprünglich mit Philipp geschlossene Bündnis mit Makedonien aufzukündigen (335 v. Chr.). Erst durch den energischen diplomatischen Einsatz von Demades und Aeschines, die in Athen als promakedonische Fraktion und entschiedene Gegner des Demosthenes auftraten, konnte die drohende Zerstörung von Griechenlands geistigem Zentrum gerade noch rechtzeitig verhindert werden. Alexander verzichtete auf Betreiben und Bitten des in Makedonien in hohem Ansehen stehenden Demades sogar auf die von ihm zuerst geforderte Auslieferung des Demosthenes. ⇔ Insofern ist die Bezeichnung regi von Walter äußerst geschickt gewählt, da sich dahinter zugleich Philipp (338 v. Chr.) und Alexander (335 v. Chr.) verbergen (vgl. Komm. I, 268–283). C 3–4 Arces | diruit Aonias: Mit den arces Aonias bezeichnet Walter die Stadt Theben und das alte Böotien, eine Landschaft im südöstlichen Mittelgriechenland. ⇔ Im Unterschied zu der oben beschriebenen Verschonung Athens statuiert Alexander an den abtrünnigen Thebanern ein Exempel und macht die Stadt mit Ausnahme der Tempel und des Wohnhauses des griechischen Dichters Pindar dem Erdboden gleich (vgl. Komm. I, 284–348; vgl. auch Demandt 2013, 99). C 4–5 Numerosa classe profundum  | intrat et appellens Asyam de nave sagittat: Der Name Asia bezeichnet seit Aischylos zumeist nichts anderes als das Perserreich, da man dessen Ausdehnung nach Osten hin nicht kannte und aus diesem Grund auch synonym für den ganzen Kontinent verwendete (vgl. Demandt 2013, 128). Allerdings sollte dabei nicht übersehen werden, dass mit diesem Begriff seit der römischen Herrschaft auch nur das als römische Provinz bekannte Kleinasien gemeint sein kann. ⇔ Da im vorliegenden Kontext die Landung an der Küste Kleinasiens angesprochen wird, ist

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an dieser Stelle die letztere Bedeutung zu präferieren (vgl. Komm. I, 359–385). ⇔ Mit dem Verb sagittare nimmt Walter darauf Bezug, dass Alexander noch vom Schiff aus seinen Speer an das Ufer der kleinasiatischen Küste wirft, um sein Anrecht auf das speergewon­ nene Land zu dokumentieren. Der Begriff speergewonnen beinhaltet dabei einen Rechtsanspruch, der sich aus dem agonalen Denken der Griechen herleitet, die den Krieg als Wettkampf und den Sieg als Göttergeschenk ansahen (vgl. Komm. I, 386–395; vgl. auch Demandt 2013, 110). C 6–9 parcendumque ratus hostem sine Marte tryumphat, | elatu­ sque animo sub sole iacentia regna | iam sibi parta putat. Asiam de vertice montis  | inspicit et patrias partitur civibus urbes: Alexander ist nach der Landung in Kleinasien und einigen kampflos errungenen Siegen im berechtigten Stolz auf diese doch beachtliche Leistung und im Überschwang der Gefühle der Ansicht, das vor ihm liegende Perserreich damit schon erobert zu haben. ⇔ Die moderne Forschung möchte in den Worten elatusque animo sub sole iacentia regna | iam sibi parta putat bisweilen einen vom christlichen Autor der Alexandreis an den makedonischen König gerichteten HybrisVorwurf erkennen, wobei im Zuge dessen zum einen Alexanders eigentlich berechtigter Stolz ohne die notwendige inhaltliche Anbindung an den im Vers zuvor dafür ausdrücklich genannten Grund als Hochmut missverstanden wird, zum anderen die unter der Sonne liegenden Gegenden oder Königreiche fälschlicherweise mit der ganzen Welt identifiziert werden (vgl. Gwynne 2017, 202: »For Walter, Alexander’s determination reveals a flaw in character, and the verse summary to Book I remarks that Alexander’s pursuit of boundless empire and glory is a product of hubris«). Als Beleg für den an dieser Stelle angenommenen Hybris-Vorwurf wird auf eine beinahe wortgleiche Formulierung im letzten Buch der Alexandreis verwiesen, in der Alexanders Streben nach grenzenloser Herrschaft über die ganze Welt tatsächlich einer christlich motivierten morali-



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schen Kritik unterzogen wird (vgl. Alex. X, 314–315: Eia, queramus alio sub sole iacentes | Antipodum populos ne gloria nostra relinquat). Dabei wird jedoch übersehen, dass der vermeintlich inhaltsgleiche Ausdruck sub sole iacentes in Buch X einzig und allein und erst durch das auf sole bezogene Attribut alio auf Alexanders moralisch verwerflichen, da grenzenlosen Herrschaftsanspruch hinweist, der mit dem tadelnswerten Versuch einhergeht, die nicht nur in der Antike, sondern auch zu Walters Zeit noch immer unbekannten Gefilde der auf der Gegenhemisphäre vermuteten Antipoden aufzusuchen und diese seiner Herrschaft zu unterwerfen (vgl. Komm. X, 1–5). Walters auf bloßen Spekulationen beruhende Vorstellungen zu Antipoden und ihrer Position auf dem kugelförmig verstandenen Erdball scheinen dabei wie sonst auch in geographischen Kontexten von Isidor geprägt zu sein, der die Existenz von Gegenfüßlern wegen fehlender historischer Zeugnisse zwar verneint und als bloße Mutmaßungen der Dichter betrachtet, dennoch aber eine unter geographischen Gesichtspunkten überaus schlüssige Erklärung für ihre relative geographische Lage liefert (vgl. Isid. v. Sev., Etym. IX, 2, 133–134: Iam vero hi qui Antipodae dicuntur, eo quod contrarii esse vestigiis nostris putantur, ut quasi sub terris positi adversa pedibus nostris calcent ve­ stigia, nulla ratione credendum est, quia nec soliditas patitur, nec cen­ trum terrae; sed neque hoc ulla historiae cognitione firmatur, sed hoc poetae quasi ratiocinando coniectant; zu der seit der Antike vielerorts diskutierten und bis in das Entdeckungszeitalter und die dritte Reise des Amerigo Vespucci empirisch nicht zu klärenden Frage über die mögliche Existenz von Antipoden vgl. Lehmann 2016, 167–191; zu Alexanders Antipodenfahrt vgl. die Einführung zu Buch X; vgl. auch Einleitung 7.4). Die von Isidor mit den Worten quasi sub terris positi geographisch exakt beschriebene Position von Antipoden auf der noch unbekannten Gegenhemisphäre korreliert dabei inhaltlich betrachtet wenig überraschend mit den von Walter dafür benutzen Begriffen alius orbis oder alia natura (vgl. Alex. IX, 567–570: En alium vobis aperire sequentibus orbem | iam michi constitui. Nichil

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insuperabile forti.  | Antipodum penetrare sinus aliamque videre  | naturam accelero). Über diese Erkenntnis hinaus gibt es noch einen weiteren offenkundigen Hinweis darauf, dass Walter mit den in der Themenübersicht zu Buch I verwendeten Worten sub sole iacentia regna tatsächlich nur die heilsgeschichtlich legitimierte Eroberung des Perserreichs in den Blick nimmt. An der entsprechenden Stelle im Haupttext spricht er nämlich davon, dass Alexander nach seiner Landung an der Küste Kilikiens am frühen Morgen von einem Berg aus die Gebiete Kleinasiens mit ihren fruchtbaren Äckern, bewaldeten Hügeln, zahlreichen Weinstöcken und mauerbewehrten Städten mit eigenen Augen mustert und beim Blick in alle vier Himmelsrichtungen eben diese Gebiete, nämlich das ihm – natürlich nicht in seiner gesamten Ausdehnung – vor Augen liegende persische Reich als bereits erobert betrachtet (vgl. Alex. I, 444–445: Regnorum que­ cumque iacent sub cardine quadro | iam sibi parta putat; zur Gleichsetzung der Bezeichnung Asia mit dem Perserreich vgl. Demandt 2013, 128; zur Stellung der unhistorischen Landung Alexanders in Kilikien innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; vgl. auch Komm. I, 359–385; vgl. auch Komm. I, 447–451). Demzufolge lässt sich aus den Worten elatusque animo sub sole iacentia regna | iam sibi parta putat in der Themenübersicht zu Buch I eben gerade kein Hybris-Vorwurf ableiten, der auf einer moralischen Kritik Walters an Alexanders Streben nach einer grenzenlosen Herrschaft über die ganze Welt beruht. ⇔ Mit den patrias urbes weist Walter auf das wechselvolle Schicksal Kleinasiens hin, das um ca. 500 v. Chr. dem Perserreich eingegliedert worden war, infolge der Perserkriege im frühen 5. Jahrhundert insbesondere an der Westküste wieder griechischer Oberhoheit unterstand, nach dem Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) jedoch erneut unter persische Kontrolle geriet. Nach der erneuten Rückeroberung Kleinasiens durch Alexander konnte man somit an die Tradition der griechischen Herrschaft in Kleinasien anknüpfen (vgl. Komm. I, 427–446).



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C 10 Pergama miratur et sompnia visa retractat: Mit Pergama meint Walter nicht die in Mysien gelegene, zu Alexanders Zeit völlig unbedeutende Stadt Pergamon, sondern das ehemals bedeutende Troja, dem der makedonische König noch vor der ersten Schlacht am Granikus in Kleinasien einen Besuch abstattet. Dabei besichtigt er auch das Grab des Achilles, den er – beeinflusst durch die Lektüre der homerischen Epen – neben Herkules als Vorbild für sein eigenes Leben ausgewählt hatte (vgl. Komm. I, 468–492). ⇔ Mit der Formulierung sompnia visa retractat nimmt Walter Bezug auf eine schon zwei Jahre zurückliegende Vision Alexanders, durch die ihm noch am Hof in Pella durch die Person des jüdischen Hohepriesters Jaddus die göttliche Unterstützung bei der künftigen Eroberung des Perserreichs zugesichert worden war. Als Gegenleistung sollte Alexander bei seiner späteren Ankunft in der heiligen Stadt die Bewohner Jerusalems und die Stadt selbst verschonen. Aus Gründen der Motivation berichtet Alexander seinen Soldaten von dieser Vision erst unmittelbar vor der ersten Schlacht gegen die Perser am Granikus in Kleinasien (vgl. Komm. I, 502–538; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Prooemium (1–26) Prooemium Teil 1 (1–11) Antiker Musenanruf (1–5) 1–5 Gesta ducis Macedum totum digesta per orbem | quam large di­ spersit opes, quo milite Porum | vicerit et Darium, quo principe Grecia victrix | risit et a Persis rediere tributa Chorintum, | Musa refer: Walter thematisiert gleich mit dem ersten Vers des nach antikem Vorbild gestalteten Musenanrufs insbesondere auch durch die Anfangsstellung von gesta bedingt die weltgeschichtliche Bedeutung der auf

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dem ganzen Erdkreis – gemeint sind dabei die zum damaligen Zeitpunkt bekannten Kontinente Europa, Afrika und Asien – vollbrachten und zugleich auch dort verbreiteten Taten des makedonischen Königs (vgl. die Handschrift Ms. C 100, die für digesta das Verständnis divulgata per famam glossiert, verfügbar unter dem Permalink: https://www.e-codices.unifr.ch/de/zbz/C0100/4v/0/). ⇔ Der mit dem Auftakt gesta absichtsvoll hervorgerufene Anklang an die arma Vergils und die bella Lucans gibt dabei in Verbindung mit dem raumgreifend an das Versende gesetzten totum digesta per orbem einen deutlichen Hinweis auf jene antiken Autoren, mit denen sich Walter in seinem Epos auf poetologischer Ebene imitativ und aemulativ vorrangig auseinanderzusetzen gedenkt. Erstrecken sich Aeneas’ Taten nämlich lediglich von der Küste Trojas bis nach Latium bzw. Italien oder führt Caesar seinen Bürgerkrieg lediglich in Thessalien, so ist Alexanders Wirkungskreis mit der Eroberung des Perserreichs und seinen damit auf allen drei Kontinenten vollbrachten Taten – mit dem Gleichklang von gesta und digesta sprachlich brillant in Szene gesetzt – erheblich größer und besitzt in Walters Augen demzufolge auch eine weltgeschichtlich sehr viel größere Bedeutung (vgl. Verg., Aen. I, 1–3: Troiae qui primus ab oris | Ita­ liam, fato profugus, Laviniaque venit | litora; vgl. auch Luc., Phars. I, 1: Bella per Emathios plus quam civilia campos). Überdies implizieren die gesta bei Walter im Unterschied zu den arma bei Vergil und den bella bei Lucan auch Großtaten jenseits militärischer Aktivitäten, die weit über die zentrale Feldherrntugend – die Tugend der Tapferkeit – hinausreichen. Damit begibt sich Walter aemulativ in den dichterischen Wettstreit mit Lucan und auch mit seinem im Prolog explizit noch als nahezu unerreichbar apostrophierten Vorbild Vergil, der für seine Aeneis aus Sicht des mittelalterlichen Autors nicht nur einen weniger bedeutenden Helden ausgewählt hat, sondern mit dieser Auswahl zugleich auch in seiner Bedeutung als Dichter hinter dem Autor der Alexandreis zurückstehen muss (vgl. Kern 2009, 323; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl.



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Einleitung 6). ⇔ Die mit ducis Macedum mittels einer Antonomasie gestaltete Vermeidung, den Namen des Helden schon in den Anfangsversen des Epos explizit zu nennen, entspricht der antiken Tradition (vgl. Verg., Aen. I, 1: Arma virumque cano). ⇔ In unmittelbarem Anschluss an den einleitenden Satz über Alexanders weltgeschichtliche Bedeutung rückt Walter durch drei bemerkenswert gestaltete indirekte Fragesätze – zwei davon stehen mittellateinischen Gepflogenheiten entsprechend ohne einen bestimmten Grund im Indikativ – dessen Führungsqualitäten und dessen erst dadurch ermöglichten militärischen und politischen Leistungen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Im ersten mit quam eingeleiteten Teilsatz nimmt er dabei mit den Worten dispersit opes Bezug auf die Feldherrntugend der angemessenen Gebefreudigkeit, im zweiten Teilsatz verweist er mit dem bewusst singularisch gehaltenen quo mi­ lite auf die zentrale Feldherrntugend der Tapferkeit, die Alexander erst in die Lage versetzt, mit einem zahlenmäßig deutlich unterlegenen Heer die persische Übermacht zu besiegen (vgl. Komm. I, 116– 143; zur erneuten Hervorhebung dieses bedeutsamen Sachverhalts an zentraler Stelle des Epos vgl. Alex. V, 500–502: si fide recolas quam raro milite contra | victores mundi tenero sub flore iuventae | quanta sit aggressus Macedo; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I). Mit den opes können an dieser Stelle demzufolge nicht – wie Streckenbach irrigerweise vermutet – Streitkräfte gemeint sein, zumal Walter diese mit den Worten quo milite bereits in ausreichendem Maß berücksichtigt hat (vgl. Streckenbach 1990, 29). Im dritten, mit quo principe eingeleiteten Teilsatz, führt er dem Leser eindrücklich – und diese Begebenheiten bilden ganz bewusst das Ende der aus drei Teilen bestehenden Gliedsatzabfolge – die insgesamt positiven Folgen des durch Alexanders herausragende Führungsqualitäten ermöglichten Sieges über die Perser vor Augen: Ganz Griechenland feiert ausgelassen den langersehnten und endgültigen Sieg über das

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Perserreich und auch die von den Griechen im Kontext der Perserkriege zuvor gegenüber dem persischen König Xerxes I. geleisteten Tributzahlungen finden ihren Weg zurück in die griechische Heimat (vgl. Alex. I, 4: a Persis rediere tributa Corinthum). ⇔ Auffallend ist in diesem Abschnitt die von Walter in den ersten beiden Teilsätzen als Hysteron-Proteron gestaltete Anordnung der beiden Feldherrntugenden der Tapferkeit und der angemessenen Gebefreu­ digkeit sowie der Namen seiner wichtigsten Widersacher Darius und Porus (zum Hysteron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Denn ebenso wie die Tapferkeit eine unabdingbare Voraussetzung für die angemessene Gebefreudigkeit darstellt – nur ein siegreicher Feldherr ist freilich in der Lage, seinen Soldaten die Schatzkammern des Feindes zu öffnen –, so ist auch Alexander der Chronologie der Ereignisse folgend natürlich nur dann imstande, den Inderkönig Porus zu besiegen, nachdem er zuvor auch das Reich des Perserkönigs Darius erobert hat. Mit diesem stilistischen Kunstgriff gelingt es Walter, die mit dem bewusst singularisch gehaltenen quo milite zum Ausdruck gebrachte Tapferkeit als wichtigste Feldherrntugend innerhalb dieser aus drei indirekten Fragesätzen bestehenden Einheit in eine betonte Mittelstellung zu bringen (zur Mittelstellung der Tugend der Tapferkeit innerhalb der Aristoteles-Rede vgl. Komm. I, 156–163; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Zugleich ist Walter mit der betonten Endstellung von Darius innerhalb dieser zentralen Einheit über die Tugend der Tapferkeit in der Lage, auf Alexanders wichtigsten Gegner zu verweisen, durch dessen auffällige Positionierung darüber hinaus auch das als Anfangswort des Prooemiums dienende gesta wiederaufgenommen wird und mit diesem eine kompositorische und inhaltliche Verbindung eingeht: Im Ergebnis finden somit Alexanders von der Tugend der Tapfer­ keit geprägten Taten im Sieg über den Perserkönig Darius ihren aus christlicher Sicht unbestreitbaren Höhepunkt und stellen für den Autor der Alexandreis das aus heilsgeschichtlicher Perspektive zentrale Ereignis innerhalb der Alexandergeschichte dar. ⇔ Einen weite-



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ren Kontrast zu seinen antiken Vorbildern, die wie Lucan nur die negativen Seiten eines vernichtenden Bürgerkriegs bedauern oder wie Vergil einen beinahe tragischen Helden beschreiben, der seine Ziele nur unter großen Mühen und nach vielen auch selbst als leidvoll empfundenen Erfahrungen zu erreichen vermag, gestaltet Walter an dieser Stelle mit der Inszenierung von Alexanders Feldherrntugenden und der überaus positiven Darstellung der Umstände seines wie selbstverständlich und beinahe mühelos erscheinenden Wirkens (vgl. Verg., Aen. I, 2–5: Italiam fato profugus Laviniaque venit | litora, multum ille et terris iactatus et alto | vi superum, saevae memorem Iunonis ob iram, | multa quoque et bello passus, dum con­ deret urbem; vgl. auch Luc., Phars., I, 2–7: iusque datum sceleri ca­ nimus, populumque potentem | in sua victrici conversum viscera dex­ tra | cognatasque acies, et rupto foedere regni | certatum totis concussi viribus orbis | in commune nefas, infestisque obvia signis | signa, pares aquilas et pila minantia pilis; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6). ⇔ Mit dem an antiken Vorbildern orientierten, als Vokativ bzw. Imperativ gestalteten Worten bringt Walter seinen stilistisch und inhaltlich anspruchsvoll gestalteten antiken Musenanruf zum Abschluss (vgl. Verg., Aen. I, 8: Musa, mihi cau­ sas memora; vgl. Stat., Achill. I, 3: diva, refer). Alexanders Ruhm (5–8) 5–8: Qui si senio non fractus inermi | pollice fatorum nostros vixisset in annos, | Cesareos numquam loqueretur fama tryumphos, | totaque Romuleae squaleret gloria gentis: Mit der Textpassage sind in der Forschung zahlreiche Schwierigkeiten verbunden, die insbesondere mit dem Verständnis des irrealen Bedingungssatzes qui … si nostros vixisset in annos in Zusammenhang stehen und das Zusammenspiel dieser Passage mit den Worten senio non fractus inermi betreffen. Adkin (1991) 207–210 versteht Walters qui si nostros vixisset in annos

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in Verbindung mit senio non fractus inermi im Sinne von wenn die­ ser – gemeint ist Alexander – nicht durch ein wehrloses Greisenalter gebrochen – bis in unsere Zeit gelebt hätte. Er sieht dabei die logische Verbindung zwischen senio non fractus inermi und nostros vixisset in annos darin, dass ein in der Vorstellung dann 1500 Jahre alter makedonischer König freilich nicht von den negativen Begleiterscheinungen des Greisenalters betroffen sein darf, um auch in Walters Zeit als vorbildhafter und nachahmenswerter Feldherr dienen zu können. Zudem begreift Adkin diese Formulierung als ein von Walter an einer für das gesamte Epos bedeutenden Stelle – dem Prooemium – bewusst eingesetztes rhetorisches Stilmittel der Hyperbole, um damit einen zeitgenössischen Bezug zu dem noch jugendlichen und – eben noch nicht durch ein wehrloses Greisenalter gebrochenen – König Philipp II. von Frankreich herzustellen. Dieser sollte seit seiner im Alter von vierzehn Jahren erfolgten Krönung zum Mitregenten am 1. November 1179 und insbesondere nach dem Tod seines am 19. September 1180 verstorbenen und zuvor einem schweren Siechtum anheimgefallenen Vaters Ludwig VII. als alleiniger König von Frankreich die Geschicke seines Landes lenken und nach dem wenig erfolgreichen zweiten Kreuzzug (1147–1149) und nach der desaströsen Niederlage des byzantinischen Kaisers Manuel gegen die Seldschuken im Jahre 1176 als Hoffnungsträger des christlichen Abendlandes das Vorhaben eines neuerlichen Waffengangs gegen die Muslime in die Tat umsetzen (zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3). Adkin (1991) 210 formuliert seine in diesem Punkt einleuchtende These wie folgt: »The concept of an Alexander who had lived ›to our day‹ is meant to suggest that France’s own royal prince is himself a contemporary analogue of the great Macedonian.« Adkin arbeitet zudem überzeugend heraus, dass mit dem Begriff senio zugleich auch ein direkter Bezug zu Ludwig VII. hergestellt wird, der – durch einen Schlaganfall einseitig gelähmt – in der zeitgenössischen Literatur häufig mit Formulierungen wie iam decrepito senio­



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que labanti, senio et morbo laborans paralytico, senio et corporis debi­ litate gravis, morbo simul et senio valde gravatus oder auch senio iam et valetudine confectus beschrieben wird. Adkin (1991) 211 fasst diesen Sachverhalt wie folgt zusammen: »Moreover, no fewer than five of the passages cited apply to him the word senium. Here we surely have the key to Walter’s ›senio non fractus inermi‹. These words will have been recognized immediately by the contemporaries as a reference to the senile and paralytic king« [Ludwig VII.]. Adkin zieht ausgehend von seiner These zudem eine sinnvolle Verbindung zu den zentralen, am Ende von Buch V gestalteten Versen des Epos, in denen Walter dem innerhalb der intellektuellen Elite weit verbreiteten zeitgenössischen Wunsch nach einem alexanderhaften christlichen Anführer mit aller Deutlichkeit Ausdruck verleiht (vgl. Alex. V, 510–512: Si gemitu commota pio votisque suorum | flebilibus divina daret clementia talem | Francorum regem). ⇔ Doch stellt Adkins Interpretation nicht die einzige Möglichkeit zum Verständnis dieser bemerkenswerten Passage dar. Denn die immerhin älteste existierende Handschrift zur Alexandreis nimmt zu den Worten qui … si nos­ tros vixisset in annos die Glossierung id est quantum nostrates vivere solent vor und legt damit nahe, dass man diese Formulierung durchaus auch nur als diejenige Zeitspanne begreifen kann, die Alexander zur Verfügung gestanden hätte, wenn er in einem für Walters Zeit normalen Alter von vielleicht sechzig Jahren gestorben wäre (vgl. Colker 1978, 277). Vor diesem Hintergrund kann der Ausdruck aus guten Gründen ebenso gut mit den Worten wenn dieser ein für unsere Zeit normales Alter erreicht hätte wiedergegeben werden. Adkin (1991) 207–208 lehnt dieses alternative Verständnis der Stelle ab, da sie seines Erachtens nicht in einen logischen Zusammenhang mit seinem Verständnis der Worte senio non fractus inermi – nicht durch ein wehrloses Greisenalter gebrochen gebracht werden kann. Dabei übersieht er jedoch, dass senium nicht unbedingt mit dem Begriff Greisenalter wiedergegeben werden muss, sondern durchaus auch im Sinne einer Entkräftung des Körpers Verwendung finden

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kann. Somit lässt sich senio hier ebenso auch mit dem auf Alexander bezogenen Prozess des Sterbens abzielenden Begriff der Entkräftung in Verbindung bringen und kann dann mit der Übersetzung wenn dieser – nicht durch wehrlose Entkräftung dahingerafft – ein für un­ sere Zeit normales Alter erreicht hätte durchaus mit den Worten nos­ tros vixisset in annos logisch verknüpft werden. Auch mit diesem auf einer alternativen Übersetzung beruhenden Verständnis dieser Passage kann ausgehend von der ebenso primär auf Alexander bezogenen Aussage darüber hinaus dann ein zeitgenössischer Bezug zu Walters Zeit hergestellt werden. Im selben Maße nämlich wie in Adkins Verständnis die Formulierung qui … si nostros vixisset in annos – wenn dieser bis in unsere Zeit gelebt hätte auf das 12. Jahrhundert verweist, schlägt auch die Übersetzung dieser Stelle mit wenn dieser ein für unsere Zeit normales Alter erreicht hätte den Bogen zu Walters Zeit. Auch lässt sich dann der Passus senio non fractus inermi – nicht durch wehrlose Entkräftung dahingerafft in seiner Ganzheit mit dem ebenso jungen wie vitalen König Philipp II. in Verbindung bringen, zugleich jedoch wird dem Leser der Alexandreis mit dem Begriff senio in der Bedeutung von Siechtum als isoliertem Begriff auch – Adkin hatte bereits im Zusammenhang mit dem Verständnis von senio im Sinne von Greisenalter auf diesen Sachverhalt hingewiesen – die schwere und über mehrere Monate andauernde Krankheit Ludwigs VII. in Erinnerung gerufen. ⇔ Insofern stellt sich an diesem Punkt der Erörterung die Frage, welcher der beiden Übersetzungsvarianten der Vorzug zu geben ist. Berücksichtigt man, dass Walter mit seiner Grundaussage, nach der Alexander den Ruhm der Römer hätte verblassen lassen, wenn er länger gelebt hätte, dessen überragende weltgeschichtliche Bedeutung in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken möchte, ist es naheliegend, dass es sehr viel bemerkenswerter und damit auch sehr viel ruhmreicher bzw. überhaupt nur ruhmreich für Alexander gewesen wäre, wenn ihm dies in einer kurzen Zeitspanne von vielleicht nur zwanzig Jahren gelungen wäre und nicht erst nach langen 1500 Jahren (zum Verständnis wah-



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ren Ruhms in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Demzufolge spricht vieles dafür, der Übersetzung wenn dieser – nicht durch wehr­ lose Entkräftung dahingerafft – ein für unsere Zeit normales Alter erreicht hätte den Vorzug zu geben. Bezeichnenderweise hatte Mueldener (1863) 5 in seiner Textausgabe der Alexandreis allerdings ohne irgendeinen handschriftlichen Befund die Konjektur von nos­ tros zu iustos vorgenommen, um die für ihn offenbar schwer zu akzeptierende Vorstellung, Alexander könnte tatsächlich 1500 Jahre gelebt haben, zu vermeiden. Dabei war ihm offensichtlich nicht aufgefallen, dass auch die von Colker aufgrund des handschriftlichen Befunds zurecht favorisierte Lesart nostros eben durchaus auch den Sinn wenn dieser ein für unsere Zeit normales Alter erreicht hätte annehmen kann. ⇔ Mit der Formulierung pollice fatorum ist der Daumen der Parzen gemeint, der die Drehbewegung der Spindel in Gang setzt und damit den Lauf des Schicksals bestimmt (zur Beschreibung des ganzen Verfahrens des Spinnens bei Catull vgl. Cat., carm. 64, 311–317, zur Funktion des (Schicksals-) Daumens vgl. Cat., carm. 64, 313–314: tum prono in pollice torquens | libratum te­ reti versabat turbine fusum; vgl. auch Ov., Met. IV, 34: stamina pol­ lice versant, Ov., Met. XII, 475: stamina pollice torque; zu den Parzen vgl. die Einführung zu Buch I; vgl. auch Einleitung 5). ⇔ Der dem irrealen Bedingungssatz folgende Hauptsatz Cesareos num­ quam loqueretur fama tryumphos, | totaque Romuleae squaleret glo­ ria gentis stellt die im irrealen Konjunktiv formulierte Situation dar, die eingetreten wäre, wenn Alexander länger gelebt hätte. Dann wäre nichts vom Ruhm der Römer übriggeblieben und in der geschichtlichen Überlieferung würde man vergeblich nach den Ruhmestaten der Römer suchen. Im Unterschied dazu geht Walter am Ende von Buch V auf die tatsächliche historische Situation ein, in der Alexander zum Zeitpunkt seines Todes die Römer zwar bereits an Ruhm übertrifft, durch dessen frühen Tod bedingt jedoch einige Schriftsteller wie Claudian oder Lucan zum Leidwesen des Autors der Alexandreis in ihren Werken noch vom Ruhm der Römer be-

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richten (zu Alexanders nicht mehr realisierten Plänen, seine Eroberungen nach Westen zu richten und dabei insbesondere die Römer niederwerfen zu wollen vgl. Alex. X, 326–328: Nunc igitur vestris ne pars vacet ulla tryumphis | neve meis desit tytulis perfectio, Romam | imprimis delere placet). ⇔ Mit Cesareos entsteht eine von Walter bewusst in Szene gesetzte doppelte Assoziation. Zum einen kann man sich darunter Gaius Julius Caesar vorstellen, zum anderen aber auch die lange Reihe der römischen Kaiser. Damit stellt Walter hier ebenso wie im Zusammenhang mit der Formulierung qui si senio non fractus inermi | pollice fatorum nostros vixisset in annos einen Bezug zum Ende von Buch V her, wo nicht nur Caesar und Lucan explizite Erwähnung finden, sondern auch der spätantike Dichter Claudian, der in seinen panegyrischen Gedichten die Taten des weströmischen Kaisers Flavius Honorius verherrlicht. Insgesamt stellen damit Walters diesbezügliche Ausführungen eine deutlich vernehmbare Romkritik dar, die freilich den Blick nicht nur auf das Rom zur Zeit Caesars oder des Honorius richtet, sondern auch die von Walter als verheerend wahrgenommenen Zustände innerhalb der römischen Kurie in seiner eigenen Zeit impliziert (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Ebenso jedoch schwingt bei Walters Romkritik aber auch der schon zum Auftakt des Prooemiums konstatierte aemulative Ansatz des christlichen Dichters mit, der ihn auf poetologischer Ebene über die Schriftsteller dieser von ihm kritisierten heidnischen Vergangenheit hebt (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Die Strahlkraft der Taten Alexanders (9–11) 9–11 Preradiaret enim meriti fulgore caminus  | igniculos, solisque sui palleret in ortu | Lucifer, et tardi languerent Plaustra Boete: Der zuvor besprochene irreale Hauptsatz, mit dem Walter die negativen Folgen für den Ruhm der Römer thematisiert, wenn Alexander län-



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ger gelebt hätte, wird an dieser Stelle mit einem Bild aus dem Bereich der unterschiedlich hell strahlenden Himmelskörper verglichen, mit dem Walter die ungeheuere Strahlkraft der Triumphe seines wichtigsten Protagonisten hervorhebt, die dann – anders als dies durch Alexanders allzu frühen Tod der Fall war – die römischen Siege hätten völlig verblassen lassen. Prooemium Teil 2 (12–26) Die Karriere des Wilhelm von Blois (12–18) 12–18 At tu, cui maior genuisse Britannia reges | gaudet avos, Seno­ num quo presule non minor urbi | nupsit honos quam cum Romam Senonensibus armis | fregit adepturus Tarpeiam Brennius arcem, | si non exciret vigiles argenteus anser. | Quo tandem regimen kathedrae Remensis adepto, | duriciae nomen amisit bellica tellus: Der zweite Teil des Prooemiums, der von Walter mit der persönlichen Anrede at tu bewusst auch formal vom ersten Teil abgesetzt wird, enthält die Widmung des Heldengedichts an seinen Gönner Wilhelm von Blois, der ebenso wie dessen älterer Bruder Pierre von Blois der gebildeten obersten Herrschaftsschicht Frankreichs angehörte. Walter spricht mit den reges … avos gleich zu Beginn seiner dedicatio Wilhelms königliche Abstammung an, der als Urenkel von Wilhelm I. – seines Zeichens König von England – schon durch seine Herkunft bedingt von einer besonderen Aura umgeben war. Im Anschluss an die Angaben über Wilhelms Herkunft rückt Walter dessen Verdienste als Erzbischof von Sens (1169–1176) ins rechte Licht, indem er sie mit den Taten des zum Stamm der Senonen gehörenden Galliers Brennus in Beziehung setzt, der im Jahre 387 v. Chr. mit seinen Kriegern die römischen Legionen besiegen konnte, Rom in Brand gesteckt und beinahe auch, wären nicht die kapitolinischen Gänse mit ihrem lauten Geschnatter dazwischengekommen, das römi-

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sche Kapitol eingenommen hätte. Unerwähnt lässt Walter die Zeit Wilhelms als Bischof von Chartres (1164–1176), ein Amt, das dieser bereits in jungen Jahren übernommen hatte und auch nicht wieder abgab, als er im Jahre 1169 zum Erzbischof von Sens berufen wurde. Mit dem letzten Satz dieses Abschnitts beleuchtet Walter den Abschluss und zugleich auch den Höhepunkt der kirchlichen Laufbahn seines Gönners, der zwischen 1176 bis zu seinem Tod im Jahre 1202 das ehrenvolle Amt des Erzbischofs von Reims bekleidete. Dabei führt er mit den huldvollen Worten duriciae nomen amisit bellica tellus den ursprünglich keltischen und später von den Römern übernommenen Namen von Reims – Durocortorum – auf den Begriff Hartherzigkeit zurück (lat. durus für hart und cor für Herz), um auf die ausgewogene, auf wahrer christlicher Gesinnung beruhende Amtsführung des Erzbischofs anzuspielen, mit der es Wilhelm den Worten Walters zufolge gelungen war, der lange Zeit kriegerischen Stadt wieder zu Frieden, Wohlstand und Glanz zu verhelfen (vgl. Christensen 1905, 11, Anm. 4). ⇔ Da Reims der Legende nach von Remus gegründet worden war, stand sie im kollektiven Bewusstsein ihrer mittelalterlichen Bewohner und insbesondere ihrer Amtsträger in natürlicher Konkurrenz zu dem von Romulus gegründeten Rom und damit in gewisser Weise auch auf einer Stufe mit der ewigen Stadt (vgl. Haye 2009, 37). Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Wilhelm im 12. Jahrhundert zahlreiche Schriftsteller und Poeten um sich geschart hat, um dem damals immer stärker werdenden Führungsanspruch der römischen Kirche durch poetische Repräsentation und literarische Verherrlichung entschieden entgegenzutreten (vgl. Haye 2009, 36). Die starke Stellung und die besondere Würde Wilhelms als Erzbischof von Reims war zudem dadurch bedingt, dass seit Beginn des 12. Jahrhunderts den dortigen Bischöfen die bedeutsame Aufgabe und die große Ehre der Königsweihe – man denke dabei an die Krönung Philipps II. zum Mitregenten durch Wilhelm im Jahre 1179 – oblag (vgl. Haye 2009, 36).



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Die Bildung des Wilhelm von Blois (19–23) 19–23 quem partu effusum gremio suscepit alendum  | phylosophia suo totumque Elycona propinans | doctrinae sacram patefecit pectoris aulam, | excoctumque diu studii fornace, fugata | rerum nube, dedit causas penetrare latentes: Nach der königlichen Abstammung und den einzelnen Stationen von Wilhelms beeindruckender Karriere bringt Walter im letzten Teil seiner Charakterisierung dessen herausragende, bereits seit frühestem Kindesalter auf den Weg gebrachte Bildung zur Sprache, die er zu Beginn seines Kirchendienstes wohl in erster Linie von dem Zisterzienserabt und frühscholastischen Mystiker Bernhard von Clairveaux erhalten hatte, der mit seinen eindringlichen Kreuzzugspredigten in ganz Europa immer wieder für Aufruhr gesorgt hat. Interessanterweise handelt es sich bei der Unterweisung in allen Künsten des Helikon um eine klassisch-antike Bildung, die von Walter als diejenige Voraussetzung angesprochen wird, die es seinem Gönner ermöglicht, hinter das Wesen der Dinge zu schauen und versteckte Zusammenhänge zu entdecken (zu Wilhelms Bildung vgl. auch Komm. X, 461–469). Damit dokumentiert Walter ungeachtet der christlichen Ausrichtung seines Werks den überaus hohen Stellenwert, den er als typischer Vertreter der Renaissance des 12. Jahrhunderts auch und gerade heidnischantiker Bildung beimisst (zur Renaissance des 12. Jahrhunderts vgl. Einleitung 1). Die seinem Gönner zugeschriebenen Fähigkeiten verweisen dabei unzweideutig auf die Alexandreis, die den gebildeten Leser mit zahlreichen intertextuellen Bezügen und gezielten zeitgenössischen Anspielungen intellektuell herauszufordern versteht und damit im gebildeten Erzbischof den idealen Leser findet (vgl. Rombach 2008, 92). Ohnehin ist die Alexandreis nicht an ein Laienpublikum gerichtet, die lectores huius opusculi – wie sie Walter im Prolog zu seinem Epos selbst anspricht – sind nur dann in der Lage, sein carmen heroicum entsprechend zu würdigen, wenn sie die dafür notwendigen Bildungsvoraussetzungen mitbringen.

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Nicht von ungefähr war Wilhelm in seinen frühen Jahren daher auch selbst schriftstellerisch tätig gewesen und hatte eine unter dem Titel De Flaura et Marco bekannt gewordene Tragödie und mit De pulice et musca auch ein scherzhaftes Gedicht über einen Floh und eine Fliege verfasst, die sich gegenseitig ihrer Untaten am Menschen rühmen. Beide Werke haben die Jahrhunderte nicht überdauert, werden jedoch im Briefwechsel Wilhelms mit seinem Bruder Pierre von Blois erwähnt (vgl. Manitius 1931, 1021). Erhalten ist dagegen eine unter dem Titel Alda veröffentlichte Komödie Wilhelms, die in ihrem Stoff auf Menander zurückgeht und in ihrer Anlage und ihrem Charakter weiteren griechischen Vorbildern folgt (vgl. Fischl 2016, 151–154). Christlicher Musenanruf und Widmung an Wilhelm von Blois (24–26) 24–26 Huc ades et mecum pelago decurre patenti,  | funde sacros fontes et crinibus imprime laurum | ascribique tibi nostram paciare camenam: Die mit den Worten huc ades et mecum pelago decurre patenti an die Adresse Wilhelms gerichtete Bitte um Beistand wird getragen von einer Metapher für die Größe der übernommenen Aufgabe, die bereits Vergil in seinen Georgica bezogen auf seinen Gönner Maecenas auf ganz ähnliche Weise formuliert hat (vgl. Verg., Georg. II, 39–41: tuque ades inceptumque una decurre la­ borem, | o decus, o famae merito pars maxima nostrae, | Maecenas, pelagoque volans da vela patenti). Dem zu Anfang des Prooemiums nach antikem Vorbild gestalteten Musenanruf lässt Walter am Ende des Prooemiums mit den Worten funde sacros fontes abschließend nun auch die an Wilhelm gerichtete Bitte um den christlichen Segen für sein Epos folgen. Damit weist er – formal gestützt durch die dadurch entstehende Rahmenbildung – ganz bewusst antike weltliche Bildung und christlichen Geist als mehr oder weniger gleichberech-



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tigte Inspirationsquellen für sein Epos aus. ⇔ In der Tat bietet der Text der Alexandreis nicht nur eine häufig an antiken Vorbildern orientierte Episierung des Alexanderstoffes, sondern verschafft immer wieder auch zeitgenössischen und damit dem christlichen Weltbild gehorchenden Moralvorstellungen Gehör (vgl. Glock 2000, 273). Besonders eindrücklich ist dieser Sachverhalt innerhalb des gesamten Epos an der Charakterisierung Alexanders auszumachen, die als maßgebliche Grundlage für dessen moralische Bewertung neben antik-paganen Vorstellungen insbesondere nach dem heilsgeschichtlich legitimierten Perserfeldzug immer wieder auch christliche Maßstäbe heranzieht. ⇔ Mit der Zueignung seines epischen Gedichts an seinen Gönner Wilhelm – verbunden mit der Bitte um Dichterlohn – endet das Prooemium der Alexandreis. Beginn der Erzählung (27–58) Klage und Zornesausbruch Alexanders (27–39) 27–39 Nondum prodierat naturae plana tenellis … exprimit iram … Persarum dampnare iugum, profugique tyranni  | cornipedem lentum celeri prevertere cursu | confusos turbare duces, | puerumque leonis … in bello simulare virum?: Mit dem Hinweis auf Alexanders gerade beginnenden Bartwuchs schildert Walter den erst zwölfjährigen makedonischen Kronprinzen, wie er voller Tatendurst innerlich darüber klagt, dass die Pelasger, ein ursprünglich in Thessalien und Epirus beheimatetes und von dort aus auch nach Kleinasien ausgewandertes Volk, an der dortigen Westküste unter Darius’ Herrschaft stehen und der persische König durch Allianzen mit verschiedenen griechischen Städten sogar politischen Druck auf Makedonien auszuüben versucht. ⇔ Walter bezeichnet hier irrtümlich oder vielleicht auch in bewusster Übertragung Darius bereits als persischen König, der jedoch wie Alexander selbst erst im Jahre 336 v. Chr. an

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die Macht kam. In der erzählten Zeit des Epos hatte eigentlich noch Artaxerxes III. (358–338 v. Chr.) den persischen Thron inne. ⇔ Im direkten Anschluss an den inneren Monolog folgt eine Rede Alexanders, in der er seinem Zorn freien Lauf lässt und Klage darüber führt, dass er als Zwölfjähriger noch nicht aktiv in den Kampf gegen die Perser eingreifen darf. ⇔ Die Perser waren, wie die Bemerkung Persarum dampnare iugum nahelegt, seit den Perserkriegen im 5. Jahrhundert v. Chr. eine ständige Bedrohung für die griechischen Stadtstaaten und insbesondere auch für ihre Verbündeten an der Westküste Kleinasiens, auch wenn man dabei nicht übersehen darf, dass beim allmählichen Aufstieg Makedoniens zur Hegemonialmacht in Griechenland einzelne Stadtstaaten immer wieder auch mit den Persern Bündnisse schlossen, um sich damit vom stetig zunehmenden makedonischen Druck zu befreien. ⇔ Mit den Worten profugi tyranni | cornipedem lentum celeri prevertere cursu fügt Walter einen Vorverweis auf die Schlacht bei Issus ein, in der Darius ängstlich die Flucht ergreift, da er sich von dem mitten in die Reihen der Perser vorwärts drängenden Alexander persönlich bedroht fühlt (vgl. Komm. III, 189–202). ⇔ Die mit puerumque leonis  | vexillo einhergehende Bezugnahme auf einen Löwen ist von Walter an dieser Stelle nicht zufällig gewählt, da sie einerseits einen willkommenen charakterlichen Gegensatz zwischen dem ängstlich agierenden Darius und dem forsch voranstürmenden Alexander auszudrücken vermag, andererseits beim gebildeten Leser die in der Literatur häufig anzutreffende Identifikation Alexanders mit einem Löwen in Erinnerung ruft. Beispielsweise berichtet Plutarch, dass Olympias und Philipp durch Träume beunruhigt den Seher Aristander aufgesucht haben, der diese dahingehend ausgelegt hat, dass ihnen die Geburt eines mutigen und löwengleichen Kindes bevorstehe (vgl. Plut., Αλέξανδρος II, 3: Ἀρίστανδρος ὁ Τελμησσεὺς κύειν ἔφη τὴν ἄνθρωπον· οὐθὲν γὰρ ἀποσφραγίζεσθαι τῶν κενῶν· καὶ κύειν παῖδα θυμοειδῆ καὶ λεοντώδη τὴν φύσιν). Auch Alexanders Frisur wird in der antiken Literatur nicht selten als löwenhaft beschrieben. Darüber hinaus



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leitet das Bild des Löwen meisterhaft über zu dem in den folgenden Versen erwähnten Herkules, der bekanntermaßen zumeist mit dem Fell des von ihm selbst erlegten Nemeischen Löwen dargestellt wird. Alexander und Herkules (39–41) 39–41 Verumne dracones  | Alcydem puerum compressis faucibus olim | in cunis domuisse duos?: Das Beispiel des jungen Herkules erfüllt an dieser Stelle einen doppelten Zweck: Zum einen ist Alexander damit in der Lage, sein noch jugendliches Alter zu relativieren, da der Alkide bekanntermaßen bereits als Säugling zwei von Hera gesandte Schlangen erwürgt hatte, zum anderen gibt es Walter die Gelegenheit, schon zu Beginn der Alexandreis das neben Achilles wichtigste Vorbild des späteren makedonischen Königs in die Eposhandlung einzuführen (vgl. Komm. I, C 10). Alexander und Aristoteles (41–46) 41–46 Ergo nisi magni | nomen Aristotilis pueriles terreat annos, | haut dubitem similes ordiri fortiter actus: | Adde, quod etati duoden­ ni corpore parvo | maior inesse solet virtus viridisque iuventae | ar­ dua vis supplere moras: Mit Alexanders Bemerkung, dass allein Aristoteles ihn davon abzuhalten vermag, auf der Stelle in den Krieg zu ziehen, spielt Walter auch hier geschickt mit den Assoziationen des gebildeten Lesers, der sich dessen bewusst ist, dass der makedonische Jüngling überhaupt erst durch seinen berühmten Erzieher und Lehrer mit Homers Epen und den darin geschilderten Heldentaten des Herkules in Berührung gekommen ist, und verknüpft damit beide Aussagen Alexanders gekonnt miteinander. Zugleich bereitet Walter damit auch schon den wenig später in Szene gesetzten Auftritt des berühmten Philosophen vor, der seinem Schützling in einer

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langen Rede das richtige Verhalten eines guten Königs und erfolgreichen Feldherrn vermitteln wird. Alexander und Nektanabus (46–48) 46–48 Semperne putabor  | Nectanabi proles? Ut degener arguar, absit!» … perorat: Alexanders Rede, in der er neben der bereits angesprochenen Bezugnahme auf Herkules ein weiteres Mal den Versuch unternimmt, die Vorzüge seines Jugendalters herauszustreichen, mündet in der von den Worten Semperne putabor | Nectanabi proles? getragenen Klage, ob er etwa für alle Zeiten als Nektanabus’ Spross gelten solle und schließt mit der eindringlichen Warnung – ut degener arguar, absit –, ihn als entartet zu beschimpfen (vgl. Alex. III, 167; vgl. auch Komm. III, 140–188). ⇔ Damit geht Walter auf eine ursprünglich aus Ägypten stammende und im Alexanderroman verarbeitete Erzählung über den letzten einheimischen Pharao Nektanabus III. ein, der vor den Persern nach Makedonien geflohen war und sich dort als Orakelpriester niedergelassen hatte. Von Philipps Gattin um Rat gefragt, soll er Olympias prophezeit haben, dass sie vom Gott Hammon einen Sohn empfangen werde, der sich an ihrem rücksichtslosen Ehemann für die zahlreich erlittenen Missachtungen rächen werde. Daraufhin zeugte Nektanabus in Gestalt des Gottes Hammon mit Olympias Alexander, der bei seinem späteren Einzug in Ägypten daher weniger als Eroberer, sondern vielmehr als Befreier vom persischen Joch gefeiert werden sollte. Möglicherweise ist in dieser Erzählung eine Reaktion der Ägypter auf den Sturz der letzten einheimischen Dynastie durch die Perser bzw. durch Alexander zu sehen, mit dem nach der persischen Fremdherrschaft wieder eine gewisse Kontinuität zu den früheren Pharaonen und zur eigenen Geschichte hergestellt werden konnte. ⇔ Die Szene schließt mit einem in sich gekehrten Alexander, der wegen der im Raum stehenden Gerüchte hinsichtlich



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seiner möglicherweise illegitimen Abstammung innerlich nach wie vor ungehalten ist. Alexanders Ungeduld (49–58) 49–58 Qualiter Hyrcanis si forte leunculus arvis … cui nondum totos descendit robur in armos, | nec pede firmus adhuc nec dentibus asper aduncis | palpitat … Sic puer effrenus totus bachatur in arma, | in­ validusque manu gerit alto corde leonem, | et preceps teneros audacia prevenit annos: Walter greift an dieser Stelle auf das bereits zu Beginn von Alexanders Klage bemühte Löwenmotiv zurück, um den vor Ungeduld mit den Füßen scharrenden makedonischen Jüngling anschaulich zu beschreiben. ⇔ Mit dem endponderierten arvis bestehen hinsichtlich der Wortwahl und der Wortstellung auffällige Parallelen zu Löwenvergleichen bei Vergil und Lucan, auch wenn Walter anders als die beiden antiken Autoren den Erfordernissen seiner Darstellung entsprechend das Bild eines noch nicht ausgewachsenen Löwen bemüht (vgl. Verg., Aen. XII, 4: Poenorum qualis in arvis; vgl. auch Luc., Phars. I, 205: sicut squalentibus arvis). Eine diesbezügliche Übereinstimmung besteht auch mit dem spätantiken Dichter Claudian, der im Panegyricus für Kaiser Honorius zum dritten Konsulat mit dem Bild eines jungen Löwen versucht, den in der entsprechenden Szene gerade einmal zehnjährigen Honorius davon abzuhalten, schon in so jungen Jahren in den Krieg zu ziehen (vgl. Claud., Paneg. de tertio cons. Hon. Aug., 73–82: Quae tibi tum Martis rabies quantusque sequendi | ardor erat? Quanto flagrabant pectora voto | optatas audire tubas campique cruenta | tempestate frui truncisque inmergere plantas? | Ut leo, quem fulvae matris spelunca tegebat  | uberibus solitum pasci, cum crescere sensit  | ungue pedes et terga iubis et dentibus ora, | iam negat imbelles epulas et rupe relic­ ta | Gaetulo comes ire patri stabulisque minari | aestuat et celsi tabo sordere iuvenci). Walters Bezugnahme auf Claudian wird noch deut-

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licher, wenn man den Panegyricus für Kaiser Honorius auf das vierte Konsulat hinzuzieht, wo Theodosius den jungen und kriegsbereiten Honorius vertröstet und ihn sogar mit Alexander vergleicht, der schon befürchtet hatte, dass ihm die Eroberungen seines Vaters Philipp keinen Raum mehr für eigene Heldentaten übriglasse (vgl. Claud., Paneg. de quarto cons. Hon. Aug., 8, 369–377: Delibat dul­ cia nati | oscula miratusque refert: »Laudanda petisti; | sed festinus amor. Veniet robustior aetas; | ne propera. Necdum decimas emensus aristas | adgrederis metuenda viris: vestigia magnae | indolis agnosco. Fertur Pellaeus, Eoum | qui domuit Porum, cum prospera saepe Phi­ lippi | audiret, laetos inter flevisse sodales | nil sibi vincendum patris virtute relinqui; vgl. auch Zwierlein 2004, 619–621). Hinführung zur Aristoteles-Rede (59–81) Aristoteles als Gelehrter (59–71) 59–71 Forte macer pallens incompto crine magister … ubi nuper cor­ pore toto | perfecto logyces pugiles armarat elencos ... interior sibi sumit homo fomenta laboris: Walters Hinweis auf das von Erschöpfung und Magerkeit geprägte und ungepflegte äußere Erscheinungsbild des Aristoteles in Verbindung mit dem gerade erfolgten Abschluss der Arbeiten zu den in lateinischer Sprache erst wieder Mitte des 12. Jahrhunderts verfügbaren logischen Schriften des antiken Philosophen – corpore toto | perfecto logyces – wirkt auf den ersten Blick auf seltsame Weise isoliert und scheint dabei ohne einen inneren Zusammenhang mit der im weiteren Textverlauf wiedergegebenen Rede des Stagiriten zu stehen. Stellt man jedoch in Rechnung, dass Walter in seinen moralisch-satirischen Gedichten immer wieder auch Klage über die von Mühsal und fehlender Anerkennung geprägte Existenz des mittelalterlichen Gelehrten und Intellektuellen führt, scheint es nicht abwegig, dass es sich dabei um eine geschickt inszenierte und



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an den zeitgenössischen Leser gerichtete Gesellschaftskritik handelt (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). ⇔ Die erst von byzantinischen Gelehrten in sechs Bücher eingeteilten und als Organon bezeichneten logischen Schriften des Aristoteles enthalten im sechsten und letzten Buch die sogenannten sophistici elenchi, in denen der antike Philosoph die verschiedenen sophistischen Trugschlüsse mit schlagkräftigen Argumenten – pugiles armarat elencos – widerlegt. Alexanders erneute Klage (72–81) 72–81 Ergo ubi flammato vidit Philippida vultu … Ille sui reverens faciem monitoris ocellos | supplice deiecit vultu … atque … vigili bibit aure magistrum: Nach der Charakterisierung des Aristoteles kehrt Walter in seiner Darstellung zu Alexander zurück und findet damit wieder den Anschluss an den oben beschriebenen Löwenvergleich. Aristoteles fordert seinen Schüler auf, ihm die Gründe für dessen aufgewühlten Gemütszustand mitzuteilen. Voller Respekt und mit großer Ehrfurcht wagt es Alexander, seinem mit monitor bezeichneten Lehrer von der Bedrohung der Heimat durch Darius und der altersbedingten Schwäche seines Vaters Philipp zu berichten. ⇔ Diese Hinführung zur Aristoteles-Rede endet damit, dass Alexander, von Walter mit der Formulierung vigili bibit aure anschaulich zum Ausdruck gebracht, sich aufmerksam seinem Lehrer zuwendet, der ihm nun in einer langen Rede nützliche Ratschläge über das richtige Verhalten eines Feldherrn und Königs vermittelt.

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KOmmentar Die Aristoteles-Rede (82–183) Definition des aristotelischen Tugendbegriffs (82–104)

Entfaltung des Tugendpotenzials durch praktische Übung (82–84)

82–84 «Indue mente virum, Macedo puer, arma capesce.  | Mate­ riam virtutis habes, rem profer in actum;  | Quoque modo id possis, aurem huc adverte, docebo: Der originären aristotelischen Tugendlehre folgend – als Quelle lässt sich an der vorliegenden Stelle ebenso wie bei den noch folgenden Feldherrntugenden die Ethica Vetus des Burgundio von Pisa heranziehen – kann sich das von Walter angesprochene Tugendpotenzial nur durch praktische Übung herausbilden und wirksam in einer konkreten Charaktertugend entfalten (vgl. Gartner 2018, 37; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3). ⇔ Hinsichtlich der hier von Aristoteles an seinen Schüler Alexander gerichteten Aufforderung, von seinem grundsätzlich vorhandenen Tugendpotenzial im Kontext des Kriegs Gebrauch zu machen, muss in der Übersetzung freilich – anders als Streckenbach dies tut – beachtet werden, dass der Stagirit seine Anweisungen nicht auf die Gegenwart des zwölfjährigen Jungen bezieht, sondern auf denjenigen Zeitpunkt anspielt, an dem dieser als junger Mann von seinem tugendhaften Charakter geleitet diesen Aufgaben auch tatsächlich gewachsen sein wird (vgl. Streckenbach 1990, 31). Sklaven von Natur aus (85–91)

85–91 Consultor procerum servos contempne bilingues  | et nequam nec, quos humiles natura iacere | precepit, exalta. Nam qui pluviali­ bus undis | intumuit torrens, fluit acrior amne perhenni. | Sic partis opibus et honoris culmine servus | in dominum surgens, truculentior aspide surda | obturat precibus aures, mansuescere nescit: Im Folgenden richtet Aristoteles die Aufmerksamkeit seines Schülers auf den



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Umstand, dass die Tugendhaftigkeit eines Menschen grundsätzlich nicht vom gesellschaftlichen Stand oder von der Herkunft einer Person abhängig ist, sondern ausschließlich auf einer von edler Gesinnung getragenen inneren Haltung beruht. In einem ersten Schritt erteilt Aristoteles seinem Schüler dabei den nützlichen Rat, charakterlich weniger befähigte und minder vernunftbegabte Personen ungeachtet vorhandener Reichtümer oder einer möglicherweise angesehenen Herkunft nicht mit Führungspositionen zu betrauen, da sie als Sklaven von Natur aus dafür keine Eignung besitzen. Derartige Charaktere besitzen nicht die Fähigkeit, von vernünftigen Gründen geleitet anderen Menschen gegenüber mit Milde zu begegnen, sondern setzen bei der ersten Gelegenheit mit großer Rücksichtslosigkeit lediglich ihre eigenen Interessen durch. ⇔ Da der Text der von Walter ansonsten intensiv genutzten Ethica Vetus für diesen Passus nicht als Grundlage gedient haben kann – mit diesem Thema setzt sich der antike Philosoph nämlich vornehmlich in der zur Zeit Walters noch nicht verfügbaren Politik auseinander –, dürfte Walter als Vorlage wohl die von Claudian verfasste Invektive gegen Eutropius, seines Zeichens oberster Kammerherr am Hof in Konstantinopel, herangezogen haben, wo die angesprochene Problematik auf vergleichbare Weise behandelt wird (vgl. Claud., In Eutrop. I, 181–186: Asperius nihil est humili cum surgit in altum: | cuncta ferit dum cuncta timet, desaevit in omnes | ut se posse putent, nec belua taetrior ulla | quam servi rabies in libera terga furentis; | agnoscit gemitus et poenae parcere nescit, | quam subiit, dominique memor, quem verberat, odit; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 3). Charakterstarke Personen (92–104)

92–104 Non tamen id prohibet rationis calculus, ut non  | exaltare velis, siquos insignit honestas, | quos morum sublimat apex licet am­ pla facultas  | et patriae desit et gloria sanguinis alti … Virtus non

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queritur extra. | Non eget exterius, qui moribus intus habundat. | No­ bilitas sola est, animum que moribus ornat: In einem zweiten Schritt stellt Aristoteles den charakterlich weniger befähigten und minder vernunftbegabten sklavischen Naturen kontrastierend diejenigen Personen gegenüber, die sich auch ohne finanzielle Mittel oder ohne eine angesehene Herkunft durch inneren Reichtum und charakterliche Größe auszeichnen. In diesem Kontext hebt der Text insbesondere den schädlichen Einfluss von Reichtümern auf den Charakter des Menschen hervor. Denn allein die von allen äußeren Gütern unabhängige edle Gesinnung verleiht dem Menschen Charakterstärke und befähigt diesen zur Übernahme von Führungspositionen. ⇔ Auch an dieser Stelle scheint die Invektive gegen Eutropius Pate gestanden zu haben, in welchem Claudian jenen Personen die Befähigung zur Herrschaft abspricht, die in ihrem Leben nicht auch die Schattenseiten des Daseins erfahren und diese als Beweis ihrer Tugendhaftigkeit ohne zu klagen ertragen haben (vgl. Claud., In Eutrop. I, 142–144: qui servi non est admissus in usum, | suscipitur regnis, et quem privata ministrum | dedignata domus, moderantem sustinet aula; vgl. auch Claud., Paneg. de quarto cons. Hon. Aug., 220: virtute decet, non sanguine niti; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 3). Die Einzeltugenden (105–183) Die Tugend der Gerechtigkeit (105–114)

105–114 Si lis inciderit te iudice, dirige libram | iudicii … Cum semel obtinuit viciorum mater in aula | pestis avaritiae, que sola incarcerat omnes | virtutum species, spreto moderamine iuris | curritur in faci­ nus, nec leges curia curat: Nach der grundsätzlichen Definition des Tugendbegriffs wendet sich Aristoteles den für einen erfolgreichen Feldherrn und König unabdingbaren Einzeltugenden zu und beginnt dabei mit der allen Tugenden übergeordneten Tugend der Ge­



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rechtigkeit, die in Walters Darstellung insbesondere Alexanders Tätigkeit als Richter berührt. Denn als oberster Kriegsherr oder auch als König muss er jederzeit in der Lage sein, aufkommenden Streit zu schlichten und dabei mit Augenmaß und einer möglichst objektiven Einschätzung der jeweiligen Situation ein gerechtes Urteil zu fällen. Bei der Urteilsfindung haben eigene Sympathien oder Vorbehalte zurückzustehen. Insbesondere sind Geschenke, die in der Lage sind, das eigene Urteilsvermögen zu trüben, grundsätzlich zu missbilligen. Ebenso darf das Ansehen einer Person vor Gericht keine Rolle spielen. Die Autorität des Richters hängt im Kern davon ab, dass das Urteil von der großen Mehrheit der Beteiligten als gerecht empfunden werden muss, da sich der Richter ansonsten schnell dem Vorwurf der Bestechlichkeit ausgesetzt sieht. Die grundlegende Bedeutung der Gerechtigkeit zeigt sich auch darin, dass bereits durch ein einmaliges Versagen eines habgierigen Richters das Recht seine Bedeutung verliert und somit kein Vertrauen mehr in die richterliche Gewalt besteht. Mit der Formulierung nec leges curia curat bezieht sich Walter dabei auf der Erzählebene der Alexandreis vordergründig auf den Kreis der Vertrauten und Berater Alexanders, auf das 12. Jahrhundert übertragen kritisiert er jedoch im selben Augenblick im Hintergrund auch die von Korruption, Neid und Missgunst geprägten Zustände innerhalb der römischen Kurie (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Zugleich gelingt es Walter damit, die grundlegende Bedeutung der Tugend der Ge­ rechtigkeit für jede Gruppierung, Gesellschaft oder jeden Staat unabhängig vom jeweiligen Jahrhundert herauszustellen. ⇔ Walters Ausführungen zur Tugend der Gerechtigkeit können nur bedingt mit der Ethica Vetus in Verbindung gebracht werden, da diese dort im Kontext der Einzeltugenden mit nur wenigen Worten erwähnt wird. Naheliegend ist auch hier eine Orientierung an Claudian, der in seinem Panegyricus für Mallius Theodorus zum Konsulatsantritt eine längere Passage integriert, innerhalb derer die Göttin Iustitia Theodorus zur erneuten Übernahme des Konsulats auffordert und

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dabei auch dessen Gerechtigkeitssinn rühmt (vgl. Claud., Paneg. dict. Manlio Theodoro cons., 113–197; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 3). Die Tugend der angemessenen Zürnkraft (115)

115 Parce humili, facilis oranti, frange superbum: Im Kontext der Beschreibung der zentralen Feldherrntugenden beginnt Walter mit der Tugend der angemessenen Zürnkraft – in der Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff πρᾳότης und in der Ethica Vetus mit der lateinischen Bezeichnung humilitas wiedergegeben –, die er mit nur einem einzigen, aber auch einzigartigen und mit einer metrischen Anomalie versehenen Vers abbildet (vgl. Gartner 2018, 43, Anm. 14; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 3; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I). Der aus drei Teilen bestehende Vers gibt als erstrebenswerte Mitte des Zornesaffekts die auch in der Ethica Vetus wiedergegebene aristotelische Tugend der angemessenen Zürnkraft wieder und bezeichnet die Eigenschaft eines Mannes, der sich von der Vernunft geleitet weder durch ein Übermaß an Zorn aus dem bloßen Affekt heraus zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lässt noch sich durch einen Mangel an Zorn zu gar keiner emotionalen Regung fähig zeigt. Beide ihrem Wesen nach gegensätzlichen Reaktionen, auf der einen Seite die sich in blinder Wut artikulierende, im Deutschen mit dem Begriff Jähzorn wiedergegebene Zornmütigkeit, auf der anderen Seite die sich in apathischem Phlegma manifestierende Zornlosigkeit, werden im Epos Walters in Übereinstimmung mit der Mesotes-Lehre des Aristoteles grundsätzlich als zu vermeidende Laster angesehen und stellen demzufolge für einen tugendhaften und moralisch handelnden Mann keine Handlungsoption dar (vgl. Gartner 2018, 43–45). Die von der Vernunft getragenen Handlungsmöglichkeiten inner-



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halb der aristotelischen Tugend der angemessenen Zürnkraft sind mit der Verschonung eines am Boden liegenden Gegners jedoch nicht erschöpft, sondern schließen – und dieser Sachverhalt ist für das Verständnis der aristotelischen Tugend der angemessenen Zürn­ kraft von zentraler Bedeutung – auch und gerade die Vernichtung eines hochmütigen Feindes mit ein. ⇔ Mit dem Ausdruck Parce hu­ mili, facilis oranti, frange superbum fügt Walter in seinem Epos in imitativer und aemulativer Absicht zudem eine Reminiszenz an das mit den Worten parcere subiectis et debellare superbos endende Römerprogramm der Aeneis Vergils ein. Gartner (2018) 51 beschreibt diesen Sachverhalt auf prägnante Weise wie folgt: »Während Vergil seinem Protagonisten Aeneas mit den Worten parcere subiectis et debellare superbos als moralische Richtschnur […] lediglich eine starre Verhaltensregel ohne eine darüber hinausgehende Reflexion verordnet, gibt Walter mit dem facilis oranti seinem Protagonisten die Möglichkeit an die Hand, jenseits moralischer Imperative (parce humili, frange superbum) aus der jeweiligen Situation heraus eine eigene, autonome Entscheidung zu treffen. Damit emanzipiert Walter seinen Helden und verschafft ihm mit seinem gegenüber Vergils Römerprogramm erweiterten Alexanderprogramm einen für den jeweils konkreten Entscheidungsprozess notwendigen Spielraum, innerhalb dessen im Unterschied zu den regeldogmatischen und damit starren Vorgaben Vergils weniger die Handlung selbst als vielmehr die Tugendhaftigkeit des Protagonisten – und dies ist gleichbedeutend mit dem Schritt von der reinen Moral zur Moralität – im Vordergrund steht.« ⇔ Insofern verarbeitet Walter im Kontext der Tugend der angemessenen Zürnkraft nicht nur aristotelisches Gedankengut, sondern begibt sich auf poetologischer Ebene auch in einen aemulativen Wettstreit mit seinem dichterischen Vorbild Vergil (zu der von Walter im Kontext der angemessenen Zürnkraft aemulativ in Szene gesetzten Porus-Episode vgl. Komm. IX, 291–325; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3).

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KOmmentar Die Tugend der Tapferkeit (116–143)

Auch hinsichtlich der Tugend der Tapferkeit übernimmt Walter die in der Ethica Vetus dargelegten aristotelischen Vorstellungen und beschreibt die als erstrebenswerte Mitte im Gegenstandsbereich der Furcht bzw. des Mutes verstandene fortitudo – in der Nikomachi­ schen Ethik mit dem griechischen Begriff ἀνδρεία wiedergegeben – als die Eigenschaft eines Mannes, der von der Vernunft geleitet weder zu sehr der Furcht nachgibt noch umgekehrt zu großen Mut zeigt. Beide ihrem Wesen nach gegensätzlichen Reaktionen oder Verhaltensweisen, auf der einen Seite die sich in übersteigerter Furcht artikulierende Feigheit, auf der anderen Seite die sich in übertriebenem Mut manifestierende Tollkühnheit, werden entsprechend der Mesotes-Lehre des Aristoteles im Epos Walters grundsätzlich als zu vermeidende Laster angesehen und stellen demzufolge keine Handlungsoption für einen tugendhaften und moralisch handelnden Mann dar (vgl. Gartner 2018, 54–60; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3). Schnelligkeit und Entschlossenheit (116–117)

116–117 Castra move, turmas instaura, transfer in hostem. | Grande aliquid si velle tenes, et posse tenebis: Mit der asyndetischen Reihung der aus drei Teilen bestehenden Aufforderung, den Feind mit einem gut organisierten Heer anzugreifen – castra move, turmas instaura, transfer in hostem –, führt Walter dem Leser rhetorisch geschickt gleich zu Beginn seiner Ausführungen über die aristotelische Tugend der Tapferkeit als entscheidende Kriterien für den Kriegserfolg die Schnelligkeit und die Entschlossenheit eines Feldherrn vor Augen. Beide Eigenschaften sind dabei Ausdruck der unbändigen Willenskraft eines Feldherrn, der den Lauf der Dinge nicht einfach dem Zufall überlässt, sondern das Geschehen aktiv gestaltend in die Hand nimmt. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich dann auch große Vorhaben verwirklichen.



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Überzeugungskraft (118–127)

118–127 Si conferre manum … pugnantem precibus monituque minis­ que tonantem … dum languida terror | agmina prosternit … si gravis hortatu preceptor inebriat aures, | se timor absentat, et sic formidine mersa | irruit in ferrum monitis effrena iuventus: Ein weiterer Aspekt innerhalb der Tugend der Tapferkeit stellt die Überzeugungs­ kraft eines Feldherrn dar. Ungeachtet der eigenen Gefühlslage muss ein Feldherr mit seinem Verhalten in der Lage sein, die Soldaten mit Bitten zum Kampf zu ermuntern oder diese nötigenfalls auch mit Mahnungen dazu antreiben. Unbedingte Voraussetzung dafür ist das Motivationstalent eines Feldherrn, dem es durch die emotionale Nähe zu seinen Soldaten gelingen muss, das bei diesen möglicherweise nicht in ausreichendem Maße vorhandene Selbstbewusstsein zu stärken und die von Ängsten geplagte Jugend für den Einsatz im Krieg zu gewinnen. Vorbildfunktion (128–132)

128–132 Hostibus ante alios primus fugientibus insta … ultimus in­ stando fugias, videantque morantem, | indecoresque fuga pudeat sine rege reverti: Auch die Vorbildfunktion eines Feldherrn trägt in entscheidendem Maße zum Erfolg in der Schlacht bei. Von großer Bedeutung ist es in diesem Kontext, als erster den Feind zu verfolgen und als letzter das Schlachtfeld zu verlassen, auch wenn der Feind möglicherweise die eigenen Reihen zum Rückzug zwingen sollte. Die eigenen Soldaten sollen es durch das leuchtende Vorbild ihres Anführers beeindruckt bereuen, vor diesem den Rückzug angetreten zu haben. Strategisches Vermögen (133–136)

133–136 Interea metire oculis, quot milibus instent … nec te terruerit numerus: An dieser Stelle behandelt Walter das strategische Vermö­ gen eines Feldherrn, der durch ebenso kluge wie kühle Berechnung – treffend mit dem Ausdruck metire oculis umschrieben – die Vor-

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aussetzungen für den militärischen Erfolg schafft und sich mit einer überlegenen taktischen Ausrichtung auch einem zahlenmäßig überlegenen feindlichen Heer mit Zuversicht stellen kann. Natürlich nimmt Walter damit Bezug auf Alexanders beinahe aussichtsloses Unterfangen, einen übermächtigen Feind wie die Perser besiegen zu wollen. Handlungsschnelligkeit (136–143)

136–143 Si molliter illos | videris instantes, rue primus in arma se­ quentum, | primus equum verte, pressoque relabere freno … Vix liceat victis victori offerre tryumphum: Nach den strategischen Fähigkeiten im Vorfeld eines Kampfes thematisiert Walter im Folgenden die situationsbedingte Flexibilität bzw. die Handlungsschnelligkeit eines Feldherrn, der sich im Verlauf einer Schlacht auf schnell ändernde Umstände einzustellen weiß. Die als Hysteron-Proteron gestaltete, aus drei Teilen bestehende Aufforderung rückt nicht nur denjenigen Teil sprachlich eng an die zaghaft agierenden Feinde heran, der mit der konkreten Feindberührung in unmittelbarem Zusammenhang steht, sondern unterstreicht mit der asyndetischen Reihung zudem die insgesamt herausragende Handlungsschnelligkeit eines Feldherrn (zum Hysteron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Damit führt Walter den Leser geschickt mitten in das Schlachtgetümmel hinein, in welchem ein Feldherr auf seine Kampfkraft, seine Erfahrung, seinen Mut und seine gute Beziehung zu den eigenen Soldaten vertrauen soll. ⇔ Mit den stilistisch durch eine dreifache Alliteration und einem Polyptoton gestalteten Worten vix liceat victis victori offerre tryumphum bringt Walter abschließend zum Ausdruck, dass in einem derartig grausamen Kampfgetümmel der eigenen Partei der Sieg nicht geschenkt wird, sondern immer nur das Ergebnis einer harten, von zahlreichen Opfern geprägten kriegerischen Auseinandersetzung sein kann.



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Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 1 (144–151)

144–151 Cumque vel intraris victis tradentibus urbem, | vel, si resti­ terint, portas perfregeris urbis, | thesauros aperi, plue donativa mani­ plis, | vulneribus crudis et corde tumentibus egro | muneris infundas oleum, gazisque reclusis | unge animos donis, aurique appone liquo­ rem. | Hec egrae menti poterit medicina mederi. | Sic inopi dives lar­ gusque medetur avaro: Ebenso wie bei den Tugenden der angemes­ senen Zürnkraft und der Tapferkeit übernimmt Walter auch bei der Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit die in der Ethica Vetus wiedergegebenen aristotelischen Vorstellungen und beschreibt die als erstrebenswerte Mitte im Gegenstandsbereich des Gebens und des Nehmens verstandene liberalitas – in der Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff ἐλευθεριότης wiedergegeben – als die Eigenschaft eines Mannes, der von der Vernunft geleitet weder zu verschwenderisch mit äußeren Gütern umgeht noch umgekehrt zuviel davon für sich selbst beansprucht (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I). Beide in ihrer Wesensart gegensätzlichen Verhaltensweisen, einerseits die sich in übersteigernder Lust am Geben artikulierende Verschwendungssucht, andererseits die sich in übertriebener Lust am Nehmen manifestierende Habgier, werden entsprechend der Mesotes-Lehre des Aristoteles grundsätzlich als zu vermeidende Laster angesehen und stellen demzufolge keine Handlungsoption für einen tugendhaften und moralisch handelnden Mann dar (vgl. Gartner 2018, 60–61; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3). ⇔ Im ersten Teil seiner Erörterungen über die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit schildert Walter in Fortsetzung der Ausführungen zur Tugend der Tapferkeit in acht Versen sehr konkret und in eindrücklichen Bildern die Situation nach einer Schlacht, bei der die Soldaten an den Rand ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit gehen mussten, um als Sieger hervorzu-

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gehen. In dieser insbesondere psychologisch schwierigen Lage ist es die Aufgabe eines Feldherrn, die körperlich verwundeten und auch mental angeschlagenen Soldaten mit Geschenken zu überhäufen, um sie – wie mit einer Arznei – von den negativen Begleiterscheinungen der Schlacht zu kurieren. Auf diese Weise ist ein Feldherr in der Lage, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse seiner Soldaten einzugehen und diese zu befriedigen. Die von der Vernunft getragenen Handlungsmöglichkeiten innerhalb der aristotelischen Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit sind mit dem großzügigen Verteilen von Geschenken jedoch nicht erschöpft, sondern schließen – und dieser Sachverhalt ist für das Verständnis der aristotelischen Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit von zentraler Bedeutung – auch die Verweigerung von Geschenken bzw. die Vernichtung bereits erbeuteter Reichtümer mit ein (vgl. Komm. VIII, 49–74; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Die Tugend der angemessenen Zuwendung (152–154)

152–154 At si forte animo res non respondeat alto, | copia si desit vel si minuatur acervus, | non minuatur amor, non desit copia mentis: Auch für die an der vorliegenden Stelle in vier Versen behandelte Tugend der angemessenen Zuwendung übernimmt Walter die in der Ethica Vetus wiedergegebenen aristotelischen Vorstellungen und beschreibt die als erstrebenswerte Mitte im Gegenstandbereich des menschlichen Miteinanders verstandene amicicia – in der Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff φιλíα wiedergegeben – als die Eigenschaft eines Mannes, der von der Vernunft geleitet weder durch eine übersteigerte Sucht nach Beliebtheit zu heuchlerischer Schmeichelei neigt noch sich aus einem Mangel an Kompromissbereitschaft achtlos und hartherzig zeigt (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch I). Die beiden gegensätzlichen Verhaltensweisen,



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auf der einen Seite die sich in einem übersteigerten Bedürfnis nach Anerkennung artikulierende Geneigtheit, auf der anderen Seite die sich in übertriebener Streitlust manifestierende Unverträglichkeit, werden entsprechend der Mesotes-Lehre des Aristoteles in Walters Epos grundsätzlich als zu vermeidende Laster angesehen und stellen demzufolge keine Handlungsoption für einen tugendhaften und moralisch handelnden Mann dar (vgl. Gartner 2018, 63–64; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3). Die Tugend der angemessenen Zuwendung spielt Walters Ausführungen zufolge insbesondere in Situationen eine Rolle, in denen es einem Feldherrn aus Mangel an äußeren Gütern wie Geld oder Schätzen – copia si desit – nicht möglich ist, seine Soldaten großzügig zu beschenken. Dann müssen das mit dem Begriff amor zum Ausdruck gebrachte gute Verhältnis zu seinen Männern und die mit copia mentis – die Wiederaufnahme des Begriffs copia ist von Walter freilich beabsichtigt – wiedergegebene innere, auf Zuwendung und Warmherzigkeit beruhende Zuwendung eines Feldherrn dieses Defizit ausgleichen, um eine möglicherweise aufkommende Unzufriedenheit unter den eigenen Leuten zu verhindern und bereits im Keim zu ersticken. Die Tugend der Wahrhaftigkeit (155)

155 Allice pollicitis promissaque tempore solve: Auf die Tugend der angemessenen Zuwendung lässt Walter die mit nur einem Vers behandelte Tugend der Wahrhaftigkeit folgen. Auch für diese Tugend übernimmt Walter die in der Ethica Vetus wiedergegebenen aristotelischen Vorstellungen und beschreibt die als erstrebenswerte Mitte im Gegenstandsbereich der Wahrheit verstandene veritas – in der Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff ἀλήθεια wiedergegeben – als die Eigenschaft eines Mannes, der von der Vernunft geleitet hinsichtlich seiner Person weder eine von falschen Hemmungen geprägte Zurückhaltung an den Tag legt noch zu angeberischer Übertreibung neigt. Die beiden gegensätzlichen Ver-

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haltensweisen, auf der einen Seite die sich in übertriebenem Understatement artikulierende Bescheidenheit, auf der anderen Seite die sich im übersteigerten Bedürfnis nach Selbstdarstellung manifestierende Überhöhung der eigenen Person, werden entsprechend der Mesotes-Lehre des Aristoteles in Walters Epos grundsätzlich als zu vermeidende Laster angesehen und stellen demzufolge keine Handlungsoption für einen tugendhaften und moralisch handelnden Mann dar (vgl. Gartner 2018, 64–65; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3). Folgt ein Feldherr dieser aristotelischen Maxime, wird er seine Versprechen auch einhalten können. Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 2 (156–163)

156–163 Munus enim mores confert, irretit avaros, | occultat vicium, genus auget, subicit hostem. | Non opus est vallo, quos dextera dapsilis ambit. … est dare pro muro et solidi muniminis instar. | Non murus, non arma ducem tutantur avarum: Im zweiten Teil seiner Betrachtungen zur Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit erörtert Walter erneut in acht Versen den allgemeinen Nutzen dieser Tugend für einen Feldherrn. Sie ist in der Lage, den Gehorsam der Soldaten zu festigen, auch habgierige Charaktere zu befriedigen und die eigene Anhängerschaft zu vergrößern. Walter zählt diese durch die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit ermöglichten Verhaltensweisen der Soldaten zu den entscheidenden Faktoren bei der Unterwerfung des Feindes. Abschließend kommt er zu der pointiert formulierten Feststellung, dass die angemessene Gebefreudigkeit eines Feldherrn einen besseren Schutz vor Feinden zu bieten vermag als die Mauern einer Stadt. Walter gliedert diese drei Tugenden dadurch, dass er mit den endponderierten, in diesem Kontext sozusagen als Warnhinweis dienenden Worten avaro und avaros nicht nur einen von der Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit gebildeten Rahmen um die beiden inneren Tugenden der angemessenen Zuwendung und der Wahrhaftigkeit herum komponiert, sondern mit dem Wort avarum



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auch die Erörterung der Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit beendet. ⇔ Mit dieser stilistisch ausgefeilten sprachlichen Einbettung der beiden inneren Tugenden in die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit bringt der Autor der Alexandreis zum Ausdruck, dass diese drei auf das Sozialverhalten eines Feldherrn abzielenden und dessen Fürsorgepflicht gegenüber seinen Soldaten betreffenden Tugenden in einem untrennbaren inneren Zusammenhang stehen und zwei Seiten ein- und derselben Medaille darstellen. ⇔ Darüber hinaus bildet im Kontext der Feldherrntugenden der aus den Tugenden der angemessenen Gebefreudigkeit, der angemessenen Zu­ wendung und der Wahrhaftigkeit bestehende Dreiklang zusammen mit der Tugend der angemessenen Zürnkraft eine innere kompositorische Klammer um die zentrale Tugend der Tapferkeit (vgl. die Einführung zu Buch I). Die Tugend der Besonnenheit (164–182)

164–182 Cetera quid moneam? … prodiga luxuries … Si Bacho Ve­ nerique vacas, qui cetera subdis, | sub iuga venisti … ebrietas. Rigidos enervant hec duo mores. | Parca voluptates sit eis explere voluntas, | qui leges hominum et mundi moderantur habenas … donec pertranseat ira, | nec meminisse velis odii post verbera: Im Anschluss an die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit kommt Walter auf die Tugend der Besonnenheit zu sprechen, die als Musterbeispiel ethischer Tugenden in allgemeiner Weise das rechte Maß zwischen affektivem Übermaß einerseits und Apathie andererseits beschreibt. ⇔ Wie die zu Beginn behandelte Tugend der Gerechtigkeit nimmt auch sie eine Sonderstellung unter den aristotelischen Tugenden ein und bildet innerhalb der Aristoteles-Rede gemeinsam mit der Tugend der Ge­ rechtigkeit eine weitere, über die Feldherrntugenden gespannte kompositorische Klammer (vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ In einem ersten Schritt thematisiert Walter wieder in enger Anlehnung an die Ethica Vetus mit der Genusssucht, dem sexuellen Verlangen und der

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Trunksucht zuerst diejenigen Laster, die der Tugend der Besonnen­ heit in besonderem Maße zuwiderlaufen und einen Feldherrn aufgrund ihrer ausgeprägten Dynamik und Intensität zugrunderichten können (zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3). Aus diesem Grund stellt es für einen Herrscher eine unabdingbare Voraussetzung dar, den genannten Lastern nicht die Führung über den eigenen Körper und den eigenen Geist zu überlassen. ⇔ In einem zweiten Schritt zeigt Walter, inwiefern die Tugend der Be­ sonnenheit ihre Wirkung auf die Tugend der Gerechtigkeit ausübt. Unter der von Gerechtigkeitssinn geprägten Herrschaft Alexanders soll die Göttin Astraea, die dereinst als letzte der Himmlischen von der frevelhaften Menschheit enttäuscht nach dem goldenen Zeitalter die Erde verlassen hatte, auf die Erde zurückkehren. Auch wenn die Bezugnahme auf diese Göttin im Kontext der Tugend der Ge­ rechtigkeit in der Literatur keine Seltenheit darstellt, hat sich Walter möglicherweise auch an dieser Stelle von Claudian inspirieren lassen (vgl. Claud., Paneg. dict. Manlio Theodoro cons., 122–123: laeta­ tur terra reverso  | numine, quod prisci post tempora perdidit auri). Aus diesem Grund soll Alexander die mit der Gerechtigkeit in Verbindung stehenden Tugenden der Rechtschaffenheit, des Anstands und der Achtung vor dem Rechten zur Grundlage seines Handelns erheben. ⇔ Die mit divinos rimare apices zum Ausdruck gebrachte Aufforderung, die göttlichen Schriften zu durchforschen, ist die einzige Stelle in der Aristoteles-Rede der Alexandreis, die in keinerlei Bezug zum originären aristotelischem Gedankengut steht. Diese Anweisung bildet nämlich die christliche, auf der biblischen Danielprophetie basierende und an Alexander adressierte Forderung ab, in den göttlichen Schriften seinen heilsgeschichtlichen Auftrag zu erkennen, der ausschließlich in der Eroberung des Perserreichs liegt. Dennoch ist diese christliche Anweisung ebenso dem Bereich der Gerechtigkeit zuzurechnen, da es sich dabei sozusagen um die Einhaltung eines göttlichen Gesetzes handelt. ⇔ Desweiteren spielt die Tugend der Besonnenheit eine Rolle, wenn es beispielsweise vor



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Gericht darum geht, Bittstellern mit Milde zu begegnen, sich selbst an die Gesetze zu halten oder mit der für einen Ankläger angemes­ senen Zuwendung aufzutreten. In besonderem Maße gilt das Gebot der Besonnenheit in emotional aufgeladenen Situationen, in denen der Richter kein Urteil fällen, sondern zuerst einmal das Geschehen beruhigen sollte. Ist das Urteil aber erst einmal gesprochen, soll der besonnene Richter keinen Gedanken mehr darauf verschwenden. Die Tugend des angemessenen Stolzes (182–183)

182–183 Si sic | vixeris, eternum extendes in secula nomen: Zuletzt geht Walter auf Grundlage aristotelischer Vorstellungen auf die Tugend des angemessenen Stolzes ein (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw. des lateinischen Begriffs magnanimitas mit angemessener Stolz vgl. die Einführung zu Buch I). Die in der Ethica Vetus als erstrebenswerte Mitte im Gegenstandsbereich des richtigen Umgangs mit der Ehre verstandene magnani­ mitas – in der Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff μεγαλοψυχία wiedergegeben – wird als die Eigenschaft eines Mannes beschrieben, der von der Vernunft geleitet weder in schüchternem Kleinmut verharrt noch in aufgeblasener Eitelkeit umherstolziert. Die beiden gegensätzlichen Verhaltensweisen, auf der einen Seite die sich in übertriebener Zaghaftigkeit artikulierende Verlegenheit, auf der anderen Seite die sich in einer dünkelhaften Blasiertheit manifestierende Überheblichkeit, werden entsprechend der Mesotes-Lehre des Aristoteles in Walters Epos grundsätzlich als zu vermeidende Laster angesehen und stellen demzufolge keine Handlungsoption für einen tugendhaften und moralisch handelnden Mann dar. ⇔ Die Tugend des angemessenen Stolzes ist von Walter aus gutem Grund deshalb an das Ende der Aristoteles-Rede gesetzt worden, da sie alle anderen Tugenden sozusagen zur Voraussetzung hat, oder anders gesagt die einer Person entgegengebrachte Ehre – deshalb auch der potentiale Konditionalsatz si sic vixeris – immer nur die

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Folge tugendhaften Handelns sein kann (vgl. Gartner 2018, 39; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3; zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Aufgrund ihres übergeordneten Charakters bildet die Tugend des angemessenen Stolzes zusammen mit der ganz zu Beginn erbrachten Definition des aristotelischen Tugendbegriffs eine weitere kompositorische Klammer und stellt damit zugleich den idealen Abschluss für den durch Walter in der Aristoteles-Rede in Szene gesetzten aristotelischen Tugendkatalog dar (vgl. die Einführung zu Buch I). Ausleitung der Aristoteles-Rede (184–202) 184–202 Talibus informans monitor virtutis alumpnum  | imbuit irriguam fecundis imbribus aurem … Ille libens sacris bibulas accom­ modat aures  | vocibus, extremae commendans singula cellae … iam regnat, iam servit ei quadrangulus orbis … Non solum in Persas … parat insanire, sed ipsum | et totum, si fata sinant, coniurat in orbem: Die Ausleitung der Aristoteles-Rede beschreibt in einem ersten Schritt erneut auf sehr bildhafte Art und Weise den Vorgang, wie der als monitor virtutis bezeichnete Aristoteles seine Tugendlehre im zukünftigen makedonischen König zu verankern versteht. Alexander, der den Worten seines Lehrers aufmerksam lauscht, trägt seinen Teil zum Erfolg der Belehrung bei, indem er jede einzelne Anweisung verinnerlicht. ⇔ Die bildhafte Wortwahl verweist dabei unzweideutig auf die bereits angesprochene und ebenso bildhafte Hinführung zur Aristoteles-Rede, mit der zusammen die Ausleitung der Rede einen letzten, äußeren kompositorischen Rahmen bildet (vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ In unmittelbarem Anschluss daran schildert Walter die Auswirkungen der Aristoteles-Rede auf Alexander, der ungeachtet seines noch jungen Alters im Geiste bereits zukünftige Schlachten und Siege antizipiert und sich vor dem inneren Auge bereits als Herrscher über die ganze Welt sieht.



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⇔ Ohne das genaue Alter Alexanders zu nennen, macht Walter in einem zweiten Schritt mit der Beschreibung des nun um wenige Jahre älteren und inzwischen waffenfähigen Alexander einen nicht genau bestimmbaren zeitlichen Sprung, der beim zeitgenössischen Leser die Identifikation des Makedonen mit dem mit nur vierzehn Jahren zum Mitregenten von Frankreich gekrönten Philipp II. ermöglicht (zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3). ⇔ Im letzten Abschnitt thematisiert Walter über einen Vergleich mit Achilles und dessen Sohn Neoptolemus den unbändigen Ehrgeiz Alexanders, der nicht nur die Perser besiegen möchte, sondern darüber hinaus auch nach der Herrschaft über die ganze Welt strebt und damit seinen Vater Philipp zu übertreffen sucht. Diesem noch in weiter Ferne liegenden Vorhaben könnten lediglich die paganen Götter – si fata si­ nant – im Wege stehen, auch wenn Walter mit dem Begriff coniurat andeutet, dass sich Alexander aus christlicher Sicht mit seinen über das Perserreich hinausgehenden Eroberungen in moralischer Hinsicht dann nicht mehr richtig verhält (zur Stellung der AristotelesRede innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). Die Legitimierung von Alexanders Herrschaft in Griechenland (203–267) Walter wendet sich mit dem nächsten größeren Abschnitt dem Antritt der Regentschaft Alexanders zu, die den historischen Quellen zufolge aus einer zweifachen Legitimierung seiner Herrschaft bestand. Zuerst wurde Alexander gleich nach der Ermordung seines Vaters Philipp im Jahre 336 v. Chr. in Pella zum makedonischen König gekrönt, um sich daraufhin noch im selben Jahr mit der Erhebung zum Hegemon des Korinthischen Bundes in Korinth auch die Macht und die Verfügungsgewalt über nahezu alle griechischen

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Poleis für den Kampf gegen die Perser zu sichern. Walter inszeniert diese beiden Ereignisse in auffälliger Art und Weise als HysteronProteron, um dem Leser die herausragende Bedeutung dieser Vorgänge vor Augen zu führen und zugleich – wie insbesondere im Abschnitt über Alexander als Herrscher im Wartestand deutlich wird – eine geschickt inszenierte zeitgenössische Bezugnahme zu Philipp II. von Frankreich herzustellen, der mit dem Vorhaben eines Kreuzzugs in einem ähnlichen Alter wie Alexander vor einer dem Perserkrieg vergleichbaren Aufgabe stand (vgl. Alex. I, 226–238; zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3; zum Hysteron-Proteron in der Alexan­ dreis vgl. Einleitung 4). Alexanders Erhebung zum Hegemon (203–238) Beschreibung von Korinth als Ort der Zeremonie (203–206)

203–206 Urbs erat auctoris nomen sortita Chorintus,  | quam situs ipse loci, quam rerum copia maior,  | quam rerum et populi, quam regum firma voluntas  | sanxerat, ut regni caput et metropolis esset: Die Beschreibung von Korinth und die Namensgebung der Stadt haben ihren Ursprung wohl in den Etymologiae des Isidor (vgl. Isid. v. Sev., Etym. XV, cap. I, 45: Corinthum in Achaia condidit Corinthus Orestis filius). Walter führt die privilegierte Stellung der Stadt auf ihre günstige geographische Lage und die sich daraus ergebenden Vorteile zurück, die in einer guten Versorgung mit Lebensmitteln, einer hohen Bevölkerungszahl – darunter auch eine beachtliche Anzahl vermögender Bürger – sowie im politischen Willen der Könige nahezu aller griechischer Stadtstaaten liegen, Korinth als Hauptstadt und Zentrum des bereits ein Jahr zuvor (337 v. Chr.) von Philipp ins Leben gerufenen Korinthischen Bundes zu etablieren. Damit gibt Walter im Wesentlichen das wieder, was insbesondere nach der Übernahme der Herrschaft durch Makedonien



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in der Historiographie über Korinth als ein weit über die Grenzen Griechenlands hinaus bekanntes wirtschaftliches und kulturelles Zentrum berichtet wird. Nach dem griechischen Geographen und Geschichtsschreiber Strabon etwa lässt sich der Aufstieg Korinths zum zentralen Handelsplatz dieser Gegend insbesondere dadurch erklären, dass die Stadt aufgrund ihrer Lage auf dem schmalen Isthmus zur Peloponnes nicht nur über zwei gut geschützte Häfen verfügte, sondern auch die mit Korinth konkurrierende Handelsroute um das Kap Malea herum wegen der widrigen Winde an der Südostspitze der Peloponnes von Kaufleuten eher gemieden wurde. Zudem konnte Korinth auch mit Abgaben rechnen, die aus dem Handel über den schmalen Landweg zwischen der Peloponnes und dem restlichen Griechenland resultierten (vgl. Strab., Geogr. VIII, 6, 20). ⇔ Allerdings fällt auf, dass Walter mit der Bezeichnung ca­ put regni Korinth als die Hauptstadt eines Reichs bezeichnet, das durch den festen Willen der Könige – regum firma voluntas – für diese Führungsrolle bestimmt wurde. Interessanterweise herrschten jedoch weder in den am Korinthischen Bund beteiligten Poleis Könige noch lässt sich der Korinthische Bund selbst als Königreich bezeichnen. Wiener (2001) 103 vermutet wohl zu Recht, dass Walter mit dieser historisch eigentlich unzutreffenden Wortwahl die Absicht verfolgt, beim zeitgenössischen und insbesondere beim französischen Leser das Bild der französischen Königskrönung zu evozieren, um damit erneut auf die bereits im Rahmen des Prooemiums zum Ausdruck gebrachte Parallele zwischen Alexander und dem jungen Philipp Augustus verweisen zu können (zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3). Nimmt man hinzu, dass der unter politischen Gesichtspunkten für Korinth auch schon zu Alexanders Zeit durchaus passende Begriff metropolis – in der Antike wurde damit die Hauptstadt einer Provinz bezeichnet – in der kirchlichen Terminologie des Mittelalters die Stadt eines Erzbischofs kennzeichnete, wird deutlich, dass Walter bereits in der auf den ersten Blick unverdächtig

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wirkenden Beschreibung von Korinth zeitgenössische Parallelen anklingen lässt und in einem übertragenen Sinn immer auch die mittelalterliche Stadt Reims mit ihrem Erzbischof Wilhelm meint, wenn er von der antiken Stadt Korinth spricht (zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8). Paulus in Korinth (207–208)

207–208 Hanc, Ewangelico propulsans ydola verbo, | Paulus ad ae­ terni convertit pascua veris: Walters Bemerkung, nach der Paulus Korinth in Weiden des ewigen Frühlings verwandelt und die Heiden mit dem Evangelium vertrieben hat, lässt die Schwierigkeiten erahnen, die Paulus bei der Christianisierung dieser in der Antike als kulturellem und ethnischem Schmelztiegel fungierenden und aus einer bunten Mischung verschiedener Kulturen, Sprachen und Religionen bestehenden Stadt zu bewältigen hatte, bis Korinth im zweiten nachchristlichen Jahrhundert schließlich Bischofssitz wurde. Paulus selbst beklagt sich in einem Brief an die Korinther über die Schwierigkeiten, die gerade entstandene und noch nicht gefestigte christliche Gemeinde in einem multikulturellen Umfeld wie Korinth aufrechtzuerhalten (vgl. 2. Kor. 6, 11). Als Hafenstadt hatte Korinth beispielsweise einen derart schlechten Ruf, dass sich der Begriff κορινθιάζεσθαι – zur Dirne gehen eingebürgert hatte (zur Erwähnung des Paulus im Zusammenhang mit Tarsus vgl. Komm. II, 145–152). ⇔ Da die Paulus-Mission von Walter in Übereinstimmung mit der christlichen Tradition – zu nennen wäre dabei insbesondere die Historia Scholastica des Petrus Comestor – beschrieben wird, wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass auch die von Paulus vorgenommene Bekehrung des Dionysius Areopagita und die Einsetzung desselben zum Bischof von Korinth in seiner Darstellung der Stadt Erwähnung findet. Walter vermeidet dies wohl, um – wie Wiener (2001) 103 nachvollziehbar vermutet – nicht näher auf das in Konkurrenz zum Erzbistum Reims stehende und



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insbesondere als Grablege für die französischen Könige fungierende Saint Denis – Dionysius galt als Schutzpatron für diese Stadt und die dortige Abtei – eingehen zu müssen (zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8). ⇔ Wie Janka/ Stellmann (2020), 79–81 vermuten, berührt die Erwähnung des Paulus an dieser Stelle noch eine weitere Ebene, die über die bloße Beschreibung seiner Heidenmission hinausgeht. Denn vor dem Hintergrund der paulinischen Unterscheidung zwischen tötendem Buchstaben und belebendem Geist kann der Missionar des Urchristentums auch als Verkörperung des vierfachen Schriftsinns der Bibel angesehen werden, der ein wesentliches Element im Verständnis der Alexandreis darstellt (vgl. 2 Korinther 3, 6: Littera enim occidit, Spiritus autem vivificat; vgl. Einleitung 7). Da es nach christlicher Vorstellung dem alttestamentlichen Menschen aufgrund seiner gefallenen Natur nicht möglich war, in der Zeit sub lege die schriftlichen Gebote Gottes – gleichbedeutend mit dem Buchstaben des Gesetzes – einzuhalten, und der Mensch, wäre er tatsächlich nach dem Buchstaben des Gesetzes beurteilt worden, getötet worden wäre, wird seit dem Kreuzestod Christi und dessen Auferstehung dem neutestamentlichen Menschen in der Zeit sub gratia die als Gnade Gottes zu verstehende Möglichkeit eingeräumt, allein aus dem Glauben zu leben. Übertragen auf die Alexandreis sollte der Leser demzufolge über den historischen bzw. literalen Sinn des Epos hinaus auch dessen geistigen Sinn – bestehend aus dem heilsgeschichtlichen Sinn (Interpretation im Glauben), dem moralischen Sinn (Interpretation in der Liebe) und dem eschatologischen Sinn (Interpretation in der Hoffnung) – erfassen. Insofern lässt sich die vorliegende Stelle auch so einordnen, dass Paulus den auf der exegetischen Differenz zwischen Buchstabe und Geist basierenden vierfachen Schriftsinn repräsentiert, der von Walter bereits im Prolog in Gestalt einer Rezeptionsanweisung für den Leser der Alexandreis als unabdingbare Voraussetzung angesprochen wurde, dem Werk als Ganzem gerecht zu werden (vgl. Alex., prol. 36–39). In dem von

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Walter in diesem Kontext verwendeten Begriff pascua – eigentlich mit Weiden wiederzugeben – klingt dabei bezeichnenderweise das lateinische Pascha oder das hebräische Pessach an, mithin ein Hinweis auf die Ereignisse an Ostern – in einigen Volkssprachen hat pa­ scua diese Bedeutung angenommen –, die mit dem Tod Christi und dessen Auferstehung genau den Wendepunkt zwischen der Zeit sub lege und der Zeit sub gratia markieren. Die Zeremonie der Erhebung Alexanders zum Hegemon (209–211)

209–211 Hic igitur Macedo, ne iura retunderet urbis  | post patris occasum, sacrum diadema verendo  | suscipiens capiti sceptro radia­ vit eburno: Mit den hier vorliegenden Versen wird Alexanders Erhebung zum Hegemon des Korinthischen Bundes für den schon von seinem Vater geplanten Feldzug gegen die Perser geschildert. ⇔ Walter macht dabei mit dem aktiven Partizip suscipiens deutlich, dass sich Alexander in vollem Bewusstsein über Makedoniens Vormachtstellung in Griechenland – Sparta war als einzige bedeutende Polis auf dem Festland nicht am Korinthischen Bund beteiligt – das als Zeichen der Führungsrolle fungierende Diadem selbst auf das Haupt setzt. Mit der im Vordergrund auf Philipp von Makedonien bezogenen Formulierung ne iura retunderet urbis | post patris occa­ sum stellt Walter im Hintergrund erneut einen zeitgenössischen Bezug her, der mit dem innerfranzösischen Streit mit Orléans um den Krönungsort der französischen Könige in Zusammenhang steht. Im selben Maße nämlich, wie Alexander der Stadt Korinth nicht das Recht auf die Erhebung des Hegemon streitig machen möchte und demzufolge dafür denselben Ort wählt wie sein verstorbener Vater Philipp, beansprucht auch der Erzbischof Wilhelm damit das Recht, den jungen Philipp Augustus ebenso wie schon dessen Vater Ludwig VII. in der Kathedrale von Reims krönen zu dürfen (vgl. Wiener 2001, 104–105; zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. auch Einleitung 8).



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Weise Berater und leidenschaftliche Krieger (212–225)

212–225 Stat procerum medius, stipat latus eius utrumque | canities veneranda patrum mitisque senectus … sedit Aristotiles molli velatus amictu, | iam rude donatus fatisque prementibus annos | curvus, et inpexos castigat laurea crines: Thema dieses Abschnitts ist die Beschreibung der schon betagten Berater Alexanders, die nach der Zeremonie der Erhebung zum Hegemon noch anwesend sind. Walter arbeitet dabei den Kontrast zwischen den alten und erfahrenen, aber nicht mehr aktiv in den Kampf ziehenden Männern zu den von diesen beratenen jungen Soldaten heraus, die sich aufgrund ihrer größeren Körperkräfte sehr viel mehr für die kriegerische Auseinandersetzung eignen. Exemplarisch nennt Walter mit Nestor den weisen Berater der Griechen vor Troja, der aufgrund seiner Erfahrung mit seinen Ratschlägen auch einem Mann wie Achilles dienstbar sein konnte. Walter nennt als Zeugen dieser Zeremonie auch Aristoteles, obgleich dieser das Geschehen vom unaufhaltsamen Alter gebeugt nur in sitzender Position verfolgen kann. ⇔ Auch diese Situation ist geeignet, beim zeitgenössischen Leser Assoziationen zur Krönung des jungen Philipp Augustus zum Mitregenten zu wecken, der sich ebenso unverhofft wie der junge Alexander der betagten Beraterschar seines Vaters gegenübersah und diese in allen Fragen der Herrschaftsausübung und Kriegsführung hinzuziehen konnte (vgl. Wiener 2001, 106; zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3; zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8). Alexander als Herrscher im Wartestand (226–238)

226–238 Contemplans igitur Macedo … regis ad aspectus … fuit ex fa­ cili regem … Ornamenta licet regi regalia desint … sola tamen loqui­ tur vultus reverentia regem: Im vorliegenden Abschnitt richtet Walter sein Augenmerk wieder verstärkt auf Alexander, der sich durch den Zuspruch des Adels und des Volks ermutigt fühlt, mit dem Per-

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serkrieg etwas zu wagen, was eigentlich alle Kraft überschreitet. ⇔ Auch wenn Walter betont, dass Alexander in Korinth noch nicht mit den als ornamenta regalia bezeichneten Herrschaftsinsignien eines Königs bedacht worden war, sondern nur mit einer als Diadem beschriebenen Kopfbinde, hält dies den Autor der Alexandreis nicht davon ab, den Makedonen aufgrund seiner ehrwürdigen und königlichen Ausstrahlung dennoch gleich viermal mit dem Begriff rex zu bezeichnen. Mit diesem als Vorgriff auf die Krönung zum makedonischen König zu bewertenden Kunstgriff gelingt es Walter ebenso wie mit dem zuvor auf die Provinz Korinth bezogenen Begriff regnum auch an dieser Stelle einen zeitgenössischen Bezug zu Philipp Augustus herzustellen, der als Mitregent seines todkranken Vaters noch nicht die volle Regierungsgewalt ausüben konnte und ebenso wie Alexander – zumindest in Walters als Hysteron-Proteron gestalteten Darstellung – vor seiner Krönung zum makedonischen König gewissermaßen noch ein Herrscher im Wartestand war (zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3; zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8). Alexanders Krönung zum makedonischen König (239–267) 239–267 Mensis erat, cuius iuvenum de nomine nomen … cum Ma­ cedo assensu pariter vulgique ducumque | in regem erigitur … tot re­ gna uni submittere paucos: Über die etymologische Herleitung des Monatsnamens Juni und dem darin enthaltenen Hinweis auf das zurückweichende Sternbild des Krebses – gemeint ist damit der unmittelbare Zeitraum nach dem 21. Juni, in welchem der Sonnenhöchststand den auch als Wendekreis des Krebses bezeichneten nördlichen Wendekreis verlässt und bis zum 21. Dezember den auch als Wendekreis des Steinbocks bezeichneten südlichen Wendekreis erreicht – gibt Walter mit den Worten in regem erigitur Auskunft



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über Alexanders Krönung zum makedonischen König in Pella. ⇔ Im Unterschied zu Alexanders Erhebung zum Hegemon in Korinth schildert Walter dessen Krönung zum makedonischen König als passiven Vorgang, der nicht durch die eigene Initiative, sondern durch die Zustimmung des Volkes und des Adels legitimiert wird. Ebenso wie bei der Erhebung zum Hegemon in Korinth thematisiert Walter auch bei der Krönung in Pella die Tatsache, dass sich Alexanders Berater zumeist in bereits fortgeschrittenem Alter befinden, um im Anschluss daran eine Heerschau und eine Beschreibung der Waffen zu präsentieren. ⇔ Walter bringt sein Erstaunen zum Ausdruck, dass Alexander nicht nur den Willen besaß, mit so wenigen Soldaten die ganze Welt zu erobern, sondern sogar dazu in der Lage gewesen ist. Abschließend formuliert Walter die Erkenntnis, dass es wohl als eine Laune des Schicksals anzusehen sei, dass so wenige Soldaten einem einzigen Mann dennoch so viele Reiche unterwerfen konnten (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Die Sicherung der Macht Alexanders in Griechenland (268–348) Nach Philipps Ermordung im Jahre 336 v. Chr. und ungeachtet der Erhebung Alexanders zum Hegemon des Korinthischen Bundes im selben Jahr forderten in der Folgezeit einige griechische Städte den makedonischen König heraus, indem sie die vertraglichen Vereinbarungen des Korinthischen Bundes zu hintertreiben suchten. Diese Situation war für Alexander äußerst gefährlich, da die Unabhängigkeitsbestrebungen der wichtigsten griechischen Stadtstaaten nicht nur mehr oder weniger offen seinen panhellenischen Machtanspruch in Frage stellten, sondern auch seine weitreichenden Pläne bedrohten, mit einem vereinten griechischen Heer das Perserreich zu erobern. Als Alexander im Frühjahr des Jahres 335 v. Chr. mit 15000 Soldaten nach Norden gegen die aufständischen Völker Thra-

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kiens und Illyriens zu Felde zog, brach im Süden Griechenlands auf ein bewusst gestreutes Gerücht vom Tod Alexanders hin die offene Rebellion aus. Zuerst erhoben sich die Bewohner von Theben, welche die in der Stadt als Besatzungssoldaten stationierten makedonischen Offiziere töteten. Alexander reagierte sofort und stand nach nur vierzehn Tagen überraschend vor den Toren der abtrünnigen Stadt. Da sich der Korinthische Bund bereits im Krieg mit den Persern befand – ein von Parmenion geleitetes Truppenkontingent stand bereits in Kleinasien –, wog der Abfall Thebens besonders schwer und erforderte, wollte Alexander nicht den kompletten Zusammenbruch der griechischen Koalition riskieren, eine exemplarische Bestrafung. Daher machte er die Stadt dem Erdboden gleich, wobei sechstausend Thebaner ihr Leben verloren und die übrigen dreißigtausend in die Sklaverei verkauft wurden. Von diesem Strafgericht Alexanders beeindruckt, beendeten die Athener, die sich zuvor noch auf Betreiben des Demosthenes aus der politischen Umklammerung Makedoniens hatten befreien wollen, auf Anraten des Aeschines noch im selben Jahr die Revolte und sicherten dem makedonischen König und Hegemon des Korinthischen Bundes ihre Unterstützung im Perserfeldzug zu. Gegenüber Athen verzichtete Alexander daraufhin auf eine Bestrafung, da sein panhellenischer Feldzug gegen die Perser mit den Ruinen der Akropolis im Rücken nicht denkbar gewesen wäre. Alexander verschont Athen (268–283) 268–283 In tanto rerum strepitu mundique fragore … Cicropidae et vires opponere viribus ausi … Artibus ingenuis studiisque vacare se­ reno | annuit his vultu Martemque remittit agendum: Ähnlich wie im Abschnitt über die Legitimierung der Herrschaft Alexanders gestaltet Walter auch die Sicherung der Macht des makedonischen Königs in Griechenland als Hysteron-Proteron, indem er die Rückkehr



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der Athener in die Allianz des Korinthischen Bundes und die Zerstörung Thebens in umgekehrter Reihenfolge darstellt (zum Hysteron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Mit diesem stilistischen Kunstgriff gelingt es Walter, die Verschonung Athens – historisch betrachtet wie beschrieben eine unmittelbare Folge der Zerstörung Thebens – als das Ergebnis des tugendhaften Verhaltens Alexanders zu inszenieren. Denn ganz im Sinne der aristotelischen Tugendlehre gestaltet Walter diese Episode zum einen als ein eindrückliches Beispiel für die von Alexander verinnerlichte Tugend der angemessenen Zürnkraft, da der makedonische König ungeachtet des anfänglichen Widerstands Athens den Affekt des Zorns aus Vernunftgründen zügelt und die letztlich noch rechtzeitig zur Einsicht fähige Stadt auch und gerade wegen ihrer herausragenden geistigen Bedeutung für Griechenland – artibus ingenuis studiisque vacare sereno | annuit vultu – verschont (vgl. Gartner 2018, 48). Zum anderen legt Alexander in seinem Verhalten gegenüber Athen entsprechend der in der Aristoteles-Rede formulierten Vorgaben die Tugend der angemessenen Zuwendung an den Tag, da er von der Zuneigung zu seinen flehenden Landsleuten in einem vernünftigen Maß ergriffen – patriae tactus suplicantis amore | rex fedus renovat pacemque redintegrat urbi – auf eine Bestrafung der Stadt verzichtet (vgl. Gartner 2018, 66). ⇔ Diese hier beschriebene Inszenierung der Tugendhaftigkeit Alexanders bildet den Auftakt für zahlreiche Episoden, in denen Walter das moralisch einwandfreie Verhalten seines wichtigsten Protagonisten in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 7.4).

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KOmmentar Alexander bestraft Theben (284–348)

284–348 Inde ubi discordes iterum sibi iunxit Athenas, | impiger ad veteres rapto volat agmine Thebas … Finierat Cleades, sed stat sen­ tentia regis, | propositique tenax irae permittit habenas, | equarique solo turres ac menia primo | imperat et reliquam Vulcano fulminat urbem: Anders reagiert Alexander auf den anhaltenden Widerstand Thebens. Walter macht gleich zu Beginn des Abschnitts mit Hilfe einer Autorklage deutlich, dass auch die Stadt Theben durchaus zu retten gewesen wäre, wenn sich ihre Bewohner ebenso wie die Athener nach ihrem anfänglichen Widerstand noch rechtzeitig reumütig gezeigt und Alexander freiwillig die Tore geöffnet hätten. ⇔ In seiner weiteren Darstellung lässt Walter die Thebaner, die mit ihrer standhaften Weigerung, sich wieder dem Korinthischen Bund anzuschließen, zu Recht den Zorn des makedonischen Königs auf sich ziehen, in einem überaus schlechten Licht erscheinen. Verstärkt wird der Eindruck von der Rechtmäßigkeit dieses Zorns durch die ausführliche Darstellung des von Freveltaten und Verrat geprägten mythologischen Ursprungs der Stadt. ⇔ Als die Thebaner sich trotz der Belagerung der Stadt weiterhin weigern, in die Gemeinschaft des Korinthischen Bundes zurückzukehren, gibt Alexander den Befehl zum Angriff und lässt die Tore gewaltsam öffnen. Nach der erfolgreichen Eroberung der abtrünnigen Stadt tritt der Thebaner Cleades an Alexander heran und versucht ihn mit den Worten ut invic­ tus victis et parcere scires | supplicibus victor et debellare rebelles – die Bezugnahme auf das in der Aristoteles-Rede bezüglich der Tugend der angemessenen Zürnkraft formulierte parce humili, facilis oranti, frange superbum ist unübersehbar – zur Milde zu mahnen und von der endgültigen Zerstörung der Stadt abzuhalten. Unbeeindruckt von der Rede des Cleades jedoch macht Alexander Theben dem Erdboden gleich und lässt die Trümmer in Brand stecken. ⇔ Auch in diesem Kontext arbeitet Walter in auffälliger Weise die aristotelische Tugend der angemessenen Zürnkraft heraus, die anders als



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im Fall von Athen jedoch die Zerstörung der Stadt impliziert. Mit der Erwähnung des Gegenstandsbereichs des Zorns zu Beginn der Schlacht – flagrescit principis ira – und noch einmal vor der endgültigen Zerstörung von Theben – propositique tenax irae permittit habenas – macht Walter deutlich, dass Alexander von der Vernunft geleitet den anhaltenden Widerstand der Thebaner in einem Akt der angemessenen Zürnkraft brechen musste, um nicht phlegmatisch zu agieren und damit dem Laster der Zornlosigkeit zu verfallen (vgl. Alex. I, 308; vgl. auch Alex. I, 346; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Der falsch verstandene Hinweis des Cleades auf die Tugendlehre des Aristoteles kommt dabei insofern zu spät, als die Grundlage für eine Verschonung der Stadt nach ihrer durch den ungebrochenen Widerstand der Thebaner ausgelösten Eroberung schlichtweg nicht mehr gegeben war (vgl. Gartner 2018, 48–49). Damit führt Walter die im Kontext der Verschonung Athens begonnene Inszenierung seines wichtigsten Protagonisten im Hinblick auf dessen moralisch angemessenes Verhalten als Feldherr und König fort (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 7.4). Der Transfer von Europa nach Asien (349–395) Vorbereitungen (349–358) 349–358 Postquam digna satis compescuit ultio Dircen … navigii numerum quinquagenarius equat: Nach der endgültigen Ordnung der Verhältnisse in Griechenland, für die er den weniger kampferprobten Teil seiner Truppen als Schutzmacht zurücklässt, kann sich Alexander seinem eigentlichen Vorhaben – dem Angriff auf das von Darius beherrschte Perserreich – zuwenden. Durch die vereinte griechische Streitmacht, die sich der historischen Überlieferung zufolge

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in der nordgriechischen Küstenstadt Amphipolis zum Aufbruch versammelt hatte, sieht sich der Makedonenkönig in der Lage, eine Flotte von beachtlicher Größe auszurüsten – explizit werden 128 Schiffe genannt –, was nach Walters Aussage zweifelsohne der Größe der militärischen Aufgabe gerecht wird. Alexanders Überfahrt nach Kleinasien (359–385) 359–385 Iamque ubi velivolum tenuit mare libera classis … principis et multo castigant verbere pontum: Alexanders Überfahrt nach Kleinasien gestaltet Walter als Kontrastimitation zu der von Lucan in der Pharsalia geschilderten Überfahrt des Pompeius von Italien nach Griechenland (vgl. Zwierlein 2004, 606–609; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Während im antiken Epos allein Pompeius wehmütig und melancholisch auf die langsam am Horizont sich entfernende Heimat zurückblickt – seine Soldaten richten den Blick im Unterschied zu ihrem dem Untergang geweihten Feldherrn auf das vor ihnen liegende Meer –, sind es bei Walter Alexanders Soldaten, die aus Liebe zu Familie und Heimat ihren Blick nicht von der heimatlichen Küste Griechenlands abwenden können (vgl. Luc., Phars. III, 1–7: Pro­ pulit ut classem velis cedentibus Auster | incumbens mediumque rates movere profundum, | omnis in Ionios spectabat navita fluctus | solus ab Hesperia non flexit lumina terra | Magnus, dum patrios portus, dum litora numquam | ad visus reditura suos tectumque cacumen | nubibus et dubios cernit vanescere montes). Allein Alexander wendet erwartungsfroh seine Aufmerksamkeit der Küste Kleinasiens zu, um möglichst bald den Kampf gegen die Perser aufzunehmen (vgl. Alex. I, 377–380: Solus ab Inachiis declinat lumina terris | effrenus Mace­ do. Qui cum Cilicum prius arva | collibus eductis Asiamque emergere vidit, | gaudet). ⇔ Mit einer derartigen Inszenierung seines wich-



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tigsten Protagonisten wird Walters Bemühen deutlich, den makedonischen König im Kontrast zum römischen Feldherrn Pompeius und ganz im Sinne der aristotelischen Tugendlehre als einen tatkräftigen und mutigen Anführer zu kennzeichnen. Zugleich tritt Walter damit in aemulativen Wettstreit mit seinem bereits im Prooemium angesprochenen antiken Vorbild Lucan, indem er im Unterschied zum römischen Epos einen unerschrockenen und im Felde unbesiegten Feldherrn beschreibt (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). ⇔ Als Alexanders Landungsstelle nennt Walter überraschenderweise die Küste Kilikiens im Süden der kleinasiatischen Halbinsel (vgl. Komm. I, C 6–8). Dies macht er jedoch nicht – wie Christensen irrigerweise vermutet –, weil der Autor der Alexandreis keine klare Anschauung über die Geographie Kleinasiens gehabt hatte oder in dem Glauben gewesen war, dass es zwei Gegenden mit demselben Namen gab, sondern weil er aus kompositorischen Gründen den Weg von Kilikien über Phrygien nach Troja als Hysteron-Proteron gestaltet (vgl. Komm. I, 447–451; zur Stellung der unhistorischen Landung Alexanders in Kilikien innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; zum Hysteron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Walter konnte nämlich aus der Epitome des Justin – anders als Christensen dies annimmt – sehr wohl Alexanders ungefähren Landungspunkt in der Nähe von Troja ebenso wie Informationen über die Schlacht am Granikus entnehmen (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 5, 1–12 und XI, 6, 11–12). Christensen ist darüber hinaus der Ansicht, dass sich Walter bei der Auswahl von Alexanders Landungspunkt den Ausführungen des Valerius bedient habe, der mit den Worten tunc rebus compositis ire in barbaros parat, itinere per Ciliciam ordinato einen direkten Zusammenhang zwischen den Angelegenheiten in Griechenland und Alexanders Tätigkeit in Kilikien nahelege. Dabei berücksichtigt er jedoch nicht, dass aus den nur wenig später im Text folgenden Angaben des Valerius deutlich hervorgeht, dass mit der diesbezüglichen Angabe – und dies wird Walter nicht verborgen geblieben sein – gar

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nicht Alexanders Landungsstelle gemeint ist (vgl. Christensen 1905, 146). ⇔ Unmittelbar nach der Abfahrt aus Griechenland zerreißt eine unheilverkündende Stimme – vox hominum presaga mali – die Luft (zum Motiv der presaga mali vgl. Verg., Aen. X, 843; vgl. auch Luc., Phars. VII, 186). Damit stellt Walter den Aufbruch der Griechen nach Osten ungeachtet der beschriebenen Inszenierung Alexanders als aus antik-paganer Sicht moralisch vorbildlichen Feldherrn und König unter das Zeichen unheilvoller Vorbedeutung und verschafft damit auch der christlichen Stimme Gehör, die in Alexanders späterem Tod ihre Bestätigung findet. Alexanders Ankunft in Kleinasien – Der Perserkrieg beginnt (386–395) 386–395 Tantum aberat classis portus statione … continuant serae convivia nocti: Noch vor dem Ankern im Hafen schleudert Alexander vom Schiff aus im Sinne einer Kriegserklärung an die Perser eine Lanze auf den feindlichen Boden (vgl. Komm. I, C 4–5). Die griechischen Soldaten begreifen diese Handlung ihres Feldherrn als gutes Omen für das Gelingen des Feldzugs und jubeln begeistert. Nachdem die Anker geworfen und die Schiffe entladen sind, erholen sich alle bei einem Gelage (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 5, 10–11: Cum delati in continentem essent, primus Alexander iaculum velut in hostilem terram iecit; vgl. auch Demandt 2013, 110). Asienexkurs (396–426) 396–426 Tercia pars orbis, cuius ditione teneri | olim dicta fuit, eius quoque nomen adepta est. | Hec Asia est … Totque Asiae partes, quas si meus exaret omnes  | aut seriem scindet stilus aut fastidia gignet: Der zwischen dem nächtlichen Gelage und Alexanders erstem Er-



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kundungsgang am folgenden Morgen eingefügte Asienexkurs bildet die auch als retardierendes Element zu verstehende Überleitung zu einem neuen Erzählabschnitt, in welchem nun die unmittelbar bevorstehende kriegerische Auseinandersetzung mit den Persern den übergeordneten Rahmen der Handlung bildet. ⇔ Walters auf den ersten Blick wie ein erratischer Block wirkende Beschreibung von Asien orientiert sich dabei interessanterweise nicht an den wichtigsten Stationen von Alexanders Feldzug, sondern gibt lediglich die allgemeinen geographischen und topographischen Vorstellungen des Mittelalters über den asiatischen Kontinent wieder, die vornehmlich den Etymologiae des Isidor entstammen. Dies gilt für die von Walter auf eine sagenhafte Königin des Ostens zurückgeführte Namensgebung für den asiatischen Erdteil ebenso wie für die ohne genaue geographische Angaben vollzogene Abgrenzung Asiens nach Osten durch den weltumspannenden Ozean. Auch die durch den Don und das Asowsche Meer umgesetzte Abgrenzung nach Norden sowie die Abgrenzung nach Westen hin durch das mit nostrum equor bezeichnete Mittelmeer entsprechen den gängigen geographischen Annahmen des Mittelalters (vgl. Isid. v. Sev., Etym. XIV, cap. III: Asia ex nomine cuiusdam mulieris est appellata, quae apud anti­ quos imperium tenuit orientis). Auch Walters Vorstellungen über die Größenverhältnisse der drei zum damaligen Zeitpunkt bekannten Kontinente ist an den berühmten T-O-Karten des Isidor abzulesen. Asien allein ist dabei so groß wie Europa und Afrika zusammen, eine Größenvorstellung, die bereits bei Augustinus nachgewiesen werden kann (vgl. Aug., civ. XVI, Kap. 17, col. 497: Unde viden­ tur orbem dimidium duae tenere, Europa et Africa, alium vero di­ midium sola Asia). Ebenso werden einzelne Provinzen oder Länder durch landestypische Merkmale charakterisiert, welche die seit der Antike gängigen und durch Isidor verbreiteten ethnographischen Vorstellungen des Mittelalters wiedergeben. Indien wird beispielsweise für seinen Reichtum an Edelsteinen und Elefanten gerühmt und Arabien ist für seinen Weihrauch berühmt. ⇔ Indem die geo-

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graphische Beschreibung Asiens überdies durch die Einbeziehung heilsgeschichtlich relevanter Ereignisse und Orte ergänzt wird – explizite Erwähnung finden das nach allgemeiner Vorstellung im Osten des asiatischen Kontinents verortete Paradies, die Sintflut und Jerusalem als Mittelpunkt der Welt –, geht es Walter augenscheinlich nicht nur darum, den Schauplatz des Epos unter geographischen und damit rein weltlichen Gesichtspunkten zu beschreiben, sondern ist es ihm zugleich auch ein unbedingtes Anliegen, das profanhistorische Ereignis von Alexanders Perserfeldzug in das von der Heilsgeschichte geprägte christliche Denkmodell einzuschreiben (vgl. Glock 2000, 287). Harich (1987) 160 betont, dass Walters Asienexkurs vor allem dem Ziel dient, Jerusalem als Zentrum der christlichen Welt darzustellen, das gegen jede Feindesaggression geschützt werden muss. Möchte man ihrer These zustimmen, übernimmt der Asienexkurs zudem eine vorbereitende Funktion für die am Ende von Buch I wiedergegebene Vision Alexanders, in der ihm der jüdische Hohepriester Jaddus erscheint und ihm die göttliche Unterstützung bei der Eroberung des Perserreichs verspricht, wenn er auf seinem Feldzug Jerusalem verschont (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; vgl. auch Komm. I, 539–554). Alexander und die Schätze Kleinasiens (427–446) 427–446 Iamque sub auroram volucrum garrire parabat … Asiae metitur lumine fines … «Iam satis est,» inquit «socii, michi sufficit una | hec regio. Europam vobis patriamque relinquo.» … sub cardine quadro … liberat et pecorum raptus avertit ab hoste: Nach nur kurzer Nacht erwacht Alexander aus leichtem Schlaf – erneut ein Hinweis auf die innere Unruhe des makedonischen Königs – und erklimmt sogleich einen Berg, um das vor ihm liegende Land in Augenschein zu nehmen. Walter nimmt damit den Faden der Erzählung vor dem



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Asienexkurs wieder auf und schildert im Zuge dieses ersten Erkundungsgangs seines Protagonisten aus dessen Perspektive die für ihn von dieser erhöhten Position aus erkennbaren Reichtümer Kleinasiens: waldreiche Gebirge, fruchtbare Äcker, zahlreiche mit Mauern befestigte Städte und unzählige Weinstöcke (vgl. Komm. I, C 6–8). Alexanders Begeisterung für diesen fruchtbaren Landstrich mündet in Anlehnung an eine entsprechende Stelle bei Justin darin, dass er – bereits im Gefühl des sicheren Sieges über den persischen Erbfeind – das heimatliche Europa an seine Freunde abzutreten beabsichtigt und er verlauten lässt, dass ihm die sozusagen als pars pro toto für das gesamte Perserreich zu verstehende Weltgegend ausreiche (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 5–6: Patrimonium omne suum, quod in Ma­ cedonia Europaque habebat, amicis dividit, sibi Asiam sufficere prae­ fatus). ⇔ Stellt man Alexanders in der Alexandreis immer wieder zur Sprache gebrachten, weitreichenden und über das Perserreich hinausgehenden Eroberungspläne in Rechnung, wirkt diese Aussage geradezu bescheiden und scheint dem auch im Epos Walters immer wieder entworfenen Bild des von geradezu unstillbarem Eroberungswillen getriebenen Feldherrn gänzlich zu widersprechen. Allerdings gilt es zu bedenken, dass Alexander an dieser Stelle der Eposhandlung mit der Eroberung des Perserreichs seinem heilsgeschichtlich legitimierten Auftrag folgt und somit vor einer christlich motivierten Autorkritik ganz bewusst verschont bleibt. Bestätigung erfährt dieser Umstand durch einen Vergleich mit verschiedenen Stellen gegen Ende der Alexandreis, in denen die von Walter zu Beginn des Perserkriegs gewählten Worte bezeichnenderweise wieder aufgenommen und in ihrer Bedeutung in das genaue Gegenteil verkehrt werden. Beispielsweise stellt der Feldherr Craterus nach der Eroberung des Perserreichs seinem Anführer Alexander die Frage, wohin er in seiner unerschöpflichen Gier eigentlich weiter strebe, da ihm doch der ganze Erdkreis nicht ausreiche (vgl. Alex. IX, 515–517: cui maximus iste | non satis est orbis, quem proponunt sibi finem | vel quem sunt habitura modum?). Nur wenig später bekennt Alexander

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selbst, dass ihm der Erdkreis nach all seinen Eroberungen zu eng geworden sei und ihm die Weite der Länder nicht mehr genüge (vgl. Alex. IX, 562–565: Tracas Asiamque subegi.  | Proximus est mundi michi finis, et absque deorum | ut loquar invidia, nimis est angustus et orbis, | et terrae tractus domino non sufficit uni). Und zuletzt bemüht Walter selbst am Ende des Epos in einer Rückschau auf das Leben des makedonischen Königs das Bild eines Herrschers, dem der ganze Erdkreis nicht ausgereicht hat und dem jetzt ein nur fünf Fuß großes Grab genügen muss (Alex. X, 448–450: Cui non suffe­ cerat orbis,  | sufficit exciso defossa marmore terra  | quinque pedum fabricata domus). Diese Beispiele zeigen, dass Walters Wortwahl zu Beginn des Perserkriegs nicht zufälligen Überlegungen entspringt, sondern mit Bedacht kontrastierend in Beziehung zu der nach dem Perserkrieg geschilderten Situation gesetzt werden soll, in welcher der Autor der Alexandreis zum Ausdruck bringen möchte, dass sein wichtigster Protagonist inzwischen den heilsgeschichtlichen Rahmen verlassen hat und sich deshalb von nun an der massiven Kritik des christlichen Autors und dem deutlich artikulierten Vorwurf der Hybris ausgesetzt sieht. Doch dies ist zum momentanen Zeitpunkt seines Eroberungszugs nach der Landung in Kleinasien noch nicht der Fall. ⇔ Im festen Vertrauen auf das Schicksal, dass die in allen vier Himmelsrichtungen – sub cardine quadro – ihm vor Augen liegenden Länder des Perserreichs schon bald seiner Herrschaft unterstehen werden, verteilt er entsprechend seiner obigen Ankündigung das heimatliche Europa an seine Freunde, obgleich Alexanders Generäle ob dieser aus ihrer Sicht voreiligen Einschätzung nicht gerade begeistert sind. Als äußeres Zeichen dieser inneren Haltung schützt Alexander noch vor dem eigentlichen Eroberungszug das tatsächlich noch gar nicht in seinem Besitz befindliche feindliche Vieh vor Räubern (vgl. eine ähnliche Darstellung bei Iust., Epit. Hist. XI, 6, 1–3: Inde hostem petens milites a populatione Asiae prohibuit, parcen­ dum suis rebus praefatus, nec perdenda ea, quae possessuri venerint).



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Alexanders Zug durch Kleinasien (447–492) Alexander in Kilikien (447–451) 447–451 Iamque iter arripiens Cylicum sibi vendicat arces, | conci­ liatque pii clementia principis urbes … sollertia … agitque | pace vices belli, cum parcit et obruit hostem: Ähnlich wie in den Abschnitten über die Legitimierung der Herrschaft oder über die Sicherung der Macht Alexanders in Griechenland gestaltet Walter auch das Vorgehen seines wichtigsten Protagonisten in Kleinasien als HysteronProteron, indem er den historischen Ablauf der einzelnen Stationen – den Besuch von Troja, den Durchzug durch Phrygien und die Ankunft in Kilikien – in umgekehrter Reihenfolge darstellt (zur Stellung der unhistorischen Landung Alexanders in Kilikien innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; zum Hysteron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Alexander auf dem Weg von Kilikien nach Troja (452–467) 452–467 Inde rapit cursum Frigiaeque per oppida tendit | Ilion … testatur enim vetus illa ruina, | quam fuit inmensa Troie mensura ruentis: Über Phrygien gelangt Alexander nach Troja, dessen besondere Bedeutung in der griechischen Geschichte von Walter – allerdings mit einer deutlich erkennbaren negativen Konnotation – mit zahlreichen mythologischen Hinweisen hervorgehoben wird. Bereits der Ursprung der Stadt und der Bau der Stadtmauer waren mit dem Wortbruch des trojanischen Königs Laomedon gegenüber Apollon und Poseidon verbunden. Auch die Erwähnung vom Raub des schönen Ganymed durch Jupiters Adler – zweifellos spielten in dieser Geschichte auch homoerotische Motive eine Rolle – beinhaltet eine Kritik des christlichen Autors an den im trojanischen Sagenkreis herrschenden moralischen Zuständen. In dieselbe Richtung

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weisen Walters Bemerkungen über das unüberlegte Urteil des Paris, der wegen Helena – immerhin mit dem spartanischen König Menelaos verheiratet – seine Frau Oinone verlassen und sich damit des Ehebruchs schuldig gemacht hatte. ⇔ Dieses moralische Fehlverhalten führt Walter auch als eigentlichen Grund für den Untergang der einst so mächtigen Stadt an. Insgesamt übernimmt die von Walter eingefügte Betrachtung des trojanischen Sagenkreises auch die Funktion einer Retardierung, um im Folgenden dann wieder den Blick auf Alexander selbst zu richten. Alexander in Troja (468–492) 468–492 Tot bellatorum Macedo dum busta pererrat … post mortem cineri ne desit fama sepulto, | Elisiisque velim solam hanc preponere campis: Alexander durchstreift das Trümmerfeld Trojas und stößt dabei auf das Grab des von ihm verehrten Achilles. Nachdem er für den Peliden ein Totenopfer vollzogen hat, versäumt es Walter nicht zu erwähnen, dass das Grab gemessen am Ruhm des griechischen Helden – minora loca quam fama – eigentlich viel zu klein ist. Zugleich verweist Walter damit auf Alexanders Grab, das gemessen am Ruhm des makedonischen Königs ebenso viel zu klein ausfallen wird (vgl. Alex., X, 448–450: Cui non suffecerat orbis, | sufficit exciso defos­ sa marmore terra | quinque pedum fabricata domus). Alexander hält von den nur wenigen Worten auf Achills Grabmal bewegt eine eher einem inneren Monolog gleichende Rede, in der er sich einen Dichter für seine zukünftigen Taten wünscht, der diese auf vergleichbare Weise wie Homer bei Achilles zu verewigen weiß. ⇔ Die Stelle ist damit erkennbarer Ausdruck des poetologischen Selbstverständnisses Walters, der sich als Autor der Alexandreis als zweiter Homer stilisiert und damit den Rang Vergils für sich beansprucht. Darüber hinaus tritt Walter hier auch in aemulativen Wettstreit mit Lucan, der seinen Protagonisten Caesar ebenfalls Troja besuchen lässt, um ihn



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auf eine allerdings negativ verstandene Stufe mit Achilles zu stellen (vgl. Luc., Phars., IX, 980–986). Mit Alexanders Trojabesuch und der Bezugnahme auf Homer macht Walter damit nicht nur Caesar den Rang neben Achilles streitig, sondern spricht zugleich auch Lucan die Nachfolge Homers ab (vgl. Wulfram 2000, 233–235; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6). ⇔ Abgesehen von dieser poetologischen Aussage Walters erfüllt der vorliegende Abschnitt noch eine weitere Funktion. Indem Alexander über ein zukünftiges, in alle vier Himmelsrichtungen reichendes Herrschaftsgebiet sinniert und die Meinung vertritt, dass die Welt dereinst mit einem Gebieter auskommen müsse wie mit der einen Sonne, stellt diese Aussage die in der Alexandreis erstmals zum Ausdruck gebrachte Kritik des christlichen Autors an den weit über das Perserreich hinausgehenden Eroberungsplänen des makedonischen Königs dar. Die Idee von dem einen Herrscher der Welt mit der einen Sonne scheint Walter Justin entnommen zu haben, der diesen Vergleich in leicht abgewandelter Form im Kontext eines persischen Friedensangebots vor Gaugamela Alexander in den Mund legt (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, cap. 12, 15: Ceterum neque mundum posse duo­ bus solibus regi, nec orbem summa duo regna salvo statu terrarum habere). Walter inszeniert diese christlich motivierte Kritik an Alexanders über dessen heilsgeschichtlichen Auftrag hinausgehenden Eroberungsplänen in der Troja-Episode dabei bewusst als Vorverweis auf die Ereignisse nach dem Perserkrieg, da der makedonische König innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs hinsichtlich seiner konkreten Handlungen innerhalb der Erzählung vor dem christlichen motivierten Vorwurf der Hybris geschützt ist (zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4; zur Stellung der Troja-Episode innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2).

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KOmmentar Die Jerusalem-Episode (493–554) Alexanders Siegesgewissheit (493–501)

493–501 «Neu vos excutiat cepto, gens provida, bello … occultum hoc vestris inpertiar auribus unum: Mit der am Ende von Buch I wiedergegebenen Jerusalem-Episode findet ein geschickt inszenierter Szenenwechsel statt. War Alexanders Rede an Achills Grab eigentlich eher an sich selbst gerichtet – einige seiner gerade anwesenden Feldherren oder engeren Freunde dürften dabei die einzigen Zeugen gewesen sein –, so wendet sich Alexander nun explizit an seine Soldaten, um ihnen für die in Kürze stattfindende erste ernsthafte Auseinandersetzung mit dem persischen Erbfeind am Granikus Mut zuzusprechen. Dabei versucht er ihnen die Angst vor der wankelmütigen Schicksalsgöttin Fortuna zu nehmen, indem er ihnen vor Augen führt, dass es in derartigen Situationen immer in erster Linie auf die innere Haltung ankommt, die es dem einzelnen Krieger wie der gesamten Truppe ermöglicht, auch gefährliche und schwierige Situationen erfolgreich zu meistern. Darüber hinaus möchte Alexander seinen Soldaten die Hintergründe für seine auf den Perserkrieg bezogene Siegesgewissheit erläutern, die mit einer Vision in Zusammenhang steht, die er bereits zwei Jahre zuvor am heimatlichen Hof in Pella empfangen hatte. Alexanders Vision (502–538) 502–538 Cum patris interitu nutaret Grecia merens … incertus seque­ rerne hostes patriamne tuerer, | in neutro stabilis, facturus utrumque vi­ debar … « ‹Egredere, o Macedo fortissime, finibus› inquit | ‹a patriis, omnemque tibi pessundabo gentem. | At si me tibi forte vides occurrere talem, | parce meis.› … Sic fatur celeresque gradus ad castra retorquet: Alexander empfängt die Vision des jüdischen Hohepriesters Jaddus



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– als Vorbild für seine Darstellung diente ihm möglicherweise die im Brief an Julia Eustochium geschilderte Traumvision des Hieronymus – in der für ihn äußerst schwierigen politischen Situation nach der Ermordung seines Vaters und der damit einhergehenden Unruhe über die zukünftige Ausrichtung des makedonischen Königshauses (vgl. die Einführung zum Prolog). Alexander selbst ist sich in diesem Moment nicht schlüssig, ob er gegen den persischen Erbfeind ins Feld ziehen oder die Heimat vor den Persern beschützen soll, indem er im vom Vater ererbten Reich bleibt. ⇔ Die von Walter an dieser Stelle verwirklichte Darstellung eines zutiefst verunsicherten und geradezu entscheidungsunfähigen makedonischen Königs steht hierbei in einem auffälligen Kontrast zu dem ansonsten gerade auch in der Alexandreis geprägten Alexanderbild, nach welchem der vor Selbstbewusstsein geradezu strotzende Held mit Entschlossenheit und Tatkraft – man denke dabei an die Durchtrennung des gordischen Knotens – die Dinge nach seinen Vorstellungen auch ohne göttlichen Beistand regelt und dabei niemals einen auch nur leisen Zweifel an seiner Handlungsfähigkeit aufkommen lässt. In diesem für Alexander aufgrund eigener Überlegung kaum zu lösenden Dilemma – metrisch wird Alexanders Unsicherheit durch das mit schweren Spondeen gestaltete incertus hervorgehoben – gibt ihm der jüdische Hohepriester die klare Handlungsanweisung, seine Heimat zu verlassen und den Krieg gegen die Perser zu beginnen (vgl. Alex. I, 509: incertus sequerer­ ne hostes patriamne tuerer). Mit dieser Aufforderung, das Perserreich zu erobern, ist zugleich das Versprechen des Hohepriesters verbunden, ihm die Herrschaft über das mit omnem gentem bezeichnete Perserreich unter der Bedingung der späteren Verschonung Jerusalems zu verschaffen (vgl. Alex. I, 532–535: ‹Egredere, o Macedo fortissime, fini­ bus› inquit | ‹a patriis, omnemque tibi pessundabo gentem. | At si me tibi forte vides occurrere talem, | parce meis; zur Forschungsdiskussion hinsichtlich dieser Passage vgl. die Einführung zu Buch I; vgl. auch Lehmann 2018, 15–23; zur Stellung der Jerusalem-Episode innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2).

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KOmmentar Alexanders Einzug in Jerusalem (539–554)

539–554 Vera tamen docuit … Iamque valefaciens indulto Marte be­ atae  | urbis perpetuo donavit munere cives: Die Jerusalem-Episode endet mit der als Vorgriff gestalteten Darstellung über den fünf Jahre nach der eigentlichen Vision in die Tat umgesetzten Einzug Alexanders in Jerusalem, wo er dem jüdischen Hohepriester persönlich begegnet und seine Vision dadurch ein reale Bestätigung erfährt (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Entsprechend der in der Vision zum Ausdruck gebrachten Bitte des Hohepriesters ehrt Alexander diesen, bringt Friedensopfer dar und verschont die heilige Stadt (zur Forschungsdiskussion hinsichtlich dieser Passage vgl. die Einführung zu Buch I; vgl. auch Lehmann 2018, 15–23).

Einführung zu Buch II Zum überwiegenden Teil beschäftigt sich Walter in Buch II mit den Vorbereitungen der Perser und Griechen für die Schlacht bei Issus. Im Zuge dessen werden anhand einer intertextuellen Kon­ trastimitation zum ersten Mal in der Alexandreis die moralischen bzw. charakterlichen Defizite des persischen Königs ins Blickfeld des Lesers gerückt, um diesen schon im Vorhinein als Verlierer der kommenden Auseinandersetzung in Szene zu setzen (vgl. Komm. II, 1–17; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Demselben Zweck dient die sich unmittelbar daran anschließende Wiedergabe eines Briefwechsels zwischen dem persischen und dem makedonischen König, mit dem Walter anhand einer vergleichenden Charakterisierung die unterschiedlichen moralischen Qualitäten der beiden wichtigsten Protagonisten des Epos herausarbeitet (vgl. Komm. II, 18–44). Nach dem in nur fünf Versen geschilderten Sieg der Griechen in der Schlacht am Granikus gelangt Alexander über Phrygien, wo er den gordischen Knoten zerschlägt, nach Kilikien und überwindet auf seinem weiteren Weg an die kilikische Küste ohne Schwierigkeiten die im Taurus-Gebirge liegende Engstelle an der Kilikischen Pforte (vgl. Komm. II, 91–102). Auch an diesem Punkt seiner abermals am sensus moralis orientierten Darstellung lässt Walter den für die Griechen positiven Ausgang des Perserkriegs prospektiv anklingen, indem er in bewusster Manier den ängstlich und zögerlich agierenden Darius dem mit großer Geschwindigkeit vorwärts drängenden Alexander – die Schnelligkeit wird in der gesamten Alexandreis

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als Teilbereich der aristotelischen Tugend der Tapferkeit dargestellt – vergleichend gegenüberstellt. Breiten Raum nimmt die Episode um Alexanders unheilvolles Bad im Kydnus ein, die vom Autor der Alexandreis auf virtuose Art und Weise zur Inszenierung der Schicksalsgöttin Fortuna genutzt wird, die ungeachtet ihres charakteristischen Wankelmuts in ihrer Rolle als integraler Bestandteil des Fatums den zu diesem Zeitpunkt noch von der christlichen Heilsgeschichte geschützten makedonischen König ihrer Bestimmung entsprechend vor den unmittelbaren Folgen des Badeunfalls rettet (vgl. Komm. II, 186–200; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Zudem nutzt Walter die Episode am Kydnus nur wenige Tage vor der Schlacht bei Issus noch einmal, um die herausragende Tugendhaftigkeit Alexanders herauszuarbeiten, der sich mit seinem vertrauensvollen Verhalten gegenüber seinem Arzt Phi­ lipp entsprechend der Vorgaben der Aristoteles-Rede – noch immer orientiert sich Walter dabei am sensus moralis – insbesondere hinsichtlich der Tugend der Tapferkeit vorbildlich verhält (vgl. Komm. II, 200–217; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Wie sehr Walter mit seiner Darstellung dem sensus moralis auch und gerade in der Schilderung der Vorbereitungen zur entscheidenden Schlacht bei Issus Ausdruck verleiht, zeigt auch die nach Alexanders dortiger Ankunft wiedergegebene Sisines-Episode (vgl. Komm. II, 269–271). Anders als seine wichtigste historische Vorlage Curtius, der den makedonischen König mit diesem Vorfall nicht nur einer ganz bewusst zum Ausdruck gebrachten moralischen Kritik unterzieht, sondern diesen in unmittelbarem Anschluss daran in der Begegnung zwischen Darius und dem griechischen Söldner Tymodes auch als Negativfolie für seine überaus positive Darstellung des persischen Königs benutzt, blendet Walter nahezu alle Informationen aus, die ein negatives Bild auf seinen wichtigsten Protagonisten werfen könnten. Damit vermeidet es Walter, Alexan-



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der zu einem Zeitpunkt, an dem sich dieser mit der Eroberung des Perserreichs noch innerhalb seines heilsgeschichtlich legitimierten Auftrags bewegt, einer auf die konkrete Situation der Erzählung bezogenen moralischen Kritik zu unterziehen, durch die dieser seiner für die zeitgenössische Leserschaft aufbereiteten Vorbildfunktion beraubt werden würde (zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. auch Einleitung 3). Im Kontext von Darius’ Feldherrnrede entfaltet Walter mit dem sensus anagogicus eine weitere Ebene seiner spezifischen Geschichtsdeutung. Dabei lässt sich über die Inszenierung eines locus amoenus und dem Hinweis auf einen bedeutsamen Lorbeerbaum eine typologische Verbindungslinie zwischen Alexander und Karl dem Großen auf der einen Seite und zwischen Darius und dem Sarazenenführer Baligant auf der anderen Seite ziehen, die als Hinweis auf den jungen französischen König Philipp II. und dessen zukünftige Aufgabe als Anführer im Kampf gegen die Muslime gedeutet werden kann (vgl. Komm. II, 306–318; zur anagogischen Ebene der Alexan­ dreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Wiener 2001, 91–92). In der Feldherrnrede des Darius selbst weist Walter ebenso wie mit der unmittelbar daran folgenden Ekphrasis des Darius-Schildes mit der Erwähnung der genealogischen Verbindung der Perser mit dem Geschlecht der Giganten und der damit einhergehenden typologischen Verbindung Alexanders mit Herkules bzw. der Perser mit den Giganten ein weiteres Mal prospektiv darauf hin, dass der Sieg der Griechen in der Schlacht bei Issus und damit letztlich auch deren Sieg im gesamten Perserkrieg aus heilsgeschichtlicher Perspektive nicht aufzuhalten ist (vgl. Komm. II, 319–371; vgl. auch Komm. II, 450–486; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Den Abschluss von Buch II bildet ein Autorexkurs über die Vergänglichkeit irdischer Macht, mit dem Walter über die Bezugnahme auf Cyrus nicht nur auf Darius’ bevorstehendes Ende hinweist, son-

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dern darüber hinaus auch Alexander in den Blick nimmt, der nach der heilsgeschichtlich legitimierten Eroberung des Perserreichs das menschliche Maß überschreitet und zu einem späteren Zeitpunkt aus christlicher Sicht demzufolge verdientermaßen den Tod im Epos erleidet (vgl. Komm. II, 530–544).

Kommentar zu Buch II Themenübersicht (1–10) C 1 Preparat ad pugnam Darium Persasque secundus: Mit dem durch preparat und Persasque alliterativ gerahmten und überdies alliterativ hervorgehobenen pugnam macht Walter gleich zu Beginn seiner Themenübersicht deutlich, dass sein Hauptaugenmerk im vorliegenden Buch auf den Vorbereitungen der von Darius angeführten Perser für die bevorstehende kriegerische Auseinandersetzung mit Alexander liegt. Während die für den Ausgang des Perserkriegs letztlich weniger bedeutende erste Auseinandersetzung am Granikus im Haupttext nur kurz erwähnt wird, liegt der Schwerpunkt in Walters Darstellung bei den umfangreichen Vorbereitungen für die kriegsentscheidende Schlacht bei Issus (vgl. Komm. II, 64–68). C 2 Scribit Alexandro Darius populumque recenset: Noch vor der Schlacht am Granikus wird Alexander von persischen Boten ein äußerst herablassender Brief des persischen Königs überbracht, mit dem dieser nicht ohne beißenden Spott den Versuch unternimmt, seinen makedonischen Gegner zu diskreditieren und ihn gleichzeitig von der Gefährlichkeit und der Aussichtslosigkeit von dessen gegen das Perserreich gerichteten Unternehmen zu überzeugen. Sprachlich bringt Walter Darius’ Ansinnen an der vorliegenden Stelle dadurch zum Ausdruck, dass der makedonische König als der Handlung des persischen Königs unterworfenes Objekt mit der Positionierung zwischen scribit und Darius sozusagen von allen Seiten umzingelt und aus Darius’ Sicht damit prospektiv als Verlierer der bevorstehenden Auseinandersetzung dargestellt wird. Zugleich wird dem makedonischen König mit dem handelnden Subjekt Darius, der in betonter Mittelstellung diesem sprachlich den Zugang zum zweiten

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Teil des Verses verwehrt, eine vermeintlich unüberwindliche Grenze für dessen Eroberungsdrang gesetzt. Nicht zufällig beschäftigt sich die zweite Hälfte des Verses dann auch ausschließlich mit dem persischen König, der sein von Walter gemessen an der gewaltigen Größe der persischen Streitkräfte treffend mit populum umschriebenes Heer in Augenschein nimmt. Mit der engen sprachlichen Verbindung des Darius mit dem zahlenmäßig überlegenen Heer der Perser verweist Walter damit auch im zweiten Teil dieses Verses geschickt auf die in besagtem Brief auf provokative Weise zum Ausdruck gebrachte Überzeugung des persischen Königs von der vermeintlichen Chancenlosigkeit Alexanders im bevorstehenden Krieg (vgl. Komm. II, 18–44). C 3 At Macedo fatale iugum mucrone resolvit: Mit einem gedanklichen Sprung in das Frühjahr 333 v. Chr. verlegt Walter das Geschehen ohne weitere Umschweife in die phrygische Hauptstadt nach Gordium. Mit der auf den schicksalhaften Charakter des Jochs verweisenden Formulierung fatale iugum stellt Walter den Bezug zum dortigen Orakel her, das verkündet hatte, dass derjenige, der in der Lage sein sollte, den gordischen Knoten zu lösen, die Herrschaft über Asien erringen werde (zu den verschiedenen Bedeutungen von Asien vgl. Komm. I, C 4–5). Alexander löst die auf normalem Weg eigentlich unlösbare Aufgabe, indem er den aus zahlreichen unentwirrbaren Seilen bestehenden Knoten kurzerhand mit seinem Schwert zerschlägt (vgl. Komm. II, 75–90). C 4 seque sibi recipit, morbum curante Philippo: Noch bevor Alexander im August 333 v. Chr. die Stadt Tarsus an der kilikischen Küste erreicht, wäre er bei einem Bad im eiskalten Wasser des Kydnus, eines im Taurus-Gebirge entspringenden Flusses, beinahe ertrunken. Erst durch das Eingreifen der Schicksalsgöttin Fortuna – so Walter – kann Alexander von den unmittelbaren Folgen des Badeunfalls gerettet werden. ⇔ Mit morbum spricht Walter die im Anschluss an



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das verhängnisvolle Bad aufgetretene Krankheit Alexanders an, von der er sich erst durch die Intervention seines Leibarztes Philipp erholt (vgl. Komm. II, 153–256; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). C 5–6 Stant hinc inde acies Cylicum conclusa iugosis | faucibus: An einem regnerischen Novembertag des Jahres 333 v. Chr. bewegen sich die feindlichen Heere der Perser und Griechen in der Nähe von Issus – auf beiden Seiten der Passhöhe von den steil abfallenden Höhenzügen des kilikischen Küstengebirges beengt – aufeinander zu, um die Entscheidung in der Schlacht zu suchen (vgl. Komm. II, 257–268). ⇔ Sprachlich bringt Walter den für das Verständnis der vorliegenden Stelle bedeutsamen Umstand, dass sich die beiden Heere an unterschiedlichen Stellen des kilikischen Gebirges – auf der nördlichen Seite des Passes die Griechen und auf der südlichen Seite die Perser – gegenüberstehen, zum Ausdruck, indem er das formal ambivalente acies als Nominativ Plural nicht nur syntaktisch mit dem Prädikat stant in Beziehung setzt, sondern mit Hilfe einer constructio ad sensum auch mit dem singularischen Partizip conclusa im Sinne von jedes der beiden Heere in Verbindung bringt. C 6 Iniusti Sysenem premit alea fati: Bei Sisines handelt es sich um einen abtrünnigen Perser, der im Feldzug gegen Darius eigentlich zu den treuen Gefolgsleuten des makedonischen Königs gehört, aufgrund eines falschen Verdachts jedoch ungerechtfertigterweise hingerichtet wird (vgl. Komm. II, 269–271). C 7–9 Spernitur a Persis ducibus licet utile docti | consilium Tymo­ dis: placuit committere fatis | omne simul robur: Tymodes ist der Anführer der griechischen Söldner aufseiten des Darius, der dem persischen König den Rat erteilt, in der bevorstehenden Schlacht bei Issus nicht alles auf eine Karte zu setzen, sondern das Heer so aufzuteilen, dass er für den Fall, dass die Schlacht einen ungünstigen Ver-

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lauf nehmen sollte, noch frische Kräfte in der Hinterhand behält. Der Plan wird jedoch von den ranghöchsten persischen Offizieren hintertrieben, die es für sinnvoller halten, gleichzeitig das gesamte Heer in die Schlacht zu schicken, um so schnell wie möglich die Entscheidung mit der Wucht der vorhandenen Übermacht herbeizuführen (vgl. Komm. II, 272–305). C 9–10 Socios hortatur ad arma | acer uterque ducum. Plaudentibus assonat aer: Die Themenübersicht endet mit dem Hinweis auf die Ansprachen beider Heerführer kurz vor der Schlacht bei Issus (vgl. Komm. II, 325–371; vgl. auch Komm. II, 450–486). Der Perserkönig Darius (1–63) Die Charakterzeichnung des Darius (1–17) 1–17 Ultorem patriae Magnum iam fata minantem … desidiae torpore gravis luxuque soluti | terrifico strepitu Darii … experientia Martis, | qua dissuetus erat … ut in omnibus esset | inferior … si mens tanta foret pugnandi, quanta facultas … ruit omnis in arma iuven­ tus: Wie bereits im Kontext von Alexanders Überfahrt nach Kleinasien erkennbar geworden war, setzt Walter seine Personen über die von seinen historischen Quellen gebotenen Zusammenhänge hinaus bewusst in Beziehung zu seinen epischen Vorbildern (vgl. Alex. I, 359–385). Als Darius mit Beginn von Buch II erstmals deutlich erkennbar ins Blickfeld des Lesers gerückt wird, stellt Walter den persischen König dementsprechend in einer Weise dar, die mit der Beschreibung des Pompeius in Lucans Pharsalia etliche – wie in der Alexandreis häufig zu beobachten ist – insbesondere motivische Parallelen aufweist (vgl. Zwierlein 2004, 610–611). Walter setzt diese an der vorliegenden Stelle verwirklichte vergleichende Charakterisierung über das grundsätzliche Streben nach imitatio



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und aemulatio hinaus in erster Linie deshalb ins Werk, um Darius mittels einer bewussten Inszenierung eines in Untätigkeit erstarrten und von Luxus geschwächten Königs noch vor der ersten Schlacht am Granikus bereits prospektiv als Verlierer des gesamten Perserkriegs vorzustellen. Auch die explizit angesprochene Entwöhnung vom Krieg wird hier in Anlehnung an Lucans Pharsalia als Grund für die Unterlegenheit des persischen Königs in pejorativem Sinn mit Nachdruck hervorgehoben (vgl. Luc., Phars. 130–131: longoque togae tranquillior usu  | dedidicit iam pace ducem). Die in Walters Darstellung durch die charakterlichen bzw. moralischen Defizite des Darius bedingte Unterlegenheit der Perser steht dabei in auffälligem Kontrast zu den militärischen Möglichkeiten, die diesem zur Verfügung gestanden hätten, wenn er denn nur den echten Willen zum Kampf gehabt hätte (vgl. Alex. II, 10–12: ut in omnibus esset | inferior duce, quo poterat prestantior esse, | si mens tanta foret pug­ nandi quanta facultas; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Ebenso deutlich wird das zaghafte und zögerliche Verhalten des persischen Königs im Kontext der Aufstellung eines von Darius selbst angeführten Heeres zum Ausdruck gebracht (vgl. Alex. II, 13–17). Denn erst die Angst vor Gesichtsverlust bringt den Perserkönig letztlich gegen seinen Willen dazu, endlich die notwendigen Maßnahmen zur Mobilmachung in die Wege zu leiten. Auch mit dieser Beschreibung des persischen Königs verweist Walter auf Pompeius, der in Lucans Schilderung von den im Lager anwesenden Senatoren erst mit Nachdruck überredet werden muss, die Schlacht gegen Caesar im Vertrauen auf das Schicksal und die zahlenmäßige Überlegenheit der eigenen Truppen eigentlich gegen seinen Willen zu eröffnen. Lucan lässt in seinem Epos dabei keinen Geringeren als Marcus Tullius Cicero – die Anwesenheit des berühmten römischen Redners und Politikers im Lager des Pompeius ist historisch allerdings nicht verbürgt – die drängenden Bitten der Senatoren formulieren (vgl. Luc., Phars. VII, 68–85). Nur durch Ciceros Rede gedrängt gibt

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Pompeius schließlich das Zeichen zum Angriff, nicht ohne zu betonen, dass er diesen Befehl nicht aus innerer Überzeugung gebe, sondern lediglich das Schicksal nicht länger aufhalten wolle (vgl. Luc., Phars. VII, 87–123). ⇔ Die von Walter in diesem Kontext angeführten charakterlichen Schwächen des Darius dürfen jedoch nicht zu dem voreiligen Schluss verleiten, dass der Autor der Alexandreis in anderen Zusammenhängen nicht auch das im persischen König grundsätzlich vorhandene Tugendpotenzial zum Ausdruck bringt. Wenn Darius nämlich nicht als Negativfolie für Alexander dient, wird – wie nur wenig später die milde Behandlung des griechischen Söldners Tymodes zu zeigen vermag – von Walter durchaus auch das tugendhafte Verhalten des persischen Königs positiv hervorgehoben (vgl. Alex. II, 272–305). ⇔ Historisch betrachtet ist der von Walter an dieser Stelle an Darius gerichtete Vorwurf der Untätigkeit und der Zaghaftigkeit indes so gar nicht haltbar, da der persische König zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgehen konnte, dass das unter der Führung des griechischen Söldners Memnon stehende Satrapenheer in der Schlacht am Granikus den Sieg über Alexander erringen würde. Viel mehr als um historische Genauigkeit geht es Walter hier also offenbar darum, noch vor dem ersten militärischen Aufeinandertreffen Alexanders Sieg gegen das Perserreich vorwegzunehmen, indem er ganz bewusst die moralische Überlegenheit seines wichtigsten Protagonisten kontrastierend herausstellt (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Die Korrespondenz zwischen Darius und Alexander (18–44) 18–44 Interea a Dario, ne nil fecisse videri  | possit, Alexandro le­ gatur epistola talis … vario legatos munere donat: Nach Alexanders Ankunft in Kleinasien überbringen ihm Boten einen mehr als anmaßenden Brief des persischen Königs, in welchem dieser keine



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Gelegenheit auslässt, seinen makedonischen Kontrahenten herabzusetzen und diesen als Anführer des griechischen Heeres zu diskreditieren. ⇔ Wie Wulfram (2002) 66–67 bemerkt, bedient sich Walter bei der Inszenierung dieser Episode der auf Basis des Alexanderromans entstandenen Epitome des Julius Valerius, die sowohl den Brief des persischen Königs als auch Alexanders Antwort auf diesen Brief in entsprechender Weise überliefert (vgl. Iul. Val. Epit. I, 36; vgl. auch Curt., Hist. Alex. III, 5, 12–13, der jedoch nur einen kurzen und wenig aussagekräftigen Hinweis auf Darius’ Brief gibt). ⇔ Darius, der sich in seinem Schreiben selbstgefällig als rex regum … consanguineusque deorum bezeichnet, spricht seinen Widersacher abschätzig mit famulus und puer an und legt diesem nahe, die für einen unreifen Jüngling seines Alters ungeeigneten Waffen abzulegen und nach Hause in den Schoß der eigenen Mutter zurückzukehren (vgl. Alex. II, 20–25). Abgesehen von diesem Brief werden Alexander überdies drei symbolträchtige Geschenke – eine Peitsche, ein Ball sowie Schatullen voller Goldmünzen – überreicht, um die schriftlich formulierte Botschaft noch zu verstärken: Die Peitsche und der Ball sollen dem makedonischen König seinem jugendlichen Alter entsprechend als Spielzeug dienen und die Goldmünzen zur Begleichung seines bisherigen Aufwands. Im Falle einer Weigerung Alexanders, diesen Anweisungen Folge zu leisten, droht ihm Darius mit Gefangennahme, Folter und Tod (vgl. Alex. II, 26–33). Nicht ohne berechtigten Zorn – modice turbatus – zu empfinden – man denke in diesem Zusammenhang an die Ratschläge des Aristoteles hinsichtlich der Tugend der angemessenen Zürnkraft – kehrt Alexander in seiner Antwort die Symbolik der Geschenke geschickt um: Der runde Ball symbolisiere die kugelförmige Erde, die er zu erobern gedenke, die Peitsche werde er zur Züchtigung der unterlegenen Perser einsetzen und das Gold betrachte er als Vorgeschmack auf die großen Reichtümer der persischen Schatzkammern, mit denen er die Taschen der siegreichen Griechen zu füllen beabsichtige (vgl. Alex. II, 34–42; zur Tugend der angemessenen Zürnkraft

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vgl. Komm. I, 115). ⇔ Man kann an dieser Stelle die Frage aufwerfen, warum Walter diese schriftliche Auseinandersetzung zwischen den beiden Königen in dieser Ausführlichkeit in seine Darstellung aufnimmt, obwohl seine historische Hauptquelle Curtius darüber nur wenige Worte verliert. Es spricht wohl vieles dafür, dass der Autor der Alexandreis diesen Briefwechsel nutzen möchte, um noch vor der ersten Schlacht am Granikus die Charaktere seiner beiden wichtigsten Protagonisten noch einmal zu kontrastieren und so ungeachtet der zahlenmäßigen persischen Übermacht schon vorab die eigentlichen und tatsächlich von anderen Faktoren abhängigen Kräfteverhältnisse in dieser kriegerischen Auseinandersetzung deutlich zu machen. Denn auf der einen Seite befindet sich der persische König, der seinen Brief – so Walter – nur schreibt, um nicht untätig zu erscheinen, dabei in Anbetracht der späteren Niederlage und der feigen Flucht eine vollkommen grundlose Überheblichkeit an den Tag legt und offenbar seinen Gegner auf sträfliche Art und Weise unterschätzt. Mit diesem großspurigen Verhalten verletzt Darius jedoch die Vorgaben der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend des angemessenen Stolzes, indem er sich des Lasters der Eitelkeit schuldig macht (vgl. Komm. I, 182–183; vgl. auch Komm. VII, 17–58; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw. des lateinischen Begriffs magnanimitas mit angemessener Stolz vgl. die Einführung zu Buch I). Zudem assoziiert der mittelalterliche Leser mit dem von Darius für die eigene Person benutzten Titel rex regum keinen Geringeren als Christus selbst, womit die Überheblichkeit des persischen Königs zusätzlich auch noch eine christliche Dimension erhält (vgl. Timotheus 6, 15: usque in adventum Domini nostri Iesu Christi quem suis temporibus ostendet beatus et solus po­ tens rex regum et Dominus dominantium). Auf der anderen Seite steht mit Alexander ein Feldherr und König bereit, der sich weder von gehässigen Diffamierungen noch von böswilligen Drohungen einschüchtern lässt, sondern überaus gedankenschnell – ein Vorgeschmack auf die in der Aristoteles-Rede angemahnte und in den



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späteren Schlachten glanzvoll umgesetzte Handlungsschnelligkeit Alexanders – in der Lage ist, mit seiner beeindruckenden geistigen Beweglichkeit die vom Gegner ausgehende Aggression geschickt gegen diesen zu wenden und zum eigenen Vorteil zu nutzen (zur Handlungsschnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 136–143). ⇔ Damit nimmt Walter wie bereits im Abschnitt zuvor durch eine vergleichende Charakterisierung der beiden wichtigsten Protagonisten des Epos und ihrer charakterlichen bzw. moralischen Qualitäten bzw. Schwächen den Ausgang der kriegerischen Auseinandersetzung auch an dieser Stelle vorweg (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Die Heerschau des Darius (45–63) 45–63 At Darius, quamvis fama mediante recepto | Mennonis exces­ su labefacto pectore nutet, | aspera fortunae tamen in contraria tor­ quens … capripedi Fauno commendat sedula Baucis: Darius begibt sich Walters Erzählung zufolge zum Euphrat, um in der dortigen Ebene dem Xerxes vergleichbar von einem Wall aus eine den ganzen Tag über andauernde Heerschau abzuhalten. Walter bedient sich dabei in stark verkürzter Form der Vorlage des Curtius. Während der römische Historiker die Heerschau jedoch historisch korrekt ausschließlich mit den Vorbereitungen zur Schlacht bei Issus im Spätsommer 333 v. Chr. in Verbindung bringt, verlegt Walter die Szenerie mit einem Teil von Curtius’ Darstellung noch vor die Schlacht am Granikus im Mai 334 v. Chr. ⇔ Offenbar war es Walter aus kompositorischen Gründen ein Anliegen, in seinem Epos noch vor der ersten Schlacht gegen die Perser eine Heerschau einzufügen, auch wenn sich das von ihm beschriebene persische Herr zumindest in Curtius’ Darstellung am Euphrat und nicht am Granikus aufhielt. Die veränderte Chronologie bringt für Walter jedoch die Schwierig-

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keit mit sich, dass bei Curtius erwähnt wird, Darius habe von der Todesnachricht des Memnon schwer erschüttert den Beschluss gefasst, nun selbst in den Kampf einzugreifen (vgl. Curt. Hist. Alex. III, 2, 1: At Dareus nuntiata Memnonis morte haud secus, quam par erat, motus omissa omni alia spe statuit ipse decernere). Memnon starb jedoch tatsächlich erst bei der Belagerung von Mytilene im Sommer des Jahres 333 v. Chr., als sich Alexander ungefähr zum selben Zeitpunkt von Gordium aus auf dem Weg zur Kilikischen Pforte und nach Tarsus an der Südküste Kleinasiens befand. Walter versucht diese Schwierigkeit zu lösen, indem er Curtius’ Darstellung dahingehend abändert, dass er die Nachricht von Memnons Tod lediglich als ein im Lager umlaufendes Gerücht behandelt, das sich im Nachhinein durch dessen Beteiligung an der Schlacht am Granikus dann eben als unwahr herausstellt (vgl. Alex. II, 45–46: At Darius, quamvis fama mediante recepto | Mennonis excessu labefacto pectore nutet). Im Übrigen war Memnons Tod im Sommer des Jahres 333. v. Chr. für Alexander ein nicht zu unterschätzender strategischer Vorteil, da damit zumindest mittelfristig die Bedrohung im Rücken des griechischen Heeres beseitigt war und ein gefährlicher Zweifrontenkrieg vermieden werden konnte. Dieser Sachverhalt wird besonders vor dem Hintergrund bedeutsam, dass Alexander noch in Gordium trotz der in seinen Augen damals noch bestehenden Bedrohung durch Memnon beschlossen hatte, alles zu riskieren und mit seinem Heer weiter in Richtung Osten zu marschieren (vgl. Barceló 2007, 209). Der begabte Feldherr Memnon ist nur ein Beispiel griechischer Söldner in Diensten der persischen Könige unter vielen. Der Grund für diese Unterstützung der Perser durch griechische Söldner lag insbesondere darin, dass vonseiten zahlreicher griechischer Stadtstaaten eine schon von Alexanders Vater Philipp angestrebte Hegemonie Makedoniens in Griechenland verhindert bzw. rückgängig gemacht werden sollte (vgl. Komm. I, 27–39). ⇔ Die Beschreibung des persischen Heeres, das sich am nächsten Morgen über den Wall des Lagers hinweg in Bewegung setzt, verbindet Walter mit einem



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Gleichnis aus der Welt der Hirten. ⇔ Die Verwendung von Gleichnissen gehört schon zum Repertoire antiker Epiker und wird auch von einem mittelalterlichen Autor wie Walter für sein Epos immer wieder eingesetzt, um einen bestimmten Sachverhalt oder eine bestimmte Situation zu veranschaulichen (vgl. Christensen 1905, 77–82). ⇔ Im vorliegenden Fall wird die Situation der sich nach der Heerschau zum Euphrat hin in Bewegung setzenden persischen Soldaten mit den am frühen Morgen auf die Frühlingsweiden ziehenden Schafe verglichen, die vom Hirten einer genauen Zählung unterzogen werden, um keines der Tiere an einen Wolf zu verlieren (vgl. Alex. II, 59). Walter arbeitet dabei insbesondere auf der motivischen Ebene Gemeinsamkeiten zu literarischen Vorbildern heraus und verbindet dabei geschickt Anklänge an antike Autoren mit christlichem Gedankengut. Die Stelle erinnert zum einen an die Georgica Vergils, der einen Hirten beschreibt, wie er die von der Weide in den Stall heimkehrenden Kälber und Lämmer zählt, um sicherzugehen, dass keines der Tiere ein Opfer von Wölfen geworden ist (vgl. Verg., Georg. IV, 433–436: Ipse, velut stabuli custos in monti­ bus olim, | Vesper ubi e pastu vitulos ad tecta reducit/auditisque lupos acuunt balatibus agni, | consedit scopulo medius, numerumque recen­ set). Ferner legt die Erwähnung der sedula Baucis bei Walter eine in diesem Fall zudem wortgetreue und auch hinsichtlich der Stellung am Versende identische Bezugnahme auf Ovid nahe, der in seinen Metamorphosen die Geschichte des alten Ehepaars Philemon und Baucis erzählt (vgl. Ov., Met. VII, 640). Zum anderen werden mit dem Bild des gewissenhaften Hirten – zumal bei einem mittelalterlichen Leser – aber auch Assoziationen zum Johnannes-Evangelium geweckt, wo Jesus sich selbst als guten Hirten beschreibt, der seine Schafe kennt und für diese auch sein Leben lässt. Im Unterschied dazu lässt ein schlechter Hirte, dem die Schafe nicht gehören, diese sofort im Stich, wenn er den Wolf kommen sieht (vgl. Joh. 10, 12).

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KOmmentar Die Schlacht am Granikus (64–68)

64–68 At prior in Magnum Darii congressus et acris … fudit Alex­ ander: Die mit der Schlacht am Granikus erste wirklich ernsthafte kriegerische Auseinandersetzung Alexanders mit dem persischen Reich im Mai des Jahres 334. v. Chr. schildert Walter in aller Knappheit in noch nicht einmal fünf Versen. ⇔ Dies mag in erster Linie daran liegen, dass er an dieser Stelle in Ermangelung der ersten beiden Bücher des Curtius nicht auf den antiken Historiker zurückgreifen konnte und somit möglicherweise in nicht ausreichendem Maße über verwertbare Informationen verfügte. Abgesehen davon legt Walter in seinem Epos sein Hauptaugenmerk ohnehin sehr viel stärker auf die für den Ausgang des Perserkriegs – auch aus historischer Perspektive – sehr viel bedeutendere Schlacht bei Issus. Als Quelle für die ersten drei Verse in Walters Darstellung scheint – sieht man von der Erwähnung Memnons bei Walter ab – die Epitome des Justin gedient zu haben, der das Geschehen in vergleichbarerer Kürze und in einem ähnlichen Wortlaut schildert (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 6, 11–12: Prima igitur congressio in campis Adrastiis fuit. In acie Persarum sexcenta milia militum fuere; vgl. auch Oros., Hist. adv. pag. III, 16, 4: Primo eius cum Dario rege congressu sescenta milia Persarum in acie fuere, quae non minus arte Alexandri superata quam virtute Macedonum terga verterunt). ⇔ Abschließend stellt Walter nüchtern fest, dass Alexanders Sieg am Granikus gegen das persische Satrapenheer ungeachtet der zahlenmäßigen Unterlegenheit der makedonischen Truppen als das Ergebnis ihrer überlegenen Kampfkraft betrachtet werden muss (vgl. Alex. II, 67–68: Quos licet inferior numero, sed fortior armis | fudit Alexander).



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Alexander in Phrygien (68–90) Alexanders Ankunft in Phrygien (68–70) 68–70 expugnatamque suorum  | viribus intravit Midae predivitis aulam:  | Gordian veteres, Sardis dixere moderni: Die unmittelbar auf die Schlacht am Granikus folgende Eroberung der Westküste Kleinasiens, die dem makedonischen König mit der Einnahme von Sardes, Milet und Halikarnassus die Kriegskasse gefüllt hatte, bleibt bei Walter – wohl auch wegen der fehlenden ersten beiden Bücher des Curtius – unerwähnt. Die Bezugnahme auf seine historische Hauptquelle setzt erst mit der Beschreibung des Alexanderzugs durch das zur damaligen Zeit reiche Phrygien und der Ankunft des makedonischen Königs in der phrygischen Hauptstadt Gordium ein. ⇔ Walter vollzieht diesen Wechsel des Schauplatzes vom Granikus nach Gordium in weniger als zwei Versen ausgesprochen schnell, obgleich zwischen beiden Ereignissen historisch betrachtet tatsächlich mehr als ein ganzes Jahr lag. Die Eroberung von Gordium findet ebenso wie die Beschreibung der Stadt als ehemalige Residenz des sagenhaften Königs Midas eine jeweils nur kurze Erwähnung. Die irrtümliche Gleichsetzung der beiden kleinasiatischen Städte Sardes und Gordium bei Walter geht vermutlich auf Orosius zurück (vgl. Oros., Hist. adv. pag. III, 16, 5: Gordien Phrygiae civitatem, quae nunc Sardis vocitatur). Die geographische Lage von Gordium (71–74) 71–74 Hic Asiam refluis undarum incursibus artant | faucibus an­ gustis gemini confinia ponti. | Hic ab utroque mari distans Sangarius eque | litoribus tamen alterius communicat undas: Interessanterweise verortet Walter auf der geographischen Länge von Gordium mit den Worten faucibus angustis einen Isthmus, der durch das Schwar-

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ze Meer im Norden und die Kilikische See im Süden seiner Natur entsprechend die kleinasiatische Halbinsel verengt. ⇔ Aus moderner geographischer Sicht durchaus bemerkenswert ist dabei der Sachverhalt, dass am Übergang vom Hellenismus zur römischen Kaiserzeit nicht nur wie in klassischer und frühhellenistischer Zeit üblich Landengen von weniger als fünf Kilometer Durchmesser als ἰσθμόι – bekanntestes Beispiel in der griechischen Welt ist dabei sicherlich der Isthmus von Korinth – bezeichnet wurden, sondern durchaus auch Landschaften damit assoziiert wurden, die wie die kleinasiatische Halbinsel einen sehr viel größeren Abstand der einander gegenüberliegenden Küsten aufweisen (vgl. Pettegrew 2016, 138–139). Im griechischen und lateinischen Schrifttum finden für Kleinasien dabei insbesondere zwei ἰσθμόι Erwähnung, die jedoch – und das lässt aufhorchen – interessanterweise beide sehr viel weiter im Osten der kleinasiatischen Halbinsel liegen als das von Walter beschriebene Gordium. Strabon beispielsweise erwähnt in seiner Geographie zum einen die von Apollodorus in Anlehnung an Homer befürwortete Verbindungslinie zwischen Issus an der kilikischen Küste und Sinope an der Küste des Schwarzen Meeres, zum anderen die von ihm selbst favorisierte und nur wenig weiter westlich liegende Verbindungslinie zwischen Tarsus im Süden und Amisus im Norden (vgl. Strab., Geogr. XIV, 5, 22 und XII, 1, 3). Plinius der Ältere wiederum gibt in seiner Naturalis Historia ebenso wie Apollodorus als kürzeste Strecke zwischen den beiden Meeren die Verbindungslinie zwischen Issus und Sinope an (vgl. Plin., Nat. Hist. VI, 2, 7). An dieser Stelle der Erörterung liegt die Vermutung nahe, dass Walter unter den geschilderten Umständen Gordium möglicherweise sehr viel weiter im Osten – eben auf der geographischen Länge von Tarsus oder Issus – angesiedelt hat, als dies den tatsächlichen geographischen Gegebenheiten entspricht (bezogen auf Curtius äußert Mützel diese irrige Annahme, vgl. Mützel 1841, 16: »Curtius meint […], in der Richtung von Gordium liegt die schmalste Stelle von Kleinasien. […] Doch scheint freilich Curtius



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die Lage von Gordium weit östlicher gedacht zu haben.«). Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass auch in Walters Beschreibung der makedonische König nur wenig später nicht nur durch das östlich von Gordium liegende Ankyra zieht, sondern auch auf seinem insgesamt nach Südosten führenden Feldzug über Kappadokien bis nach Tarsus an die kilikische Küste gelangt. Demzufolge ist die Annahme einer gedanklichen Verlegung von Gordium auf die geographische Länge von Tarsus bei Walter aus rein geographischen Gründen – das unter dieser Prämisse zwangsläufig ebenso nach Osten rückende Ankyra würde dann beinahe in Armenien liegen – auszuschließen. ⇔ Die Lösung für dieses in der modernen Forschung bisher ungelöste Problem ergibt sich durch einen genauen sprachlichen Vergleich der jeweiligen Stelle bei Curtius und Walter: Der römische Historiker beginnt seine als geographischen Exkurs gestaltete Darstellung mit dem Namen der Stadt und dem durch Gordium fließenden Sangarius, um dann zu der Feststellung zu gelangen, dass dieser Ort in gleicher Entfernung vom Schwarzen Meer im Norden und der Kilikischen See im Süden liegt und man sich damit bezogen auf die Nord-Süderstreckung genau in der Mitte der kleinasiatischen Halbinsel befindet (vgl. Curt. Hist. Alex. III, 1, 12–13: Gordium nomen est urbi, quam Sangarius amnis praeterfluit pari intervallo Pontico et Cilicio mari distantem; hinsichtlich dieser Stelle scheinen die Ausführungen des Livius, der Gordium als Mittelpunkt zwischen drei Meeren beschreibt, auf Curtius abgefärbt zu haben, vgl. Liv., Ab urbe con. XXXVIII, 18, 12: Id [Gordium] haud magnum quidem oppidum est, sed plus quam mediterraneum celebre et frequens emporium. Tria maria pari ferme distantia intervallo habet, ad Hellespontum, ad Sinopen, et alterius orae litora, qua Cili­ ces maritimi colunt). Allerdings ist damit noch nichts über einen Isthmus bei Gordium ausgesagt, da die gedanklich von Nord nach Süd durch Gordium laufende Verbindungslinie zwischen den beiden Meeren nicht zwangsläufig zugleich auch die kürzeste Wegstrecke für ganz Kleinasien darstellen muss. Im Anschluss daran führt

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Curtius aus, dass zwischen diesen Meeren – und nur darauf bezieht sich der antike Historiker – die schmalste Stelle Kleinasiens liege, da das Land – er nennt es ein wie eine Insel wirkendes kontinentales Anhängsel – von beiden Seiten durch diese Meere zu einem schmalen Isthmus zusammengepresst werde. Allein diese dünne Scheidelinie verhindere die Vereinigung der Meere (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 1, 13–14: Inter haec maria angustissimum Asiae spatium esse com­ perimus utroque in artas fauces compellente terram. Quae quia conti­ nenti adhaeret, sed magna ex parte cingitur fluctibus, speciem insulae praebet, ac, nisi tenue discrimen obiceret, quae nunc dividit maria, committeret). Auch wenn Clayton (1793) 296 in Curtius denjenigen ausgemacht zu haben glaubt, der sich historisch betrachtet des Irrtums schuldig gemacht hat, einen Isthmus auf der geographischen Länge von Gordium zu verorten, referiert Curtius an dieser Stelle lediglich den in der römischen Antike insbesondere unter Geographen allgemein bekannten Sachverhalt, dass in Kleinasien zwischen beiden Meeren ein Isthmus existiert, ohne damit allerdings – und dies ist bei der Klärung der vorliegenden Frage von entscheidender Bedeutung – explizit auf Gordium zu verweisen. Vielmehr nimmt die Aussage inter haec maria, die durch den unmittelbar anschließenden Satz über den kontinentalen Charakter der gesamten Halbinsel zusätzlich an Deutlichkeit gewinnt, über Gordium hinausgehend ganz Kleinasien in den Blick. Auch die Feststellung, dass die theoretisch denkbare Vereinigung beider Meere – was Kleinasien insgesamt zu einer Insel werden ließe – nur durch den als tenue dis­ crimen bezeichneten Isthmus verhindert werde, bestätigt diesen Befund. Auch Curtius verortet wie Strabon oder Plinius nämlich diesen Isthmus gedanklich ganz im Osten von Kleinasien, da selbstredend nur dort die nach Westen verlaufende Halbinsel ihren Anfang nimmt und auch nur dort so abgetrennt werden könnte, dass aus ganz Kleinasien eine Insel entstünde. Somit lässt sich festhalten, dass Curtius im obigen Text beginnend mit inter haec maria keine weiteren Informationen zu Gordium liefert, sondern seine



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diesbezüglichen Ausführungen vielmehr als gedankliche Erweiterung seines geographischen Exkurses auf ganz Kleinasien betrachtet werden müssen. In unmittelbarem Anschluss an seine geographische Einordnung der ganzen kleinasiatischen Halbinsel kehrt Curtius unter expliziter Bezugnahme auf Gordium dann wieder zur Beschreibung der Stadt zurück und berichtet, dass Alexander nach ihrer Eroberung den dortigen Zeustempel betreten habe. Walter seinerseits verarbeitet die Stelle bei Curtius so, dass er in drei jeweils mit der Ortsangabe hic - hier eingeleiteten Passagen die von seiner historischen Vorlage stammenden Informationen irrtümlich allesamt auf Gordium bezieht (vgl. Alex. II, 71–75). Dabei ist ihm ebenso wie der modernen Forschung offenbar entgangen, dass die von Curtius bezüglich des Isthmus gemachten Angaben sich gar nicht auf Gordium beziehen, sondern ohne nähere Erläuterungen der in der Antike gängigen Überlieferung folgen. Somit liegt an der vorliegenden Stelle kein Irrtum Walters über die geographische Lage von Gordium vor, sondern ein bemerkenswertes Missverständnis des mittelalterlichen Autors hinsichtlich der Aussageabsicht seiner antiken Vorlage. Es steht zu vermuten, dass Walter die in der Antike unter Gelehrten noch allgemein bekannten Vorstellungen hinsichtlich der ἰσθμόι auf der kleinasiatischen Halbinsel nicht mehr kannte und somit durch die unter diesen Umständen zugegebenermaßen schwer verständliche Stelle bei seiner historischen Hauptquelle Curtius irregeleitet wurde. Der gordische Knoten (75–90) 75–90 Hic Iovis in templo Midae patris alta choruscant | plaustra iu­ gumque vetus Asiae fatale … Dixit et arrepto nodos mucrone resolvit, | unde vel elusit sortem vel forte reclusit: Ein Orakel hatte der Bevölkerung von Gordium prophezeit, dass ihr künftiger König auf einem einfachen Ochsenwagen nach Gordium kommen werde. Als Midas

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eines Tages mit seinem Vater Gordius in Unkenntnis des erwähnten Orakelspruchs tatsächlich auf einem Wagen zur Volksversammlung nach Gordium kam, ernannten die Bewohner der Stadt Gordius zum phrygischen König. Aus Dankbarkeit weihte dieser seinen Wagen dem obersten Gott Zeus und knüpfte zwischen Deichsel und Joch einen unentwirrbaren Knoten. Ein weiteres Orakel verkündete, das derjenige, der imstande sein sollte, diesen Knoten zu lösen, Herrscher über Asien sein werde (zu den verschiedenen Bedeutungen von Asien vgl. Komm. I, C 4–5). Nach einem gescheiterten Versuch, den Knoten durch kluge Überlegung zu lösen, entscheidet sich Alexander dazu, diesen mit dem Schwert zu durchtrennen. ⇔ Aristobul, ein griechischer Historiker aus dem. 4. Jahrhundert v. Chr., berichtet im Unterschied zu der wohl auf Kallisthenes zurückgehenden Geschichte von der Durchtrennung des Knotens mit dem Schwert, dass Alexander einfach nur den Holzpflock der Deichsel entfernt und auf diese Weise den gordischen Knoten gelöst habe (vgl. Demandt 2013, 129). Diese Geschichte gehört zweifellos zu den bekanntesten Episoden des Alexanderfeldzugs, da sie auf eindrucksvolle Weise die Entschlossenheit des makedonischen Königs zeigt, auch mit unkonventionellen Methoden sein Ziel zu erreichen. ⇔ Curtius bemerkt abschließend ebenso wie Walter, dass dabei nicht zu entscheiden sei, ob Alexander mit seinem Schwerthieb das Orakel verspottet oder erfüllt habe. Von Phrygien nach Kilikien (91–102) 91–102 Hinc venit Anchiram … ictusque fragoribus aer | ingeminat strepitus, agitantque tonitrua nubes: In Walters Darstellung gelangt der makedonische König von Gordium aus über Ankyra nach Kappadokien, das er ohne nennenswerte Schwierigkeiten seiner Herrschaft unterstellt. Darauf versucht Alexander in einem Eilmarsch Kilikien zu erreichen, um zu verhindern, dass Darius ihm an der



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Kilikischen Pforte – der bis auf 1000 Meter hoch gelegenen Via Tauri – von Süden her den einzigen durch das Taurusgebirge führenden und von großer Enge geprägten Zugang nach Tarsus an der kilikischen Küste verwehrt. ⇔ Die Verwendung zentraler Textbestandteile aus den Historiarum adversum paganos des Orosius, der ebenso wie Walter Alexanders Schnelligkeit und kluge Planung in dieser strategisch bedeutsamen Situation betont, ist unübersehbar (vgl. Oros., Hist. adv. pag. III, 16. 5: Inde nuntiato sibi Darii cum magnis copiis adventu, timens angustias quibus inerat locorum, Tau­ rum montem mira celeritate transcendit et quingentis stadiis sub una die cursu transmissis, Tarsum venit). Ohne die von Alexander an nur einem Tag zurückgelegte Strecke explizit zu nennen, erwähnt Justin doch auch die große Schnelligkeit des makedonischen Königs bei der Überquerung des Taurusgebirges (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 8, 1–3: Haec illi agenti nuntiatur Darium cum ingenti exercitu adventare. Itaque timens angustias magna celeritate Taurum transcendit). Es fällt auf, dass Walter im Unterschied zu den genannten Vorlagen die Kilikische Pforte in seinem Epos bereits zu einem Zeitpunkt thematisiert, als Alexander sich gerade erst auf dem Weg dorthin befindet. Damit gelingt es ihm noch besser als den spätantiken Historikern, das schnelle Vorrücken Alexanders in Szene zu setzen. Auch deshalb dürfte er sich gegen die Darstellung bei Curtius entschieden haben, der weder einen Hinweis auf Alexanders schnelles Vorrücken liefert noch dessen Vorgehen als strategisches Manöver im Hinblick auf die Truppenbewegungen des Darius versteht. Curtius berichtet lediglich davon, dass Alexander mehr als sonst über sein Glück staunte, als er den Pass von den Persern verlassen vorfand (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 4, 11–12). ⇔ Dennoch handelt es sich hier keineswegs um eine bloße Versifizierung der Darstellung des spätantiken Historikers Orosius. Vielmehr stellen die entsprechenden Verse in der Alexandreis ein geradezu paradigmatisches Beispiel dar für das auf die Inszenierung bestimmter Ereignisse zielende Vorgehen Walters bei der epischen Umsetzung seiner historischen Vorlagen. Während

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Orosius Alexanders Schnelligkeit mit den Worten mira celeritate nämlich nur ein einziges Mal erwähnt, rückt Walter dem Leser dessen überaus schnelles Vorgehen durch die dreimalige Wiederholung des Vorgangs sprachlich mit accelerat Macedo … trepidis gressibus … accelerans sowie unter Verwendung eines Polyptotons und einer damit einhergehenden Alliteration auch stilistisch in auffälliger Art und Weise ins Blickfeld des Lesers (vgl. Alex. II, 93–95). Doch damit noch nicht genug. Über die augenfällige Betonung der bemerkenswerten Geschwindigkeit des makedonischen Königs hinaus stellt Walter dessen schnelles Vorrücken – und dies in auffallendem Unterschied zu Orosius – mit den Worten pavidum regem überdies dem ängstlichen und zaudernden Auftritt des Darius kontrastierend gegenüber (vgl. Alex. II, 95). Damit versetzt sich Walter schon allein durch die geschickte Auswahl seiner historischen Vorlage in die Lage, eine epische Inszenierung zu verwirklichen, die mit Alexander und Darius die beiden wichtigsten Protagonisten des Epos mittels einer erneuten vergleichenden Charakterisierung in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt und den persischen König wie bereits zu Beginn von Buch II prospektiv als Verlierer des Perserkriegs kennzeichnet (vgl. Komm. II, 1–17; vgl. auch Komm. II, 18–44; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Doch auch damit noch nicht genug. Darüber hinaus setzt Walter das hier inszenierte Gegensatzpaar Darius und Alexander in Beziehung zu dem in Lucans Pharsalia in Szene gesetzten Gegensatzpaar Pompeius und Caesar. Das aus der Darstellung des Orosius übernommene und von Walter ausgebaute Motiv der Schnelligkeit Alexanders findet nämlich schon dort auf Caesar bezogen Anwendung, der vor der entscheidenden Schlacht gegen Pompeius in Pharsalus schneller als ein Blitz oder eine trächtige Tigerin – ocior et caeli flammis et tigride feta – von Rom nach Apulien eilt, um so schnell wie möglich nach Epirus in Griechenland zu gelangen (vgl. Luc. Phars. V, 405; zur Blitzmetapher vgl. Komm. II, 388–407). Nichts erscheint Caesar in dieser Situation da-



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bei schmachvoller als eine Beschleunigung des Kriegs zu versäumen und die Zeit müßig zu vertrödeln (vgl. Luc., Phars. V, 409–410: turpe duci visum rapiendi tempora belli | in segnes exisse moras). Walter übernimmt dabei für die Darstellung Alexanders die positiven Aspekte des von Handlungsschnelligkeit und Entschlossenheit geprägten Charakters Caesars, ohne dabei das negative Caesar-Bild Lucans auf den makedonischen König zu übertragen. Gleichzeitig deutet Walter damit auch Lucans negatives Alexander-Bild positiv um, dessen Siegeszug gegen das Perserreich nicht wie in der Pharsa­ lia als Weltuntergang zu verstehen ist, sondern als ein vorbestimmter Wechsel in der Abfolge der in den prophetischen Büchern der Bibel angekündigten Weltreiche gedeutet wird (zur Umdeutung des Alexander-Bilds bei Lucan vgl. auch Komm. II, 388–407; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; vgl. auch Wiener 2001, 56; zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Im Gegensatz dazu schildert Lucan den römischen Feldherrn Pompeius – vergleichbar der Beschreibung des Darius bei Walter – als einen Anführer, der zaghaft und ängstlich in eine Schlacht zieht, die er am liebsten so lange wie möglich hinauszögern möchte (vgl. Luc., Phars. V, 728–733: Du­ bium trepidumque ad proelia, Magne | te quoque fecit amor … iuvat ventura trahentem | indulgere morae et tempus subducere fatis). ⇔ Die unbedingte Notwendigkeit, die Kilikische Pforte vor Darius zu erreichen und zu durchqueren, wird von Walter auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er mit den auf Darius bezogenen Worten primus Eoo deutlich macht, dass sich der persische König aufgrund der weiter im Osten früher aufgehenden Sonne – immerhin liegt Babylon etwa zehn Längengrade weiter östlich als die Kilikische Pforte in Kleinasien – bereits auf dem Weg befindet und jede Verzögerung fatale Folgen nach sich ziehen könnte (vgl. Alex. II, 96–100: Quippe graves aditus Asiae faucesque locorum | angustas metuens, Cylicum iam plana tenenti | obvius ire parat Dario, qui primus Eoo, | cum sol roriflua stillaret lampade, castra | movit ab Eufrate; in der Hand-

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schrift Ms. C 100, fol. 14r der Züricher Zentralbibliothek wird der Umstand, dass Darius bedingt durch die geographische Lage früher als Alexander aufbrechen konnte, durch eine Interlinearglosse mit den Worten Darius in principio diei orientali erläutert, verfügbar unter: https://www.e–codices.unifr.ch/de/doubleview/zbz/ C0100/14r/). ⇔ Am Ende des Abschnitts wird von Walter die für Alexander bestehende Dringlichkeit, die Kilikische Pforte vor der Ankunft des Darius zu durchschreiten, zusätzlich noch gesteigert, indem er mit dem Klang der griechischen Signalhörner, der von den hohen Felsen in großer Lautstärke zurückgeworfen wird, die gefahrvolle Enge der Schlucht auch mit akustischen Mitteln hervorhebt (zur Unterstreichung der Vorgänge durch akustische Beschreibungen vgl. Alex. II, 487–93; vgl. auch Alex. III, 1–2). Der Truppenaufmarsch der Perser (103–139) 103–139 Hic fragor in castris, sed et hic erat agminis ordo … pedibus­ que attritus et axe | aurea pulvereus involvit sydera turbo: Im Folgenden richtet Walter den Blick auf den Truppenaufmarsch der Perser, der unter Auslassung einiger Details im Wesentlichen auf Curtius zurückgeht und von Walter entsprechend seiner historischen Vorlage in der dort wiedergegebenen Reihenfolge beschrieben wird (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 3, 8–25). ⇔ Ein aus religiöser Sicht wichtiger Bestandteil des persischen Heereszugs ist etwa das von Darius auf einem silbernen Altar mitgeführte heilige und ewige Feuer der Perser – ignem … sacrum aeternumque –, das von Magiern gehütet wurde. In der Historia ecclesiastica des Bischofs von Kyrrhos und Kirchenhistorikers Theodoret († 460) wird dieses Feuer, von den Persern als Symbol der Gottheit und der vollkommenen Reinheit verehrt, beispielsweise im Rahmen der Kirchenverfolgung durch den Perserkönig Isdigerdes beschrieben, der einen christlichen Bischof namens Abdas hinrichten ließ, nachdem dieser einen persischen Feuertem-



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pel – auch Pyreum genannt – zerstört hatte (vgl. Theod., Hist. eccl. V, 39). Auch das auf einem Wagen mitgeführte Standbild des höchsten persischen Gottes Ahura Mazda, von Walter in einer interpreta­ tio Latina mit Iovis angesprochen, wird als wichtiger Bezugspunkt der persischen Religion auf dem Heereszug mitgeführt. Bei dem von Walter erwähnten, nach der irrigen Meinung des Volkes für unsterblich gehaltenen Regiment von gut ausgebildeten Soldaten, handelt es sich um eine mit Speeren bewaffnete Eliteeinheit aus zehntausend Angehörigen des persischen Adels, die in Friedenszeiten die Leibwache des persischen Königs bildet und im Krieg als schwere Infanterie eingesetzt wird. Herodot erklärt die Namensgebung für diese Elitetruppe damit, dass nach Verlusten im Krieg oder durch Verwundung oder Krankheit die Zahl der Soldaten immer wieder auf zehntausend Mann aufgestockt wurde und somit die Truppe als Ganzes niemals kleiner wurde (vgl. Herod., Hist. VII, 83). In prominenter Position fährt in der Mitte des Heereszugs der persische König Darius auf seinem prunkvollen Streitwagen einher. Anders als Curtius, der in seiner ausführlichen Beschreibung des persischen Königs beinahe bewundernd wirkt, hebt Walter als christlicher Autor in pejorativem Sinn den übermäßigen Prunk und den überflüssigen Aufwand hervor, durch den Darius im Getümmel des Truppenaufmarschs als persischer König auszumachen ist (vgl. Alex. II, 116–117: quem predicat ardor | gemmarum et luxus opulentia barbara regem). Mit den zehntausend Speerträgern – hastata decem precedunt milia –, die bei Walter im Unterschied zu Curtius nicht dem Wagen des Königs folgen, sondern diesem vorausgehen, dürften die oben bereits angesprochenen zehntausend Unsterblichen gemeint sein. Die dreißigtausend hervorragend bewaffneten persischen Fußsoldaten, die von Walter als diejenigen Einheiten hervorgehoben werden, die verhindern sollen, dass die Griechen bis zum Streitwagen des Darius vordringen können, bilden den Abschluss des Heereszugs. ⇔ Diese Ergänzung bei Walter ist insbesondere vor dem Hintergrund interessant, dass in der Schlacht von Issus genau dies den Griechen durch

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ein geschicktes Manöver gelingt und Darius daraufhin die Flucht ergreift. Auch die Mutter, die Ehefrau und die Kinder des Darius werden abgesehen vom Hausrat, den Nebenfrauen und der Unmenge an Geld nach Sitte der persischen Könige mit in den Krieg geführt. Nach Darius’ Flucht vom Schlachtfeld in Issus verbleiben dessen Angehörige in Alexanders Lager. Alexander in Kilikien (140–271) Vom Lager des Cyrus nach Tarsus (140–144) 140–144 Interea Macedo, profugis vastantibus arva  | Cyliciae de­ serta videns … Tharsum seminecem Persarum servat ab igne: Über Kappadokien gelangt Walter nach Kilikien, das zuvor – so berichtet Curtius – von Arsames, dem Satrapen von Kilikien, in Erinnerung an die im Kontext der Schlacht am Granikus von Memnon ins Spiel gebrachten Taktik der verbrannten Erde mit Schwert und Feuer verwüstet worden war (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 4, 3–4). Walter erwähnt den Versuch des Arsames, den makedonischen König mit dieser Taktik ins Leere laufen zu lassen mit nur wenigen Worten, um im Anschluss daran von Alexanders Ankunft im ehemaligen Standlager von Cyrus II. zu berichten, das jener für seinen Kampf gegen Croesus, den König von Lydien, mehr als zweihundert Jahre zuvor eingerichtet hatte. Ohne die Durchquerung der von diesem geschichtsträchtigen Lager nur etwa acht Kilometer weit entfernt liegenden Kilikischen Pforte auch nur mit einem einzigen Wort zu erwähnen, verlagert Walter das Geschehen ohne Umschweife nach Tarsus, das von einem unter dem Befehl Parmenions stehenden Vorauskommando gerade noch rechtzeitig vor der Brandstiftung der Perser gerettet werden kann (vgl. Alex. II, 140–144).



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Die Stadt Tarsus (145–152) 145–152 Hic, ut scripta ferunt, illustri claruit ortu … sed gurgite ludit | calculus et refugo lapsu lascivit harena: Walter bleibt gedanklich in Tarsus und geht mit zwei weiteren Punkten näher auf die kilikische Hafenstadt ein. Zum einen berichtet er von dem dort geborenen Apostel Paulus, welcher der christlichen Mission, wie Walter nicht zu erwähnen versäumt, erst nach seiner Bekehrung große Dienste erwiesen hat (zu Paulus vgl. Komm. I, 207–208). Zum anderen geht er auf den durch Tarsus fließenden Kydnus ein, der aus dem Taurusgebirge kommend mit seinem kalten und klaren Wasser in sanftem Lauf die kilikische Ebene durchströmt. Alexanders unheilvolles Bad im Kydnus (153–171) 153–171 Hic primum didicit Magnus durare salutem  | nulli conti­ nuam … afflictus rex exanimisque suorum | extrahitur manibus: Bei einem Epiker wie Walter nimmt es nicht Wunder, dass er ausgerechnet Alexanders folgenreiches Bad im Kydnus und die damit in Verbindung stehenden Ereignisse ausführlich schildert und dabei über die Darstellung seiner historischen Vorlagen hinaus in einer für ihn charakteristischen Art und Weise eigene Akzente setzt. ⇔ Beispielsweise nutzt Walter gleich zu Beginn in einem der eigentlichen Darstellung vorausgehenden Autorexkurs die Gelegenheit, am Beispiel Alexanders mit mahnenden Worten aufzuzeigen, dass jeder Mensch – auch der ansonsten bisher vom Fatum stets begünstigte Alexander – dem Einfluss des wankelmütigen Schicksals unterworfen ist und das Glück ausnahmslos jeden – ungeachtet des für Alexander am Ende günstigen Ausgangs der Episode am Kydnus – unter bestimmten Umständen auch einmal verlassen kann (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Mit diesem Autorexkurs spannt Walter gleichsam als Vorverweis

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auf die Zeit nach dem Perserfeldzug einen Bogen zu dem in Buch X geschilderten Tod des makedonischen Königs, der im Epos Walters als Folge von dessen Streben nach Gottgleichheit und dessen Maßlosigkeit – die außerhalb des Perserreichs liegenden Eroberungen sind heilsgeschichtlich nicht mehr legitimiert – im Sinne einer moralischen Kritik des christlichen Autors an Alexander inszeniert wird. Derartige Vorverweise des christlichen Autors auf die Zeit nach dem Perserkrieg sind in der Alexandreis nicht selten und gehören zum epischem Repertoire Walters (vgl. Alex. II, 540–544; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4). ⇔ Die beiden in den wichtigsten Handschriften zur Alexandreis nicht vorhandenen und von Colker aus gutem Grund auch nicht in den Text übernommenen Verse Impulit hic regem vis praesumptiva super­ bum, | quae potius laudis potuit iactantia dici müssen ausgehend von dieser nachvollziehbaren Textkritik insbesondere auch deshalb von fremder und mit der grundsätzlichen Ausrichtung der Alexandreis nicht vertrauten Hand stammen, da mit ihnen der Vorwurf der Hybris – anders als in den eingangs besprochenen Versen – nicht im Sinne eines Vorverweises auf die Zeit nach dem Perserkrieg bezogen erhoben wird, sondern mit der konkreten Situation am Kydnus in Verbindung steht (vgl. Alex. II, 155–156; vgl. auch Colker 1978, 44; vgl. auch Komm. I, 427–446). ⇔ Erst nach diesem Autorkommentar schildert Walter den folgenreichen Badeunfall des makedonischen Königs im Kydnus. Demnach sucht Alexander verschmutzt und schweißbedeckt an einem heißen Tag im Juli mit erhitztem Körper zur Mittagszeit eine Abkühlung im eiskalten Wasser des kilikischen Flusses (Curtius nennt als Grund für Alexanders Bad abgesehen von der auch bei Walter wiedergegebenen Absicht, sich zu erfrischen zudem das Ansinnen, den Seinen zu demonstrieren, dass auch ihm als König einfache Mittel zur Körperpflege ausreichen, vgl. Curt., Hist. Alex. III, 5, 2–3). Augenblicklich überfällt den makedonischen König am ganzen Körper eine durch die Kälte des Wassers bedingte Froststarre, die mit akuter Atemnot und anschließender Bewusstlosigkeit



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einhergeht. (vgl. Alex II, 166–171). Wenn ihn seine Gefolgsleute nicht sofort aus dem Wasser gezogen hätten, wäre Alexander wohl in wenigen Minuten ertrunken. ⇔ Macherei (2014) 67 geht aufgrund der Quellenlage bei Curtius davon aus, dass die dort geschilderten Symptome auf einen im kalten Wasser erlittenen Schock hinweisen. Die Reaktion der griechischen Soldaten (171–185) 171–185 Oritur per castra tumultus … Sed quis dignus erit tanto suc­ cedere regi?»: Im Lager der Griechen entsteht ob des unheilvollen Bades ihres Königs im Kydnus eine große Unruhe. Während Curtius lediglich von der Reaktion der Soldaten berichtet, kleidet sie Walter in eine lebendig gestaltete und als Anklage an Fortuna gerichtete Rede, in der die Soldaten ihren Missmut und ihre Ängste zum Ausdruck bringen (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 5, 4–9). ⇔ Möglicherweise setzt Walter das sprachliche Mittel der Rede nicht nur aus Gründen der sprachlichen Lebendigkeit ein, sondern auch um eine Verbindung zu der kurz darauf folgenden Rede der Fortuna herzustellen. ⇔ Zum einen führen sie Klage darüber, dass Alexander völlig unbewaffnet – also nicht im Krieg – und ohne jegliche Feindberührung einem für alle unerwarteten und ruhmlosen Tod anheimzufallen droht. Der zentrale Vorwurf an die Schicksalsgöttin betrifft dabei deren als ungerecht und grausam gebrandmarkten Wankelmut, der das überraschende Ereignis überhaupt erst möglich gemacht habe (vgl. Alex. II, 175–177: Improba mobilior folio Fortuna caduco, | tygribus asperior, diris immitior ydris, | Thesiphone horridi­ or, monstroque cruentior omni; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Zum anderen sind die Soldaten in Sorge um ihre eigene Zukunft, da sie fern der Heimat nicht ohne weiteres nach Griechenland zurückkehren könnten und möglicherweise ohne ihren charismatischen Anführer in den Krieg gegen Darius geschickt werden sollen. Überdies wird von den

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Soldaten die Frage aufgeworfen, wer einem so großartigen König wie Alexander überhaupt nachfolgen solle. Die Reaktion der Fortuna (186–200) 186–200 Audiit hec … solaque mobilitas stabilem facit.»: Die von Walter allegorisch in Szene gesetzte Schicksalsgöttin übernimmt ihre Verteidigung selbst. Fortuna beklagt sich über die aus ihrer Sicht unberechtigten Vorwürfe der unwissenden Menschen, die nicht verstehen wollen, dass gerade ihr Wankelmut die charakteristische und ihrem eigentlichen Wesen entsprechende Eigenschaft darstellt und ihre einzige Beständigkeit darin liegt, in eben diesem Wankelmut – solaque mobilitas stabilem facit – unwandelbar zu sein. ⇔ Wie Wiener (2001) 34 und 87 feststellt, greift Walter für diese Szene auf den spätantiken Philosophen und Theologen Boethius zurück, bei dem sich Fortuna ebenso wie in der Alexandreis in einer imaginierten Apologie für ihr unstetes Verhalten rechtfertigen muss (vgl. Boet., De cons. phil. II, 1p.–3c). Die Schicksalsgöttin kommt bei Boethius ebenso wie bei Walter zu dem Schluss, dass das Glück, wenn es einem Menschen beständig zuteil wird, irgendwann aufhört, Glück zu sein (vgl. Boet., De cons. phil. II, 1p). Auch der vom spätantiken Philosophen zum Ausdruck gebrachte Gedanke, zum ersten Mal auch mit der weniger angenehmen Seite der Fortuna – mit jeweils noch glimpflichem Ausgang –, konfrontiert worden zu sein, hat unzweifelhaft auf Walters Darstellung von Alexanders Bad im Kydnus abgefärbt (vgl. Boet., De cons. phil. II, 3p: Nunc primum liventi oculo praestrinxit). Walter macht mit seiner Darstellung der Fortuna deutlich, dass die Schicksalsgöttin als integraler Bestandteil des Fatums auch Alexander nur so lange unterstützen kann, wie es ihrer Aufgabe als ausführender Gewalt innerhalb des göttlichen Heilsplans entspricht (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5).



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Die Reaktion Alexanders (200–217) 200–217 Hec ubi dicta, | liberior regis iam morbida membra revisit | spiritus et solitos paulisper habere meatus  | cepit, sed nimius urebat viscera morbus … cursu fugitiva rapaci | terga dabunt Persae, Dana­ ique sequentur ovantes.»: Entsprechend der durch das Fatum bestehenden Vorgaben kommt Fortuna ihrem Auftrag nach, indem sie die lebensbedrohliche Atemnot des makedonischen Königs lindert und ihn zudem das Bewusstsein wiedererlangen lässt. ⇔ Interessanterweise scheinen in Walters Darstellung die durch das eiskalte Wasser des Kydnus hervorgerufene Starre und die Bewusstlosigkeit Alexanders sowie die sich daran anschließende Krankheit zwei zwar mutmaßlich in kausalem Zusammenhang stehende, aber letztlich doch voneinander getrennte Ereignisse zu sein (Curtius schildert die direkten Folgen des Bades und die Krankheit als ein einziges Ereignis, vgl. Curt., Hist. Alex. III, 5, 9–10). Der erste Teil des Satzes nämlich bringt mit den Worten liberior regis iam morbida membra revisit  | spiritus et solitos paulisper habere meatus  | cepit und dem dabei gleich zweimal verwendeten resultativen Perfekt eine bereits erfolgte Erholung von den unmittelbaren Folgen des Badeunfalls zum Ausdruck, während die im zweiten Teil des Satzes durch sed nimius urebat viscera morbus adversativ eingefügte und mit dem iterativen bzw. durativen Imperfekt verbundene Krankheit, die über den eigentlichen Badeunfall hinaus eine gewisse Zeit lang oder auch durch wiederkehrende Koliken der vollständigen Genesung Alexanders im Wege steht, erst neu hinzugetreten zu sein scheint. Die Trennung dieser beiden Ereignisse dürfte Walters Bestreben geschuldet sein, Alexanders erste Erholung nach dem Badeunfall erkennbar auf das Einwirken der Fortuna zurückzuführen, um im Anschluss daran den Umgang des makedonischen Königs mit seiner eigentlichen, in Walters Schilderung letztlich nur drei Tage andauernden Krankheit, zur Heroisierung Alexanders zu nutzen. ⇔ Unabhängig von Walters Darstellung und den dahinter stehenden Motiven

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stellt es aus Sicht der modernen Forschung eine interessante Frage dar, die gesundheitlichen Probleme Alexanders als zwei voneinander mehr oder weniger getrennte Ereignisse zu betrachten, da der Badeunfall allein die historisch verbürgte tatsächliche Rekonvaleszenz des Makedonenkönigs von zwei bis drei Monaten nicht erklären kann (vgl. Hammond 2004, 132; vgl. auch Engels 1978, 224). Macherei (2014) 68 ist der Ansicht, dass Alexander im Sinne einer Vorerkrankung bereits eine umfassendere Gesundheitsschädigung gehabt haben könnte, die erst durch die infolge des Badeunfalls eingetretene Schwächung des Körpers zum Ausbruch gekommen ist. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass sich Alexander erst durch das Bad im Kydnus eine weitere gesundheitliche Beeinträchtigung zugezogen hat, die erst einige Tage später die anfängliche Besserung seines Gesundheitszustands negativ überlagerte. ⇔ Alexanders Reaktion auf seine gerade in dieser Situation – Darius ist bereits im Anmarsch und nur noch wenige Tage entfernt – höchst problematische Krankheit wird von Walter dabei ebenso wie die Reaktion seiner Soldaten und der Fortuna mit einer Rede in Szene gesetzt (allein die Tatsache, dass Alexander in seinem angeschlagenen Gesundheitszustand überhaupt eine derartige Rede hält, ist freilich schon eine Inszenierung). Alexander fürchtet sich nicht so sehr vor dem Tod als solchem, sondern bedauert in erster Linie, dass ihm sein möglicherweise vorzeitig eintretender Tod den seines Erachtens schon greifbaren Sieg über Darius und den dafür verdienten Ruhm rauben könnte (vgl. Alex. II, 209–210). Einen Arzt möchte Alexander in seiner beispiellosen Ungeduld allein deshalb konsultieren, um möglichst schnell – notfalls auch um den Preis einer nicht nachhaltig auskurierten Krankheit – wieder kampfbereit zu sein (vgl. Alex. II, 212–213). ⇔ Damit inszeniert Walter seinen wichtigsten Protagonisten als positiv konnotierten achilleischen Helden, der lieber angeschlagen in eine risikoreiche Schlacht zieht als geduldig einen möglicherweise langwierigen und gemessen an dessen zeitnahen Plänen letztlich sinnlosen Heilungsprozess abzuwarten. ⇔ Somit stellt



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bei Walter das Eingreifen der Schicksalsgöttin Fortuna im Kontext des Badeunfalls und der damit verbundenen anfänglichen Gesundung Alexanders erst die Voraussetzung dar für die getrennt davon erfolgende Inszenierung der Feldherrntugenden des makedonischen Königs im inneren Ringen um die eigene Gesundheit wie im äußeren Kampf gegen den anrückenden Perserkönig (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ Alexanders Wunsch, obschon immer noch krank, zumindest an der Spitze seines Heeres stehen zu können, erinnert dabei an die mit den Worten Profuit interdum dominis pugnare iubendo von Aristoteles zum Ausdruck gebrachte Situation, in der ein Heer auch dann erfolgreich sein könne, wenn der Anführer nur in der Lage sei, den Befehl zum Angriff zu geben (vgl. Alex. I, 122). Alexander – Philipp – Parmenion (218–256) 218–256 Impetus hic regis precepsque libido choortes | moverat … seg­ niciem vultuque suos ac voce refecit: Alexanders Ansinnen, den Heilungsprozess durch die Gabe eines möglichst schnell wirkenden Medikaments ohne Rücksicht auf mögliche Komplikationen zu beschleunigen, wird unter den Soldaten aus Furcht vor einer eventuell eintretenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes ihres Anführers mit großer Bestürzung aufgenommen. Alexanders langjähriger Leibarzt Philipp ist als einziger bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen, weist den makedonischen König allerdings an, das Medikament erst nach einem Zeitraum von drei Tagen – und schon diese gemessen an der Schwere der Krankheit verhältnismäßig kurze Wartezeit stellt für den Anführer der Griechen eine harte Geduldsprobe dar – einzunehmen. ⇔ Da man in der modernen Forschung bisher keine sinnvolle medizinische Erklärung für diesen dreitägigen Auf-

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schub ausmachen konnte, wurde die Anweisung des griechischen Arztes einzig und allein auf ihre narrative Funktion hin interpretiert bzw. reduziert, die – so die häufig anzutreffende Lesart – darauf abziele, ein retardierendes Element einzuführen, mit dem die Spannung erhöht und die Voraussetzung für den weiteren Fortgang der Episode um Alexander und Philipp geschaffen werden solle. In diesem Sinne äußert sich Macherei (2014) 72 wie folgt: »Im Ganzen erscheint diese Erzählung mit dem dreitägigen Verzug ein wenig gekünstelt und nachträglich in die Geschichte eingebracht, dem literarischen Zweck dienend, einen Spannungsbogen aufzubauen. […] Denn eine sinnvolle medizinische Rechtfertigung existiert meines Erachtens nicht« (vgl. auch Neger 2018, 139). Dabei wurde allerdings zu wenig berücksichtigt, dass die dreitägige Wartezeit sowohl bei Curtius als auch bei Walter auf eine dezidiert zum Ausdruck gebrachte ärztliche Anweisung zurückgeht (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 6, 3–4: ita enim medicus praedixerat). Dies lässt vermuten, dass Philipp als erfahrener Arzt gute Gründe gehabt haben dürfte, diese drei Tage zuzuwarten, bis er seinem König und Freund das Medikament verabreichen wollte. Stellt man zudem den zeitgenössischen Horizont beider Autoren in Rechnung, wird man einräumen müssen, dass die dreitägige Wartezeit ungeachtet des dadurch unzweifelhaft entstehenden Spannungsbogens vielleicht nicht in erster Linie aus Gründen der epischen Inszenierung nachträglich eingefügt wurde, sondern möglicherweise mit den Vorstellungen der antiken und mittelalterlichen Medizin in Verbindung zu bringen ist. An diese Vorstellungen lassen sich jedoch nicht die Maßstäbe der modernen Medizin anlegen, die völlig zurecht die Sinnlosigkeit einer derartigen ärztlichen Maßnahme festgestellt hat, sondern müssen antike und mittelalterliche Auffassungen zur Heilkunde in die Betrachtung miteinbezogen werden, die insbesondere vom Begriff des kairos, also der Wahl des richtigen Zeitpunkts bei der Behandlung des Patienten bzw. der Medikamentengabe, geprägt sind. Denn innerhalb dieses von der Vorstellung des kairos geprägten Denkens wurde ärztliches



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Handeln nicht in jedem Zustand des Patienten und auch nicht zwangsläufig zu Beginn einer Krankheit als zielführend angesehen, sondern konnte der geeignete Moment für eine Behandlung durchaus auch erst einige Tage nach Ausbruch der Krankheit liegen (vgl. Bergdolt 2004, 27). Die in der Antike weit über den medizinischen Bereich hinausgehende Bedeutung dieser Vorstellung vom kairos hatte schon Platon in seinen Nomoi verarbeitet, wo der antike Philosoph betont, dass nur derjenige glücklich ist, der weiß, was er tun soll, wann er es tun soll und wieviel er tun soll. Unglücklich ist in Platons Augen dagegen derjenige Mann, der handelt, ohne zu wissen, wie er es tun soll und das, was er tun soll, im falschen Moment tut (vgl. Plat., Nom., I, 636 d–e: ἐκτὸς τῶν καιρῶν). Auch im Mittelalter war das Wissen um den kairos und seine Bedeutung für die Medizin weit verbreitet. Isidor von Sevilla etwa hat in seinen Ety­ mologiae im Kontext der Septem Artes Liberales die Auffassung vertreten, dass ein Arzt neben den im engeren Sinn medizinischen Kenntnissen auch die mathematische Kunst der Arithmetik beherrschen müsse, um die auf den Annahmen von krisis und kairos basierenden, rhythmischen Verläufe von Krankheiten berechnen und die Stunden zählen zu können, in denen sich ein Leiden entwickelt (vgl. Isid. v. Sev., Etym. IV, 13: Sic et Arithmeticam [medicus scire debet] propter numerum horarum in accessionibus et periodis dierum). Im selben mit der Überschrift De initio medicinae versehenen Kapitel betont Isidor zudem auch die Bedeutung der Astronomie als wichtige und von einem Arzt zu beherrschende Kunst. Bei der Festlegung des kairos waren für den Arzt auch astrologische Zeichen zu berücksichtigen, etwa die von Plinius in der Naturalis Historia beschriebenen Mondtage (vgl. Bergdolt 2004, 27; vgl. auch Schipperges 1976, 94). Demzufolge steht zu vermuten, dass die von Philipp verhängte Frist von drei Tagen von Walter wohl nicht aus Gründen der epischen Inszenierung nachträglich eingefügt wurde, sondern aus den oben genannten Gründen innerhalb des zeitgenössischen Horizonts durchaus als sinnvolle ärztliche Maßnahme an-

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gesehen worden sein dürfte. ⇔ Natürlich bedeutet dies nicht, dass Walter die von Philipp anberaumte Wartezeit von drei Tagen nicht auch als willkommenen Anlass und Ausgangspunkt für die im weiteren Text folgende Inszenierung der Tugendhaftigkeit und der herausragenden Führungsqualitäten Alexanders genutzt hat. In die Wartezeit hinein nämlich erreicht Alexander ein Brief – Absender ist der noch in Kappadokien weilende und von Walter nicht explizit genannte Parmenion –, in welchem gegenüber Philipp der Vorwurf erhoben wird, er sei von Darius mit Gold und der Aussicht, dessen Schwester zur Frau zu nehmen, bestochen worden und habe die Absicht, ihn zu vergiften (nur bei Justin wird mit Kappadokien der Aufenthaltsort des Parmenion genannt, vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 8). Alexander hält den Brief unter Verschluss und nimmt wie vorgesehen nach besagten drei Tagen das von Philipp verabreichte Medikament zu sich. Erst im Anschluss daran gibt er seinem Freund und Arzt den Brief zur Kenntnis, dessen überaus souveräne Reaktion – dieser lässt bei der Lektüre des Schreibens keinerlei Anzeichen von Scham erkennen und versichert seinem König sofort, dass das Medikament in Kürze seine Wirkung entfalten wird – ihn hoffen lässt, dass das von ihm in den Arzt gesetzte Vertrauen gerechtfertigt ist. ⇔ Walter benutzt an dieser Stelle für Philipp interessanterweise den Namen Archigenes. Der aus dem syrischen Apameia stammende und unter Trajan lebende Arzt stand der hippokratischen Auffassung nahe, dass Krankheiten durch eine Dyskrasie von Heiß, Kalt, Feucht und Trocken entstehen. Nimmt man das von Walter benutzte Verb urere im Sinne von ausdörren ernst, lässt sich darüber spekulieren, ob er Alexanders Krankheit möglicherweise als einen Infekt des Magen-Darm-Traktes beschreibt, der eine Dehydrierung des Körpers – also letztlich eine fehlerhafte Mischung der Körpersäfte – zur Folge hatte (vgl. Alex. II, 203). ⇔ Tatsächlich verbessert sich bereits nach kurzer Zeit der Gesundheitszustand Alexanders, der schon am nächsten Tag auf seinem Pferd vor seinen Soldaten erscheint und ihnen den Mut und die Hoffnung auf eine siegreiche



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Schlacht zurückzugeben vermag (anders als Curtius lässt Walter Alexanders Genesung ohne jegliche Nebenwirkungen eintreten, vgl. Curt., Hist. Alex. III, 6, 16). Philipp wird von allen als Vater und Retter des Vaterlandes gefeiert und ist somit rehabilitiert. ⇔ Die Episode wirft zum einen ein bezeichnendes Licht auf die mit der Tugend der Tapferkeit einhergehende, von der Vernunft geleitete Risikobereitschaft Alexanders, der mit der Einnahme des verabreichten Medikaments – potenzielle Nebenwirkungen und eine damit möglicherweise eintretende Verschlechterung seines Gesundheitszustandes können dabei nicht ausgeschlossen werden – sein Leben im Vertrauen auf die Kunstfertigkeit seines Arztes für die durchaus berechtigte Hoffnung aufs Spiel setzt, zeitnah in die Schlacht gegen Darius ziehen zu können (vgl. Komm. I, 116–143). Zum anderen stellt Alexanders unbedingtes Vertrauen in die Charakterstärke seines langjährigen Freundes – die Gefahr eines Mordanschlags ist dabei nicht völlig abwegig – darüber hinaus ein Beispiel für die hervorragende Menschenkenntnis des makedonischen Königs dar, der, wie ihn die Rede des Aristoteles im Kontext der allgemeinen Tugendhaftigkeit gelehrt hat, in der Lage ist, Philipps charakterliche Größe und inneren Reichtum, obgleich als Grieche nicht dem wohlhabenden makedonischen Adel entstammend, zu erkennen und von den weniger befähigten, auf äußeren Reichtum und ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedachten, sklavenhaften Naturen abzugrenzen weiß (vgl. Komm. I, 85–91; vgl. auch Komm. I, 92–104). Durch diese Inszenierung der Tugendhaftigkeit Alexanders wird damit zugleich auch sein Arzt und Freund Philipp als tugendhafter Charakter geadelt, der sich in dieser schwierigen Situation der ihm übertragenen Führungsposition als Leibarzt des makedonischen Königs als würdig erweist. In der Einschätzung der Motive für die im Brief vorgebrachten Anschuldigungen lässt es Philipp, ohne Parmenion namentlich zu nennen, offen, ob es sich dabei um einen zwar falschen, aber doch gut gemeinten Rat, oder möglicherweise sogar um eine bewusste Verleumdung handelt, um

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ihm selbst und dem König zu schaden. ⇔ Parmenion hat bei Walter wegen seiner Fehleinschätzung Philipp betreffend offenbar keinerlei Konsequenzen zu gewärtigen, wodurch die Episode mit dem Brief und den darin formulierten Anklagen ein wenig zusammenhangslos wirkt. Offenbar wollte Walter im weiteren Verlauf seines Epos Curtius folgen, bei dem Parmenion als wichtigster General der Griechen weiterhin Alexanders Vertrauen genießt. In der romanhaften Überlieferungstradition wird Parmenion auf Verlangen Philipps abgesetzt oder sogar getötet (vgl. Demandt 2013, 136). ⇔ Über den konkreten Vorfall hinaus drückt Philipp mit den Worten sic iniuste quandoque ligatur | iustus, et iniustos absolvit curia mendax sein allgemeines Unbehagen darüber aus, dass bisweilen der Gerechte auf ungerechte Weise eines Verbrechens beschuldigt wird und ein verlogenes Gericht einen Schuldigen freispricht (vgl. Alex. II, 242–243). Damit nimmt Walter erneut Bezug auf die Aristoteles-Rede, in der innerhalb der Tugend der Gerechtigkeit mit dem Satz curritur in fa­ cinus, nec leges curia curat ebenso auf ein Gericht angespielt wird, das sich, den Weg des Verbrechens einschlagend, nicht um die eigenen Gesetze kümmert (vgl. Komm. I, 105–114). Somit wird ein weiteres Mal auf die von Korruption, Neid und Missgunst geprägten zeitgenössischen Zustände innerhalb der römischen Kurie angespielt (vgl. Komm. I, 105–114; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. auch Einleitung 8). ⇔ Mit der Entscheidung, seinem Arzt zu vertrauen, wird Alexander als ein König inszeniert, der sich nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Tugendhaftigkeit und der zentralen Feldherrntugend der Tapferkeit vorbildlich verhält, sondern sich auch der Tugend der Gerechtigkeit in höchstem Maße verpflichtet fühlt. Insgesamt werden auf diese Weise kurz vor der Schlacht bei Issus noch einmal die Führungsqualitäten des makedonischen Königs in Szene gesetzt, die auch im weiteren Verlauf des Perserkriegs die notwendige Voraussetzung für den Erfolg des gesamten Unternehmens darstellen (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).



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Alexanders Ankunft in Issus (257–268) 257–268 Inde ubi finitimas exercitus obruit urbes … Parmenio censet angusta valle futuras: Noch auf dem Weg nach Issus eilt Parmenion Alexander entgegen und führt ihn in die von den Persern verlassene Stadt. In einer Heeresversammlung wird über das weitere militärische Vorgehen beraten. Parmenion, der von einem Aufklärungstrupp bereits die Gebirgspfade im Amanos-Gebirge östlich von Issus in Richtung Syrien hatte besetzen lassen, macht den Vorschlag, Darius in der Enge des Gebirges zu erwarten, da die Perser unter diesen besonderen geographischen Verhältnissen ihre zahlenmäßige Überlegenheit nicht ausspielen könnten. Parmenions Vorschlag trifft unter den Anführern und auch bei Alexander auf Zustimmung. Alexander und Sisines (269–271) 269–271 At Sysenes, quia rem tacite suppresserat, auro  | creditur a Dario furtim corruptus, eumque  | mors iniusta ferit, non ignorante tyranno: Um die von Walter in nur drei Versen geschilderte Episode um Sisines einordnen zu können, ist es notwendig, zuvor einen Blick auf die entsprechende Darstellung bei Curtius zu werfen und diese zu dem unmittelbar darauf geschilderten Verhalten des Darius gegenüber den von Tymodes angeführten griechischen Söldnern in Beziehung zu setzen (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 7, 11–15). ⇔ Sisines wird bei Curtius ungeachtet seiner persischen Herkunft als treuer Gefolgsmann Alexanders beschrieben, der schon unter Philipp am makedonischen Hof lebte und Alexander auf dem Feldzug nach Persien begleitet. Von einem kretischen Soldaten wird diesem ein Brief mit einem ihm unbekannten Siegel zugesteckt, der sich als Aufforderung des persischen Feldherrn Nabarzanes herausstellt, Alexander zu töten. In Curtius’ Darstellung versucht Sisines mehrfach, dem make-

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donischen König von diesem Brief zu berichten, wird jedoch von seiner eigenen Zurückhaltung und seiner zu großen Rücksichtnahme auf den mit den Vorbereitungen für die Schlacht bei Issus beschäftigten Alexander immer wieder davon abgehalten. Tragischerweise war derselbe Brief zuvor – allerdings mit dem ursprünglichen Siegel des Nabarzanes – Alexander zugespielt worden, der diesen nun seinerseits mit vertauschtem Siegel über den genannten kretischen Soldaten dem Sisines zustecken lässt, um dessen Loyalität auf den Prüfstand zu stellen. Durch sein tagelanges Zögern macht sich Sisines des Verrats verdächtig und wird auf Befehl des makedonischen Königs – iussu regis occisus – getötet (Curtius scheint die Episode um Sisines bewusst als Gegenstück zu der kurz davor behandelten Episode um den Parmenion-Brief inszeniert zu haben, vgl. Neger 2018, 141). Die Darstellung der Sisines-Episode hat bei Curtius in Verbindung mit der im folgenden Abschnitt hervorgehobenen Milde des Darius dabei die literarische Funktion, Alexander mit dem persischen König kontrastierend in Beziehung zu setzen. In besagter Szene schenkt Darius den unter Tymodes’ Führung stehenden griechischen Söldnern die Freiheit, obwohl sie der Situation des Sisines vergleichbar wegen eines unter den ranghöchsten Persern mit Argwohn aufgenommenen Vorschlags zur taktischen Ausrichtung in der kommenden Schlacht bei Issus in den Verdacht geraten waren, Darius verraten zu wollen. Mit dieser vergleichenden Charakterisierung verfolgt Curtius das Ziel, die negativen Charakterseiten Alexanders schon zu einem frühen Zeitpunkt des Alexanderfeldzugs anzudeuten und zugleich den persischen König moralisch aufzuwerten (vgl. Neger 2018, 143). ⇔ Im Unterschied zu Curtius versucht Walter bei der Wiedergabe der Sisines-Episode mit allen Mitteln zu vermeiden, ein negatives Licht auf Alexander zu werfen. Mit der Formulierung quia rem taci­ te suppresserat lässt er demzufolge die mit dem Brief des Nabarzanes einhergehenden Umstände der in Curtius’ Darstellung von Alexander selbst initiierten Überprüfung von Sisines’ Loyalität in einem einzigen, zudem wenig aussagekräftigen Wort rem verschwinden und



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nimmt mit dem passiven creditur Alexander aus dem Fokus einer bei Curtius intendierten moralischen Kritik am makedonischen König. Zudem hat Alexander bei Walter lediglich Kenntnis – non ignorante tyranno – von der immerhin auch als ungerecht bezeichneten Hinrichtung des Sisines, eine persönliche Beteiligung des makedonischen Königs an diesem Geschehen ist dabei aber kaum zu erkennen (zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. Komm. III, 342–369; vgl. auch Komm. III, 370–407; vgl. auch Einleitung 3). Die von Walter für Alexander gewählte Bezeichnung tyrannus hat dabei nicht zwangsläufig eine pejorative Bedeutung und findet in der Ale­ xandreis oft auch eine synonyme Verwendung mit rex. Noch im Satz davor spricht Parmenion davon, dass an jenem Ort in dem engen Tal die Heere beider Könige – acies utriusque tyranni – gleich stark sein werden. Es ist kaum anzunehmen, dass Parmenion seinen eigenen König in dieser Situation als Tyrannen bezeichnet (vgl. Alex. II, 267). ⇔ Damit versucht Walter in auffälliger Weise den noch immer innerhalb seines heilsgeschichtlichen Auftrags agierenden makedonischen König so weit wie möglich vor einer moralischen Kritik zu schützen, die erst nach der Eroberung des Perserreichs deutlich vernehmbar einsetzt und zuvor – wie der in Buch I geschilderte Besuch Alexanders in Troja gezeigt hat – vom Autor der Alexandreis lediglich in Vorverweisen auf die Zeit nach dem Perserkrieg zum Ausdruck gebracht wird (zum Troja-Besuch Alexanders vgl. Komm. I, 468–492; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Darius vor der Schlacht bei Issus (272–421) Darius und Tymodes (272–305) 272–305 Iamque superveniens Grecis equitatus ab horis … More ta­ men veterum servato regia coniux | et soror et proles in castris fata secun­ tur: Mit der Episode um den griechischen Söldner Tymodes nimmt

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Walter einen Szenenwechsel hin zum Lager des Darius vor. Tymodes rät dem persischen König zum Rückzug ins mesopotamische Hinterland, um eine Schlacht in den engen Tälern des Taurusgebirges zu vermeiden. Zudem solle er den Schatz aufteilen und das Heer in mehrere Truppenverbände untergliedern, um bei einem möglicherweise ungünstigen Verlauf der Schlacht noch eine Verstärkung in der Hinterhand zu haben. Die ranghöchsten Perser, bei denen Tymodes’ Vorschlag auf deutliche Ablehnung stößt, bezichtigen die griechischen Söldner des Verrats und machen Darius den Vorschlag, diese zu töten. Der persische König zeigt sich jedoch äußerst wohlwollend und entlässt die Söldner, nicht ohne den eigenen Leuten klarzumachen, dass es schändlich wäre, verdiente Helfer wie Tymodes mit dem Tod zu bestrafen. Darius entscheidet sich ungeachtet der Verschonung der griechischen Söldner am Ende dennoch gegen deren Rat und gibt den Befehl, die Schlacht in den Bergen zu führen. Den größten Teil des Staatsschatzes lässt er nach Damaskus bringen, seine Ehefrau, seine Kinder und seine Mutter bleiben jedoch im Lager. ⇔ Mit dieser Darstellung übernimmt Walter von Curtius zwar dessen positive moralische Beurteilung des persischen Königs, setzt sie jedoch nicht wie dieser in Beziehung zur Sisines-Episode. Damit ergibt sich an der vorliegenden Stelle – ausgehend von der grundlegenden Vorstellung Walters, dass die Tugenden des Darius nur überschattet und nicht ausgelöscht sind – für den Autor der Alexandreis die günstige Gelegenheit, dem persischen König jenseits einer vergleichenden Charakterisierung mit Alexander die ihm angeborene Tugendhaftigkeit zuzusprechen (vgl. Komm. II, 1–17). Hinführung zur Feldherrnrede des Darius (306–318) 306–318 Certus abhinc Darius, cum posterus exeret orbem … pullulat, et vallem fecundat gratia fontis: Am nächsten Morgen besteigt Darius einen kleinen Hügel inmitten des Feldlagers, um von dort aus



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zu seinen Soldaten zu sprechen und sie auf die bevorstehende Schlacht bei Issus einzustimmen. ⇔ Walter inszeniert diesen Ort als einen locus amoenus mit einem belaubten und weit ausladenden Lorbeerbaum, einer sprudelnden Quelle und einem sanft dahinfließenden Bächlein, welches das umliegende Gras ergrünen lässt und dem ganzen Tal seine Fruchtbarkeit verleiht. Walters Darstellung gibt freilich keine real existierende Landschaft wieder, sondern folgt einem schon bei Homer innerhalb rhetorischer Naturbeschreibungen etablierten topischen Muster, das dem Mittelalter aus den lyrischen Gattungen der Antike wie der bukolischen Dichtung – das von Walter erwähnte carmen silvestre der Nymphen und frechen Satyrn verweist auf diese antike Tradition – oder durch die Vermittlung mittelalterlicher Dichtungslehren bekannt war (vgl. Haferland 2018, 179, Anm. 88). Grundelemente einer derartigen Ideallandschaft sind seit Homer der Hain, die Quelle und die Wiese. In der lateinischen Literatur gelangt die Vorstellung des locus amoenus über Vergil, der für diese Ideallandschaften immer den Begriff amoe­ nus verwendet, und unter Beteiligung spätantiker Vergil-Kommentare ins Mittelalter, wo sich der Begriff des locus amoenus durch Isidor als terminus technicus etablieren konnte (vgl. Curtius 1942, 225–230). In der noch vor 1175 verfassten Dichtungslehre des Matthaeus von Vendôme findet sich eine ausführliche Beschreibung eines solchen locus amoenus mit zahlreichen topischen Elementen einer solchen rhetorischen Naturbeschreibung (vgl. Matt. v. Vend., Ars vers. I, 111). Bei Walter lassen sich einige wörtliche Anklänge an die Ars versificatoria finden, wie etwa das in der Alexandreis nur zweimal benutzte Verb pullulare (vgl. Alex. II, 318 und Alex. IV, 195). Die von Walter erwähnte mater Cybele als Symbol der lebenserzeugenden Kraft der Natur scheint mit der bei Matthaeus von Vendôme als Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttin inszenierten Natura identisch zu sein (vgl. Alex. II, 317). ⇔ Eine besondere Bedeutung innerhalb der von Walter geschilderten Szenerie kommt dem inmitten des Feldlagers stehenden Lorbeerbaum zu, der innerhalb des von

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Donat ausgearbeiteten stilus gravis die Funktion übernimmt, den Leser auf eine kommende Schlacht oder einen bevorstehenden Krieg hinzuweisen (vgl. Curtius 1948, 206, Anm. 1). Da auch Vergil im zweiten Prooemium der Aeneis einen mitten im Palast des Latinus stehenden Lorbeerbaum nutzt, um einen Hinweis auf den bevorstehenden Krieg der Trojaner gegen die Latiner zu geben, lässt sich hinter Walters diesbezüglicher Darstellung auch eine aemulative Absicht des mittelalterlichen Dichters vermuten, die dergestalt zum Ausdruck gebracht werden soll, dass entsprechend der weltgeschichtlich größeren Bedeutung von Alexanders Krieg auch Walter als Dichter mit seinem Epos einen größeren Ruhm beanspruchen kann als sein antikes Vorbild (vgl. Verg., Aen. VII, 59: Laurus erat tecti medio in penetralibus altis; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). ⇔ Die grundsätzliche Orientierung an Donat ist jedoch nicht der einzige Bezugspunkt für diese Szene der Alexandreis. Zudem lässt sich mit der Inszenierung des locus amoenus und des darin beschriebenen Lorbeerbaums eine Verbindung zu dem zwischen 1075 und 1110 entstandenen altfranzösischen Rolandslied herstellen, wo ein unter einem Lorbeerbaum abgehaltener Kriegsrat des Sarazenenführers Baligant geschildert wird, in welchem er den anwesenden Königen, Herzögen und Grafen verkündet, dass er nicht ruhen werde, bis er Karl den Großen besiegt habe, dieser tot sei oder als Flüchtling sein Dasein friste (vgl. das altfranzösische Rolandslied nach der Oxforder Handschrift, fol. 48r–48v). Historischer Hintergrund der geschilderten Episode ist ein Kriegszug, den Karl der Große im Jahre 778 gegen die muslimischen Sarazenen in Spanien führte. Obwohl Sulayman ben al-Arabi, der Statthalter von Saragossa, den Frankenkönig gegen den Emir Abd-er-Rahman von Cordoba zu Hilfe gerufen hatte, verweigerte ihm dieser später entgegen seiner ursprünglichen Zusage den Zutritt in die strategisch wichtige Stadt am Ebro. Nach monatelanger erfolgloser Belagerung von Saragossa gab Karl sein spanisches Vorhaben auf und plünderte auf seinem Rückzug das vornehmlich von



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Basken bewohnte Pamplona. Im weiteren Verlauf geriet die Nachhut der fränkischen Truppen schließlich in der Nähe von Roncevalles in einen Hinterhalt der Basken, die damit für das Blutbad in Pamplona Rache nahmen (vgl. Reichlin 2016, 271–273). In der kollektiven Erinnerung der Franken wurde in den folgenden Jahrhunderten eben dieser Kriegszug Karls zum vorgezogenen Kreuzzug gegen die muslimischen Herrscher Spaniens umgedeutet. So erzählt auch das altfranzösische Rolandslied von dieser Niederlage, doch wird Karls Heer dort nicht mehr von den Basken, sondern von muslimischen Sarazenen in besagten Hinterhalt gelockt. Dort findet auch Karls Neffe Roland als Befehlshaber der fränkischen Nachhut den Tod, der damit literarisch zum christlichen Märtyrer stilisiert werden konnte. Die oben geschilderte Szene bezieht sich auf den Augenblick, als der Sarazenenführer Baligant am Ebro nahe bei Saragossa seinen Fuß auf spanischen Boden setzt und unter dem erwähnten Lorbeerbaum einen Kriegsrat für die bevorstehende Auseinandersetzung mit Karl abhält (auch im spanischen Libro de Alexandre wird die epische Landschaft mit der Formulierung un lorer ançiano mit einem Lorbeerbaum markiert, vgl. El libro de Ale­ xandre, 169). ⇔ Der über den Lorbeerbaum hergestellte motivische Bezug zum Chanson de Roland erschöpft sich jedoch nicht darin, auf die kommende Schlacht bei Issus zu verweisen. Überdies kann nämlich eine typologische Verbindungslinie zwischen Darius und Baligant gezogen werden, die damit beide ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Epochen als Feinde des Christentums auftreten (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Zugleich lässt sich damit auf vergleichbare Weise wie im zentralen Autorkommentar am Ende von Buch V auch eine typologische Verbindungslinie zwischen Alexander und Karl herstellen, die in ihrer jeweiligen Rolle innerhalb der christlichen Heilsgeschichte Verdienste im Kampf gegen die Feinde des Christentums erworben haben (vgl. Alex. 510– 518). ⇔ Demzufolge kann bei der epischen Inszenierung des locus

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amoenus und des darin beschriebenen Lorbeerbaums auch von einer typologischen Konstruktion ausgegangen werden, die es dem mittelalterlichen Leser ermöglichen soll, in der Geschichte den gültigen Handlungsauftrag für die eigene Gegenwart zu entdecken. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass Alexanders pagane Existenz und die aus christlicher Perspektive damit einhergehenden moralischen Defizite in diesem typologischen Kontext nicht von Bedeutung sind, sondern es dabei lediglich um seine durch die prophetischen Bücher der Bibel vorbestimmte Rolle innerhalb der christlichen Heilsgeschichte geht, die einzig und allein die Ablösung des Perserreichs vorsieht. Konkret bedeutet dies für Walter innerhalb des zeitgenössischen Horizonts, dass die zukünftige Aufgabe und die Bestimmung des noch jungen französischen Königs Philipp – zumal nach dem erfolglosen zweiten Kreuzzug (1147–1149) und nach der Niederlage des byzantinischen Kaisers Manuel gegen die Seldschuken im Jahre 1176 – nur darin bestehen kann, den Kampf gegen die muslimischen Feinde wieder aufzunehmen und die Ausbreitung des christlichen Glaubens als gottgewollten Auftrag erfolgreich zu vollenden, indem er sich die unbeugsame christliche Haltung Karls und die herausragenden Fähigkeiten Alexanders als Feldherr zum Vorbild nimmt (vgl. Wiener 2001, 64–65; zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3). ⇔ In der Ausgabe von Colker beginnt mit qualiter in Vers 318a eine Abfolge von sechs Versen, die Mueldener in seiner Ausgabe sinnvollerweise ausspart (vgl. Einleitung 9). Der hier vermeintlich ausgeführte Vergleich der als reißender Strom beschriebenen Rhone, die mit ihrer zerstörerischen Kraft das antike Agaunum überflutet – mit einem munter dahinplätschernden Bächlein im zuvor inszenierten locus amoenus will nicht so recht zusammenpassen. Hinzu kommt, dass dieselben sechs Verse in nur geringfügiger Abwandlung in Buch V die viel einleuchtendere Funktion haben, nach Darius’ Flucht Alexanders Furor bei der Verfolgung des persischen Königs zu kennzeichnen und Walter ansons-



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ten in der Alexandreis einen derartigen Vergleich nirgendwo zweimal verwendet (vgl. Alex. V, 313–318). ⇔ Am Ende des Abschnitts kehrt Walter zur eigentlichen Erzählung auf den Hügel inmitten des Feldlagers zurück und schildert Darius bei den Vorbereitungen zur Schlacht als umsichtigen und wohlwollenden Heerführer. Dann beginnt der persische König zu seinen Soldaten zu sprechen. Die Feldherrnrede des Darius (319–371) 319–371 Hinc ad suppositas vulgi procerumque choortes | pacifici Da­ rius … hostis erit quicumque fugae laxabit habenas.»: Auch wenn Feldherrnreden innerhalb der literarischen Gattung der Geschichtsschreibung eine mehr oder weniger durchgehende Tradition von der Antike bis in das Mittelalter hinein besitzen und schon seit Herodot und Thukydides zum obligatorischen Bestandteil einer als Komposition zu verstehenden Schlachtschilderung gehören, findet die Feldherrnrede des Darius in der Alexandreis überraschenderweise kein Vorbild bei Curtius, der vor Issus lediglich eine Feldherrnrede Alexanders einarbeitet. ⇔ Offenbar war es Walter aber ein Anliegen – möglicherweise aus Gründen der innerhalb der Alexandreis ohnehin oft betriebenen parallelen Charakterisierung der beiden wichtigsten Protagonisten – für sein Epos neben der später folgenden Rede Alexanders vor seinen Soldaten auch eine Feldherrnrede des Darius zu integrieren. Walter bedient sich dabei ungeachtet der Frage nach dem konkreten literarischen Vorbild bekannter topischer Muster, die in der Herabsetzung des Gegners, der göttlichen Unterstützung der eigenen Partei und der Aufwertung der eigenen Soldaten bestehen. Wiener (2001) 46–47 meint in der Feldherrnrede des Darius, der die makedonischen Truppen als Sklavenheer und ihren Anführer Alexander als knabenhaften Bastard verunglimpft, der nicht bekämpft, sondern bestraft werden müsse, Gedanken aus Lucans Pharsalia erkennen zu können, mit denen Pompeius noch

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in Italien seine Truppen mit einer vergleichbaren Rhetorik vergeblich von der Legitimation ihres Einsatzes gegen Caesar zu überzeugen versucht (vgl. Luc., Phars. II, 539–540: Neque enim ista vocar | proelia iusta decet, patriae sed vindicis iram). ⇔ Darüber hinaus gehört der rhetorische Versuch der Herabsetzung eines feindlichen Heeres und der Diskreditierung seines Anführers zu einem häufig verwendeten Motiv innerhalb der Alteritätskonstruktion, so dass Walter in dieser Hinsicht durchaus auch andere – und wie im folgenden Beispiel noch zu sehen sein wird – auch mittelalterliche Vorbilder zur Verfügung gestanden haben können. Einen möglichen Einfluss auf Walters Darstellung von Darius’ Feldherrnrede könnte etwa auch das im Jahre 1068 entstandene Carmen de Hastingae pro­ elio des Bischofs Guy de Amiens genommen haben, das im Kontext der Schlacht von Hastings in den dort inserierten Feldherrnreden gleich mehrere motivische Parallelen zu Walters Darstellung aufweist (vgl. Knödler 2011, 167–190). Die Konstruktion von Differenz und Identität in der Ermunterungsrede Wilhelms des Eroberers an seine normannischen Soldaten beginnt nämlich mit einem Appell an ihre edle französische Herkunft und der Erinnerung daran, dass sie aufrechte Krieger und eine ruhmreiche Mannschaft seien, die Gott auf ihrer Seite hätten (vgl. Guy, Bischof von Amiens, Carm. de Hast. Proel., 250–252: Francia quos genuit nobilitate cluens, | belligeri sine felle viri, famosa iuventus, | quos Deus elegit, vel Deus ipse favet). Darius beginnt in vergleichbarer Weise und spricht seine Männer als Erben der Götter an, da sie vom altehrwürdigen Belus abstammten und preist seine Soldaten ebenso als ein im Krieg einzigartiges Volk (vgl. Alex. II, 325–329). Auch hebt er die Abkunft der Perser vom Geschlecht der Giganten – dazu am Ende dieses Abschnitts noch mehr – positiv hervor und weist darauf hin, dass er selbst in der Nachfolge des großen Cyrus stehe, was ebenso dem Zweck der genealogischen Überhöhung im Sinne einer identitätsstiftenden Differenzierung gegenüber dem Feind dient (vgl. Alex. II, 346–350). Als Wilhelm während der Schlacht ein weiteres Mal zu



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seinen Soldaten spricht, bildet die motivisch als Entmenschlichung des Gegners zu verstehende Beschimpfung des Feindes als Vieh, vor dem man keine Angst zu haben brauche, eine mögliche Parallele zu der in Darius’ Rede zum Ausdruck gebrachten Herabsetzung der Makedonen als Sklaven und ihres Anführers Alexander als knabenhaften Bastard (vgl. Alex. II, 329–333). ⇔ Eine weitere motivische Parallele zu Walters Darstellung bietet die gegen Ende des vierten Jahrhunderts n. Chr. entstandene und an Kaiser Theodosius adressierte Epitoma rei militaris des Flavius Vegetius. Diese Zusammenstellung militärischen Wissens der Kaiserzeit ist für den vorliegenden Kontext insbesondere auch deshalb so interessant, da sie sich in den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung zum maßgeblichen Kriegshandbuch des Mittelalters entwickelte und gerade in Frankreich vielfach rezipiert wurde. Im dritten Buch beschäftigt sich Vegetius abgesehen von der üblichen adhortatio der Soldaten auch mit der psychologischen Seite einer Feldherrnrede (vgl. Veg., Flavi Ve­ geti Renati epitoma rei militaris II, XII, 10–15: Monitis tamen et adhortatione ducis et exercitui virtus adcrescit et animus, praecipue si futuri certaminis talem acceperint rationem, qua sperent se facile ad vitoriam perventuros. Tunc inimicorum ignavia vel error ostendus est, vel, si ante a nobis superati sunt, commemorandum). Alle von Vegetius angesprochenen Möglichkeiten des Feldherrn, den eigenen Soldaten Zuversicht zu geben und ihnen Mut zuzusprechen, werden von Walter in der Feldherrnrede des Darius in vergleichbarer Weise aufgegriffen: die Wahrscheinlichkeit des eigenen Sieges gegen einen feigen Feind, die Erinnerung an vergangene Siege gegen eben diesen Feind und der Gedanke an die aus einer Mischung aus Ahnungslosigkeit und Überheblichkeit resultierenden Irrtümer dieser Feinde. Dabei wird die vermeintliche Chancenlosigkeit des griechischen Heeres durch die Alteritätskonstruktion in Szene gesetzt, wonach sich wenige armselige und kraftlose Sklaven dem Irrtum hingäben, den Herren der Welt, denen alle Metalle dienstbar sind, die Stirn bieten zu können. Die für die Perser eigentlich verlorene Schlacht am

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Granikus wird von Darius rhetorisch geschickt nachträglich in einen Sieg umgedeutet, indem er seinen Widersacher Alexander als verzweifelten Feldherrn hinstellt, der wegen der am Granikus erlittenen Verluste schon an seiner misslichen Lage zu verzweifeln beginnt (vgl. Alex. II, 337–341). ⇔ Gegen Ende der Rede wird von Walter das schon einmal verwendete Motiv der Wahrscheinlichkeit des eigenen Sieges nun doch mit einer Anlehnung an Curtius noch einmal verstärkt, indem der persische König von seinem als Gunstbeweis der Siegesgöttin Victoria verstandenen Traum erzählt, in welchem die Zelte der Makedonen lichterloh brannten und der von den Persern ergriffene Alexander für immer verschwand (vgl. Alex. II, 363–368; die Traumdeutung fällt bei Curtius jedoch sehr viel ambivalenter aus und thematisiert auch ein für die Perser möglicherweise negatives Vorzeichen für die bevorstehende Schlacht, vgl. Curt., Hist. Alex. III, 3, 3). ⇔ Abgesehen von der persischen Sicht auf die bevorstehende Schlacht berührt die Feldherrnrede des Darius mit der Erwähnung des Gigantengeschlechts jedoch noch eine weitere Ebene, die den aus heilsgeschichtlicher Perspektive vorherbestimmten Ausgang der Schlacht bei Issus und des Perserkriegs insgesamt durch die typologische Verbindung Alexanders mit Herkules bzw. der Perser mit den Giganten vorwegnimmt (vgl. Alex. II, 348–353; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Herkules, der im Kampf der olympischen Götter gegen die Giganten entscheidend zum Sieg der olympischen Götter beigetragen und seinem Vater Zeus damit die Herrschaft gesichert hatte, wird von Walter bereits zu Beginn der Alexandreis mit Alexander in Verbindung gebracht, als dieser sich darüber beklagt, nicht wie der Alkide schon in jungen Jahren Heldentaten vollbringen zu dürfen (vgl. Alex. I, 39–41). Zudem kündigt Alexander am Ende der Alexandreis schon im Sterben liegend an, nach seinem Tod im Himmel den Schutz der olympischen Götter zu übernehmen und sie bei einem erneuten Angriff der Giganten zu verteidigen (vgl. Alex. X, 405–414). Damit macht



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Walter dem mittelalterlichen Leser mit der nur kurzen Bemerkung über die genealogische Verbindung der Perser mit den Giganten deutlich, dass Alexander sozusagen als zweiter Herkules entsprechend den Aussagen der prophetischen Bücher der Bibel den Sieg gegen die persischen Nachfahren des Gigantengeschlechts davontragen wird. ⇔ Mit der Erwähnung des Turmbaus zu Babel identifiziert Walter zudem nicht nur das persische Babylon mit dem biblischen Babel, sondern vermischt auch Traditionen der jüdisch-christlichen Exegese, die Nimrod für den Anführer der Giganten und Erbauer des babylonischen Turmes halten, mit dem antiken Mythos der Gigantomachie (vgl. Wulfram 2000, 250). Der verhängnisvolle Irrtum der Perser (372–387) 372–387 Plura locuturo celeri pede nuncius affert … Quo ruitis, peri­ tura manus? … forsitan ambigeret utrum minus esset honori: Darius wird von einem Boten die Nachricht überbracht, dass das griechische Herr seine Stellungen in den Bergen überstürzt verlassen habe und auf der Flucht durch unwegsames Gelände zum Meer hinabgeprescht sei. Ohne den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht zu prüfen, sieht Darius darin den Moment gekommen, das vermeintlich in Auflösung begriffene Heer des makedonischen Königs zu stellen. ⇔ In einem Autorexkurs spricht Walter die Perser an und führt ihnen ihre Fehleinschätzung der Situation vor Augen, zu glauben, dass ausgerechnet der bisher unbesiegte Alexander mit seinem kampferprobten Heer kopflos die Flucht ergreift. Walter verstärkt seine Aussage noch, indem er mit einem Gedankenspiel deutlich macht, dass für Alexander nicht nur eine Niederlage schmachvoll wäre, sondern er auch einem unverdienten Sieg grundsätzlich nichts abgewinnen könne. ⇔ Die von Walter mit Quo ruitis, peritura manus eingeleitete Passage wird ebenso wie das Motiv des strategischen Irrtums nur wenige Jahre später in der Philippis Wilhelms des Bretonen

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nachgeahmt, der vor der Schlacht von Bouvines (1214) gegenüber Kaiser Otto IV. in vergleichbarer Weise den Trugschluss zur Sprache bringt, sein Gegner Philipp würde es nicht wagen, mit ihm den offenen Kampf zu suchen (vgl. Wilh. d. Bret., Phil. X, 721–728: Quo ruitis, peritura manus! Male praelia tractat | impetus. An regem sic vertere terga putatis, | quin vobis ausit versa concurrere fronte? | Non decet ut terror vestri deterreat illum; | Non decet ut propter vos aufugisse putetur; | Qui solum hoc optat ut, vobis forte repertis, | in plano plane bello confligat aperto, | inque brevi id vobis nuda ratione patebit). Perser und Griechen bringen sich in Stellung (388–407) 388–407 Iam Chaldea cohors Ysson festina propinquans … barbariem que nunc profugum pavitare ferebat: Auf seinem Vormarsch werden Darius und das von Gold und Edelsteinen blitzende persische Heer – der Verweis auf den unnötigen und überflüssigen Luxus ist dabei als erneuter Hinweis Walters auf die moralisch weniger befähigten und wenig kampfbereiten Perser zu verstehen – von griechischen Spähern entdeckt. Im Unterschied zum zögerlich agierenden Darius kann Alexander sein Glück kaum fassen, dass es nun endlich zur Schlacht kommt. ⇔ Wie schon in der Darstellung von Alexanders Eilmarsch von Phrygien nach Kilikien betont Walter auch hier die herausragende Schnelligkeit und die Entschlossenheit des makedonischen Königs, der sich – wie in der Aristoteles-Rede angemahnt – in vorderster Front auf den Feind stürzt (vgl. Alex. I, 128: Hostibus ante alios primus fugientibus insta; vgl. auch Alex. II, 396–397: Prior urbe relicta | fulminat in Persas). ⇔ Mit der Blitzmetapher nimmt Walter Bezug auf die überwiegend negative Charakterisierung Alexanders im zehnten Buch der Pharsalia Lucans, wo der vom Wahnsinn getriebene makedonische König erfolgreich die Welt unterwirft und den Völkern des Ostens die Freiheit raubt (vgl. Luc., Phars. X,



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20–42). Auch die bekannte Caesar-Charakterisierung aus dem ersten Buch der Pharsalia, in der Caesar als verheerender Blitz – so ist aus dem vorausgehenden Vergleich des Pompeius mit einer sturmgebeugten Eiche zu ergänzen – in den gewaltigen Baum einschlägt und von furor und ira getrieben am Weltuntergang arbeitet, dient in diesem Kontext als bewusst eingesetzte Hintergrundfolie (vgl. Luc., Phars. I, 151–157). Lucans düsteres Alexanderbild, dem auch sein Caesar verpflichtet ist, wird von Walter jedoch umgedeutet, indem er den Perserkrieg in den heilsgeschichtlichen Kontext einbettet (vgl. Komm. 91–102). Die Epitheta, die Lucan setzt, um der sinnlosen Destruktion Ausdruck zu verleihen, erfahren bei Walter eine gezielt in Szene gesetzte Modifizierung und eine damit einhergehende christlich motivierte Umwertung. Der Blitz als Strafe des Zeus entspricht dabei zwar einer antiken Vorstellung, kann aber zugleich auf die christliche Vorstellung von der Geißel Gottes bezogen werden. Somit wird bei Walter die Eroberung des Perserreichs durch Alexander nicht als barbarischer Akt eines wahnsinnigen Eroberers verstanden, sondern als Ereignis zur Erfüllung der christlichen Heilsgeschichte inszeniert. Im Einklang mit der alttestamentarischen Prophetie deutet Walter damit den negativ konnotierten Alexander Lucans positiv um (zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2). ⇔ Am Ende des Abschnitts vergleicht Walter Alexanders Verhalten im Kampf zudem mit einem Motiv aus der Hirtendichtung, nach dem sich der hungrige Wolf auf die Schafe stürzt, die entsetzt entweder wie angewurzelt stehen bleiben oder auf ihrer panischen Flucht anderweitig zu Tode kommen (vgl. Komm. II, 45–63). Darius und das persische Heer (408–421) 408–421 Hos ubi discretis acies adversa catervis | aspicit … infirmat firmum, fixum movet, ardua frangit: Walter schildert den weiteren

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Ablauf im Wesentlichen nach den Vorgaben des Curtius. Während das persische Heer durch die unerwartete Offensive der Griechen in Unordnung gerät – Walter bringt mit der ironischen Bemerkung, das persische Heer könne besser marschieren als kämpfen, seine bereits zu Beginn des letzten Abschnitts zum Ausdruck gebrachte kritische Haltung hinsichtlich der tatsächlichen Schlagkraft des persischen Heeres zum Ausdruck –, schildert er den persischen König Darius in einem wesentlich positiveren Licht. Dieser beseitigt die aufgetretene Unordnung im persischen Heer und fasst den vernünftigen Plan, die Griechen von allen Seiten zu umzingeln und damit die eigene Übermacht schlachtentscheidend zur Geltung zu bringen. Doch auch in dieser für Alexander entscheidenden Situation greift wie schon am Kydnus die Schicksalsgöttin Fortuna ein und vereitelt den durchaus sinnvollen Plan des persischen Königs (zur Rolle des Schicksals vgl. Komm. II, 186–200; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 5). Alexander vor der Schlacht bei Issus (422–493) Hinführung zur Feldherrnrede Alexanders (422–449) 422–449 Iam Macedum series certo stabilita tenore … dumque gra­ dus inhibent, hec illis pauca profatur: Im Unterschied zu den Persern ist das griechische Heer wohlgeordnet und hat bereits die Anhöhen besetzt. Jeder Heeresflügel hat einen fähigen Anführer, der von Walter jeweils namentlich genannt wird. In vorderster Front reitet Alexander die Reihen ab und bietet in seiner Waffenrüstung einen für den Feind furchteinflößenden Anblick. Entsprechend der in der Aristoteles-Rede formulierten Vorgaben ermuntert und motiviert er seine Soldaten zum Kampf und gibt letzte Anweisungen für den Einsatz der verschiedenen Waffen in der unmittelbar bevorstehenden Schlacht (vgl. Komm. I, 118–127).



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Die Feldherrnrede Alexanders (450–486) 450–486 «Martia progenies, quorum ditione teneri … Rem vobis, michi nomen amo.»: Vor der für den Ausgang des Perserkriegs entscheidenden Schlacht bei Issus nimmt Alexander in der Rede an seine Soldaten Bezug auf das Schicksal, das sich nicht nur bei den Auseinandersetzungen mit Theben und Athen den Makedonen gewogen gezeigt hatte, sondern auch in der bevorstehenden Schlacht bei Issus auf ihrer Seite stehen wird (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Wie schon kurz zuvor von Walter selbst erwähnt, bemüht auch Alexander das Narrativ des effeminierten, feigen und kriegsuntüchtigen Persers, der zwar mit vergangenen Triumphen und dabei erworbenen Schätzen zu prahlen versteht, der Brutalität der Schlacht jedoch nicht gewachsen ist und nach den ersten Kampfhandlungen die Flucht ergreift. Alexander fordert seine Männer dazu auf, ihm gegenüber ihre Loyalität dadurch zu zeigen, dass sie mit ihren Waffen in den persischen Reihen den größtmöglichen Schaden anrichten. Einerseits motiviert er seine Soldaten damit, dass er die Perser aufgrund ihrer charakterlichen Schwäche und Depravierung bereits als Besiegte anspricht, andererseits führt er ihnen in Anlehnung an die aristotelische Tugendlehre vor Augen, dass es keineswegs der angemessenen Zürnkraft entspricht, in der Schlacht dem Feind gegenüber Milde walten zu lassen (vgl. Komm. I, 115). Er fordert zudem die Tapferkeit seiner Soldaten ein, die es nicht nur auf sich nehmen sollen, dem Tod entgegenzugehen, sondern ihm auch zu trotzen wagen sollen. Darüber hinaus erinnert Alexander seine Soldaten an die in der Vergangenheit erlittenen Ungerechtigkeiten der von Xerxes angeführten Perser, für die Darius und das ganze persische Volk nun die gerechte Strafe erhalten sollen. Alexander schließt seine Ansprache mit dem Hinweis, dass er selbst nur den Ruhm für die gewonnene Schlacht wünscht, seinen Soldaten jedoch die Beute zu überlassen gedenkt. Damit befolgt Alexander erneut eine Vorgabe der Aristo-

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teles-Rede, in der die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit als wichtige Feldherrntugend charakterisiert und als ein entscheidender Faktor bei der Unterwerfung des Feindes angesprochen wurde (vgl. Komm. I, 144–151; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Die Schlacht beginnt (486–493) 486–493 Sic fatur, et ecce  | concurrunt acies. Persae clamore soluto … responsura fuit numquam tot vocibus Echo: Unmittelbar im Anschluss an Alexanders Feldherrnrede beginnt unter dem Dröhnen der Kriegstrompeten und den schaurigen Kampfrufen der Soldaten die Schlacht. Walter verstärkt das lärmende Treiben mit dem Hinweis auf die widerhallenden Berge, die hinsichtlich der Lautstärke und der Vielzahl der Stimmen sogar die widerhallende Echo – eine schöne Reminiszenz an Ovid – übertreffen (vgl. Ov., Met. II, 339– 510; vgl. auch Alex. II, 100–102). Der Schild des Darius (494–529) 494–529 Arma tamen Darii multo sudore fabrili … Lidia et am­ biguo deceptus Apolline Cresus: Im ersten Teil seiner Beschreibung des in sieben Kreisen gegossenen Darius-Schildes gibt Walter die alttestamentarisch verbürgte Geschichte der babylonischen Könige wieder, angefangen von den erdentsprossenen Giganten unter der Führung des Nimrod, der zum Schutz vor einer erneuten Sintflut den Turmbau zu Babel in Auftrag gegeben hatte, bis zu Nebukadnezar II., unter dessen Herrschaft (605–562 v. Chr.) Jerusalem zerstört und das Volk Israels und ihr König Zedekia in die babylonische Gefangenschaft geführt worden war. ⇔ Mit dieser Bildbeschreibung variiert Walter das vergilische Ekphrasis-Modell vom Ende



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des achten Buchs der Aeneis, indem er dieses durch die Einbettung in den biblisch-heilsgeschichtlichen Kontext in den Dienst der in­ terpretatio Christiana stellt. Ratkowitsch betrachtet Walters Beschreibung des Darius-Schildes und die darin verarbeitete christliche Deutungsperspektive im Sinne einer spezifisch mittelalterlichen ekphrastic response auf das weltliche Imperium Romanum deshalb auch nicht zu Unrecht geradezu als ein christliches Gegenstück zum Aeneas-Schild Vergils (vgl. Ratkowitsch 1991, 145). ⇔ Auch innerhalb der Schildbeschreibung weist Walter wie bereits im Kontext von Darius’ Feldherrnrede auf die genealogische bzw. typologische Verbindung der Perser mit dem Geschlecht der Giganten den Leser mit aller Deutlichkeit auf den aus heilsgeschichtlicher Perspektive vorab bereits feststehenden und für die Griechen günstigen Ausgang der Schlacht bei Issus hin (vgl. Alex. II, 498–499: Fulget origo patrum Darii gentisque prophanus  | ordo Gyganteae; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Um die aus christlicher Perspektive bereits zum Ausdruck gebrachte Minderwertigkeit der Perser noch weiter zu betonen, bedient sich Walter an dieser Stelle zudem einer geschickt inszenierten praeteritio, indem er im Anschluss an den ersten Teil seiner Schildbeschreibung die aus persischer Sicht durchaus ruhmreichen Taten mit der Verwandlung Nebukadnezars in einen Ochsen und dessen Ermordung durch den eigenen Sohn auch die Schandflecke der persischen Geschichte erwähnt, die auf dem Schild selbstredend nicht abgebildet sind (die Geschichte um Nebukadnezar II. und dessen Sohn und Nachfolger Evilmerodach entstammt in ihrer Ausführlichkeit allerdings nicht der Bibel, sondern findet sich insbesondere in der Historia scholastica des Petrus Comestor, vgl. Christensen 1905, 159, Anm. 1; vgl. auch Einleitung 3). ⇔ Im zweiten Teil seiner Schildbeschreibung kommt Walter mit der Geschichte des letzten babylonischen Königs Belsazar, der im Jahre 539 v. Chr. von Cyrus am Euphrat vernichtend geschlagen und nach dem Einzug der Perser in Babylon von einem seiner Statthal-

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ter getötet worden war, auf den Übergang vom babylonischen zum persischen Reich zu sprechen (vgl. Streckenbach 1990, 211; über die von Hieronymus in seinem Kommentar zum Buch Daniel festgelegte Reihenfolge der Weltreiche vgl. Einleitung 7.2; zum Begriff Weltreich vgl. auch Einleitung 7.2). ⇔ Mit der Bezeichnung vir de­ siderii, der das umschlagende Schicksal des Belsazar in seinen Schriften niedergelegt hatte, ist dann auch der biblische Prophet Daniel angesprochen, durch den die Abfolge der verschiedenen Weltreiche angekündigt worden war (vgl. Daniel 9, 23, wo der Engel Gabriel auf Daniel bezogen die Bezeichnung vir desideriorum verwendet hat; vgl. Christensen 1905, 158, Anm. 2; zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Zuletzt und sozusagen als Höhepunkt der Schildbeschreibung geht Walter auf die auf dem äußeren Rand des Schildes – aufgrund der nach außen zunehmenden Größe der Rundung stand dem Künstler dort auch der meiste Platz zur Verfügung – dargestellte glanzvolle Herrschaft des persischen Königs Cyrus ein, der mit seinem Sieg über Belsazar nicht nur die Herrschaft der babylonischen Könige beendet hatte, sondern desweiteren auch den lydischen König Croesus besiegen konnte. Croesus hatte zuvor das Orakel von Delphi befragt, ob er das Perserreich angreifen solle und hatte die Antwort erhalten, dass er mit einem derartigen Angriff ein großes Reich zerstören werde. Croesus begann den Krieg gegen die Perser im falschen Glauben, dass damit das persische Reich gemeint sei, zerstörte so jedoch sein eigenes großes Reich. Der mit Cyrus in Verbindung stehende Höhepunkt persischer Herrschaft in der Vergangenheit und der daraus resultierende Stolz der Perser über die Ablösung der babylonischen Herrschaft ist auch in der Feldherrnrede des Darius zu spüren, in der sich Alexanders Widersacher explizit als zweiter Cyrus inszeniert (vgl. Komm. II, 325–371).



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Autorexkurs zur Vergänglichkeit irdischer Macht (530–544) 530–544 Ausa tamen Tamiris belli temptare tumultus … divicias dare qui potuit, auferre valebit: Ein abschließender Autorexkurs gibt in seinem ersten Teil den für die Perser peinlichen Untergang des Cyrus wieder, der durch die eigentlich dem Krieg abgeneigte Königin der südöstlich des Aralsees siedelnden Massageten namens Amyris zu Fall kommt. ⇔ Dieser Abschnitt kann nicht mehr der Schildbeschreibung zugerechnet werden, da kaum anzunehmen ist, dass Darius mit der für die Perser peinlichen Niederlage des Cyrus gegen Amyris auf dem Schild dem makedonischen König gegenübertreten möchte. Darüber hinaus hatte sich Darius in seiner Feldherrnrede als zweiter Cyrus inszeniert, der als großes Vorbild in der Geschichte des persischen Volkes den eigenen Soldaten für die anstehende Schlacht Mut zusprechen sollte. Auch in diesem Kontext wäre eine Abbildung der Niederlage des Cyrus auf dem Schild nicht plausibel (vgl. Komm. II, 325–371). ⇔ Walter inszeniert den persischen König Cyrus als Sinnbild der Zerbrechlichkeit menschlicher Macht, der als Spielball des Schicksals ungeachtet seiner ursprünglichen Größe am Ende einen tiefen Fall erleidet (vgl. Zwierlein 1987, 630–631; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Mit dem Ende des Cyrus gibt Walter auch einen Ausblick auf das bevorstehende Ende des Darius, der ebenso wie Cyrus auf der Höhe seiner Macht von einem vermeintlich unterlegenen Gegner besiegt wird. Mit der an dieser Stelle auf Cyrus bezogenen, ansonsten in der Alexandreis aber auch mehrfach für Alexander verwendeten Bezeichnung malleus orbis weist Walter darüber hinaus aber auch auf das nicht abzuwendende Ende des makedonischen Königs hin, der in seinem über das Perserreich hinausreichenden, nicht zu bändigenden Eroberungsdrang die Weltherrschaft anstrebt und damit gegen seinen von der christlichen Heilsgeschichte vorgegebenen Auftrag verstößt. ⇔ Im zweiten Teil des Autorexkurses gestaltet Walter aus christlicher Sicht eine Warnung an den Leser

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des Epos vor dem trügerischen und vergänglichen Ruhm weltlicher Herrschaft, indem er von der konkreten Aussage über die Vergänglichkeit menschlicher Herrschaft bei Cyrus zu einer allgemeinen Aussage über die grundsätzliche Unterworfenheit aller Menschen unter den christlichen Gott überleitet, der den Königen die Herrschaft verleiht, sie ihnen aber jederzeit auch wieder nehmen kann (zur Stellung des Moralexkurses innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).

Einführung zu Buch III Nach den im zweiten Buch ausführlich wiedergegebenen Vorbereitungen für die Schlacht bei Issus und dem nur kurzen Hinweis auf den Beginn dieses für den Perserkrieg entscheidenden Feldzugs wendet sich Walter mit Buch III dem eigentlichen Schlachtgeschehen zu, das sich in Anlehnung an antike Epiker im Wesentlichen als eine Abfolge von Zweikämpfen darstellt, die den Kampf der Massen in den Hintergrund treten lassen (vgl. Christensen 1905, 83). Walter nutzt das epische Element der Schlachtschilderung jedoch nicht nur, um seine Darstellung in Beziehung zu antiken epischen Vorbildern zu setzen, sondern verfolgt dabei zudem die erkennbare Absicht, Alexanders militärische Überlegenheit immer wieder als unmittelbare Konsequenz der außerordentlichen Tugendhaftigkeit seines wichtigsten Protagonisten in Szene zu setzen. Bereits im initialen Zweikampf gegen den Perser Arethas gibt Alexander ein Beispiel seiner außergewöhnlichen Tapferkeit ab, indem er diesen in einer harten Auseinandersetzung niederringt und damit seine Soldaten ermutigt, ebenso den Kampf aufzunehmen (vgl. Komm. III, 11–27; zur Bedeutung eines initialen Zweikampfs vgl. auch Komm. V, 11–25; zur Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 116–143; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Ein eindrücklicher Beleg einer diesbezüglichen Inszenierung stellt auch die Zoroas-Episode dar, in der Alexander den persischen Gelehrten in einem bemerkenswerten Akt der angemessenen Zürn­ kraft verschont, obwohl er von diesem in der Schlacht beleidigt und sogar am Oberschenkel verletzt wird (vgl. Komm. III, 140–188; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I; zur Tugend der angemessenen Zürnkraft vgl. auch Komm. I, 115). Umgekehrt stellt Walter seinen wichtigsten Pro-

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tagonisten bei der Eroberung von Tyrus innerhalb derselben Tugend der angemessenen Zürnkraft jedoch auch als einen Feldherrn dar, der ohne zu zögern die phönizische Stadt dem Erdboden gleichmacht (vgl. Komm. III, 288–329). Wie schon im Kontext der in Buch II aufgeführten Vorbereitungen zur Schlacht bei Issus verabsäumt es Walter auch in der im vorliegenden Buch realisierten Darstellung des Schlachtgeschehens nicht, Alexanders herausragende Tugendhaftigkeit über bewusst inszenierte Kontrastierungen mit seinem persischen Widersacher Darius ins rechte Licht zu rücken. In unmittelbarem Anschluss an die Zoroas-Episode etwa charakterisiert Walter den persischen König als einen phlegmatisch agierenden Feldherrn, der in seiner Überforderung nicht einmal mehr die Entscheidung zu treffen vermag, ob er angesichts des blutigen Gemetzels die Flucht ergreifen oder sich doch lieber das Leben nehmen soll (vgl. Komm. III, 189–202). Auch in der darauf folgenden Wiedergabe von Darius’ Flucht vermittelt Walter dem Leser das mitleidheischende Bild eines zutiefst verunsicherten Mannes, der im Gegensatz zu seinem makedonischen Gegner im Hinblick auf ein tugendhaftes Verhalten alles vermissen lässt, was einen erfolgreichen Feldherrn und König auszeichnet (vgl. Komm. III, 203–214). Walter beschränkt sich bei der moralischen Einordnung und Beurteilung der handelnden Personen jedoch nicht nur auf die beiden für das Epos zentralen Protagonisten Alexander und Darius. Auch Alexanders wichtigster General Parmenion wird mehrfach als überaus tapferer und umsichtiger Anführer geschildert, der sich im Kampfgeschehen nicht nur als tapferer Kämpfer bewährt, sondern überdies auch Verantwortung für seine Kampfgefährten übernimmt (vgl. Komm. III, 53–58; vgl. auch Komm. III, 63–72). Sogar der Perser Mazaeus, den Alexander später zum Satrapen von Babylon ernennt, wird ungeachtet seines für die Griechen schmerzhaften Eingreifens in die Schlacht von Walter explizit als tapferer Kämpfer beschrieben und damit einer positiven moralischen Beurteilung unterzogen (vgl. Komm. III, 48–49). Umgekehrt erleidet der persische Anführer von



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Damaskus beim Versuch, durch Verrat am eigenen König den in die Stadt einrückenden Parmenion zu besänftigen, einen unter moralischen Gesichtspunkten – wie Walter explizit betont – gerechten Tod (vgl. Komm. III, 258–273). Die angeführten Beispiele zeigen, dass die mit der Aristoteles-Rede vermittelte Tugendlehre insbesondere im Hinblick auf die zentralen Tugenden eines Feldherrn im Sinne einer übergeordneten Leitidee unbedingten Programmcharakter für die gesamte Alexandreis besitzt, da die Handlungen der Eposfiguren unabhängig von ihrer jeweiligen Rolle innerhalb der Erzählung immer dann von Erfolg gekrönt sind, wenn sich der jeweilige Protagonist im Sinne der in der Aristoteles-Rede vermittelten Tugendlehre verhält, umgekehrt dieser jedoch auch den Misserfolg zu gewärtigen hat, falls er die den dortigen Handlungsanweisungen zugrundeliegenden Tugenden eines Feldherrn nicht an den Tag zu legen vermag (vgl. Gartner 2018, 69; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Im Kontext der moralischen Beurteilung Alexanders durch den Autor der Alexandreis ist ein weiterer Aspekt von zentraler Bedeutung, der bereits vor der Schlacht bei Issus in der Sisines-Episode erkennbar geworden war und im vorliegenden Buch in mehreren Szenen erneut zum Tragen kommt (vgl. Komm. II, 269–271; vgl. auch die Einführung zu Buch II; vgl. auch Einleitung 3). Angesprochen ist dabei Walters Bestreben, immer dann, wenn bei Curtius – immerhin Walters wichtigste historische Vorlage – kritische Töne in Bezug auf Alexanders Verhalten zum Ausdruck gebracht werden, durch gezielte Abschwächungen oder auch bewusst vorgenommene Ausblendungen zu vermeiden, dass bereits innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs auf der Ebene der eigentlichen Erzählung ein Schatten auf seinen wichtigsten Protagonisten fallen könnte. So komprimiert Walter beispielsweise die Darstellung über die Eroberung von Tyrus derart, dass er weder die monatelange Belagerung der phönizischen Stadt erwähnt noch irgendein Wort über den bei Curtius wiedergegebenen und für Alexander wenig schmeichelhaften

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Umstand verliert, dass Alexander ernsthaft überlegt haben soll, die Belagerung abzubrechen und unverrichteter Dinge nach Ägypten weiterzuziehen (vgl. Curt., Hist. Alex. IV, 4, 1–2). Vielmehr geht es Walter auch hier in erster Linie darum, die Tapferkeit seines wichtigsten Protagonisten herauszustreichen, der beim Anblick der abwehrbereiten Tyrer von großer Freude über eine bevorstehende Schlacht erfüllt wird und es kaum erwarten kann, mit der Erstürmung der Stadt zu beginnen (vgl. Komm. III, 274–287). Auch bei der Eroberung von Gaza lässt sich der beschriebene Sachverhalt besonders eindrücklich aufzeigen. Während in Curtius’ Darstellung Alexander den besiegten persischen Anführer der Stadt namens Betis dem Vorbild Achills folgend um die Stadtmauern schleifen lässt, spart Walter auch diese für die moralische Bewertung des makedonischen Königs wenig vorteilhafte Szene schlicht und ergreifend aus (vgl. Curt., Hist. Alex. IV, 6, 29–30; vgl. auch Komm. III, 342–369). Wenn Walter im Rahmen des Perserkriegs wirklich die Absicht gehabt hätte, seinen wichtigsten Protagonisten einer auf die konkrete Situation der Erzählung bezogenen moralischen Kritik zu unterziehen, hätte er an dieser Stelle ohne besonderen Aufwand nur seiner historischen Hauptquelle Curtius folgen müssen. Wiener (2001) 30 stellt diesen für die moralische Beurteilung des makedonischen Königs in der Alexandreis bedeutsamen Umstand in deutlicher Distanzierung zu Forschungsansätzen, die in der Darstellung Alexanders bei Walter eine kritische Distanz des mittelalterlichen Autors wahrzunehmen glauben, überzeugend folgendermaßen klar: »Tatsächlich kann man nicht anders, als von einer Schonung des Protagonisten zu sprechen, wenn so auffallende Auslassungen zu konstatieren sind wie etwa die Schleifung des Betis um die Stadtmauern von Gaza. Hier bleibt Maura Lafferty eine Erklärung schuldig, warum Walters Alexander in diesem Fall nicht nach Achills Vorbild handelt, während er nach ihrer Deutung gerade als homerischer Held – in kritischer Kontrastierung zu einem verantwortungsbewußten Herrscher – von Walter charakterisiert ist.« Ebenso ist dieses Bestreben Walters in der Darstellung



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von Alexanders Besuch in der Oase Siwa zu erkennen, in der die bei Curtius zum Ausdruck gebrachte Kritik an Alexanders Streben, als Sohn Jupiters anerkannt werden zu wollen, an der entsprechenden Stelle der Erzählung im Epos unerwähnt bleibt (vgl. Curt., Hist. Alex. IV, 7, 8–9; vgl. auch Komm. III, 370–407). Insbesondere vor dem Hintergrund, dass dieser Vorwurf der Maßlosigkeit nach dem Perserkrieg auf der Erzählebene – angesprochen ist hierbei die Episode um die in Buch VIII wiedergegebene Verschwörung des Philotas – auch in der Alexandreis explizit zur Sprache gebracht und als wichtiger Grund für Alexanders Tod im Epos in Szene gesetzt wird, ist diese Auslassung ein deutlicher Beleg für den Umstand, dass Walter innerhalb des Perserkriegs alles vermeidet, was den makedonischen König bezogen auf eine konkrete Situation der Erzählung moralisch diskreditieren könnte (zur Philotas-Verschwörung vgl. Komm. VIII, 75–322; zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. auch Einleitung 3). Anders verhält es sich bei dem als Vorverweis auf die Zeit nach dem Perserkrieg gestalteten Moralexkurs, in welchem Walter den auf der Erzählebene in Buch III noch ausgeblendeten Vorwurf an Alexander, als Spross Jupiters gelten zu wollen, deutlich zur Sprache bringt und mit der Kritik an dessen fehlender Unterordnung unter den christlichen Gott verbindet (vgl. Komm. III, 242–257; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4; zur Stellung des Moralexkurses innerhalb der Gesamtstruktur der Ale­ xandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). Den Abschluss von Buch III bilden die Vorbereitungen zur letzten großen Schlacht bei Gaugamela, die sich auf Seiten der Griechen durch eine Mondfinsternis schwierig gestalten, da die griechischen Soldaten durch das kosmische Ereignis in große Unruhe versetzt werden. Erst durch den Einsatz der Seher gelingt es Alexander, seine Soldaten zu beruhigen und sie für die kommende Schlacht zu motivieren (vgl. Alex. III, 463–543).

Kommentar zu Buch III Themenübersicht (1–10) C 1 Tercius arma canit populosque in fata ruentes: Die im Haupttext ausführlich geschilderte Schlacht bei Issus wird an der vorliegenden Stelle in einem einzigen Vers verdichtet (vgl. Alex. III, 1–214). Dabei bilden die Worte in fata ruentes einen von Walter imitativ gestalteten Kontrast zu Lucans Pharsalia. Während Pompeius’ Soldaten in der Darstellung des antiken Autors – obgleich von ihrem Feldherrn noch vor der Schlacht zurückgerufen, da es sich nicht lohne, seinetwegen zu sterben – allerdings in einem unnötigen und moralisch fragwürdigen Bürgerkrieg einem viel zu frühen Tod entgegengehen, wird von Walter lediglich die Schicksalsgebundenheit der sich auf beiden Seiten unausweichlich in den Tod stürzenden Völker – stilistisch durch die betonte Mittelstellung der Worte in fata zwischen populos und ruentes betont – beschrieben, ohne dabei die Schlacht selbst infrage zu stellen (vgl. Luc., Phars. VII, 668–669: revocat matura in fata ruentes | seque negat tanti; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). ⇔ Mit dieser Kontrastimitation möchte Walter auch auf den im Vergleich zum römischen Bürgerkrieg weltgeschichtlich sehr viel bedeutenderen und zudem aus christlicher Sicht auch in moralischer Hinsicht vertretbaren Perserkrieg Alexanders hinweisen. Zugleich ist der mittelalterliche Dichter damit nicht zum ersten Mal in der Alexandreis auch in der Lage, seinen aemulativen Anspruch gegenüber dem antiken Epiker Lucan in der ihm eigenen Manier zum Ausdruck zu bringen (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6).



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C 2 Vincuntur Persae: Der für die Perser ungünstige Ausgang der Schlacht wird ohne weitere Ausschmückung mit nur zwei Worten wiedergegeben. ⇔ Diese stilistisch durch eine brevitas hervorgerufene Verdichtung der Information hat ihre Entsprechung in dem zuvor in Buch II immer wieder prospektiv festgehaltenen Umstand, dass der Sieg der Griechen aus der moralischen ebenso wie aus der heilsgeschichtlichen Perspektive nicht aufzuhalten ist und eigentlich keiner weiteren Erklärung bedarf (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). C 2–4 Darii preciosa supellex | diripitur, soror et mater capiuntur et uxor | septennisque puer: Als direkte Folge der von den Griechen gewonnenen Schlacht bei Issus geraten die Schwester, die Mutter, die Ehefrau und der Sohn des Darius in griechische Gefangenschaft. Auch die umfangreiche und wertvolle Ausrüstung der Perser geht dabei in den Besitz der siegreichen Griechen über (vgl. Komm. III, 215–242). C 4–6 Capta Sydone Tyroque  | funditus eversa magno discrimine Gaza | vincitur, et Lybicus a paucis visitur Hamon: Bevor Alexander mit einer kleinen Delegation das ägyptische Hammon-Heiligtum in der Oase Siwa aufsucht, unterwirft er auf dem Weg dorthin die phönizischen Städte Sidon, Tyrus und Gaza (vgl. Komm. III, 288–407). C 7–8 Interea Darius reparato robore rursus | maior in arma ruit: In der Zwischenzeit haben sich Darius’ Truppen erholt und sind im Begriff, stärker noch als zuvor erneut in den Kampf gegen Alexander einzutreten. ⇔ Dieser für die Pläne des makedonischen Königs grundsätzlich erst einmal gefährliche Sachverhalt wird von Walter mit dem alliterativ geformten und lautmalerisch mit den dunklen Vokalen -a-, -o- und -u- unterlegten reparato robore rursus stilistisch auffällig in Szene gesetzt (vgl. Komm. III, 408–462).

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C 8–10 Fit seditionis origo | in castris Macedum lunae defectus, et ecce  | consulti vates duro de tempore tractant: Vor der Schlacht bei Gaugamela verursacht eine Mondfinsternis einen großen Aufruhr im Lager der Griechen, der erst durch den Einsatz der von Alexander herbeigerufenen Seher wirkungsvoll unterbunden werden kann (vgl. Komm. III, 463–543). Die Schlacht bei Issus (1–214) Das Aufeinandertreffen der feindlichen Heere (1–3) 1–3 Iam fragor armorum, iam strages bellica vincit | clangorem li­ tuum, subtexunt astra sagittae,  | missiliumque frequens obnubilat aera nimbus: Die gewaltigen Dimensionen des kriegerischen Aufeinandertreffens werden von Walter wie schon bei der Ankunft des griechischen Heeres in Kilikien und am Ende von Alexanders Feldherrnrede durch akustische Eindrücke verstärkt, die den Leser damit sozusagen unmittelbar an der Schlacht teilhaben lassen (vgl. Alex. II, 100–102; vgl. auch Alex. II, 487–493). Zum selben Zweck bedient sich Walter an dieser Stelle zudem eines optischen Eindrucks, indem er davon berichtet, wie die auf beiden Seiten abgefeuerten Geschosse den Himmel verdunkeln. Alexanders Schnelligkeit und Entschlossenheit (4–10) 4–10 Primus … ocius emisso tormenti turbine saxo | torquet equum Macedo … igniti Dario prefertur forma draconis: Alexander reitet als erster auf die Reihen der Perser zu und versucht dabei mit aller Macht, an den persischen Anführern vorbei Darius’ Streitwagen zu erreichen. ⇔ Wie schon in der Darstellung von Alexanders Eilmarsch von Phrygien nach Kilikien oder bei der Beschreibung der



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Vorbereitungen zur Schlacht bei Issus betont Walter auch hier die herausragende Schnelligkeit und die leidenschaftliche Entschlossen­ heit Alexanders, der sich wie in der Aristoteles-Rede angemahnt in vorderster Front und schneller als ein von einer Wurfmaschine geworfener Stein – ocius emisso tormenti turbine saxo – auf den persischen Feind stürzt (zu Alexanders Schnelligkeit vgl. Komm. I, 116–117; vgl. auch Komm. II, 91–102; vgl. auch Komm. II, 388–407; vgl. auch Komm. III, 436–462; zur Vorbildfunktion des Feldherrn in der Schlacht vgl. Komm. I, 128–132). Umgekehrt wird die Gefährlichkeit der Perser von Walter kontrastierend relativiert, indem er die persischen Fürsten mit ihren von Edelsteinen besetzten und von Gold funkelnden Helmen wie bereits beim ersten Aufeinandertreffen vor der Schlacht bei Issus als dem Luxus unterworfene und eigentlich für den Kampf untaugliche Anführer stigmatisiert (vgl. Alex. II, 389–391). Auch Darius verbreitet nur durch einen ihm vorangetragenen Drachen, der mit seinem von Gold gleißenden Rachen die Lüfte zu verschlingen scheint, Angst und Schrecken, sein abwartendes und zögerliches Verhalten stellt im Widerspruch dazu jedoch keine echte Bedrohung für die Griechen dar. Damit stempelt Walter den persischen König wie schon bei dessen Charakterisierung zu Beginn von Buch II auch an dieser Stelle schon vorab als Verlierer in der gerade begonnenen Schlacht bei Issus ab (vgl. Alex. II, 1–17; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Das Wort aurivomus stellt einen Neologismus Walters dar, den er offenbar nach einer Vergilstelle aus den Worten vomere und aureus geformt hat (vgl. Verg., Aen. X, 271: funditur et vastos umbo vomit aureus ignis; vgl. auch Zwierlein 2004, 668; vgl. auch Glock 2000, 276–277). Alexander gegen Arethas (11–27) 11–27 Querentique ducem quem primo vulnere dignum  | obruat

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obicitur Syriae prefectus Arethas … Greca phalanx letoque ferunt ad sydera plausu: Der unmittelbare Zugang zu Darius wird dem makedonischen König zuerst einmal vom syrischen Satrapen Arethas verwehrt. ⇔ Auch er wird von Walter ganz im Sinne der oben beschriebenen Stigmatisierung als Kämpfer geschildert, dessen Helm ein Edelstein zu entflammen scheint und an dessen goldener Lanze das Bild eines Löwen herabhängt, das mit seinem Glanz sogar die Sonne herausfordert. ⇔ Der Chaldäer eröffnet den Zweikampf und trifft mit seinem Speer den Schild Alexanders, das Wurfgeschoss bleibt jedoch stecken, ohne weiteren Schaden anzurichten, der Holzschaft des Speers bricht sogar ab. Alexander gelingt es, in einem Gegenangriff mit dem eigenen Speer den Schild des Arethas ausgerechnet an derjenigen Stelle zu durchdringen, wo der Edelstein prangt, zudem schickt er noch einen todbringenden Pfeil hinterher. ⇔ Mit der Darstellung eines siegreichen Zweikampfes zu Beginn einer Schlacht ist Walters Alexander somit nicht nur ein Abbild des vergilischen Aeneas, der nach seiner Rückkehr von Euander ebenso mit einem richtungsweisenden Zweikampf gegen den hünenhaften Theron den Kampf gegen die Italiker erfolgreich eröffnet, sondern auch ein von der Tugend der Tapferkeit durchdrungener Feldherr, der mit seiner Initiative in Entsprechung der Vorgaben der Aristoteles-Rede zu einem wichtigen Zeitpunkt der Schlacht ein glänzendes Vorbild für seine Soldaten abgibt und sie dadurch mitzureißen versteht (vgl. Verg., Aen. X, 310–314: primus turmas invasit agrestis | Aeneas, omen pugnae, stravitque Latinos | occiso Therone, virum qui maximus ultro | Aenean petit. huic gladio perque aerea suta, | per tu­ nicam squalentem auro latus haurit apertum; vgl. auch Zwierlein 2004, 612; vgl. auch Komm. I, 116–143; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Ebenso wie die Trojaner den ersten Sieg ihres Anführers Aeneas als gutes Vorzeichen für den Ausgang der Schlacht gegen die Latiner betrachten, feiert das Heer der Griechen den ersten Sieg ihres Anführers Alexander als faustum omen für die gerade



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beginnende Schlacht gegen die Perser (vgl. Alex. III, 26; vgl. auch Zwierlein 2004, 613). Ptolemäus gegen Dodontes; Clitus gegen Androphilus (28–47) 28–47 Densantur cunei. Clytus et Tholomeus in armis … Quadru­ pedi quadrupes armoque opponitur armus,  | pectora pectoribus, or­ bisque retunditur orbe,  | torax torace, gemit obruta casside cassis … demetit ense caput et terrae mandat humandum: Walter vergleicht das Vorgehen der griechischen Kämpfer Ptolemäus und Clitus gegen ihre persischen Gegner mit einem Angriff hungriger Löwen, die in ihrem unbändigen Jagdeifer mit ihrem Schwanz den eigenen Rücken schlagen und dadurch zusätzlichen Ansporn erhalten, auf die nur bedingt wehrhaften Stiere loszugehen. Dieses von Walter geprägte Bild findet in dem um die Mitte des 13. Jahrhunderts unter dem Titel Gesta militum veröffentlichten Ritterspiegel des weitgehend unbekannten Magisters Hugo von Mâcon erneut Verwendung, wo dieser den Zweikampf zwischen einem namenlosen, beim fränkischen König – möglicherweise ist dabei an Karl den Großen zu denken – durch eine Intrige in Ungnade gefallenen Ritter und einem hungrigen Löwen schildert (vgl. Hugo von Mâcon, Gesta Militum I, 375–382: Hunc stimulat ieiuna fames, hamata paratur | ungula, crus grossum, pectora lata manent. | Simatur vultus, oculi ru­ bor intimat iram, | ardenti colera rictus utrinque fluit. | Dens cum dente sonat, humans linguas saporat/carnes, horrescunt hispida col­ la pilis. | Costarum pars magna patet, ieiunia cingunt | ylia, cauda ferit tergora, ciclat humum). ⇔ Ptolemaeus ist in der Lage, seinen persischen Gegner Dodontes ohne größere Anstrengung zu töten, während sich der Zweikampf zwischen Clitus und Androphilus durch die Wehrhaftigkeit seines persischen Widersachers in die Länge zieht. ⇔ In Anlehnung an Vergil und Statius bildet Walter die Intensität dieses Zweikampfes durch die Reihung mehrerer polyp-

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totischer Glieder ab (vgl. Verg., Aen. X, 361: haeret pes densusque viro vir; vgl. auch Stat., Theb. VIII, 398–399: iam clipeus clipeis, umbone repellitur umbo, | ense mina ensis, pede pes et cuspide cuspis; vgl. auch Zwierlein 2004, 663–664). Eine beinahe wortgleiche Parallele ergibt sich zudem zu den im Hinblick auf die Tugend der Tapferkeit an Alexander gerichteten Anweisungen aus der Aristoteles-Rede, was erneut deren Programmcharakter für das gesamte Epos unterstreicht (vgl. Alex. I, 141–142: Hic equus opponatur equis, hic ensibus ensis, | hic clipeus clipeis, hic obruta casside cassis; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Als beide im Kampfgetümmel vom Pferd stürzen und eine Weile ohnmächtig am Boden liegen, gelingt es Clitus schneller als seinem Gegner, sich wieder aufzurichten und dem noch wankenden Perser den Kopf abzuschlagen. Iollas gegen Mazaeus (48–49) 48–49 Preditus eloquio bello specieque sinistro  | fuderat in cornu Grecum Mazeus Yollam: Der ungeordneten Dynamik der Schlacht geschuldet, ergeben sich weitere Zweikämpfe, die mit einer einzigen Ausnahme immer einen griechischen Sieger finden. Lediglich dem Perser Mazaeus gelingt es, den Griechen Iollas zu töten. ⇔ Dies ist insofern bemerkenswert, als Walter ausgerechnet an dieser Stelle seine historischen Vorlagen verlässt, die allesamt davon berichten, dass eben dieser Iollas als Alexanders Mundschenk später – möglicherweise im Auftrag seines Vaters Antipater – den makedonischen König in Babylon vergiftet haben soll (vgl. Curt., Hist. Alex. X, 10, 14: Veneno necatum esse credidere plerique: filium Antipatri inter ministros, Iollam nomine, patris iussu dedisse; vgl. auch Iust., Epit. Hist. XII, 14, 9: Philippus et Iollas praegustare ac temperare potum regis soliti in aqua frigida venenum habuerunt, quam praegustatae iam potioni supermiserunt). Interessanterweise lässt Walter in seiner



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Darstellung Iollas nur kurze Zeit überdies ein weiteres Mal töten (vgl. Alex. III, 116; vgl. auch Christensen 1905, 105). Dies wirft die Frage auf, aus welchem Grund Walter diesen gleich zweimal sterben lässt. Handelt es sich dabei lediglich um ein unbedeutendes Versehen des Autors oder möglicherweise um eine unbewusste Phantasie Walters, durch die Iollas als verabscheuungswürdiger Königsmörder sinnbildlich gemäß der Offenbarung des Johannes im Voraus den ihm zustehenden zweiten bzw. ewigen Tod findet, der eigentlich im Endgericht von Gott als endzeitlichem Richter verhängt wird? Wie auch immer dies zu bewerten ist, versetzt sich Walter darüber hinaus mit dieser Inszenierung in die Lage, entsprechend der Vorgaben der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen Zürnkraft den Perser Mazaeus in Anerkennung von dessen großer Tapferkeit später zum Satrapen von Babylon zu ernennen (vgl. Alex. VI, 345–347; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I). Dasselbe Verhalten legt Alexander später gegenüber dem besiegten Inderkönig Porus an den Tag, den er nicht nur verschont, sondern sogar in seinen Freundeskreis aufnimmt und zum Statthalter über ein vergrößertes Reich macht (vgl. Komm. IX, 291–329; vgl. auch Gartner 2018, 51–53). Somit ist dieser Zweikampf zwischen Iollas und Mazaeus in zweifacher Weise als Inszenierung Walters zu verstehen, die sowohl der christlichen Intention des Autors als auch der antik-paganen Linie der Aristoteles-Rede Rechnung trägt. Philotas gegen Ochus (50–52) 50–52 Ultor adest … Phylotas …Ochum … aggreditur, cuius latus ense bipertit: Philotas, einer der Söhne Parmenions, versucht auf der Stelle, den Tod des Iollas zu rächen und den Mazaeus zu töten, im undurchsichtigen Schlachtgetümmel sieht er sich jedoch plötzlich dem

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Ochus gegenüber, dem er mit einem Schwerthieb die Seite durchtrennt. Philotas sieht sich mit dieser Aktion plötzlich von hyrkanischen Reitern umringt, die ihm gefährlich nahekommen. Parmenions Bedeutung für Alexander (53–58) 53–58 Interea multa sudantem cede Phylotam … Parmenio, sine quo nichil umquam carmine dignum | gessit Alexander … talio pro meri­ tis magis arbitror esse silendum: Erst durch den energischen Einsatz von Antigonos, Cenos, Craterus und insbesondere durch das Auftreten Parmenions gelingt es, die persischen Gegner für einen kurzen Moment auf Distanz zu halten. ⇔ Im Sinne eines retardierenden Moments unterbricht Walter an dieser Stelle die Handlung, um auf Parmenions überragende Bedeutung für Alexanders Perserfeldzug insgesamt hinzuweisen. Dabei lässt er in einer praeteritio nicht ohne kritische Distanz auch die nach dem Perserkrieg und noch vor dem Feldzug gegen den Inderkönig Porus auf Alexanders Befehl hin erfolgte Tötung Parmenions anklingen. Die Zweikämpfe des Antigonus, Coenus und Craterus (59–62) 59–62 Antigoni iacet ense Phylax, Mida cuspide Ceni … iam viscera rupta trahentem: Die Handlung setzt nicht unmittelbar wieder mit Parmenion ein, sondern wird zuerst einmal mit den Zweikämpfen der griechischen Kämpfer Antigonus, Coenus und Craterus fortgesetzt, die ihre persischen Widersacher Phylax, Mida und Amphilochus ohne größere Probleme töten. ⇔ Wie Zwierlein (2004) 664–667 bemerkt, bedient sich Walter bei seiner Darstellung dieser Zweikämpfe der Figur der Regressio, indem er zunächst, wie im Abschnitt zuvor zu sehen war, in gedrängter Form die Namen der Kämpfer nennt, um dann, wie im vorliegenden Abschnitt erkenn-



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bar, in einem Rückgriff die näheren Umstände ihres jeweiligen Todes nachzutragen. Als Vorbilder für diesen stilistischen Kunstgriff könnten Walter dabei neben der Mezentius-Aristie in der Aeneis Vergils insbesondere auch eine Stelle aus der Thebais des Statius gedient haben (vgl. Verg., Aen. X, 696–700; vgl. auch Stat., Theb. VII, 640–643: sternunt alterna furentes | Hippomedon Sybarin, Py­ lium Periphanta Menoeceus, | Parthenopaeus Ityn: Sybaris iacet ense cruento,  | cuspide trux Periphas, Itys insidiante sagitta). Mit dieser kurzen Unterbrechung der auf Parmenion bezogenen Erzählung gelingt es Walter nicht nur, den Spannungsbogen zu halten, sondern er ist damit unter kompositorischen Gesichtspunkten auch in der Lage, die allgemeinen Aussagen über Parmenions Bedeutung für den Perserfeldzug insgesamt von dessen konkreten Taten in der Schlacht bei Issus zu trennen. Darüber hinaus kontrastiert Walter die Taten der drei Feldherrn Antigonus, Coenus und Craterus, die jeweils nur einen einzigen Gegner töten, mit der unmittelbar darauf folgenden Beschreibung Parmenions, der über seine Qualitäten als tapferer Kämpfer hinaus – er tötet gleich fünf persische Gegner – weitere wichtige Eigenschaften eines Feldherrn an den Tag legt. Parmenions Bedeutung für die Schlacht bei Issus (63–72) 63–72 More suo ruit in Persas dampnatus iniquo | sydere Parmenio … hiis addit Elan Arabemque Cherippum: Mit einem erneuten Hinweis auf Parmenions späteres unglückliches Ende setzt Walter an dieser Stelle dessen zuvor explizit zum Ausdruck gebrachte Bedeutung für Alexanders Erfolg im Perserkrieg insgesamt nun ganz konkret für die Situation in der Schlacht bei Issus in Szene. Obgleich von den Persern Hysannes und Dimus an der Seite getroffen, weicht er nicht von der Stelle und ist sogar noch in der Lage, den ängstlich fliehenden Orestes zu schützen. Nachdem er dem Hysannes die Brust durchbohrt und dem Dimus die Hand abgehackt hat, kann

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Orestes sogar in den Kampf zurückkehren. Darüber hinaus tötet Parmenion mit Agilus, Hylas und Cherippus noch drei weitere Perser. ⇔ In Walters Schilderung vermag Parmenion durch seine beeindruckende Tapferkeit somit nicht nur sich selbst zu verteidigen und im Kampfgetümmel gleich mehrere Gegner zu töten, sondern ist darüber hinaus aufgrund seiner guten Übersicht und seiner großen Erfahrung auch in der Lage, seinen Kampfgenossen in schwierigen Situationen erfolgreich zur Seite zu stehen. Eumenides gegen Diaspes und Eudochius (73–76) 73–76 Parte alia furit Eumenidus … procerum conculcat acervos: Nicht minder erfolgreich kämpft Eumenidus, der neben Diaspes und Eudochius noch eine Vielzahl weiterer persischer Anführer niederstreckt. ⇔ Mit Eumenidus statt Eumenes gestattet sich Walter eine eigentümliche patronymische Bildung (vgl. Christensen 1905, 35, Anm. 3). Nicanor gegen Echinus (77–89) 77–89 Nec minus in dextro dum pugnat Marte Nicanor … alterius extinxit luminis usum: Besonders ausführlich schildert Walter den Zweikampf zwischen Nicanor, einem weiteren Sohn des Parmenion, gegen den Perser Echinus. Nachdem Nicanor bereits zahlreiche Perser getötet hat, tritt ihm der von der Sippe des Cyrus abstammende Echinus entgegen, der mit dem Schwert auf den Schild seines griechischen Widersachers einschlägt. Echinus gelingt es damit jedoch nicht, seinen griechischen Gegner zu verwunden. ⇔ Walter vergleicht das Vorgehen des persischen Kämpfers mit einem plötzlich auftretenden Hagelschauer im Frühling, der zwar die Dachziegel des Hauses trifft, das Innere des Hauses aber nicht zu zerstören



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vermag. Diesem eindrücklichen Bild liegt vermutlich ein entsprechender Vergleich in der Pharsalia Lucans zugrunde, wo bei der Belagerung von Massilia die Soldaten Caesars beim Versuch, sich der Mauer zu nähern, von oben herab mit Felsblöcken beworfen werden (vgl. Luc., Phars. III, 483–485; vgl. dazu auch Zwierlein 2004, 625–626). ⇔ Nicanors Gegenangriff indes ist sehr viel erfolgreicher. Es gelingt ihm, seinen persischen Widersacher die Augen zu durchstoßen und diesen damit kampfunfähig zu machen. Philotas gegen Negusar (90–118) 90–118 Stabat in adverso discriminis agmine … Negusar … Sed nec tibi, dure Negusar,  | missilium nimbus nec tanta ruina peper­ cit: Die Person des Negusar wird von Walter ohne Anbindung an eine historische Vorlage als Abkömmling des Ninus, des früheren Herrschers von Ninive, neu in die Schlacht bei Issus eingeführt (vgl. Christensen 1905, 83). Mit Doppelaxt, Speer und Schwert richtet er großen Schaden unter den griechischen Kämpfern an, bevor sich Philotas nähert, um sich dem Perser im Zweikampf zu stellen. Ein erster Schwerthieb gegen den Kopf seines persischen Gegners prallt an dessen Helm ab. Mit einem zweiten Hieb schlägt Philotas dem Perser die linke Hand ab. Ungeachtet dieser schweren Verwundung wäre es Negusar dennoch beinahe gelungen, Philotas mit der Doppelaxt zu töten, wenn nicht Amyntas den Hieb mit seinem Schild abgefangen hätte. Negusar verliert bei dieser Aktion auch seine linke Hand, stürzt sich eigentlich kampfunfähig dennoch im Fallen mit seinem Pferd auf Iollas, um diesen mit in den Tod zu reißen (zum zweifachen Tod des Iollas vgl. Komm. III, 48–49). ⇔ Die Szene, in der Negusar beide Hände abgeschlagen werden, ist wohl ebenso der Pharsalia Lucans nachempfunden, wo in einer großen Seeschlacht zwischen der Flotte Caesars gegen die Massilioten im Kontext der Schilderung verschiedener Nahkämpfe der Tod eines Mannes ge-

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schildert wird, der nach dem Verlust beider Hände dennoch seinen heldenhaften Kampf fortsetzt, indem er mit seinem Körper die Geschosse des Feindes abfängt und damit anderen Männern, darunter seinem Zwillingsbruder, das Leben zu retten vermag (vgl. Luc., Phars. III, 609–626). Der Mut des makedonischen Heeres (119–139) 119–139 Iam latet herba madens, terramque cadavera celant … Hiis igitur iam terga fugae spondentibus instat | fulmineus Macedo … Hic obit, ille obiit. Hic palpitat, ille quiescit: Nach der lebendigen und abwechslungsreichen Schilderung zahlreicher Einzelkämpfe verlangsamt Walter an dieser Stelle das Tempo seiner Erzählung, indem er dem Leser das von zahlreichen Leichen übersäte Schlachtfeld vor Augen führt und dabei eine erste Bilanz zieht: Ungeachtet ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit ist es den Makedonen trotz eigener Verluste aufgrund ihres überragenden Mutes gelungen, die Perser in die Defensive zu drängen. ⇔ Diese suchen ihr Heil in der Flucht, Alexander setzt ihnen – so Walter – wie ein Blitz nach, doch Oxathreus, ein Bruder des Darius, zieht die persischen Linien noch einmal zusammen, wodurch weitere Perser ihr Leben verlieren (vgl. Alex. III, 126–127; zur Blitzmetapher vgl. Komm. II, 388–407). Der Astrologe Zoroas (140–188) 140–188 Stabat ab opposito niveis pretiosus in armis  | Memphites Zoroas … Tum cetera turba iacentem | comminuunt in frusta virum stellisque reponunt: Walter verlangsamt das Tempo seiner Erzählung ein weiteres Mal, um die Episode über den aus dem ägyptischen Memphis stammenden Zoroas einzufügen. In einer ausführlichen Darstellung wird dieser als ein Gelehrter beschrieben, der mit dem



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System der Septem artes liberales und insbesondere mit den das Quadrivium bildenden mathematischen Fächern – der Astronomie, der Geometrie, der Musik und der Arithmetik – vertraut ist. Auch wenn Walter an dieser Stelle die im Trivium angesiedelten sprachlichen Künste – die Grammatik, die Rhetorik und die Dialektik – nicht explizit nennt, müssen diese, wie Zoroas’ spätere Bemerkung über die septemplicis arca sophiae zeigt, mitgedacht werden (vgl. Alex. III, 171). Den größten Teil dieser Beschreibung nimmt die Astronomie ein, deren Kenntnis den Gelehrten in die Lage versetzt, Missernten und fruchtbare Jahre ebenso wie den Lauf der Jahreszeiten anhand der planetaren Konstellationen vorauszusehen. Mit der Quadratur des Kreises, einem über Jahrhunderte ungeklärten Problem der Mathematik, thematisiert Walter die Geometrie, mit der Frage, ob die Musik die Harmonie der Sphären nachahmt, die Musik, und mit der Berechnung der Stunden für den Umlauf der Planeten um die Sonne, die Arithmetik. ⇔ Da Zoroas in den Sternen seinen unmittelbar bevorstehenden Tod herausgelesen hatte, fasst dieser im Vertrauen auf die Unabänderlichkeit seines Schicksals den Entschluss, in der gerade tobenden Schlacht von keinem Geringeren als von Alexander selbst – a tanto cecidisse viro – getötet zu werden (vgl. Alex. III, 162). ⇔ Interessanterweise gibt Walter an dieser Stelle ohne jegliche kritische Distanz ein Verständnis der Astrologie wieder, das von nicht wenigen christlichen Autoritäten als fatalistische Horoskopie abgelehnt und bekämpft wurde. Beispielsweise kritisiert Augustinus diese Form der Astrologie heftig, da sie die menschliche Willensfreiheit negiere und dem Individuum die Verantwortung für sein eigenes Handeln abnehme. Ebenso differenziert Isidor zwischen einer natürlichen, im Bereich der Naturwissenschaft anzusiedelnden und einer ganz in Augustinus’ Sinne als Aberglauben zu charakterisierenden Astrologie. Auch Thomas v. Aquin sieht bei einer derartigen divinatio superstitiosa den Teufel am Werk und meint sogar, diese Form der Astrologie verbieten zu müssen (vgl. Lehmann 2016, 109). ⇔ Zoroas greift Alexander mit seinem Streitwagen an, durchbohrt

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dessen Schild mit einem Pfeilhagel, ohne damit allerdings seinen berühmten Gegner verletzen zu können. Darüber hinaus beleidigt er die makedonischen Soldaten als Feiglinge und diffamiert Alexander mit dessen vermeintlich illegitimen Abstammung als Spross des Nektanabus. Zudem versucht Zoroas den makedonischen König mit den stolzen Worten sibi vendicat utraque laurus davon zu überzeugen, dass er sich nicht nur innerhalb des Systems der Septem artes liberales auskennt, sondern sich durchaus auch auf dem Schlachtfeld zu bewähren weiß (vgl. Alex. III, 172). Alexander lässt sich ungeachtet dieser offenen Feindseligkeit jedoch nicht dazu hinreißen, das Schwert gegen den persischen Gelehrten zu erheben, sondern verschont diesen mit dem Hinweis, dass er doch mit seinem herausragenden Wissen der Welt von Nutzen sei und aus diesem Grund nicht den Tod suchen solle (vgl. Alex. III, 178: Utilis es mundo). Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Walter den jungen Alexander an anderer Stelle dahingehend geschildert hat, dass ihn niemand als entartet beschimpfen solle, ist die von Alexander an dieser Stelle praktizierte Verschonung des Zoroas besonders bemerkenswert (vgl. Alex. I, 46–47: Semperne putabor | Nectanabi proles? Ut degener ar­ guar, absit!). Ohne sich Alexanders Worte zu Herzen zu nehmen, steigt Zoroas von seinem Wagen und verwundet den makedonischen König mit einem Schwerthieb am Oberschenkel. Daraufhin reißt Alexander sein Pferd herum und entfernt sich vom Geschehen. Mit diesem selbst gewählten Rückzug versetzt er sich in die Lage, seinen Zorn zu beherrschen und kann den persischen Gelehrten auch unter diesen schwierigen Umständen weiterhin verschonen (vgl. Alex. III, 183–185: Infremuit Macedo, Zoroaeque ut parcere pos­ set, | admissum procul egit equum. Sic ergo remotus | continuit bilem). ⇔ Spätestens an diesem Punkt der Erörterung stellt sich die Frage nach dem tieferen Grund für Alexanders ungewöhnliches Verhalten gegenüber seinem persischen Gegner. Killermann (2000) 313 vertritt die These, dass Alexander den persischen Gelehrten aus Mitleid am Leben lasse. Diese Sichtweise stellt jedoch eine unzulässige



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Projektion moderner individualpsychologischer Kategorien auf die Zeit Walters dar. Denn trotz der fehlenden Einsicht des Zoroas lässt Alexander diesen eben gerade nicht aus Mitleid am Leben, sondern verschont ihn in einer auch und gerade für ihn selbst lebensbedrohlichen Situation in einem Akt der angemessenen Zürnkraft, indem er in Übereinstimmung mit den Anweisungen der Aristoteles-Rede den Impuls des Zorns – durch die Mittelstellung des Finalsatzes und die dadurch hervorgerufene Nähe von Subjekt und Objekt der Handlung sprachlich gekonnt zum Ausdruck gebracht – in eine von der Vernunft getragene – Zoroas ist der Welt durch sein herausragendes Wissen nämlich von Nutzen – moralisch richtige Handlung überführt (zur Verschonung Athens aus vergleichbaren Gründen vgl. Komm. I, 268–283; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I; zur Tugend der angemessenen Zürn­ kraft vgl. auch Komm. I, 115). Damit macht Walter deutlich, dass die Tauglichkeit eines Herrschers und der Erfolg eines Feldherrn in der Schlacht gerade durch dessen Fähigkeit bestimmt wird, einen Affekt wie den Zorn genau im richtigen Maß zuzulassen und nicht in einer Überreaktion eine unvernünftige Entscheidung zu treffen (vgl. Gartner 2018, 43–53, v.a. Anm. 22). ⇔ Auch wenn Alexander dem gelehrten Astrologen aus den genannten Gründen keinen Schaden zufügt, wird er schließlich doch von Meleager und anderen griechischen Kämpfern getötet. Die Reaktion des Darius (189–202) 189–202 Tunc vero in Darium pondus discriminis omne | conversum est. Quid agat? … Dum dubitat fugiatne pedes sesene laboret | perdere … transtulit Eufraten ac se Babilona recepit: Nach der über die Zoro-

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as-Episode erfolgten Inszenierung der Tugendhaftigkeit Alexanders hinsichtlich der Tugend der angemessenen Zürnkraft nimmt Walter kontrastierend dazu Darius in den Blick, der im Unterschied zum makedonischen König alle Tugenden eines erfolgreichen Feldherrn vermissen lässt. Walter schildert den persischen König in bewusstem Kontrast zu Alexander als einen vom Blutzoll des Schlachtfelds überwältigten Anführer, der von den Seinen verlassen und von Selbstzweifeln geplagt zögerlich überlegt, ob er zu Fuß fliehen oder seinem Leben auf der Stelle selbst ein Ende bereiten soll (vgl. Alex. III, 190–196). Dabei scheint Walter das Bild des lucanischen Pompeius vor Augen gehabt zu haben, der nicht anders als Darius bei der Betrachtung des von Leichen übersäten Schlachtfelds von Pharsalus überlegt, ob er sich lieber in den Tod stürzen oder aber besser die Flucht ergreifen soll (vgl. Luc., Phars. VII, 669–682; vgl. auch Zwierlein 2004, 615–616). ⇔ Erst ein von Perdikkas geworfener Speer, der Darius am Kopf trifft und ihn vom Wagen schleudert, beendet sein Gedankengefängnis und lässt ihn die Flucht durch die nahen Wälder ergreifen. Auf dem Rücken eines beigebrachten Pferdes erreicht er schließlich den Euphrat und seine Residenz Babylon. ⇔ Darius wird in der Situation der Schlacht von der Last der Entscheidung geradezu erdrückt. Er besitzt nicht die in der Aristoteles-Rede mit den Worten metire oculos eingeforderte Fähigkeit, eine von der Vernunft getragene Entscheidung über das weitere Vorgehen zu treffen und strategisch zu ermessen, welche taktische Maßnahme situativ die richtige für den Erfolg in der gerade tobenden Schlacht sein könnte (vgl. Alex. I, 133; vgl. auch Gartner 2018, 57). Zudem hat Darius auf die falschen Leute vertraut, indem er ganz im Unterschied zu Alexander – die Aristoteles-Rede hatte genau davor gewarnt – sklavenhafte, charakterlich weniger befähigte und demzufolge minder vernunftbegabte Personen in wichtige Positionen gebracht hat, die im Ernstfall nicht die charakterliche Größe und das menschliche Format besitzen, einem zahlenmäßig zwar unterlegenen, moralisch jedoch überlegenen Gegner erfolgreich die Stirn zu



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bieten. Darius flieht ebenso wie seine von Walter als feige gebrandmarkten Krieger – pedes declinat et inter | degeneres profugosque legit compendia saltus –, verletzt also zudem die in der Aristoteles-Rede gemachten Vorgaben hinsichtlich der für einen Feldherrn zentralen Tugend der Tapferkeit, nach welcher der Anführer stets als letzter das Schlachtfeld verlassen soll, um diejenigen zu beschämen, die bereits zuvor dem Kriegsschauplatz den Rücken zugewandt haben (vgl. Komm. I, 84–91; vgl. auch Komm. III, 4–20). In derselben Weise wird zu einem späteren Zeitpunkt Darius’ Entscheidung, den von Walter mehrfach explizit als sklavisch bezeichneten Bessus in ein hohes Amt zu berufen, als Grund für den Niedergang des persischen Königs aufgezeigt (vgl. Alex. VII, 80–90). ⇔ Demnach ist die Niederlage der Perser gegen die Griechen in ihrem Kern nicht irgendeinem Zufall, dem Eingreifen der Götter oder dem fehlenden Schlachtenglück geschuldet, sondern wird vom Autor der Alexan­ dreis ganz bewusst als das Ergebnis der moralischen Unterlegenheit der Perser und ihres Königs Darius in Szene gesetzt (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Die Folgen der Flucht des Darius (203–214) 203–214 Hunc ubi furtiva belli mortisque ruinam … dedecoris mortis­ que luem fugiendo meretur: Der inneren Notwendigkeit seiner Darstellung folgend, schildert Walter im Anschluss an Darius’ Flucht die fatalen Auswirkungen eines derartigen Verhaltens auf jene Männer, die in ihrem Kampfgeist – der Perser Mazaeus wird dabei explizit als tapferer Krieger genannt – die Schlacht noch nicht verloren gegeben haben. ⇔ In einem kurzen Autorkommentar macht Walter anschließend auf einer abstrakten Ebene deutlich, dass die unmittelbaren Auswirkungen eines moralischen Fehlverhaltens eines Anführers auf die kämpfende Truppe im Sturz der Abteilungen und im Wanken

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des gesamten Heeres liegen (vgl. Alex. III, 210–211). Im konkreten Fall untergräbt Darius’ schlechtes Beispiel auch unter den tapfersten persischen Kämpfern die Moral und lässt die Angst vor dem eigenen Tod die Oberhand gewinnen. Viele Kämpfer verlieren auf der Flucht ihr Leben und sterben so einen schmachvollen Tod. Darius missachtet die Vorbildfunktion eines Feldherrn und Königs und kann demzufolge nicht mehr auf die Loyalität seiner Krieger zählen (vgl. Alex. I, 128–132). Der Führungsanspruch eines Feldherrn ist zudem eng an dessen Überzeugungskraft geknüpft, die in Darius’ Fall durch dessen zögerliche Zurückhaltung und ängstliche Flucht anders noch als in der Feldherrnrede vor der Schlacht bei Issus zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu erkennen ist. (vgl. Alex. I, 118–127). Walter inszeniert den persischen König somit als einen Anführer, der im Unterschied zu Alexander die zentralen Tugenden eines Feldherrn vermissen lässt – abermals wird dabei der Programmcharakter der Aristoteles-Rede für das gesamte Epos deutlich – und mit seinem Vorhaben, den makedonischen Eroberer in die Schranken zu weisen, notwendigerweise scheitern muss (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 7.4). Alexanders Sieg bei Issus und seine Folgen (215–242) Nach dem Ende der Kampfhandlungen schildert Walter das weitere Vorgehen Alexanders und seiner Soldaten und beleuchtet dabei deren Umgang mit den besiegten Persern. Zu Beginn und am Ende des Abschnitts gibt Walter das vorbildliche Verhalten Alexanders im Umgang mit seinen Soldaten und der in griechische Gefangenschaft geratenen Familie des Darius wieder. Darin eingebettet werden in zwei thematisch voneinander getrennten Sequenzen die weit weniger tugendhaft agierenden griechischen Soldaten in ihrer überbor-



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denden Gier und ihrer brutalen Hemmungslosigkeit dargestellt. Mit der damit einhergehenden chiastischen Struktur verstärkt Walter den bereits während der Schlacht auf die herausragende Tugendhaftigkeit des makedonischen Königs gerichteten Blick und macht damit deutlich, dass dieser im Unterschied zu seinen Soldaten auch nach der Schlacht bei Issus seinen von den Anweisungen der Aristoteles-Rede geprägten Weg nicht verlässt und demzufolge nicht nur zu siegen weiß, sondern auch mit dem Sieg umzugehen versteht. Die Verteilung der Beute (215–220) 215–220 Iam satur ad loculum redit ensis, et ipse Pelasgos … It celer et partas partitur partibus equis  | victor opes: Alexander gibt seine Leuten das Zeichen, die Kampfhandlungen einzustellen und befiehlt ihnen, zu den im Wald versteckten Schätzen der besiegten Perser zu eilen. Der makedonische König selbst übernimmt dabei in weiser Voraussicht die Verteilung der Beute, um unter den Männern erst gar keinen Streit aufkommen zu lassen. ⇔ War das Augenmerk während der Schlacht bei Issus naturgemäß noch auf Alexanders Tapferkeit und dessen angemessene Zürnkraft gerichtet, so lenkt Walter nach der gewonnenen Schlacht mit der Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit den Blick auch auf die dritte wesentliche Feldherrntugend (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I). Alexanders Verhalten nach der Schlacht bei Issus entspricht dabei exakt den Vorgaben der Aristoteles-Rede, nach denen der siegreiche Feldherr nach einem Sieg die Schatzkammern des Feindes öffnen und die eigenen Soldaten mit Geschenken, Schätzen und Gold überhäufen soll, um deren von der Schlacht angegriffenen Gemüter zu heilen (vgl. Alex. I, 144–150). Nach den in der Aristoteles-Rede formulierten Maßstäben ist es innerhalb des Gegenstandsbereichs des

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Gebens und Nehmens nämlich nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, die Schätze des besiegten Gegners an sich zu nehmen (vgl. Gartner 2018, 60). Die im Kontext dieser Tugend aus den Worten partas partitur partibus equis | victor opes bestehende zentrale Passage wird von Walter stilistisch elegant durch ein aus drei Gliedern gebildetes Polyptoton hervorgehoben, das seinerseits durch die gesperrte Stellung der miteinander korrelierenden Begriffe partas und opes Teil eines Hyperbatons ist (vgl. Alex. III, 219–220). ⇔ Mit den innerhalb dieser Sperrung aufeinander bezogenen Worten partibus equis verbindet Walter zudem gekonnt die Tugend der angemesse­ nen Gebefreudigkeit mit der als Sonderfall allen Feldherrntugenden übergeordneten Tugend der Gerechtigkeit (Komm. I, 105–114). ⇔ Mit der Einlösung seines im Antwortbrief an Darius zu Beginn von Buch II gegebenen Versprechens, nach seinem Sieg die Geldschatullen der Griechen mit persischem Gold zu füllen, erfüllt Alexander darüber hinaus auch die eng mit der Tugend der angemessenen Ge­ befreudigkeit in Verbindung stehende Tugend der Wahrhaftigkeit (vgl. Alex. II, 41–42; zur Tugend der Wahrhaftigkeit vgl. Komm. I, 155). ⇔ Die neben der Tugend der Wahrhaftigkeit ebenfalls in enger Verbindung zur Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit stehende Tugend der angemessenen Zuwendung wird von Walter an dieser Stelle nicht ausgeführt, da diese freilich nur dann Anwendung finden kann, wenn der Feldherr in Ermangelung ausreichender Beute nicht in der Lage ist, seine Soldaten reich zu beschenken (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch I). Die Gier der Soldaten nach Gold (220–227) 220–227 Onerantur equi, gemit axis avarus … et inaures perdidit auris: Anders als Alexander, der die Beute vernunftgeleitet nach



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gerechten Maßstäben verteilt, versuchen seine von Habgier getriebenen Soldaten so viel Gold wie nur möglich zusammenzuraffen und auf den – mittels einer Enallage stilistisch hervorgehoben – als avarus bezeichneten Wagen zu verladen. Die randvoll mit Gold gefüllten Säcke reichen dafür nicht aus, so dass die vom Einsammeln bereits müden Hände der Soldaten auch Stiefel und Gewänder mit Goldstücken vollstopfen. Die Habgier der Soldaten macht auch nicht vor den persischen Frauen halt, denen sie sämtlichen Schmuck vom Körper reißen. ⇔ Geht man davon aus, dass die griechischen Soldaten mit ihrem Raubzug nun zufrieden sein sollten, wird dem Leser damit auch die in der Aristoteles-Rede mit den Worten sic in­ opi dives largusque medetur avaro zum Ausdruck gebrachte heilende Wirkung der angemessenen Gebefreudigkeit auf habgierige Soldaten vor Augen geführt (vgl. Alex. I, 151). Die Hemmungslosigkeit der Soldaten (228–233) 228–233 Itur in amplexus nuptarum … vis illata levat, minuitque coactio culpam: Nach der Befriedigung ihrer Goldgier vergewaltigen die griechischen Soldaten in aller Öffentlichkeit zahlreiche persische Frauen. Obgleich Walter auch einige Soldaten erwähnt, die sich nicht an diesen Gewalttaten beteiligen und um Vergebung für ihre Kameraden bitten, macht er doch keinen Hehl daraus, dass er diese als verabscheuungswürdig und in höchstem Maße als inakzeptabel betrachtet. ⇔ Walter möchte mit dieser Passage offenbar zum Ausdruck bringen, dass die unter moralischen Gesichtspunkten herausragende Stellung Alexanders nicht grundsätzlich auch für die einfachen Soldaten gilt, die mit ihrem Verhalten einen deutlich wahrnehmbaren Kontrast zu ihrem König bilden.

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KOmmentar Alexander und die Familie des Darius (234–242)

234–242 Maiestate tamen salva salvoque pudore | tota domus Da­ rii … Tantus enim virtutis amor tunc temporis illi | pectore regnabat: Kontrastierend dazu schildert Walter den makedonischen König als nachsichtigen und milden Sieger, der Darius’ Familie in Ehren hält und diese in die eigene Familie aufnimmt. Alexander hat sich im Unterschied zu seinen Soldaten weder von der Gier nach Gold noch von niederen Instinkten dazu hinreißen lassen, den Weg der Tugend zu verlassen. ⇔ Mit den Worten tantus enim virtutis amor tunc tem­ poris illi | pectore regnabat fasst Walter noch einmal das in jeglicher Hinsicht tugendhafte Verhalten Alexanders zusammen und macht damit deutlich, dass der makedonische König hinsichtlich der Anforderungen an einen vorbildlichen Feldherrn aus antik-paganer ebenso wie auch aus christlicher Sicht zu diesem Zeitpunkt noch alle Vorgaben erfüllt und demzufolge vom Autor der Alexandreis eine in moralischer Hinsicht ausschließlich positive Bewertung erfährt (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Moralexkurs: Die Überschreitung menschlicher Macht (242–257) 242–257 Si perdurasset in illo | ille tenor, non est quo denigrare va­ leret  | crimine candentem tytulis infamia famam … minimumque videtur | esse sibi cum sit inter mortalia summus: Nach der Schlacht bei Issus und den unmittelbaren Folgen des griechischen Sieges meldet sich Walter in einem als Vorverweis gestalteten Moralexkurs zu Wort, mit dem er insbesondere aus christlicher Perspektive das mit den Worten Persarum rebus adeptis explizit auf die Zeit nach dem Perserkrieg bezogene Fehlverhalten Alexanders kritisch in den Blick nimmt (vgl. Alex. III, 245; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Kontrastierend zu dessen oben



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geschilderten fürsorglichen Umgang mit der in griechische Gefangenschaft geratenen Familie des Darius besteht Walters unmissverständlich zum Ausdruck gebrachter Vorwurf an seinen wichtigsten Protagonisten darin, dass dieser sich nach dem Sieg über das Perserreich und der damit einhergehenden außerordentlichen Machtfülle in Überschreitung seiner königlichen Stellung Unerlaubtes und Erlaubtes erlauben und als pflichtvergessener Feind seiner Freunde – ein auch aus antik-paganer Sicht gravierender Vorwurf – später auch nicht vor Mord unter seinen Getreuen und häuslichem Zank zurückschrecken wird (vgl. Alex. III, 246–252: suasitque licere | illi­ citum et licitum genitrix opulentia luxus, | corrupit fortuna physim, cursuque retorto | substitit unda prior, viciorum cautibus herens. | Qui pius ergo prius erat hostibus, hostis amicis | inpius in cedes et bella do­ mestica demum | conversus, ratus illicitum nichil esse tyranno). Ein aus christlicher Sicht allerdings noch sehr viel schwerwiegenderes Fehlverhalten liegt in den Augen des Autors der Alexandreis im frevelhaften Anspruch Alexanders vor, als Spross Jupiters gelten zu wollen und es ihm bei seinem Streben nach Gottgleichheit in seiner Hybris am wenigsten zu gelten scheint, unter den Sterblichen der Größte zu sein (vgl. Alex. III, 253–257: Preterea quis pretereat summum sibi patrem | usurpasse Iovem? Nam se genitum Iove cre­ di | imperat et excedit hominem transgressa potestas, | seque hominem fastidit homo, minimumque videtur | esse sibi cum sit inter mortalia summus). Mit dieser Kritik an der fehlenden Unterordnung unter den christlichen Gott macht Walter auch hinsichtlich dieses aus christlicher Sicht maßlosen Anspruchs des makedonischen Königs unmissverständlich klar, dass göttliche Macht die Möglichkeiten des Menschen grundsätzlich überschreitet und demzufolge auch Alexanders Möglichkeiten natürliche Grenzen gesetzt sind (vgl. Alex. III, 255: et excedit hominem transgressa potestas; zur Stellung des Moralexkurses von Buch III innerhalb der Gesamtstruktur der Alexan­ dreis vgl. Einleitung 7.4; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).

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KOmmentar Parmenion nimmt Damaskus ein (258–273)

258–273 Mittitur interea cum Parmenione Damascum … Sic pene malorum  | omnia cum quodam veniunt incommoda fructu: Noch vor der Schlacht bei Issus hatte Darius den größten Teil seines Vermögens nach Damaskus bringen lassen (vgl. Komm. II, 272–305). Alexander schickt nun nach dem Sieg über die Perser seinen wichtigsten General Parmenion dorthin, um die Stadt zu erobern und den größten Teil des dort verbliebenen Schatzes an sich zu nehmen. Zu Parmenions Überraschung leistet der von Walter als proditor infidus gescholtene persische Anführer keinen Widerstand, sondern übt an seinem König Darius Verrat, indem er mit einer List die eigenen Leute dem Feind ausliefert und den Schatz bereitwillig den Griechen überlässt (vgl. Alex. III, 262). Als Grund für den Frontenwechsel des persischen Anführers führt Walter den durch Alexanders Sieg bei Issus aus persischer Sicht eingetretenen Wandel des Schicksals an, den er stilistisch durch das Polyptoton for­tunae namque meatu  | mutato mutatus erat hervorhebt (Alex. III, 263– 264). ⇔ Obwohl Walter das Verhalten des persischen Verräters als Verbrechen und heimtückischen Betrug brandmarkt, kommt er doch zu dem Schluss, dass Darius sich ungeachtet des Verlustes von Männern und Vermögen damit trösten könne, dass auch der Verräter seinen Verrat nicht überlebt hat (Alex. III, 264–266: Sic unius uno | crimine Persarum cesis tot milibus, ipse | cum reliquis cecidit). ⇔ Obgleich die hier wiedergegebene Episode im Wesentlichen der Schilderung bei Curtius entspricht, lässt sich doch ein für Walters Art der Inszenierung charakteristischer Unterschied feststellen. Während der antike Historiker seine Trostgründe ausschließlich mit Darius in Verbindung bringt, hebt Walter mit der Bemerkung, dass das Schicksal Übeltätern ihren heimtückischen Betrug bisweilen verdientermaßen heimzahlt und beinahe alle Übel mit einem gewissen Nutzen daherkommen, seine eigene Darstellung auf eine über das rein historische Geschehen hinausgehende allgemein-morali-



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sche Ebene (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Damit stellt Walter zum wiederholten Mal die Verbindung zu den moralischen Vorgaben der Aristoteles-Rede her, die gemäß ihrem für die Alexandreis insgesamt geltenden Programmcharakter im weiteren Handlungsverlauf des Epos insofern wirksam wird, als die Taten der Protagonisten ausnahmslos immer nur dann von Erfolg gekrönt sind, wenn diese sich im Sinne der aristotelischen Tugendlehre verhalten, sie umgekehrt jedoch bei einem Verstoß gegen diese maßgebliche Tugendlehre auch die negativen Konsequenzen ihrer Taten in Kauf nehmen müssen (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 7.4). Alexander auf dem Weg nach Phönizien (274–287) 274–287 Septimus accenso Phebea lampade mundo … plurima suppo­ sitis mortem ballista minatur: Nach der dem Brauch gemäßen Leichenbestattung zieht Alexander mit seinem Heer zur phönizischen Stadt Sidon weiter, die er sogleich ohne größere Probleme einnimmt. Das weiter südlich gelegene Tyrus indes leistet dem makedonischen Angreifer entschlossenen Widerstand. Die hochragenden Mauern der Stadt sind mit Kämpfern besetzt, die Tore werden von schwerbewaffneten Schutzmannschaften geschützt und die Wurfmaschinen sind in Stellung gebracht. ⇔ Entgegen der bei Curtius ausführlich wiedergegebenen Darstellung der Belagerung der Stadt legt Walter den Schwerpunkt seiner überaus komprimierten Erzählung auf die Tapferkeit Alexanders, den der Anblick der abwehrbereiten Stadt in Erwartung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Freude erfüllt. Nach Curtius’ Bericht war Alexander alles andere als begeistert, einen derartigen Aufwand für die Eroberung einer einzigen Stadt zu betreiben. Mehrfach soll er sogar ernsthaft überlegt haben, die am Ende sechs Monate dauernde Belagerung abzubrechen (vgl.

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Curt., Hist. Alex. IV, 4, 1–2: Hic rex fatigatus statuerat soluta ob­ sidione Aegyptum petere. Quippe cum Asiam ingenti velocitate per­ cucurrisset, circa muros unius urbis haerebat tot maximarum rerum opportunitate dimissa). Insofern lässt sich die an der vorliegenden Stelle von seiner historischen Vorlage abweichende Darstellung Walters als noch häufiger zu beobachtender Versuch werten, die Schattenseiten seines wichtigsten Protagonisten innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs auszublenden und lediglich Alexanders Tugendhaftigkeit auffällig in Szene zu setzen (zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. Einleitung 3). Alexander erobert Tyrus (288–329) 288–329 Verum ubi longa dies afflictis civibus urbem … Nec mi­ nus excidium coniunx Cithereius infert: Noch vor dem Beginn der Kampfhandlungen schickt Alexander Gesandte in die Stadt, um eine kampflose Übergabe zu erwirken. Die Tyrer ermorden die Gesandten jedoch, was Walter mit deutlichen Worten als Verletzung des Friedens und des Rechts der Völker brandmarkt. Mit diesem frevelhaften Verhalten beschwören die Tyrer den Zorn des makedonischen Königs herauf, der daraufhin den Befehl zur Zerstörung der Stadt gibt (vgl. Alex. III, 294–302). ⇔ Auch wenn die Ermordung der Gesandten und die völkerrechtliche Einordnung dieser schändlichen Tat von Curtius vorgeprägt sind, versucht Walter Alexanders Entscheidung zur Zerstörung der Stadt durch eine stilistisch auffällig gestaltete Rechtfertigung, nach der diejenigen keinen Anspruch auf Gnade verdient haben, bei denen eine Gesandtschaft der Gnade und des Friedens überhaupt keine Gnade fand, zusätzlich zu legitimieren (vgl. Alex. III, 299–301: nec enim veniam meruere mereri, | in quibus et veniae et pacis legatio nullam | invenit veniam). Wie schon im Kontext der Einnahme von Damaskus durch Parmenion bedient sich Walter auch an der vorliegenden Stelle eines Polyptotons, um



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seine Aussage stilistisch zu unterstreichen. ⇔ Damit inszeniert Walter anhand der Person Alexanders erneut die in der Aristoteles-Rede ausgeführte Tugend der angemessenen Zürnkraft, indem der makedonische König von der Vernunft geleitet – die Tyrer haben durch die völkerrechtswidrige Ermordung der griechischen Gesandten keine Schonung verdient – Tyrus dem Erdboden gleichmacht (zur Bestrafung von Theben aus vergleichbaren Gründen vgl. Komm. I, 284–348; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ Darüber hinaus stellt Walter Alexanders Rolle als die eines gerechten Richters heraus, dessen Aufgabe es ist, eine frevelhafte Tat auch tatsächlich zu sühnen (vgl. Alex. III, 293: et a nullo scelus equo iudice pensans). Damit verbindet Walter die Tugend der angemessenen Zürnkraft mit der als Sonderfall allen Feldherrntugenden übergeordneten Tugend der Gerechtigkeit. Eine derartige Verbindung war schon im Kontext der Verteilung der Beute nach der Schlacht bei Issus zu beobachten gewesen, auch wenn dort die Tugend der Gerechtigkeit mit der Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit in Verbindung getreten war (vgl. Komm. III, 215–220; vgl. auch Komm. I, 105–114). Auch die von Walter erwähnte Zurückhaltung Alexanders gegenüber einigen in verschiedene Tempel geflüchteten Tyrern rundet die auf die moralische Integrität des makedonischen Königs abzielende Darstellung ab (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Die historische Bedeutung von Tyrus (330–341) 330–341 Solvitur in cineres ab Agenore condita primo | nobilis illa Tyrus … quas patria ditione tenet longumque tenebit: Über die eigentliche Erzählung hinaus betont Walter in einer eigentümlich anmutenden Abschweifung die historische Bedeutung der Stadt Tyrus

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für die Erfindung der Schrift, die seinen Ausführungen folgend ausgehend von Phönizien großen Einfluss auf die griechische und lateinische Schrift ausgeübt hat. Darüber hinaus führt er den eigentlich römischen Wiederaufbau der Stadt etwas eigenwillig auf das Vorhandensein einer christlichen Gemeinde in apostolischer Zeit und den rechten Glauben der dortigen Bewohner zurück. Auch die von Walter ins Spiel gebrachte vermeintlich große Machtstellung von Tyrus in späterer Zeit ist wohl eher dem zeitgenössischen Eindruck geschuldet, nach dem die Stadt im Jahre 1124 durch den christlichen König Balduin II. von den Arabern befreit und im Nachgang dieser Ereignisse zum Sitz eines Erzbischofs mit dreizehn Bistümern wurde. ⇔ Streckenbach (1990) 215–216 stellt zudem die Bedeutung von Tyrus als Festungsstadt im Zeitalter der Kreuzzüge und ihre wichtige Funktion als Handelsstadt heraus (vgl. auch Wulfram 2000, 263, der Walters Abschweifung als deutliches Zeichen dafür interpretiert, dass er sich an dieser Stelle als Christ und kreuzzugsbegeisterter Mensch des 12. Jahrhunderts zu erkennen geben möchte; zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8). Alexander erobert Gaza (342–369) 342–369 Premonuisse alias poterat Tyrus obruta gentes … et victis urbem tradentibus intrat: Walter hebt an der vorliegenden Stelle auf die Unbesiegbarkeit Alexanders ab und versteht die Zerstörung von Tyrus als Warnung für alle anderen Völker, sich dem makedonischen König nicht in den Weg zu stellen. Die Stadt Gaza jedoch widersetzt sich dem unbesiegten Eroberer und sucht unbedachterweise die kriegerische Auseinandersetzung mit ihm. Die zweimonatige Belagerung der Stadt sowie die damit einhergehenden Kampfhandlungen werden von Walter in zwei ineinander übergehende Szenen zusammengezogen. Zuerst gelingt es einem feindlichen Kämpfer,



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mit Hinterlist an Alexander heranzukommen und diesen ernsthaft mit dem Schwert zu bedrohen. ⇔ Mit einer derartigen Inszenierung der unmittelbaren Todesgefahr für Alexander verfolgt Walter die Absicht, auf das unabänderliche Schicksal des makedonischen Königs hinzuweisen, dem es nicht bestimmt ist, bei der Eroberung von Gaza durch den Schwerthieb eines Barbaren zu sterben, sondern für den durch einen von der Schicksalsgöttin Lachesis gebrauten und für einen späteren Zeitpunkt aufbewahrten Sud der Tod durch Gift vorgesehen ist (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Damit gibt Walter erneut einen deutlichen Hinweis auf das Ende seines wichtigsten Protagonisten, der – wie noch zu sehen sein wird – eben nicht in einer Schlacht oder wegen einer Krankheit sein Ende findet, sondern auf Betreiben der Göttin Natura und unter tätiger Mithilfe von Leviathan für sein aus christlicher Sicht maßloses Verhalten den Tod im Epos erleiden wird. ⇔ Zudem ist Walter wie schon bei Alexanders Zweikampf mit Arethas zu Beginn der Schlacht bei Issus ein weiteres Mal bestrebt, die Tapferkeit des makedonischen Königs herauszustellen, der sich trotz einer zuvor erlittenen Verletzung an der Schulter und einem zertrümmerten Schienbein ohne Rücksicht auf das eigene Leben in den Kampf stürzt und den feindlichen König tötet. ⇔ Wie in zahlreichen Szenen zuvor ist Walter auch bei der Eroberung von Gaza versucht, seinen wichtigsten Protagonisten in ein positives Licht zu rücken und jegliche Kritik an der Person Alexanders auszusparen. Dies wird besonders deutlich, wenn man Curtius’ Schilderung dieser Szene hinzuzieht, in welcher der makedonische König anders als in Walters Darstellung den Befehlshaber der Stadt namens Betis um die Mauern schleift und sich brüstet, mit dieser Art der Bestrafung in Achills Fußstapfen getreten zu sein (vgl. Curt., Hist. Alex. IV, 6, 29–30: Per talos enim spirantis lora traiecta sunt religatumque ad currum traxere circa urbem equi gloriante rege, Achillen, a quo genus ipse deduceret, imitatum se esse poena in hostem capienda; zur vorliegenden Szene vgl. die Einführung zu Buch III; zu Walters bewussten

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Abweichungen von Curtius vgl. auch Einleitung 3). Mit der Auslassung dieser Szene wird damit zum wiederholten Mal das grundsätzliche Bestreben des mittelalterlichen Autors erkennbar, seinen wichtigsten Protagonisten innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs von einer moralischen Kritik zu verschonen. Alexander nimmt Ägypten ein; Alexanders Besuch in der Oase Siwa (370–407) 370–407 Hinc ubi disposuit procerum discretio regno | tendit in Egyp­ tum … Aurorae sedes atque invia solis, adire: Alexanders Einnahme Ägyptens wird von Walter nur kurz erwähnt. Im Unterschied zu den phönizischen Städten trifft Alexander in Ägypten auf keinen nennenswerten Widerstand, da das Land am Nil in den Jahren zuvor mehrfach von den Persern abgefallen war und erst seit wenigen Jahren wieder unter Darius’ Herrschaft stand. Hinzu kommt, dass der für Ägypten zuständige persische Satrap Sabakes mit einem großen Truppenkontingent an der Schlacht bei Issus teilgenommen hatte und dort im Kampf gefallen war, so dass der neue Satrap Mazakes dem anrückenden griechischen Heer auch zahlenmäßig nichts entgegenzusetzen hatte (vgl. Demandt 2013, 162). ⇔ Ausführlich wiedergegeben wird im Unterschied dazu der Besuch des makedonischen Königs in der Oase Siwa, in der sich das Zeus-HammonOrakel befand. Walter beschreibt dabei im ersten Teil seiner Darstellung den beschwerlichen Weg zu diesem Orakel, der sich durch ein Meer aus Sand ohne irgendeinen grünen Baum oder ein bestelltes Feld und von Sandstürmen heimgesucht schier endlos dahinzieht (vgl. Alex. III, 373–385). Der von Walter bemühte Vergleich mit den der griechischen Mythologie entstammenden Gestalten Skylla und Charybdis unterstreicht die große Gefahr für Leib und Leben der Reisenden, von denen nach vier entbehrungsreichen Tagen tatsächlich auch nicht alle die Oase erreichen. Im zweiten Teil seiner Dar-



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stellung gibt Walter ausführlich die wundersamen Eigenschaften der dortigen Quelle wieder, deren Temperatur sich komplementär zur stark variierenden Umgebungstemperatur verhält und beispielsweise während der größten Mittagshitze eiskaltes Wasser sprudeln lässt (vgl. Alex. III, 386–403). Im dritten und letzten Teil seiner Darstellung schildert Walter die Befragung des Orakels und die damit verbundenen Opferhandlungen (vgl. Alex. III, 404–405). ⇔ Wie am Beispiel der Eroberung von Gaza bereits dargelegt, lässt sich auch an dem hier beschriebenen Besuch der Oase Siwa beispielhaft aufzeigen, wie Walter im Unterschied zu seiner historischen Hauptquelle Curtius die Absicht verfolgt, den in seiner Vorlage gegenüber Alexander intendierten kritischen Ton durch gezielte Auslassungen auszublenden (zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. Komm. III, 274–287; vgl. auch Komm. III, 342–369; vgl. auch Einleitung 3; vgl. auch Wiener 2001, 29). Während sich Walter mit den Worten ardet rex Lybici Hamonis adire darauf beschränkt, lediglich Alexanders grundsätzliche Motivation für den Besuch des Hammon-Orakels zu erwähnen, wird bei Curtius der Grund für die immerhin beschwerliche Reise in die Oase Siwa explizit mit Alexanders Wunsch, als Sohn Jupiters gelten zu wollen, in Verbindung gebracht (vgl. Curt., Hist. Alex. IV, 7, 8–9: Sed ingens cupido ani­ mum stimulabat adeundi Iovem, quem generis sui auctorem haud contentus mortali fastigio aut credebat esse aut credi volebat). Noch deutlicher wird dieses Vorgehen Walters, wenn man die Befragung des Orakels selbst vergleichend hinzuzieht. Während Walter mit den Worten Rex ubi consulto letus Iove munera solvit, | regreditur Mem­ phim lediglich davon berichtet, dass Alexander nach der Befragung des Orakels voller Freude die Opferhandlungen ausgeführt hat und vom Autor der Alexandreis dabei dessen Fragen ebenso wie die Antworten des Orakels schlichtweg unterschlagen werden, unterzieht Curtius den makedonischen König erneut hinsichtlich seines Anspruchs, als Jupiters Sohn gelten zu wollen, auch hier einer deutlich zum Ausdruck gebrachten Kritik (vgl. Curt., Hist. Alex. IV 7, 29–

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31: Vera et salubri aestimatione pensanti fidem oraculi vana profecto responsa ei videri potuissent: sed fortuna, quos uni sibi credere coegit, magna ex parte avidos gloriae magis quam capaces facit. Iovis igitur filium se non solum appellari passus est, sed etiam iussit rerumque gestarum famam, dum augere vult tali appellatione, corrupit). Der mögliche Einwand, dass Walter seinem wichtigsten Protagonisten eben diesen Vorwurf bereits im obigen Moralexkurs macht und er an dieser Stelle nicht erneut Alexanders Streben nach Gottgleichheit thematisieren will, greift jedoch zu kurz, da zwischen dem Moralexkurs und der Befragung des Orakels in der Oase Siwa ein in struktureller Hinsicht entscheidender Unterschied besteht. Während sich die Aussagen im Moralexkurs nämlich auf die Zeit nach dem heilsgeschichtlich legitimierten Perserkrieg beziehen, hätten die Fragen an das Orakel und das darin zum Ausdruck gebrachte Streben nach Gottgleichheit Einfluss auf die unmittelbare Gegenwart Alexanders bei seinem Feldzug in Ägypten und der noch anstehenden Schlacht bei Gaugamela gehabt. Da sich Walter jedoch wie bereits mehrfach vor Augen geführt innerhalb des Perserkriegs abgesehen von einigen bewusst inszenierten Vorverweisen auf die Zeit nach dem Perserkrieg einer Kritik an Alexander weitgehend enthält, vermeidet er in der Übernahme seiner historischen Hauptquelle Curtius Passagen, die auf den Moment bezogen ein schlechtes Licht auf die Person des makedonischen Königs werfen könnten. Dieses Vorgehen Walters lässt sich noch an einem weiteren Beispiel im Kontext der Befragung des Hammon-Orakels in der Oase von Siwa aufzeigen. Während Walter wie erwähnt auf die von Alexander an das Orakel gestellten Fragen inhaltlich in keiner Weise eingeht, berichtet Curtius, dass dem makedonischen König auf die Frage, ob ihm nach des Gottes Ratschluss die Weltherrschaft bestimmt sei, vom Orakel die Antwort gegeben wird, dass er Herr über alle Länder sein werde (vgl. Curt., Hist. Alex. IV, 7, 26–27). Das bei Curtius mit den Worten totius orbis imperium zum Ausdruck gebrachte Streben Alexanders nach der Weltherrschaft berührt ebenso wie der Anspruch, als Jupi-



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ters Sohn gelten zu wollen, einen wesentlichen Punkt hinsichtlich der moralischen Beurteilung des makedonischen Königs innerhalb der Alexandreis. Auch diesen innerhalb der Erzählung über den Perserkrieg beinahe ausschließlich in bewusst inszenierten Vorverweisen auf die Zeit nach dem Perserkrieg zum Ausdruck gebrachten Vorwurf – man denke dabei an Alexanders Trojabesuch – möchte Walter hier offenbar aussparen, um seinen wichtigsten Protagonisten vor einer auf die konkrete Situation der Erzählung bezogenen moralischen Kritik zu schützen (zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. Komm. III, 274–287; vgl. auch Komm. III, 342–369; vgl. auch Einleitung 3). ⇔ Nach der Rückkehr aus der Oase Siwa wäre Alexander nach Walters Aussage gerne noch weiter südlich in die Gefilde Memnons und den Wohnsitz von Aurora und Phoebus vorgestoßen. Daran hindern ihn jedoch die Rüstungsanstrengungen der Perser für die bevorstehende Schlacht bei Gaugamela (vgl. Alex. III, 405–407). Vorbereitungen für die Schlacht bei Gaugamela (408–462) Der Abschnitt gibt auf der Erzählebene die auf beiden Seiten unternommenen Vorbereitungen für die Schlacht bei Gaugamela und die damit in Zusammenhang stehenden taktischen Manöver wieder. Walter streicht dabei insbesondere die ungeheueren Anstrengungen der Perser heraus, trotz der beiden bisherigen Niederlagen am Granikus und bei Issus erneut ein gewaltiges Heer aufzubieten. Narratologisch betrachtet setzt Walter in seiner Darstellung der Geschehnisse unterschiedliche Schwerpunkte: Nach einer auktorialen Bemerkung über das unabwendbare Gemetzel bei Gaugamela zu Beginn lenkt er den Blick auf die durch historische und mythologische Vergleiche in Szene gesetzten gewaltigen Dimensionen des persischen Heeres. Während Darius anfangs das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen scheint, bleibt Alexander in seinem Erstau-

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nen über die Größe des persischen Heeres zunächst nur die Rolle des interessierten Beobachters. Erst im letzten Teil der Textpassage ergreift Alexander ungeachtet der persischen Übermacht mit großer Entschlusskraft und der ihm eigenen Schnelligkeit die Initiative und treibt den persischen König bis in die Ebene von Gaugamela vor sich her, um diesen nicht in die Weiten Asiens entkommen zu lassen. Die Schicksalhaftigkeit der Auseinandersetzung (408–412) 408–412 Sed durum Martis et inexpugnabile tempus … artabant ri­ gidam maiora negocia mentem: Während Alexanders Aufenthalt in Phönizien und Ägypten ist es dem persischen König gelungen, sich von der eigentlich verheerenden Niederlage bei Issus zu erholen und die Entscheidung in einer weiteren Schlacht zu suchen. ⇔ Walter wendet sich an dieser Stelle direkt an den Leser und stellt klar, dass dem unbeugsamen makedonischen König unter diesen Umständen keine andere Wahl bleibt als sich schleunigst ebenso für den vom Schicksal vorherbestimmten Kampf zu rüsten. Die gewaltige Streitmacht der Perser (413–435) 413–435 Interea Darii reparato robore … fecundam capitum domuit Tyrintius Ydram: Darius zieht eine riesige Streitmacht zusammen, in der sich neben dem Adel auch einfache Bauern befinden, die wegen der Schlacht bei Gaugamela sogar auf die Bearbeitung ihrer Äcker verzichten. Begleitet wird der Heereszug von zahlreichen Ochsen, Kamelen, Büffeln und sogar von Elefanten. Walter führt als Gründe für die große Kampfbereitschaft der Perser nicht nur die durch Darius’ Flucht bei Issus und durch die Gefangennahme der Königsfamilie empfundene Scham an, sondern erwähnt auch die von der zahlenmäßigen Überlegenheit der eigenen Kräfte genähr-



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te Hoffnung auf ein erfolgreiches Ende der kommenden Schlacht. Walter hebt die beeindruckenden Rüstungsanstrengungen der Perser hervor, indem er sie mit den auch nicht unbedeutenden Aufgeboten der unter Xerxes nach Griechenland ziehenden Perser und der unter Agamemnons Führung vor Troja kämpfenden Griechen vergleicht. Die Verwunderung des makedonischen Königs über das durchaus überraschende Wiedererstarken des persischen Gegners vergleicht Walter mit dem Erstaunen des Herkules bei seinen Kämpfen gegen den Giganten Antaeus und die lernäische Hydra, die beide jeweils auf unterschiedliche Art und Weise ihre Kräfte zu erneuern wussten. ⇔ Mit der bereits in der Feldherrnrede des Darius vor der Schlacht bei Issus gezogenen typologischen Verbindung Alexanders mit Herkules und des persischen Heeres mit dem Giganten Antaeus macht Walter dem aufmerksamen mittelalterlichen Leser ein weiteres Mal deutlich, dass Alexander sozusagen als zweiter Herkules ungeachtet der zahlenmäßigen Überlegenheit der Perser den Sieg bei Gaugamela gegen die persischen Nachfahren des Gigantengeschlechts davontragen wird (vgl. Komm. I, 39–41; vgl. auch Komm. II, 325–371; vgl. auch Komm. X, 378–432; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. auch Einleitung 7.2). Alexander setzt Darius nach (436–462) 436–462 Iamque per Eufraten discriminis immemor … fixerat in­ fausto iam tunc tentoria vico: Nachdem Alexander sein Heer über den Euphrat geführt hat, findet er Städte und Felder von Feuer verwüstet vor. Mazaeus hatte auf Darius’ Befehl zuvor alles niederbrennen lassen, um dem anrückenden Feind die Nahrungsgrundlage zu nehmen und ihn damit zum Rückzug zu bewegen. Diese taktische Maßnahme kann Alexander jedoch nicht davon abhalten, auch den Tigris zu überqueren und den persischen König bis in die Ebene

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von Arbela zu verfolgen, in der beide Feldherrn ihre Zelte aufschlagen. ⇔ Mit der Formulierung sorte secunda  | usus macht Walter deutlich, dass das eigentlich gefahrvolle und risikoreiche Vordringen Alexanders im Zusammenhang mit der Eroberung des Perserreichs vom Schicksal geschützt und demzufolge auch von Erfolg gekrönt ist (vgl. Alex. III, 448–449; zur Rolle des Schicksals vgl. Komm. II, 153–171; vgl. auch Komm. II, 186–200; vgl. auch die Einführung zu Buch II; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 5). ⇔ Auch Alexanders Streben nach dem höchsten Ruhm wird ebenso wie dessen überragende Schnelligkeit zum wiederholten Mal in der Alexandreis in Szene gesetzt und positiv herausgestellt (vgl. Alex. III, 449–450: ad summum semper honoris | aspirans apicem, Tigri velocior ipso; zu Alexanders Schnelligkeit vgl. Komm. I, 116–117; vgl. auch Komm. II, 388–407; vgl. auch Komm. III, 4–10; zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Mit Hilfe eines dem Mythos entnommenen Vergleichs Alexanders mit einem der Jagdhunde Actaeons, die ihren von Diana zur Strafe in einen Hirsch verwandelten eigenen Herrn aufspüren und zerfleischen, setzt Walter über die Schnelligkeit hinaus auch das zielgerichtete Vorgehen Alexanders in Szene, der unbedingt den Perserkönig in seine Hände bekommen möchte (vgl. Ov., Met. III, 138–252). In dieselbe Richtung weist Walters Inszenierung Alexanders als gallischen Jäger, der mit seinem Jagdspieß einem Wildschwein nachsetzt (vgl. Alex. III, 455–457; vgl. auch Wulfram 2000, 265, der die Erwähnung eines gallischen Jägers nachvollziehbar als Hinweis auf die räumliche Situierung des Autors versteht). ⇔ Das auf Darius bezogene periturus lässt abschließend keinen Zweifel über den Ausgang der in Kürze bevorstehenden Schlacht aufkommen (vgl. Alex. III, 461).



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Die Mondfinsternis (463–543) 463–543 Tempus erat dubiam cogens pallescere lucem … in primis raro contentus milite turmas: Im Lager von Arbela werden Alexanders Soldaten im Herbst des Jahres 331 v. Chr. unfreiwillig Zeuge einer Mondfinsternis, durch die sie in Angst und Schrecken versetzt werden. Ihr schwindender Mut und ihre Befürchtungen, es könne sich dabei um ein schlechtes Omen für die eigene Seite handeln, münden in zahlreichen Vorwürfen an ihren König, sie überhaupt in diese fremden und von der Heimat weit entfernten Gefilde geführt zu haben. Bevor sich der Aufruhr der Soldaten zu einem echten Problem entwickelt, beruft Alexander schleunigst eine Versammlung ein, in welcher der Seher Aristander den ängstlichen Griechen die Bedeutung dieser Mondfinsternis erklärt. Neben einer naturwissenschaftlichen Erklärung für eine derartige Himmelserscheinung beruhigt Aristander im Anschluss daran die Griechen mit seiner Deutung dieses für die meisten ungewöhnlichen kosmischen Phänomens: Er macht ihnen klar, dass es sich dabei entgegen ihrer Befürchtungen ganz im Gegenteil um ein schlechtes Omen für die Perser handle, die in ihrer Geschichte beim Auftreten einer Mondfinsternis schon oft das Schlachtenglück verlassen habe. Nur eine Sonnenfinsternis zeitige negative Folgen für die Griechen. Von den Worten des Sehers ermutigt, kehren die Soldaten zu den Waffen zurück. Handlungsschnell ergreift Alexander diese günstige Gelegenheit und erteilt sofort den Marschbefehl. ⇔ Während Walter in dieser Szene den makedonischen König als umsichtig und empathisch agierenden Feldherrn beschreibt, schildert er die einfachen Soldaten als emotional leicht zu beunruhigende Charaktere, die ihrem König noch innerhalb des Perserkriegs den sogar aus christlicher Sicht völlig unhaltbaren und absurden Vorwurf machen, er überschreite im Hinblick auf die unheilvoll empfundene Mondfinsternis mit der anstehenden Schlacht bei Gaugamela die einem Menschen gesetzten Grenzen und erstrebe den Himmel (vgl. Komm. III, 225–233).

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⇔ Darüber hinaus nutzt Walter die im Vergleich zu Curtius ausführlich dargestellte Szene, um eine Parallele zu den in der Pharsalia Lucans meuternden Soldaten Caesars herzustellen und Alexander damit vor der letzten und alles entscheidenden Schlacht gegen Darius unter typologischen Gesichtspunkten zum wiederholten Male mit dem Sieger von Pharsalus in eine allerdings positiv konnotierte Verbindung zu bringen (vgl. Luc., Phars. V, 237–373; vgl. auch Wiener 2001, 28; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. auch Einleitung 7.2).

Einführung zu Buch IV Mit Ende des dritten Buchs waren die feindlichen Heere der Griechen und Perser in Arbela angekommen, wo beide Könige ihr Feldlager aufgeschlagen hatten, um sich auf die Schlacht in der Ebene von Gaugamela vorzubereiten. Bevor Walter mit der Schilderung des eigentlichen Kampfgeschehens beginnt, setzt er – wie in den Büchern zuvor schon mehrfach zu beobachten war – zu Beginn von Buch IV noch einmal Alexanders herausragende Tugendhaftigkeit in Szene, um den Sieg der Griechen über die Perser auch in dieser letzten großen Auseinandersetzung auf moralischer Ebene vorwegzunehmen (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). So etwa gewährt Walter dem Leser mit der Beschreibung vom Tod der Darius-Gattin Stateira einen aufschlussreichen Einblick in das von großer Charakterstärke geprägte Sozialverhalten des makedonischen Königs, der nach Maßgabe seiner clementia und insbesondere seiner pietas nicht nur den Tod der in Gefangenschaft geratenen Ehefrau des Darius genauso beweint, wie wenn seine eigene Familie zu Tode gekommen wäre, sondern für die persische Königin auch ein ihrer fürstlichen Stellung entsprechendes Grabmal errichten lässt (vgl. Komm. IV, 1–23; vgl. auch Komm. IV, 176–179). Damit erfüllt Alexander auf vortreffliche Weise die innerhalb der Tugend der Besonnenheit zur Sprache gebrachten Vorgaben der Aristoteles-Rede im Hinblick auf die Rechtschaffenheit, den Anstand und die Achtung vor dem Rechten (vgl. Alex. I, 178: Nec desit pietas pudor et reverentia recti; vgl. auch Komm. I, 164–182; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Die Beschreibung von Alexanders moralisch einwandfreiem Verhalten gegenüber der Familie des persischen Königs gipfelt dabei in einer überaus bemerkenswerten Lobpreisung des makedonischen

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Königs durch Darius selbst, der sich – sollte das Schicksal tatsächlich das Ende der persischen Machtstellung bestimmt haben – keinen besseren Nachfolger für die eigene Herrschaft vorstellen könne (vgl. Komm. IV, 58–67). Auch die sich unmittelbar daran anschließende, von den persischen Gesandten mit den Worten rex clemen­ tissime eingeleitete Ansprache an Alexander, in der diese als Grund für Darius’ Friedensangebot das von großer Güte und außerordentlicher Milde geprägte Verhalten des makedonischen Königs anführen, weist in dieselbe Richtung (vgl. Komm. IV, 68–92). Ebenso nutzt Walter Alexanders schnellen und ausgezeichnet organisierten Aufbruch aus dem Lager nach der Totenfeier für Stateira oder auch dessen unmittelbar vor der Schlacht bei Gaugamela gehaltene Feldherrnrede – darin wird insbesondere auf die Vorbildfunktion eines Anführers für die eigenen Soldaten hingewiesen – noch einmal zur Inszenierung der Tapferkeit seines wichtigsten Protagonisten (vgl. Komm. IV, 275–279; vgl. auch Komm. IV, 579–588; zur Vorbild­ funktion eines Feldherrn als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. auch Komm. I, 128–132; zur tropologischen Ebene der Alexan­ dreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). In besonderem Maße berührt Walters Darstellung des makedonischen Königs in Buch IV das für die gesamte Alexandreis gültige Verständnis wahren Ruhms (zur Unterscheidung von wahrem und eitlem Ruhm in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4). Da sich der makedonische König mit der Schlacht bei Gaugamela noch immer innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs bewegt und dessen Streben nach Ruhm somit einem höheren Ziel dient, werden an dieser Stelle Alexanders diesbezügliche Bemühungen nicht nur aus antik-paganer Sicht positiv konnotiert, sondern finden auch aus christlicher Perspektive eine ausschließlich positive Bewertung. So etwa stößt Parmenions Vorschlag, das Friedensangebot des persischen Königs anzunehmen – Darius ist nach der Niederlage bei Issus bereit, die Gebiete zwischen Hellespont und Euphrat an die Griechen abzutreten, Lösegeld für die



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in griechische Gefangenschaft geratene Königsfamilie zu bezahlen und seinem Widersacher die eigene Tochter als Mitgift zu überlassen –, bei Alexander auf entschiedene Ablehnung, da er Walters Darstellung zufolge weder Reichtum noch eine politische Allianz mit den Persern anstrebt, sondern es ihm ausschließlich um einen ehrenhaften Sieg über das gesamte Perserreich und den daraus resultierenden wahren Ruhm geht (vgl. Komm. IV, 131–141). Ebenso eindeutig tritt dieses in Walters Epos zugrunde gelegte Verständnis wahren Ruhms in Alexanders Reaktion auf Parmenions Vorschlag am Vorabend der Schlacht bei Gaugamela zu Tage, die Perser in einem überraschenden nächtlichen Angriff zu schlagen (vgl. Komm. IV, 327–349). Auch an dieser Stelle macht der makedonische König seinem wichtigsten General unmissverständlich klar, dass er den Sieg über die Perser nicht mit Hinterlist und Betrug nach Art von Räubern und Dieben davonzutragen gedenke, sondern diesen nur in einer ehrenhaften Feldschlacht am Tage erringen möchte. Nur so könne gewährleistet werden, dass kein Schatten auf seinen späteren Ruhm falle. Wenn die Perser nicht ehrenhaft besiegt werden könnten, ziehe er sogar eine ehrenhafte Niederlage einem mit Hinterlist und Betrug errungenen Sieg vor (vgl. Komm. IV, 350–373). Damit macht Walter über die hier vorliegende Inszenierung seines wichtigsten Protagonisten Alexander deutlich, dass wahrer Ruhm nicht nur aus antik-paganer Sicht immer nur und ausnahmslos die Folge eines tugendhaften Verhaltens sein kann, sondern das tugendhafte Verhalten auch und gerade mit der Erfüllung der heilsgeschichtlichen Aufgabe Alexanders in Verbindung stehen muss, um auch aus christlicher Sicht als wahrer Ruhm Anerkennung zu finden. In der Nacht vor der letzten großen Schlacht bei Gaugamela findet Alexander nicht in den Schlaf, da ihn die Gedanken an den kommenden Tag der Entscheidung in große Unruhe versetzen (vgl. Komm. IV, 391–400). An diesem für Alexander kritischen Punkt seines Perserfeldzugs nimmt Walter qua allegorischer Darstellung der Siegesgöttin Victoria – auch ihr auf der Tiberinsel verorteter

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Tempel samt ihrem Gefolge werden dabei beschrieben – und des Schlafgottes Somnus, der den makedonischen König aus dieser Bedrängnis befreien kann und ihn schließlich doch einschlafen lässt, den antiken Götterapparat in Dienst, um mit dem Eingreifen göttlicher Mächte das zu diesem Zeitpunkt noch vom Schicksal begünstigte Wirken Alexanders – noch immer befindet sich dieser im heilsgeschichtlich legitimierten Perserkrieg – herauszustellen (vgl. Komm. IV, 401–432; vgl. auch Komm. IV, 433–453; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Nachdem Alexander am Morgen der Schlacht nicht von selbst erwacht und von Parmenion geweckt werden muss – der Schlafgott Somnus hatte in der Nacht zuvor ganze Arbeit geleistet –, gelingt es Alexander mit einer an seine Soldaten gerichteten Rede, diese noch einmal für den nun beginnenden Kampf gegen die Perser zu motivieren (vgl. Komm. IV, 546–588; zur Überzeugungskraft eines Feldherrn als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 118–127; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).

Kommentar zu Buch IV Themenübersicht (1–10) C 1–2 Quartus ad uxoris Darii lacrimabile funus | convertit Ma­ gnum: Nach der Schlacht bei Issus gerät Darius’ Gattin Stateira in Gefangenschaft, in der sie ohne Zutun der Griechen verstirbt. Alexander veranlasst ein prächtiges Leichenbegängnis, für das der Hebräer Apelles ein prächtiges Grabmal errichtet und ausgestaltet (vgl. Alex. IV, 176–274). C 2–3 Darium lamenta fatigant  | falsaque suspicio: Darius kann einem Boten, der aus dem griechischen Lager zurückkommt, nur schwer glauben, dass seine Ehefrau Stateira vor ihrem Tod nicht das Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden oder auf Bitten Alexanders nicht sogar freiwillig eine sexuelle Beziehung mit seinem vergleichsweise jugendlichen Gegner eingegangen ist (vgl. Alex. IV, 24–67). C 3–4 Legati certa reportant | ad Darium responsa: Noch vor der letzten großen Schlacht bei Gaugamela unterbreiten persische Gesandte dem makedonischen König einen Vorschlag, nach dem er die bisher eroberten Gebiete behalten könne und als Zeichen der lauteren Absichten der Perser Darius’ Tochter zur Frau und zudem dreißigtausend Talente aus Gold erhalte, wenn er Darius’ Mutter und beide Schwestern freilasse. Alexander lehnt diesen Vorschlag ab, da es ihm um einen ehrenhaften Sieg über das gesamte Perserreich und den daraus resultierenden wahren Ruhm geht (vgl. Alex. IV, 92–99; vgl. auch Alex. IV, 142–175; zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4).

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C 5–6 Terretur ymagine belli  | conciliumque vocat Macedo: Während Alexander in der Nacht vor der Schlacht bei Gaugamela das Treiben im persischen Lager beobachtet und die dortigen Truppenmassen in Augenschein nimmt, beschleicht ihn ob der beeindruckenden persischen Übermacht große Angst. Er versammelt seine Generäle und bespricht sich mit ihnen (vgl. Alex. IV, 301–327; vgl. auch Alex. IV, 327–349). C 6–7 Responsa suorum | reicit et sompnum differt in tempora lu­ cis: Insbesondere Parmenion rät Alexander, noch in der Nacht anzugreifen und die Perser damit zu überraschen. Alexander weist den Vorschlag seines wichtigsten Generals entrüstet zurück, da er befürchtet, es könnte ein Schatten auf seinen Ruhm fallen, wenn er die Schlacht durch eine List für sich entscheidet (zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). ⇔ Da er vor Aufregung lange nicht in den Schlaf finden kann und erst durch den von der Siegesgöttin Victoria ins griechische Lager entsandten Schlafgott Somnus erlöst wird, schläft Alexander entgegen seiner Gewohnheit noch weit nach Sonnenaufgang und muss von Parmenion geweckt werden (vgl. Alex. IV, 350–373; vgl. auch Alex. IV, 391–453; vgl. auch Alex. IV, 454–497). Der Tod der Stateira (1–23) 1–23 Luridus et piceo suffusus lumina fumo … cum regia decidit uxor … regum fortissimus ille | et pius eversor … Custodem se esse … gloria maior erat quam si violaret utrumque: Auf dem Weg nach Gaugamela verstirbt Darius’ Gattin Stateira. ⇔ Mit der aus drei Teilen bestehenden Bemerkung, dass die persische Königin entweder aus Sehnsucht nach ihrem Ehemann, dem Kummer über das am Boden liegende persische Reich oder aus Erschöpfung gestorben sei, macht



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Walter deutlich, dass sie unzweifelhaft eines natürlichen Todes gestorben ist. Mit dem auf Alexander bezogenen Attribut fortissimus charakterisiert Walter diesen als einen überaus tapferen König, der über diese zentrale Feldherrntugend hinaus jedoch auch die mit pius zum Ausdruck gebrachte aristotelische Tugend der angemessenen Zuwendung verinnerlicht hat, die ihn dazu befähigt, über Stateiras Tod nicht anders zu trauern, als wenn er seine Schwester oder seine Mutter verloren hätte (vgl. Gartner 2018, 63–64; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch I). Mit Walters Hinweis, dass es für Alexander ruhmvoller war, Stateiras Schamhaftigkeit und Schönheit zu beschützen, als Darius’ Gattin durch sexuellen Missbrauch zu entehren, hebt Walter nicht nur das moralisch einwandfreie Verhalten Alexanders gegenüber der persischen Königin hervor, sondern weist gleichzeitig auch auf das für das Epos insgesamt gültige Verständnis wahren Ruhms hin (vgl. Komm. IV, 350–373; zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. auch die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). Tiriotes und Darius (24–67) Darius befürchtet die Schändung seiner Familie (24–34) 24–34 Nuncius ad Darium mediis elapsus Achivis | it spado Tirio­ tes … quod tamen ipse loqui timeo: Der Eunuch Tiriotes kehrt aus dem griechischen Lager zurück und berichtet dem Perserkönig vom dortigen Schicksal der Königsfamilie. Da er die bei Persern üblichen Zeichen der Trauer zeigt, meint Darius, dies als Beleg für die Schändung seiner Familie werten zu müssen.

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KOmmentar Die Todesnachricht (34–39)

34–39 Tunc excipit ille … exiit a medio corpusque reliquit inane: Zu Darius’ Erstaunen berichtet Tiriotes davon, dass die königliche Familie von Alexander zuvorkommend und ihrem Rang entsprechend ehrenvoll behandelt werde. Allerdings sei seine Gattin Stateira inzwischen überraschend verstorben. Trauer und Argwohn des Darius (40–58) 40–58 Tunc vero in gemitum et planctum conversa videres | castra. Senex iacet exanimis … testante penates | et superos servo castam vixisse maritam, | facta fides Dario: Darius fällt in tiefe Trauer und meint, seine Ehefrau sei deshalb umgekommen, weil sie die Entehrung nicht ertragen habe. Tiriotes versichert ihm, dass sie keine Schande ertragen musste und Alexander ihren Tod nicht nur beweint, sondern sogar eine Totenfeier für sie abgehalten habe. Daraufhin argwöhnt der persische König, den Walter an der vorliegenden Stelle nicht zufällig mit senex bezeichnet, dass der makedonische König – von Walter kontrastierend zu Darius ebenso absichtsvoll mit iuvenis angesprochen – mit seiner Gattin eine auf Freiwilligkeit basierende Liebesbeziehung eingegangen ist. Darius preist Alexander (58–67) 58–67 tollensque ad sydera palmas … Quod michi si tolli iam prefi­ nistis et a me | transferri fati iubet imperiosa voluntas, | regnum Asiae me post hic tam pius hostis habeto | tam clemens victor … invitat lacri­ mis ut vocem fata sequantur: Walter legt im vorliegenden Abschnitt das Augenmerk auf Alexanders herausragende Tugendhaftigkeit, indem er Darius die an das Schicksal gerichtete Bitte in den Mund



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legt, dass er, sollte sein Stern schicksalsbedingt tatsächlich am Sinken sein, von niemand anderem in der Herrschaft über das Perserreich abgelöst werden wolle als vom rücksichtsvollen und gütigen König der Makedonen. Diese Bitte wird in ihrer Bedeutung von Walter stilistisch auch dadurch hervorgehoben, dass er mit der zweimaligen Verwendung einer contradictio in adiecto mit den Wortpaaren pius hostis und clemens victor normalerweise nicht zueinander passende Begriffe miteinander in Beziehung setzt. Damit stellt Walter zum wiederholten Mal in der Alexandreis einen direkten Bezug zur Aristoteles-Rede her, die ihn zu eben diesen Tugenden wie Rechtschaffenheit, Anstand und Achtung vor dem Rechten aufgefordert hatte, die er nach der Schlacht bei Issus Darius’ Familie gegenüber tatsächlich auch an den Tag legt (vgl. Alex. 1, 178: Nec desit pietas pu­ dor et reverentia recti; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Die Gesandten des Darius (68–108) Das tugendhafte Verhalten Alexanders (68–92) 68–92 Et quamquam, frustra iam pace bis ante petita … hostis amore | victus et exemplo Palladis arbore tutos … rex clementissime, pacem … ab illo … pietas … cura moraretur. Rata sit concordia: Von der Güte und dem Beispiel Alexanders überwältigt, schickt Darius eine Gesandtschaft, um über einen Frieden zu verhandeln. ⇔ Wie schon in der an das Schicksal gerichteten Bitte des Darius kurz zuvor, unterstreicht Walter anhand der Rede des persischen Unterhändlers Achillas noch einmal die über die Begriffe pietas und cle­ mentia transportierte und auf die gütige Behandlung der persischen Königsfamilie abzielende Tugendhaftigkeit Alexanders. ⇔ Mit den Worten Palladis arbore tutos nimmt Walter an dieser Stelle Bezug auf Athenes Funktion als Friedensstifterin, mit der sie die persischen

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Gesandten im feindlichen Lager der Griechen beschützen soll (vgl. Alex. IV, 70). Anders als im unter persischer Oberhoheit stehenden Tyrus geschehen, das im Jahr zuvor die griechischen Gesandten ermordet hatte, entlässt Alexander die persischen Unterhändler später unversehrt wieder ins feindliche Lager (vgl. Komm. III, 288–329). ⇔ Walter überträgt das Attribut fulmineus, das er sonst nur für den makedonischen König benutzt, um dessen Schnelligkeit und enorme Durchschlagskraft herauszustellen, hier auf das Pferd Alexanders (zur Blitzmetapher für Alexander vgl. Komm. II, 388–407). Darius’ Friedensangebot (92–99) 92–99 Natam | non sine dote offert Darius tibi … inter Frixei litoris horam | Euphratenque … ter dena talentum | milia sunt precium ful­ vo decocta metallo: Der persische Unterhändler macht Alexander das Angebot, die Landschaften zwischen dem Hellespont und den Gebieten westlich des Euphrat als Herrschaftsgebiet zu übernehmen und damit den Krieg zu beenden. Zudem bietet er dem makedonischen König Darius’ Tochter als Mitgift an. Ergänzend dazu sollen Darius’ Mutter und beide Schwestern für ein Lösegeld von dreißigtausend Talenten Gold zu den Persern zurückkehren. Darius’ Sohn könne als Bürge für den Frieden in griechischer Gefangenschaft bleiben. Darius’ Drohung (100–108) 100–108 Quod nisi te superi maiori pectore fultum | humanosque ar­ tus divina mente beassent, | tempus erat … Quid moror? Unus habet quas non habet area vires: Einerseits schmeichelt Tiriotes dem makedonischen König, indem er ihm zugesteht, bisher von göttlichen Mächten profitiert zu haben. Andererseits droht er ihm jedoch auch



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mit der zu Wasser und zu Lande gewaltigen persischen Streitmacht, die nach normalem menschlichen Ermessen nicht zu besiegen sein wird, um dessen Zustimmung zum Friedensvertrag zu erreichen. Der Standpunkt des Parmenion (109–130) 109–130 Magnus ut accepit Darii responsa, citatis | in cetum duci­ bus … et siluisse diu perhibetur curia donec  | Parmenio … Post for­ tia gesta reverti  | tucius in patriam quam vivere semper in armis: Waren sich Alexander und sein wichtigster General bis zu diesem Zeitpunkt über die grundsätzliche Notwendigkeit und die strategische Ausrichtung des Kriegs gegen die Perser weitgehend einig, baut Walter beginnend mit dieser Szene Parmenion zunehmend zu Alexanders Gegenspieler innerhalb der makedonischen Führungselite auf. Der alte General macht ihm hier den Vorwurf, weniger an die eigene Heimat zu denken als an immer weiter nach Osten reichende Eroberungen und spricht sich dafür aus, Darius’ Friedensangebot anzunehmen. Auch hätte er längst ein Lösegeld für Darius’ Familie verlangt. Alexanders Antwort auf Parmenion (131–141) 131–141 Consulis arbitrium tulit egre Magnus … securus sub pau­ pertatis amictu … Fortunae venditor absit … gratia non sequitur, nec habent commercia grates: Alexander widerspricht Parmenions Vorschlag vehement und stellt seinem wichtigsten General ein schlechtes Zeugnis aus, weil dieser das persische Gold dem Ruhm eines glanzvollen Sieges vorziehe. ⇔ Im Gegensatz dazu stellt Walter Alexanders Unbestechlichkeit heraus, die es ihm im Unterschied zu Parmenion ermöglicht, bei wichtigen Fragen der Kriegsführung die richtigen Prioritäten zu setzen. Mit der Wendung securus sub pauper­

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tatis amictu bringt Walter seinen wichtigsten Protagonisten dabei in die Nähe eines dem Reichtum abschwörenden mittelalterlichen Mönchs, was auf der zeitgenössischen Ebene auch als dezenter Hinweis auf die vom Autor der Alexandreis immer wieder kritisierte Habgier der römischen Kurie des 12. Jahrhunderts gewertet werden kann (vgl. Alex. IV, 135; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Der Vorwurf an Parmenion, für Gold Verrat am eigenen Schicksal zu üben, ist insofern schwerwiegend, als sich Alexander als ein vom Schicksal begünstigter Herrscher versteht, dem es in seinen Augen vorherbestimmt ist, das gesamte Perserreich zu erobern (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; zum Selbstverständnis Alexanders hinsichtlich der Begünstigung durch das Schicksal vgl. Komm. IV, 546–562). Alexander möchte anders als Parmenion auch kein Lösegeld für Darius’ Familie erpressen, sondern diese lieber ohne eine Gegenleistung zurückgeben. Erneut stellt Walter damit die moralische Integrität des makedonischen Königs heraus. Alexanders Antwort an die persischen Gesandten (142–175) 142–175 Hec ubi dicta, super responso consulis intro | legatos iubet ad­ mitti Darioque referre | «Quod clementer» ait «feci quodque indole dignum,  | naturae tribuisse meae non eius honori … quos aditurus erat colles et plana viarum: Alexander betont, dass seine gegenüber Darius’ Familie an den Tag gelegte clementia nicht zweckorientiert – etwa als Hinweis auf eine möglicherweise vorhandene Bereitschaft, Frieden zu schließen – zu verstehen sei, sondern lediglich seinem von Menschlichkeit und Anstand geprägten Wesen entspreche. ⇔ Damit unterstreicht Walter, wie schon in Alexanders Antwort an Parmenion zuvor, die in diesem Kontext auf den Tugenden der cle­ mentia und der pietas beruhende moralische Integrität des makedonischen Königs. Genau das unterscheidet Alexander von Darius, der



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das zuvorkommende Verhalten seines Gegners als zweckorientierte Botschaft missversteht, den Krieg beenden zu wollen. ⇔ Kontrastierend dazu zieht Alexander Darius’ Aufrichtigkeit in Zweifel, da dieser ungeachtet seines Friedensangebots die ganze Zeit über nichts unversucht lässt, griechische Generäle zu bestechen oder ihn durch gedungene Mörder umbringen zu lassen. Darüber hinaus stellt Alexander klar, dass die angebotene Herrschaft über das Gebiet westlich des Euphrat von der Realität bereits überholt worden sei, da sich seine Truppen bereist östlich des Euphrat befinden. Das Grabmal der Stateira (176–274) Nach Alexanders Antwort auf Darius’ Friedensangebot folgt eine ausführliche Ekphrasis des Grabmals der Darius-Gattin Stateira. ⇔ In dieser Beschreibung geht Walter nach der nur kurzen Erwähnung der reges et nomina gentes Achee, die nicht näher ausgeführt werden, auf den von Apelles angefertigten biblischen Bilderschmuck ein, der die Weltgeschichte vom Beginn der Schöpfung an über die Patriarchen bis zu Ruth umfasst und überdies von der jüdischen Königsgeschichte bis zu den zwölf Propheten mit ihren Marien- bzw. Christus-Prophetien reicht (zum Verständnis der auf dem Grabmal dargestellten Episoden vgl. Ratkowitsch 1991, 148–163; zur Stellung des Stateira-Grabmals innerhalb der Gesamtstruktur der Ale­ xandreis vgl. auch Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). ⇔ Wie Wiener (2001) 83–84 aufzeigt, verfolgt Walter mit der Ekphrasis des Stateira-Grabmals die Absicht, die persische Geschichte in die Heilsgeschichte einzugliedern und die zeitliche Parallelität von heidnisch-antikem Geschichtsverlauf und der Geschichte des Gottesvolks sub lege ins Blickfeld des Lesers zu rücken, während die auf dem Stateira-Grabmal ebenfalls verarbeiteten Prophetien schon in die Zeit sub gratia vorausweisen, die Walter als seine eigene Zeit insbesondere in Form einer derartigen Ekphrasis in sein Werk her-

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einholen konnte (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Schriftsinn des Epos vgl. Einleitung 7.3; zur Stellung des Stateira-Grabmals innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). Der Künstler Apelles (176–179) 176–179 Interea Macedo condivit … erexit celeber digitis Hebreus Apelles: Mit dem Bildhauer Apelles erwähnt Walter einen Architekten und Künstler, der für den Aufbau und die künstlerische Gestaltung der Grabmäler der Stateira und später auch des Darius zuständig ist (vgl. Alex. VII, 379–430). Christensen (1905) 156, Anm. 2 stellt in den Raum, dass der Name Apelles aus einer Satire des Horaz – dort allerdings Iudaeus Apella genannt und auf einen leichtgläubigen Juden bezogen – übernommen worden sein könnte, und gibt dabei zu bedenken, dass Walter auch in seiner Schrift gegen die Juden von einem Apella Judaeus spricht (vgl. Hor., Sat. 1, 5, 100: Credat Iudaeus Apella, non ego; vgl. Walter v. Châtillon, Tractatus contra Iudaeos 2, XX, PL 209, 447 B: De libro quoque Sapientiae, qui dicitur Salomonis, testimonium Dominicae passionis excerpsimus, cui vel Apella Judaeus obviare non possit). Wahrscheinlicher scheint die Bezugnahme – allein schon wegen der exakten namentlichen Übereinstimmung – auf den in Ephesos zum Künstler ausgebildeten Apelles zu sein, der nach dem Bericht des Plinius als Alexanders Zeitgenosse mit diesem in sehr gutem Einvernehmen stand. Allein diesem berühmten Maler soll der makedonische König die Erlaubnis erteilt haben, ihn zu porträtieren. Bisweilen habe es sich Apelles aufgrund des hohen Ansehens, das er bei Alexander genoss, sogar erlauben können, diesen auf die Schippe zu nehmen (vgl. Plin., Nat hist., 35, 85–86: Fuit enim et comitas illi, propter quam



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gratior Alexandro Magno frequenter in officinam ventitanti – nam, ut diximus, ab alio se pingi vetuerat edicto –, sed in officina impe­ rite multa disserenti silentium comiter suadebat, rideri eum dicens a pueris, qui colores tererent. Tantum erat auctoritati iuris in regem alioqui iracundum). Janka/Stellmann (2020) 81–86 erkennen darüber hinaus in Apelles eine poetologische Reflexionsfigur Walters, die über begriffliche und motivische Parallelen zwischen dem Entstehungsprozess des Stateira-Grabmals sowie des in Buch VII beschriebenen Darius-Grabmals einerseits und dem Herstellungsprozess der Alexandreis andererseits einen Überbietungsanspruch Walters in der Zeit sub gratia gegenüber dem Künstler Apelles in der Zeit sub lege zum Ausdruck bringt: »Zugleich hat Walter diese seine eigene Reflexionsfigur typologisch übertroffen: Sein Apelles ist ein griechischer und jüdischer Künstler, der […] über eine intime Kenntnis der jüdischen Bibel verfügt, die ihn gegenüber den heidnischen Griechen seiner Zeit dazu befähigt, den Monumenten der Stateira und des Darius biblisches Wissen, das in seiner allegorischen Sinndimension figural-verschattet auf zentrale Ereignisse der Heilsgeschichte (Übergang zum dritten Weltreich; Jungfrauengeburt) vorausweist, einzuzeichnen und einzuschreiben. Walter selbst dagegen ist ein ›römischer‹ und christlicher Künstler, der […] über eine intime Kenntnis der jüdisch-christlichen Bibel, insbesondere der offen typologischen Vorausdeutungen des Alten Testaments […] verfügt, die ihn gegenüber den heidnischen römischen Dichtern vor seiner Zeit dazu befähigt, dem Alexander-Stoff eine vollendete figurative Gestaltung zu verleihen, die mit ihrer allegorisch-typologischen Sinndimension ein würdiges, in die Ewigkeit reichendes Monument für Alexander bildet. Der Typus Apelles figuriert reflexiv Walter als Antitypus, der ihn erfüllt und vollendet« (vgl. Janka/ Stellmann 2020, 85–86).

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KOmmentar Schöpfung von Himmel und Erde; die vier Elemente; Lichtwerdung (180–188)

180–188 Nec solum reges et nomina gentis Achee | sed Genesis notat historias, ab origine mundi | incipiens. Aderat confusis partibus yle | et globus informis … quatuor … elementa … de tenebris primam videas emergere lucem: Walter übergeht die auf dem Grabmal dargestellten Szenen der griechischen Welt und beginnt sogleich mit der biblischen Schöpfungsgeschichte. Mit dem aus dem Griechischen stammenden Begriff ὕλη oder genauer ὕλη πρώτη (materia prima) weist Walter auf das innerhalb der aristotelischen Physik und Metaphysik noch nicht bestimmbare erste Zugrundeliegende – hier mit dem Begriff Urmaterie wiedergegeben – hin, das erst im weiteren Verlauf der Schöpfung durch die Scheidung der Elemente eine bestimmte Form (μορφή) annimmt. Zu diesen beiden dann untrennbar miteinander verbundenen Prinzipien von materia und forma tritt ergänzend die substantia (οὐσία) hinzu, welche diejenigen Eigenschaften beschreibt, die bestimmte Dinge wesenhaft als unwandelbaren Kern ihrer Existenz notwendig besitzen müssen. ⇔ Die Übersetzung von globus informis muss deutlich machen, dass sich die mit informis zum Ausdruck gebrachte Formlosigkeit nicht auf die äußere Form der Kugel bezieht, sondern auf die innerhalb der kugelförmigen Masse befindlichen ungeordneten, noch nicht geschiedenen und demzufolge auch noch nicht unterscheidbaren Teilchen (vgl. Augustinus’ Beschreibung der mit dem Begriff globosa moles bezeichneten kugelförmigen Masse zu Beginn der Schöpfung, Aug., De Genesi ad litteram 1, 25, col. 255). ⇔ Mit den quatuor elementa bezeichnet Walter die aus der unförmigen Masse geschiedenen, unvollkommenen und vergänglichen sublunaren Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer. Im Unterschied dazu ist der auch als Äther bezeichnete masselose Bereich der sieben Planeten sowie die als achte Sphäre geltende Fixsternsphäre – die quinta essentia – vollkommen und unvergänglich. ⇔ Am Ende des Abschnitts greift Walter zudem



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die ebenso mit dem ersten Schöpfungstag in Verbindung stehende Lichtwerdung auf. Erschaffung des Menschen; Sündenfall; Vertreibung aus dem Paradies (189–193) 189–193 Dignior hic inter animas ratione carentes | de limo formatur homo … ignea custodit virgulti romphea limen: Der Mensch als einzig vernunftbegabtes Lebewesen rahmt die nicht vernunftbegabten Tiere sprachlich ein und wird damit durch ein mit den Worten dignior und homo gebildetes Hyperbaton stilistisch hervorgehoben. Auch bei Ovid wird innerhalb seiner Schöpfungsgeschichte der Unterschied zwischen Mensch und Tier auf ganz ähnliche Weise zum Ausdruck gebracht (vgl. Ov., Met. 1, 76–77: Sanctius his animal mentis­ que capacius altae | deerat adhuc et quod dominari in cetera posset). ⇔ Das christliche Mittelalter verortet das Paradies im äußersten Osten der bewohnten Welt und somit auf Erden. Aus diesem Grund muss es seit dem von Walter im Vers zuvor beschriebenen Sündenfall und der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies bewacht werden, um einen unbefugten Zutritt zu verhindern. Bildhafter Ausdruck dieser Vorstellung sind die auf den nach Osten ausgerichteten mittelalterlichen Mappa Mundi wie der Ebstorfer Weltkarte umgesetzten Darstellungen, auf denen das am oberen Kartenrand befindliche Paradies von einem fast bis zum Himmel reichenden Feuerwall umgeben wird (zur Ebstorfer Weltkarte und der Paradiesvorstellung im Mittelalter vgl. Kugler 2007, Bd. 1, 34–37). Lamech tötet Kain (194) 194 Inde Cain profugus bigami non effugit arcum: Mit bigamus ist Lamech, der Vater Noahs und einer der vor der Sintflut lebenden

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Väter der Menschheit angesprochen, der als erste biblische Gestalt zwei Frauen geheiratet hat. Obgleich blind, liebte er die Jagd, auf der er von seinem Sohn geleitet wurde. Eines Tages brachte er auf einer solchen Jagd den Brudermörder Kain mit Pfeil und Bogen versehentlich um. ⇔ Während in der Genesis diese Geschichte nur kurz erwähnt wird, berichtet ein apokrypher Text ausführlicher über diesen fatalen Jagdunfall. Versündigung der Menschen; Sintflut; Kainsmal; Arche Noah (195–200) 195–200 Pullulat humanum genus et polluta propago … Laborat  | archifaber. Genus omne animae clauduntur in arca: Die zunehmende Versündigung der Menschen hat Gott erzürnt. ⇔ Das mit sig­ num bezeichnete Kainsmal schützte den Mörder Abels mithilfe dieses göttlichen Zeichens vor der Gewalt anderer, wies ihn aber auch als Mörder seines Bruders Abel aus. ⇔ Noah erbaute die Arche, um die drohende Sintflut mit einer ausgewählten Schar von Menschen und Tieren überleben zu können. Nach der Sintflut; Noah vom Wein betrunken (201–202) 201–202 Post refugos fluctus replet octonarius orbem, | vinea planta­ tur, et inebriat uva parentem: Neben Noah und seiner Frau haben auch deren drei Söhne mit ihren Frauen die Sintflut überlebt. Abraham, Isaak und Jakob; Geburt des Isaak (203–204) 203–204 Hic patriarcharum seriem specialius aurum  | exprimit. Emeritos videas ridere parentes: Mit den Patriarchen oder auch Erz-



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vätern sind im engeren Sinne die drei Stammväter des israelischen Volkes, Abraham, Isaak und Jakob angesprochen. Abgebildet ist die Freude Abrahams und seiner Frau Sarah über die Geburt ihres Sohnes Isaak. Der Jäger Esau; Jakobs Rückkehr; Jakobs Kampf mit dem Engel (205–206) 205–206 venantemque Esau, turmisque redire duabus  | luctarique Iacob: Die Stelle berührt den Bruderkonflikt zwischen Esau und Jakob – der Name bedeutet Betrüger –, der seinen älteren Bruder um das Erstgeburtsrecht und den vom altersblinden Vater gespendeten Segen betrogen hatte und daraufhin fliehen musste. Jakob kehrte Jahre später als wohlhabender Familienvater zurück. Als Esau sich mit vierhundert Mann auf ihn zubewegte, teilte er seine Leute in zwei Gruppen auf, damit im schlimmsten Fall zumindest ein Teil unversehrt entkommen konnte. ⇔ Am Fluss Jabbok wurde Jakob noch vor dem Treffen mit Esau von einem Mann angegriffen, der ihn nicht besiegte, aber auch selbst nicht besiegt werden konnte. Da Jakob begriff, dass Gott in Person eines Engels mit ihm rang, ließ er sich segnen und nahm den Namen Israel – was Kämpfer Gottes bedeutet – an, womit er sich nicht nur seines alten Namens entledigte, sondern auch die Unterstützung Gottes gewann. Verkauf Josephs; Potiphars Weib; Einkerkerung Josephs; Fortgang der Kinder Israels nach Ägypten (206–207) 206–207 Sequitur distractio Ioseph | et dolus et carcer et transmig­ ratio prima: Joseph, der Lieblingssohn Jakobs, wurde von seinen neidischen und faulen Brüdern an eine Karawane midianitischer Händler als Sklave verkauft, die ihn nach Ägypten brachte. Dort

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wurde Joseph an einen Hofbeamten des Pharaos namens Potiphar verkauft und als dessen Verwalter eingesetzt. Nachdem er sich zunächst das Vertrauen seines Herrn erworben hatte, fiel er in Ungnade, da ihn Potiphars Frau aus verschmähter Liebe listenreich fälschlicherweise der versuchten Vergewaltigung bezichtigte. Daraufhin ließ Potiphar Joseph ins Gefängnis werfen. Nachdem der Pharao einen prophetischen Traum gehabt hatte, den ihm nur Joseph deuten konnte, wurde er jedoch wieder in sein altes Amt eingesetzt. ⇔ Die transmigratio prima bezeichnet den ersten Fortgang der Kinder Israels nach Ägypten, die ihre Heimat wegen schlechter Ernten verlassen mussten und nach Ägypten kamen. Die zehn Plagen Gottes; Auszug der Kinder Israels aus Ägypten; Untergang des Pharaos (208–210) 208–210 Hic dolet Egyptus … et puro livescit pontus in auro: Gott belegte Ägypten mit zehn Plagen, die zum Auszug der Kinder Israels unter Moses führten. Vom Grund des Meeres aus schimmerten die goldenen Wagen der Ägypter, die bei der Verfolgung der Israeliten von den wieder zusammenschlagenden Wassermassen verschlungen worden waren. Zug durch die Wüste; Versorgung mit Manna; Übergabe der Gesetze; Eröffnung der Quelle (211–212) 211–212 Hic populum manna desertis pascit in arvis. | Lex datur, et potum sicienti petra propinat: In der Wüste klagten die Kinder Israels über Hunger und Durst. Gott schickte ihnen Brot (Manna) und spendete Wasser aus einem Felsen. Moses erhielt mit den zehn Geboten das Gesetz Gottes.



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Moses’ Tod; Zerstörung von Jericho; Josua hemmt den Jordan; Verfluchung der Ebene von Achor; Landverteilung durch Josua; Josuas Tod (213–217) 213–217 Succedit Bennun Moysi post bella sepulto … funiculo patri­ um divisit fratribus orbem: Nach dem Krieg gegen die Midianiter und der damit einhergehenden Eroberung der Gebiete östlich des Jordans starb Moses. ⇔ Ihm folgte Josua nach, der sich anschickte, für das Volk Israel ganz Kanaan zu erobern. Am Ufer des Jordan angekommen, zog das ganze Volk mit Gottes Hilfe trockenen Fußes durch den Jordan. Jericho war die erste Stadt, die von den Israeliten nach der Überquerung des Jordans eingenommen wurde. ⇔ Die Ebene Achor wurde unter den Israeliten als Unglücksort angesehen, da Achan aus dem Stamm Juda dort gesteinigt und verbrannt wurde, nachdem er sich an gebanntem Gut vergriffen und sich damit nicht an ein Gebot Gottes gehalten hatte. ⇔ Nach dem Abschluss der Landverteilung im östlichen Jordanland starb Josua. Herrschaft der Richter; Blendung Samsons; Raub seiner Haare durch Dalila (218–220) 218–220 Iudicibus tandem populum supponit Apelles … preciso Da­ lila crine: Als Architekt und Künstler des Grabmals stellt Apelles auch Szenen aus dem Buch der Richter dar, welche die von Gott zugewiesene Aufgabe erhalten hatten, Israel nach Josuas Tod in Zeiten des Niedergangs und der Uneinigkeit von der Fremdherrschaft zu befreien. ⇔ Genau genommen wurde Samson nicht von Dalila geblendet, sondern von den von ihr herbeigerufenen Philistern.

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KOmmentar Ruth (221–222)

221–222 Ruthque Moabitis viduata priore marito  | in genus He­ breum felici federe transit: Die Moabiterin Ruth wurde durch die Heirat mit Boa Teil der hebräischen Gemeinschaft. Ankündigung der Könige Israels; Tod des Eli; Geburt des Samuel; Unruhe in Silo (223–225) 223–225 Altera picturae sequitur distinctio, reges | aggrediens et fu­ nus Heli Samuelis ab ortu. | Murmurat in Silo populus: Noch bevor die Könige Israels thematisiert werden, kommt Walter auf den Priester Eli zu sprechen. Dieser diente in der Stiftshütte in Silo, das noch lange vor Jerusalem Hauptstadt und religiöses Zentrum der Israeliten im Nordreich Israel war. In der dortigen Stiftshütte erblickte Eli eine vermeintlich unfruchtbare Frau namens Hanna, die um ein eigenes Kind betete. Eli sicherte ihr zu, dass ihr Kinderwunsch bald in Erfüllung gehen werde. Wenig später brachte sie den späteren Propheten Samuel zur Welt. Als Eli die Nachricht erreichte, dass seine Söhne im Krieg gegen die Philister gefallen waren und die Bundeslade verlorengegangen war, fiel er vor Schreck vom Stuhl und starb. Die Einwohner von Silo gerieten darüber in große Unruhe. Saul erster König Israels; David zweiter König Israels; Sieg Davids über Goliath; Tod des Saul und seiner Söhne; Klagelied Davids (225–230) 225–230 De Beniamin exit | qui regat Hebreos, sed enim quia disso­ nat eius | principio finis … inque acie belli cum prole cadente tyran­ no,  | regia desertos dampnat maledictio montes: Aus dem Stamm Benjamins ging Saul als erster König Israels hervor. Ihm gelang es,



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die israelitischen Stämme in einem Staat zu vereinen. Dem positiven Beginn seiner Herrschaft stand Sauls göttliche Verwerfung entgegen, da er den Auftrag Gottes, alle sündigen Amalekiter und deren Tiere zu töten, nicht ausgeführt hatte. ⇔ Gott wählte wegen Sauls Ungehorsam als zweiten König Israels den aus dem Stamm Jesses kommenden David aus, der bereits König von Juda war. Im Kampf gegen die Philister besiegte er den hünenhaften Goliath mit seiner Schleuder. Als Saul sah, dass er im Kampf gegen die Philister auf verlorenem Posten stand – ein feindlicher Bogenschütze hatte ihn bereits am Unterleib verletzt –, stürzte er sich in sein Schwert und starb. ⇔ Mit den montes spricht Walter das Gilboa-Gebirge an, einen Höhenzug an der Grenze von Nordisrael und dem Westjordanland, in welchem neben Saul auch dessen Söhne Jonatan, Abinadab und Malkischua im Kampf gegen die Philister den Tod fanden. König David stimmte deshalb ein Klagelied an, das die Berge dieser Gegend verfluchte. Aufstand gegen David (231–234) 231–234 Hic Asael Abnerque cadunt … Patriam lugere putares | ef­ figiem: Die von Walter erwähnten Ereignisse stehen in Zusammenhang mit den Bestrebungen, König David vom Thron zu stürzen. Abner war der Heerführer Sauls, der von Joab, dem Heerführer Davids getötet wurde, nachdem dieser zuvor Asael, den Bruder Joabs und Neffen Davids umgebracht hatte. Urija war Söldner im Heer Davids, der diesen an die gefährlichste Stelle im Kampf gegen die Stadt Rabba stellen ließ, um ihn damit zu Tode zu bringen. Hintergrund dieser Tat war, dass David dessen Frau Batseba geschwängert hatte. Absalom, einer der jüngeren Söhne Davids, versuchte seinen Vater zu stürzen, obwohl er von diesem sehr geliebt wurde. Im Wald von Efraim kam es schließlich zur Schlacht, die David für sich entscheiden konnte. Auf der Flucht verfingen sich Absaloms langen

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Haare im Geäst eines Baumes, so dass es für Davids nachsetzenden Heerführer Joab ein leichtes war, diesen mit drei Spießen zu töten. Die Trauer des Vaters wurde insbesondere dadurch gesteigert, dass er seinen Soldaten vor der Schlacht befohlen hatte, seinen Sohn Absalom zu verschonen. Tod Davids; Salomo dritter König Israels; Tempelbau; Tod des Joab; Tod des Simei (234–237) 234–237 Sed postquam humanitus accidit illi, | construitur templum … Semeique vorax intercipit ensis: Nach Davids Tod herrschte Salomo in Frieden und Wohlstand. Als dritter König nach Saul und David erhielt er nicht nur das Großreich seines Vaters, sondern ließ in Jerusalem auch den ersten jüdischen Tempel erbauen. Da zwei Bluttaten des Joab, darunter auch die Tötung des Absalom, noch ungesühnt waren, ließ Salomo Joab töten, obwohl dieser am Altar Gottes Asyl begehrte. Simei hatte König David während Absaloms Aufstand mit einem Fluch beleidigt. David begnadigte ihn und auch Salomo verschonte ihn unter der Bedingung, dass er Jerusalem nicht verließ. Da er sich nicht an die Vereinbarung hielt, wurde auch er auf Befehl Salomos hingerichtet. Rat der Ältesten; Rat der Jünglinge; Spaltung des Reichs; Abfall von zehn Stämmen (238–239) 238–239 Consilio iuvenum phariseat scisma perhenne  | cum regno populum. Lis est de divite regno: Nach Salomos Tod kamen die Vertreter der Nordstämme zur Krönung des Rehabeam in das Südreich nach Sichem. Sie baten um Erleichterung der Frondienste, aber Rehabeam lehnte dies entgegen dem Rat der Ältesten auf Betreiben des Rats der Jünglinge ab. Daraufhin verweigerten die zehn nörd-



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lichen Stammesführer den Gehorsam und fielen von der Dynastie Davids ab. Sie bildeten von nun an unter der Führung Jerobeams das Nordreich Israel, während Rehabeam mit der Hauptstadt Jerusalem die Herrschaft im Südreich Juda übernahm. Praeteritio: Götzendienst der Könige; Verderbtheit von Samaria; Justizmord an Nabot; Tod der Isebel; Tod des Ahab; Vernichtung der Fünfzig (240–246) 240–246 Quodcumque alterutrum preclare gessit … Non ibi cum socio quinquagenarius ardet: Ebenso wie bei der Beschreibung von Darius’ Schild nennt Walter auch hier in einer praeteritio Geschehnisse, die wegen ihres wenig ruhmreichen Charakters nicht auf dem Grabmal abgebildet sind (zum Darius-Schild vgl. Komm. II, 494– 529). ⇔ Darunter befinden sich manche Könige Israels und Judas, die den Götzendienst gefördert haben. Damit ist insbesondere der mit numina negativ konnotierte Baalsdienst angesprochen, der als sinnlicher und ekstatischer Kult der Kanaaniter von den Propheten heftig bekämpft wurde. Insbesondere König Ahab von Israel, der die Prinzessin Isebel aus dem benachbarten Tyrus geheiratet hatte, förderte seiner Frau zuliebe den Baalskult, indem er in Samaria sogar einen Tempel für Baal erbaute und selbst Kulthandlungen vollzog. Isebel nutzte ihre Machtposition, die sie als Ehefrau Ahabs innehatte, skrupellos aus. Sie plante, alle Propheten, die den Baalskult bekämpften, umbringen zu lassen. Zudem zettelte sie einen Justizmord an Nabot an, der seinen Weinberg nicht an die Königsfamilie verkaufen wollte. Wie von Elija, einem Propheten des Nordreichs Israel vorhergesagt, wurde das Königshaus von Ahab völlig vernichtet, Isebel wurde aus dem Fenster geworfen, von Pferden zertrampelt und von Hunden gefressen. Ahab selbst fiel auf Gottes Beschluss im Kampf gegen die Syrer. Der Prophet Elija ließ während einer Machtdemonstration Gottes auf die Baalspriester Feuer vom Himmel reg-

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nen und verbrannte den kanaanitischen Hauptmann mit seinen fünfzig Männern. ⇔ Damit beendet Walter die Beschreibung der nicht abgebildeten Szenen. Tötung der Baalspriester durch Elija; Trauer des Elisa (247–248) 247–248 sed gens sacra Baal gladio feriuntur Helie, | discipulusque dolet non comparere magistrum: Unmittelbar nach dieser Machtdemonstration Gottes befahl Elija die Ermordung von vierhundertfünfzig Baalspriestern. Nach der Himmelfahrt des Elija klagte dessen Schüler Elisa, ebenso wie sein Lehrer ein überzeugter Kämpfer gegen den Baalskult, über dessen Fortgang. Ezechia und Josia von Juda; Beseitigung der Götzenbilder; Wiedereinführung des Passah-Festes; Rücklauf der Sonne an der Treppe (249–255) 249–255 Quos tamen illustres declarat pagina reges … nullusque a crimine mundus: Ezechia, der seinem Vater Ahab als König von Juda nachfolgte, stellte den wahren Glauben an Jahwe wieder her, nachdem er mit der Hilfe Gottes – ein Engel soll bei der Belagerung Jerusalems in einer einzigen Nacht 185000 Feinde erschlagen haben – die Fremdherrschaft der Assyrer beendet hatte. Als Ezechia durch den Propheten Jesaja erfuhr, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, bat er Gott unter Tränen um einen Aufschub. Ihm wurden daraufhin weitere fünfzehn Jahre Lebenszeit gestattet. Zur Untermauerung dieser Vorhersage und als Beleg für die Allmacht Gottes soll dieser auf ein Gebet Jesajas hin im Beisein des Ezechia den Schatten auf der Sonnenuhr um zehn Stufen zurückgedreht haben. Es ist schwierig zu entscheiden, was mit diesem Vorgang genau gemeint ist, zumal es zu Ezechias Zeit in Israel noch gar keine Sonnen-



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uhren gab. Möglicherweise muss das hebräische ma’alot besser mit Stufen einer Treppe wiedergegeben werden, an denen der Schatten der Sonne wieder hinaufwanderte. Unabhängig davon, für welche Lesart man sich entscheidet, bleibt es natürlich in Walters Augen ein Wunder Gottes, dass Ezechia noch weitere fünfzehn Jahre am Leben blieb. ⇔ Als bedeutender König von Juda orientierte sich Josia in seinem Leben streng am jüdischen Gesetz, förderte den Glauben an Jahwe und lehnte die Verehrung anderer Gottheiten strikt ab. Zudem reformierte er den jüdischen Gottesdienst im Tempel von Jerusalem und führte in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten das Passah-Fest wieder ein. Die Vier großen Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und Daniel (256–257) 256–257 Ecce prophetarum, quo rege et tempore quisque | scripserit: Walter referiert im Folgenden jene Weissagungen der vier großen Propheten, die nach dem Verständnis der Christen im Mittelalter von den Voraussagen der Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria bis zur Kreuzigung Jesu reichten. Verkündigung von Marias Empfängnis durch Jesaja an Ahas (258–259) 258–259 Hic signum dat Achaz. «Ecce» inquit filius Amos | «virgo concipiet.»: Der Prophet Jesaja, des Amos Sohn, verkündete Ahas, dem König von Juda, Marias jungfräuliche Empfängnis.

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Jeremia; Zerstörung Jerusalems unter Zedekia; Babylonische Gefangenschaft und das Ende Judas; Verkündigung der jungfräulichen Geburt Jesu (259–261) 259–261 Hic sub Ioachim Iheremias  | occasum dolet et dominum nova monstra creasse | in terra, «mulier»que «virum circundabit» inquit: Das Grabmal zeigt die Klage des Propheten Jeremia über die zweite, unter König Zedekia von Juda erfolgte Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar II. im Jahre 587 v. Chr. und die damit einhergehende Zerstörung der Stadt. Nur zehn Jahre zuvor hatte der babylonische Herrscher für kurze Zeit schon einmal Jerusalem erobert, da der damalige König Jojachin die Tributzahlungen eingestellt hatte. Die Oberschicht von Juda und ein Teil des judäischen Volkes wurden infolge der Zerstörung von Jerusalem in die babylonische Gefangenschaft weggeführt, womit das Reich Juda endete. ⇔ Mit den Worten et dominum nova monstra creasse | in terra ändert Walter den ersten Teil von Jeremia 31, 22 (quia creavit Dominus novum super terram) ab und verleiht dem Text damit einen anderen Sinn. Gott hat nämlich nicht etwa neue abscheuliche Wesen auf der Erde geschaffen, sondern etwas völlig Neues, etwas bisher noch nie Dagewesenes, nämlich die mit den Worten mulier virum circundabit prophetisch formulierte Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria (vgl. Alex. IV, 260–261). Walter folgt damit immerhin im zweiten Teil des Satzes mit der Einbettung in die Voraussagen der großen Propheten über die Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria der im christlichen Mittelalter üblichen messianischen Deutung der Bibelstelle. Hesekiel; das geschlossene Tempeltor als Sinnbild der Jungfräulichkeit Marias (262–264) 262–264 Stansque Ezechiel post captam a gentibus urbem | se vidisse refert clausam per secula portam, | scilicet intactae designans virginis



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alvum: Nach der Eroberung von Jerusalem durch Nebukadnezar II. berichtete Hesekiel prophetisch von der Schließung des Tempeltores, dem Walter in einer interpretatio Christiana erläuternd hinzufügt, dass damit auf die jungfräuliche Geburt Jesu angespielt werde (vgl. Wulfram 2000, 252). Daniel und die siebzig Jahrwochen (265–266) 265–266 «Occidetur» ait Daniel «post septuaginta  | ebdomadas Christus.»: Walter bezieht sich auf Daniel 9, 24–27, wo dem letzten großen Propheten vom Engel Gabriel die Bedeutung der Weissagung Jeremias erläutert wurde. Walter geht wie manche Bibelexegeten der heutigen Zeit – für eine Diskussion über alternative Vorstellungen von Dispensionalisten, welche die letzte Jahrwoche in die Zukunft verlegen, ist hier nicht der richtige Ort – davon aus, dass die Kreuzigung Jesu nach insgesamt siebzig Siebenheiten (Jahrwochen) stattfand. Diese siebzig Jahrwochen wurden noch einmal in sieben, zweiundsechzig und eine Jahrwoche unterteilt. Ausgangspunkt für Walters Berechnung dürfte das durch den persischen König Artaxerxes 457 v. Chr. erlassene Dekret über den Wiederaufbau der von Nebukadnezar II. zerstörten Stadt Jerusalem sein. Innerhalb von sieben Jahrwochen – also nach 49 Jahren – wäre demzufolge Jerusalem dann wieder aufgebaut worden. Die im Anschluss daran folgenden zweiundsechzig Jahrwochen sollen eine Übergangsphase bis zum Kommen des Messias darstellen und machen insgesamt 434 Jahre aus. Zählt man diese ersten beiden Jahrwochen zusammen, werden daraus insgesamt 483 Jahre. Damit würde man sich im Jahre 26 n. Chr. befinden, in welchem sich Jesus im Jordan taufen ließ und von nun an als Gesalbter Gottes (Messias) betrachtet wurde. Die siebzigste und letzte Jahrwoche würde dieser Vorstellung zufolge dann das etwa dreieinhalb Jahre dauernde Wirken Jesu umfassen, auf das in der zweiten Hälfte der letzten Jahrwoche die Kreuzigung

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folgte. Damit wäre Jesus – wie von Walter angegeben – tatsächlich nach siebzig Jahrwochen ans Kreuz geschlagen worden. Die zwölf kleinen Propheten (266–267) 266–267 Vatum bissena secuntur  | nomina: Gemeint sind die im Zwölfprophetenbuch überlieferten Hosea, Amos, Micha, Joel, Obadja, Jona, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi. Rückkehr der Juden nach Jerusalem und Wiederaufbau des Tempels unter Cyrus; Zorobabel (268–270) 268–270 Ultima pars regnum Cyri populique regressum | sub duce Zorobabel habet. Hic reparatio templi  | pingitur: Cyrus gestattete den Juden die Rückkehr nach Jerusalem und den Wiederaufbau des Tempels. Zorobabel oder Serubbabel organisierte als Abkömmling der Dynastie Davids die Rückführung der Juden und leitete die Arbeiten am Tempel. Verstoßung der Vasti; Esther wird Königin; Hinrichtung des Haman (270–271) 270–271 Hystoria hic non pretermittitur Hester  | causaque mortis Aman stolidaeque superbia Vasti: Das in großen Teilen unhistorische Buch Esther spielt am Hof des Xerxes in Persien. Die persische Königin Vasti oder Waschti wurde von ihrem Ehemann verstoßen, weil sie sich geweigert hatte, bei einem Trinkgelage zu erscheinen. Xerxes wählte die schöne Jüdin Hadassa zur neuen Königin, die auf den Rat ihres Vetters Mordechai ihre Herkunft verheimlichte



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und sich Esther nannte. Da der höchste Regierungsbeamte Haman Xerxes’ Ermordung plante und Mordechai zufällig davon erfahren hatte, kam es schließlich zur Hinrichtung Hamans. Der unerschütterliche Glaube des Tobias (272) 272 Hic sedet in tenebris privatus luce Tobias: Obwohl König Sanherib von Assyrien dem alten Tobias die Bestattung von Hingerichteten verboten hatte, widersetzte er sich dieser Anordnung, weil er der Meinung war, Gott mehr fürchten zu müssen als den König. Tobias wird in der Bibel damit als Beispiel unerschütterlichen Gottvertrauens beschrieben, der auch dann, als er durch den Kot einer Schwalbe erblindete, nicht an Gott zu zweifeln begann. Judith tötet Holofernes (273) 273 in castrisque necat Holofernem mascula Iudith: Der assyrische Feldherr Holofernes, der als General des babylonischen Königs Nebukadnezar II. die Staaten zwischen Mittelmeer und Rotem Meer unterwerfen sollte, wurde von der ebenso schönen wie mutigen Judith betört und nach einigen Bechern Wein schließlich von ihr geköpft. Esra und der Wiederaufbau des Tempels (274) 274 totaque picturae series finitur in Esdra: Das Buch Esra bildet zusammen mit dem Buch Nehemia eine Einheit, sowohl in der hebräischen Überlieferung als auch in der griechischen Septuaginta. Die heute übliche Trennung beider Bücher geht auf die lateinische Vulgata zurück. Walter nennt keine konkrete Szene, dürfte sich aber

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in erster Linie auf den im Buch Esra beschriebenen Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem beziehen (vgl. Komm. IV, 268–270). ⇔ Damit endet die Beschreibung von Stateiras Grabmal. Alexanders Schnelligkeit und kluge Planung (275–279) 275–279 Magnus … festinus castra moveri | imperat et rapido cursu bachatur in hostem | et Menidan … explorare iubet ubi rex Persaeque laterent: Nach der ausführlichen Beschreibung von Stateiras Grabmal, bei der die Handlung beinahe zum Erliegen gekommen war, nimmt das Epos mit der bewusst in Szene gesetzten Schnelligkeit Alexanders zwischen dem Abbruch des Lagers und der offensiven Bewegung gegen den persischen Feind wieder Fahrt auf (zu Alexanders Schnelligkeit vgl. Komm. II, 91–102). Bei aller Dynamik bleibt Alexander von der Vernunft geleitet und schickt mit Menidas einen Späher voraus, um mögliche Hinterhalte auszuschließen (zu Alexanders kluger Planung vgl. Komm. IV, 526–546). Szenenwechsel: Vorbereitungen im Lager des Darius (280–284) 280–284 Quo procul inspecto Mazeus … At Darius … instaurat bellis acies, cuneosque pererrans | pectora tam monitis honerat quam pre­ struit armis: Walter wechselt den Schauplatz und nimmt das persische Lager in den Blick. Mazaeus entdeckt Alexanders Späher und berichtet seinem König über die feindlichen Aktivitäten. Darius erkennt die Situation und bereitet seine Männer auf den Waffengang vor. Indem er sie ermahnt und ermutigt, kommt er in idealer Weise den Anweisungen der Aristoteles-Rede über das motivierende Verhalten eines Feldherrn vor der Schlacht nach (vgl. Komm. I, 118–127). ⇔ Diese positive Darstellung des persischen Königs ist ein erneuter Beleg dafür, dass Walter diesem jenseits der vergleichenden



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Charakterisierung mit Alexander die Tugenden eines mutigen und planvoll agierenden Feldherrn und Königs nicht grundsätzlich abspricht (vgl. Komm. II, 272–305). Griechen und Perser lagern in Sichtweite zueinander (285–300) 285–300 Iam loca Pelleus castris elegerat … ventorum facili inpulsu per inane dracones … tremuloque genu vix sustinet Athlas | perpetuum pondus. Rursus nova bella Gygantum | orta putans, replicat iteratos Echo boatus … incussoque gradu raperetur in hostem: Alexander wählt einen Platz für das Lager in unmittelbarer Nähe seines persischen Gegners. Die Griechen können nun das gewaltige Aufgebot der Perser mit eigenen Augen sehen. Einen besonderen Eindruck auf die Griechen machen dabei die Drachenstandarten, ein bei asiatischen Steppenvölkern wie den Sarmaten, aber auch bei den Persern verbreitetes Feldzeichen, das von den draconarii mit in die Schlacht geführt wurde. Durch das mit einem Metallring geöffnete Maul des Drachen konnte der Wind in einen länglichen Windsack eindringen und optisch dabei die Wirkung eines sich schlängelnden Drachens hervorrufen. Abgesehen von diesen optischen Eindrücken belebt Walter seine Beschreibung beider Heere zudem mit akustischen Eindrücken und versetzt den Leser damit in die Lage, die gewaltigen Dimensionen dieses Aufeinandertreffens besser zu begreifen. ⇔ Darüber hinaus setzt er mit Hilfe der Mythologie die Folgen dieses Aufruhrs der Völker in Szene, indem er berichtet, dass Atlas kaum noch in der Lage sei, die Welt auf seinen Schultern zu halten und man der Meinung sein könne, ein neuer Kampf der Giganten sei losgebrochen. Wie vor der Schlacht bei Issus bemüht Walter damit auch vor der letzten kriegerischen Auseinandersetzung bei Gaugamela erneut die typologische Verbindung der Perser mit dem Geschlecht der Giganten, um über die ebenso typologische Verbindung Alexanders mit Herkules – der Alkide hatte bekanntermaßen

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im Kampf gegen die Giganten entscheidend zum Sieg der olympischen Götter beigetragen – den aus heilsgeschichtlicher Perspektive vorherbestimmten Ausgang der Schlacht gedanklich vorwegzunehmen (vgl. Komm. II, 325–371; zur tropologischen Ebene der Ale­ xandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Abschließend betont Walter mit einer Reminiszenz an die von Ovid beschriebene Nymphe Echo ein weiteres Mal die akustischen Begleiterscheinungen des Truppenaufmarschs beider Heere (vgl. Komm. II, 486–493). Alexanders Entsetzen (301–327) 301–327 Sed quia iam fessus emenso Cinthius orbe | obtenebrans fa­ ciem ne funera tanta videret, | emerito mergi certabat in equore curru … Que cuncta viro, si credere fas est, | incussere metum … Non alio Ti­ phis curarum fluctuat estu … Non secus, ut vidit tot milibus arva pre­ mentes | barbaricos instare globos, iam credere fas est | magnanimum timuisse ducem: Um die Schlacht bei Gaugamela semantisch aufzuladen, inszeniert Walter zu Beginn dieses Abschnitts in einer antiken Vorbildern nachempfundenen Szene den Sonnengott Phoebus als mitempfindende Gottheit, die vom irdischen Geschehen unmittelbar berührt wird (vgl. Zwierlein 2004, 660). Der Sonnengott, der seine tägliche Bahn bereits durchmessen hat, übereilt sich, mit seinem Sonnenwagen im Meer zu versinken, um ein so großes Sterben nicht miterleben zu müssen (vgl. Alex. IV, 302: obtenebrans faciem ne funera tanta videret). ⇔ Der von Walter inszenierte beschleunigte Untergang der Sonne am Abend findet seine Entsprechung bei Lucan, wo die Sonne am Morgen der Schlacht bei Pharsalus ihren Aufgang zu verzögern versucht und ihr Antlitz hinter Wolken verbirgt, um das Geschehen nicht – wie Walter benutzt auch Lucan in seiner Darstellung einen verneinten Finalsatz – sozusagen mit eigenen Augen miterleben zu müssen (vgl. Luc. Phars. VII, 6:



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ne Thessalico purus luceret in orbe; vgl. auch Komm. VII, 1–16). ⇔ In einer Art visionären Trance beschleicht Alexander angesichts der enormen persischen Truppenverbände, die sogar im spärlichen Licht der Nacht noch glänzend hell erstrahlen, Angst vor der letzten großen Auseinandersetzung. ⇔ Diese auf den ersten Blick ungewöhnliche Reaktion Alexanders, der ansonsten vor keiner noch so gewaltigen Aufgabe zurückschreckt, wird erst verständlich, wenn man die Ratschläge näher betrachtet, die Aristoteles seinem damals jugendlichen Schüler in seiner Rede in bezug auf die Tugend der Tapferkeit erteilt hat (vgl. Komm. I, 116–143, v.a. 118–127). In diesem Kontext nämlich stellt die grundsätzlich vorhandene Affizierbarkeit des Feldherrn für das Gefühl der Angst im Gegenstandsbereich der Furcht bzw. des Mutes die unabdingbare Voraussetzung dafür dar, überhaupt ein der jeweiligen Situation angemessenes tapferes und damit tugendhaftes Verhalten an den Tag legen zu können. Von der Vernunft gesteuert wird dabei das Gefühl der Angst in die richtigen Bahnen gelenkt und sorgt dafür, dass der Feldherr von diesem Gefühl nicht übermannt wird und deshalb möglicherweise eine unkluge Entscheidung trifft und demzufolge vielleicht die Flucht ergreift (vgl. Gartner 2018, 54–60). Auf der anderen Seite verhindert dieselbe Affizierbarkeit des Feldherrn aber auch, dass er sich in unreflektierter Selbstüberschätzung und tollkühn ohne irgendeine Strategie auf den Feind stürzt. Insofern entspricht Alexanders Verhalten in Anbetracht der gewaltigen persischen Truppenverbände und der damit objektiv betrachtet vorhandenen Bedrohungslage durchaus den Anforderungen der aristotelischen Tugendlehre und kann damit nicht als feiges Verhalten bezeichnet werden. ⇔ Walter erweitert die Szene, indem er Alexander mit einem Steuermann vergleicht, der durch einen plötzlich aufziehenden Sturm beunruhigt wird, eilig Vorkehrungen trifft und seine Gefährten für die notwendigen Arbeiten an Deck einspannt. Möglicherweise ist der Vergleich durch die Überfahrten Walters nach England inspiriert (vgl. Komm. VI, 370–383; vgl. auch Christensen 1905, 81).

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KOmmentar Versammlung der Generäle (327–349)

327–349 Vocat ergo quirites, | seu dubiae mentis quid agat seu verius ut sic | experiatur eos que sint tractanda requirens … Hos inter Polipercon nocte fruendum | asserit et positum Grais in nocte tryumphum: Alexander beruft eine Versammlung mit seinen Generälen ein, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Indem sich Alexander mit seinen engsten Vertrauten bespricht, steht das Streben nach einer von der Vernunft geleiteten Entscheidung – ganz im Sinne der aristotelische Tugendlehre – im Vordergrund. Walter geht sogar so weit, dass er es für wahrscheinlicher hält, dass Alexander – von Walter bezeichnenderweise als magnanimus dux angesprochen – schon unmittelbar nach seiner angsterfüllten Vision für sich bereits eine vernünftige Entscheidung getroffen hat und er seine Generäle eher einer Prüfung unterziehen möchte, als dass er tatsächlich ihrer Hilfe bedarf. ⇔ Mit einer Vielzahl teilweise durchaus nachvollziehbarer Argumente versucht Parmenion seinen König davon zu überzeugen, dass ein nächtlicher Angriff zu bevorzugen sei. Damit baut Walter den alten General ein weiteres Mal zum Gegenspieler Alexanders auf, der ein derartiges Vorgehen – wie im Folgenden noch zu sehen sein wird – aus spezifischen Gründen ablehnt (vgl. Komm. IV, 109–130). Polypercon, ein weiterer General Alexanders, vertritt wie Parmenion die Meinung, dass ein nächtlicher Angriff vorzuziehen sei. Polypercon dient damit sozusagen als Puffer zwischen Parmenion und Alexander, der seinen wichtigsten General mit seiner nun folgenden Antwort nicht schon wieder vor aller Augen demütigen will (vgl. Komm. IV, 131–141). Alexanders Verständnis wahren Ruhms (350–373) 350–373 Hunc rex intuitus … redit in tentoria miles: Alexander, der viel lieber am Tage in einer offenen Feldschlacht kämpfen will, kritisiert Parmenions Vorschlag scharf, da sein wichtigster General



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in seinen Augen mit List und Tücke vorzugehen gedenkt. ⇔ Die scharfe Reaktion ist damit zu erklären, dass mit Parmenions Vorschlag die für Alexander entscheidende Frage nach dem wahren Ruhm berührt ist (vgl. Komm. IV, 1–23). Nicht der Sieg als solcher ist dabei für den makedonischen König erstrebenswert, sondern nur ein tugendhaft errungener Sieg, da allein daraus wahrer Ruhm erwächst. Er würde sogar eine ehrenhafte Niederlage einem ruhmlosen Sieg vorziehen. Alexander geht es um das Urteil der Nachwelt, das nicht durch eine nächtliche, von Hinterlist und Betrug geprägte Schlacht getrübt werden darf. Die Stelle zeigt über die von antik-paganen Vorstellungen geprägte Haltung Alexanders hinaus exemplarisch das in der Alexandreis auch aus christlicher Perspektive gültige Verständnis von Ruhm, der dann als erstrebenswert und wahr anerkannt wird, wenn er einem dem christlichen Glauben entsprechenden höheren Zweck – im vorliegenden Fall der in den prophetischen Büchern der Bibel angekündigten Ablösung des medisch-persischen Reichs durch Alexander – zu dienen imstande ist (vgl. Komm. VI, 311–369; zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). Szenenwechsel: Letzte Vorbereitungen im Lager des Darius (374–390) 374–390 Econtra Darius Persas haut segnius armat  | premunit­ que suos ... Nullus eorum est | quem iubar ardoris non disputet esse piropum: In Erwartung eines nächtlichen Angriffs der Griechen versetzt Darius sein Heer in Alarmbereitschaft. ⇔ Damit stellt Walter den persischen König jenseits einer vergleichenden Charakterisierung mit Alexander erneut umtriebig und planvoll agierend dar (vgl. Komm. IV, 280–284). ⇔ Die Situation ist gespenstisch, da die strahlenden Rüstungen der Perser sogar das Dunkel der Nacht durchbrechen und die Geräusche der Pferde und der Soldaten sich zu vermischen scheinen.

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KOmmentar Das Eingreifen der Göttin Victoria (391–453) Alexanders Gedankengefängnis (391–400)

391–400 Invasit subitis concussum motibus ingens | agmen utrum­ que timor … insompnemque trahit, agitat dum talia, noctem, | nec capit angustum curarum milia pectus: Alexander kann in der Nacht vor der Schlacht bei Gaugamela keinen Schlaf finden und quält sich mit Gedanken über die beste taktische Ausrichtung für diese letzte große Auseinandersetzung. Darüber ist – wie im Folgenden noch zu sehen sein wird – Victoria äußerst beunruhigt und beauftragt den Schlafgott Somnus, ihrem Schützling zu Hilfe zu eilen. ⇔ Zuvor jedoch unterbricht Walter die eigentliche Erzählung mit einer ausführlichen Beschreibung des Palastes der allegorisch in Szene gesetzten Victoria mit ihren als Personifikationen gestalteten Geschwistern. Der Palast der Göttin Victoria (401–432) 401–432 Insula multifidi quam Tibridis alveus ambit | est ipso re­ verenda loco, que vendicat orbis | imperiique caput, quadris ubi freta columpnis  | stat sita sub clivo lunaris in aere motus  | regia reginae cuius Victoria nomen … et musica | circum instrumenta sonant nume­ ros aptante camena: Die ungewöhnliche Lokalisierung des Tempels der Victoria auf der Tiberinsel in Rom – einen Tempel der Siegesgöttin gab es in Rom seit 294 n. Chr. eigentlich am Clivus Victoriae auf dem Palatin – steht möglicherweise damit in Zusammenhang, dass Walter die Absicht verfolgt, eine Szene aus der Aeneis Vergils zu imitieren, in der Aeneas in der Nacht vor der Schlacht gegen die Rutuler ebenso wie Alexander von Sorgen gequält im Halbschlaf Anweisungen des römischen Flussgottes Tiberinus erhält, die ihn von seinen Grübeleien befreien und ihn in einen tiefen Schlaf sinken las-



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sen (vgl. Verg., Aen. VIII, 18–65; vgl. auch Zwierlein 2004, 658– 659). ⇔ Zugleich lässt sich hinter dieser geschickt inszenierten Imi­ tatio Walters aber auch ein aemulativer Ansatz vermuten, der darin besteht, die Schlacht bei Gaugamela in eschatologischer Hinsicht als das gegenüber dem Krieg gegen die Rutuler weltgeschichtlich sehr viel bedeutendere Ereignis herauszustellen (vgl. Komm. I, 502–538; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). ⇔ Möglicherweise steht darüber hinaus auch die Intention Walters im Raum, die Tiberinsel zusammen mit dem Tempel der Victoria und den darin auch negativ beschriebenen Gestalten wie der rastlosen Ambitio oder der barbarischen Pecunia stellvertretend für Rom als religiösen Mittelpunkt der mittelalterlichen Welt zu kennzeichnen und im Sinne eines zeitgenössischen Bezugs eine satirische Kritik an der römischen Kurie zu üben (vgl. Ratkowitsch 1996, 97–131, v.a. 124–131; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. auch Einleitung 8). ⇔ Ein klassisches Vorbild für die Beschreibung des Tempels selbst und der sich darin aufhaltenden Gestalten stellt etwa Vergils Unterweltsbeschreibung dar, in der verschiedene Personifikationen von Lastern zu finden sind (vgl. Verg., Aen. VI, 274–281). Beispielsweise haben in der Aeneis am Eingang zur Unterwelt die Gram (Luctus) und die rächenden Sorgen (Ultrices Curae) ihr Lager aufgeschlagen, während bei Walter die allzu geschäftige Mutter der Sorgen, die rastlose Ambitio, den Eingang zum Tempel bewacht (vgl. Alex. IV, 408–410). Aber auch Ovids Schilderung des Hauses der Fama, die Invektive gegen Rufinus bei Claudian oder die Thebais des Statius dürften mit ihren Schilderungen der personifizierten Laster für Walters Darstellung des Tempels der Göttin Victoria Pate gestanden haben (vgl. Zwierlein 2004, 657; vgl. Ov., Met. 12, 59–61; vgl. auch Claud., In Ruf. I, 27–40; vgl. auch Stat., Theb. 10, 84–92). ⇔ Die Personifikationen der letzten drei Gestalten bei Walter – Applausus, Favor und Risus – sind männlich und passen damit eigentlich nicht so recht zu den insgesamt als sorores bezeichneten Begleiterinnen der Göttin Victoria (vgl. Alex. IV, 427–430). Wie Streckenbach

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(1990) 227 bemerkt, hat der Autor der Glosse im Codex Vindobonensis dies offenbar als so störend empfunden, dass er die verschiedenen Gestalten in Schwestern und Brüder eingeteilt hat (vgl. Colker 1978, 425). Man kann diese Problematik im Deutschen aber auch – wie im vorliegenden Band geschehen – damit umgehen, indem man einfach von Geschwistern spricht. ⇔ Ungewöhnlich ist zugegebenermaßen auch, dass eben diese Schmeichler der eigentlich unsterblichen Göttin Victoria ein langes Leben wünschen (vgl. Alex. IV, 430–431). Ratkowitsch (1996) 129 wertet dies nachvollziehbar als Beleg dafür, dass die Göttin Victoria in ihrem Palast im Sinne eines zeitgenössischen Bezugs den Papst in seinem Prunk symbolisiert und Walter damit ein weiteres Mal die päpstliche Kurie in Rom kritisieren möchte (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Victoria und Somnus (433–453) 433–453 Hec ubi tot curas volventem pectore Magnum  | vidit … emicat extimplo … antra Quietis adit et desidis atria Sompni, atque ita: «Surge pater, Macedumque illabere regi  | dum iacet, et curis animum corpusque relaxa.» … sydera Plaustri  | ethereosque celer stimularet Lucifer ignes: In großer Eile begibt sich die Göttin Victoria zum Schlafgott Somnus, der in einem düsteren und vom Sonnenlicht abgeschirmten Palast lebt und bittet ihn inständig, ihrem Schützling doch in den Schlaf zu helfen. Somnus bricht daraufhin unverzüglich ins Lager der Griechen auf und lässt dort den makedonischen König in einen tiefen Schlaf sinken. ⇔ Auch dieses Motiv – das Aufsuchen des Schlafgottes durch eine andere Gottheit – hat Walter von antiken Vorbildern übernommen und für seine eigenen Zwecke umgestaltet. Während bei Ovid Iris auf Bitten von Juno den Schlafgott besuchen soll, um ihm den Auftrag zu erteilen, ein Traumbild in Gestalt des Ceyx zu Alcyone schicken, schläfert er bei



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Statius ebenfalls auf Bitten von Juno die thebanischen Wachen ein, damit die Argiver das thebanische Heer leichter besiegen können (vgl. Ov., Met. XI, 583–588; vgl. auch Stat., Theb. X, 84–92). Die von Walter verwendete Formulierung desidis atria Somni ist dabei eine wörtliche Übernahme aus Statius (vgl. Stat., Theb. X, 87: it vacuum in montem, qua desidis atria Somni). Das eindrucksvolle und von Walter benutzte Bild, nach dem sich der Schlafgott erst von sich selbst abschütteln muss, stammt ursprünglich von Ovid (vgl. Ov., Met. XI, 618–621). Die Auswirkungen des Schlafgottes auf die Sterne, die bei Walter bei der Berührung mit Somnus einschlafen und nicht mehr ihre gewohnten Bahnen ziehen, zeigen motivisch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schilderung bei Statius (vgl. Stat., Theb. X, 141–145: ceciderunt sidera caelo; vgl. auch Zwierlein 2004, 656–659). Unsicherheit im griechischen Lager (454–497) Alexander verschläft (454–471) 454–471 Et iam pestiferae ducens presagia lucis  | prodierat Tytan Nabatheis luridus undis … Ut corpora curent  | utque cibos sumant pronunciat ergo tribunis: Die göttliche Hilfe ist so erfolgreich, dass Alexander am nächsten Morgen verschläft und damit unter seinen Leuten eine gewisse Unsicherheit und Unruhe auslöst. Alle wundern sich darüber, dass ihr Anführer ausgerechnet am Tag der Entscheidung nicht wie üblich als erster auf den Beinen ist und schon die Vorbereitungen für die Schlacht trifft. Manche vermuten sogar, dass Alexander sich aus Furcht vor dem kommenden Tag im Dunkel seines Zelts verstecke und gar nicht mehr schlafe. ⇔ Mit den Worten fatali turbine betont Walter die Wichtigkeit dieses Moments und verweist damit gleichzeitig auf die Schicksalsspindel der Parzen, die im entscheidenden Moment des Perserkriegs – stilistisch

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durch ein gesperrtes Homoioteleuton und eine etymologische Figur hervorgehoben – mit dem Spinnrad ihrer Arbeit als Schicksalsgöttinnen nachgehen (vgl. Alex. IV, 461; vgl. auch Cat., carm. 64, 314: libratum tereti versabat turbine fusum; zur Rolle der Parzen bei Walter vgl. auch Komm. I, 5–8). ⇔ Parmenion versucht die Situation zu beruhigen und erteilt den Befehl, die Soldaten erst einmal essen zu lassen. Parmenion weckt Alexander (472–497) 472–497 Iamque movente gradus adversa parte necesse  | hiis erat exire. Stratum tunc denique regis | dux adiit … Ite parari | ut mos est: Alias replicabo licentius ista: Als Parmenion seinen König weit nach Sonnenaufgang wecken muss und er diesem die Frage stellt, ob ihm ausgerechnet am Tag der letzten Entscheidung die legendäre Entschlossenheit abhanden gekommen sei, lügt Alexander seinen General an und behauptet, dass er aus Furcht nur zu den Zeiten schlecht geschlafen habe, als Darius auf seinem Rückzug ins persische Kernland die Taktik der verbrannten Erde verfolgt hatte. Jetzt, da er dem persischen König von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe, gebe es nichts mehr, was er fürchte. ⇔ Da Alexander jedoch – wie die Schilderung von Alexanders Gemütszustand am Abend zuvor zeigt – sehr wohl wegen der anstehenden Schlacht nicht einschlafen konnte, stellt sich die Frage, aus welchem Grund er – plötzlich scheinbar unbeeindruckt vom persischen Truppenaufmarsch – nun den Befehl gibt, die Vorbereitungen für die Schlacht zu treffen. Eine plausible Erklärung für dieses möglicherweise als feige und unmoralisch misszuverstehende Verhalten Alexanders lässt sich nur aus den Anweisungen der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der Tapferkeit gewinnen. Dort erteilt der Philosoph dem jugendlichen Alexander nämlich den Rat, in einer für das Heer beängstigenden Situation motivierend auf seine Soldaten einzuwirken und



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als Feldherr ungeachtet möglicherweise vorhandener eigener Zweifel als Vorbild für andere selbstbewusst voranzugehen (vgl. Komm. I, 116–143, v.a. 123–127). Demzufolge ist Alexanders Verhalten nach aristotelischen Maßstäben durchaus als vernünftig und tapfer anzusehen, da er damit die bereits vorhandene Unsicherheit im Heer beseitigen und insofern mit besseren Siegeschancen in die Schlacht ziehen kann. Würde er im umgekehrten Fall Parmenion seine Befindlichkeit wahrheitsgemäß mitteilen, würde die ohnehin schon bestehende Unsicherheit im Heer noch verstärkt und die Schlacht wäre möglicherweise bereits verloren, bevor sie überhaupt begonnen hätte. Alexanders Rüstung (498–525) 498–525 Dixit et armari lituo precone Pelasgos | imperat. Ipse suis ap­ tat munimina membris. | Erea crure tenus serpens descendit ad imos | squama pedes … spes sana resuscitat egrum | agmen, et in vultu victo­ ria visa sedere: Die Schilderung über das Anlegen der Rüstung Alexanders ist von Curtius vorgeprägt, der den entsprechenden Vorgang mit nur wenigen Worten abhandelt. Zudem informiert er den Leser, dass Alexander diese nur selten anlege und dies vor der Schlacht bei Gaugamela auch eher auf Anraten seiner Freunde mache als aus Furcht, sich schutzlos der Gefahr auszusetzen (vgl. Curt., Hist. IV, 13, 25: munimento corporis sumpto). ⇔ Ganz anders Walters Darstellung, der diese Szene zu einer detailreichen Rüstungsbeschreibung ausweitet, die in ihrer Funktion die oben angesprochene, von Aristoteles eingeforderte Motivationskunst des makedonischen Königs aufnimmt und unterstreicht (vgl. Komm. IV, 472–497). Die durch die beeindruckende Rüstung hervorgerufene Ausstrahlung Alexanders, der sich zudem beherzt auf sein Pferd Bukephalus schwingt sowie dessen außerordentliche Entschlossenheit werden von Walter ebenso explizit angeführt, wie die beim Anblick ihres beeindru-

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ckenden Königs zurückkehrende Zuversicht und Siegesgewissheit seiner Soldaten. Was die Rüstung selbst betrifft, stellt Harich in einem interessanten Vergleich mit Plutarchs Alexanderbiographie heraus, dass der antike Autor ganz andere Rüstungsteile beschreibt als Walter, und zeigt damit auf, wie weit der mittelalterliche Autor mit Alexanders Verwandlung in einen geharnischten Ritter von der Vorstellungswelt des antiken Autors entfernt ist (vgl. Harich 1987, 154–156). Zudem hebt sie hervor, dass die Panzerung Alexanders im Unterschied zu den prunkvollen und selbst im nächtlichen Licht schillernden Waffen der Perser für das Auge wenig zu bieten hat. Damit kontrastiert Walter die zwar mit sinnlosem Reichtum gesegneten, aber eigentlich kampfunfähigen Perser mit dem inneren Reichtum des makedonischen Königs, dem es genügt, mit einer zweckmäßigen, aber weniger aufwendigen Rüstung in den Kampf zu ziehen (vgl. Komm. III, 4–10). Letzte Vorbereitungen Alexanders (526–546) 526–546 Ipse suis igitur distinguens partibus agmen … currus | fal­ catos … sed eos involvere telis … Neve repulsa dolis succumberet ardua virtus | omnibus ostendi iubet ostensumque caveri | suspectum de frau­ de locum: Mit seinen genauen Anweisungen erfüllt Alexander die in der Aristoteles-Rede mit den Worten metire oculis wiedergegebene Aufgabe, die Stärken des Feindes entsprechend einzuschätzen – gerade die an den Rädern mit scharfen Klingen versehenen Sichelwagen waren auf flachem Terrain wie bei Gaugamela eine durchaus ernstzunehmende Gefahr – und eine vernünftige Entscheidung zu treffen, dieser Gefahr zu begegnen (vgl. Komm. I, 116–143, v.a. 133). Ein persischer Überläufer berichtet den Griechen zudem von im Boden vergrabenen Fallen aus Metall, mit denen Darius das Kriegsglück auf seine Seite ziehen möchte. Das von Walter mit den Worten astu latenti und occulta ruina zum Ausdruck gebrachte hinterhälti-



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ge Verhalten des persischen Königs kontrastiert dabei eindrucksvoll Alexanders Bestreben, den Sieg in offener Feldschlacht ohne List und Tücke davonzutragen (vgl. Komm. IV, 350–373). Alexander lässt keinen Zweifel an seiner Handlungsschnelligkeit aufkommen, indem er den Überläufer bewachen lässt, damit dieser im griechischen Heer keine Gerüchte streuen kann. Gleichzeitig lässt er die Angaben des Mannes prüfen. ⇔ Walter stellt damit noch einmal kurz vor der Schlacht bei Gaugamela in einer bewusst gesetzten moralischen Bewertung die beiden Feldherrn kontrastierend gegenüber, indem er auf der einen Seite Darius mit den negativ konnotierten Begriffen arte | fretus Ulixea und dolis in Verbindung bringt, auf der anderen Seite Alexanders ardua virtus herausstellt (vgl. Alex. IV, 544–546). Alexanders Feldherrnrede vor der Schlacht bei Gaugamela (546–588) Alexander und das Schicksal (546–562) 546–562 Tum vero fluentes | precedens acies … et simul offerat orbem: Rückblickend auf die Schlachten am Granikus und bei Issus spricht Alexander in einer Rede an seine Soldaten vom Schicksal, das ihnen immer gewogen war und auch weiterhin gewogen sein wird (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; vgl. auch die Einführung zu Buch II). Auch in der Situation vor der Schlacht bei Gaugamela zeigt sich Alexanders innerste Überzeugung, grundsätzlich vom Schicksal begünstigt zu sein und demzufolge keinen Feind fürchten zu müssen. Seit der noch in Pella erhaltenen Vision, in der dem makedonischen König der jüdische Hohepriester erschienen war, und ihm die Eroberung des Perserreichs unter der Bedingung der Verschonung Jerusalems versprochen hatte, gibt es weder aus Alexanders Sicht noch aus der Perspektive des christlichen Autors

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irgendeinen substanziellen Zweifel daran, dass auch diese letzte große Schlacht – gleichbedeutend mit dem Sieg über das Perserreich – für die griechische Seite erfolgreich enden wird (vgl. Komm. I, 493–538). Alexanders Ruhm (563–578) 563–578 Tanto pluris erit nobis victoria, quanto  | a paucis partam de pluribus esse liquebit … Qui mecum vincere curas, | participem me laudis habes, tibi cetera tolle: Alexander münzt die durch die enorme Truppenstärke der Perser bei seinen Soldaten vorhandene Unsicherheit in einen Vorteil um, indem er ihnen vor Augen führt, dass der Sieg eines kleineren Heeres über ein größeres Heer auch größeren Ruhm zur Folge hat. ⇔ Das Motiv war bereits im Prooemium angeklungen und findet auch an der für die Alexandreis zentralen Stelle am Ende von Buch V noch einmal Verwendung, wo Walter diesen Aspekt der zahlenmäßigen Unterlegenheit ebenso mit der Tugend der Tapferkeit in Verbindung bringt (vgl. Alex. I, 2–3: quo milite Porum | vicerit et Darium; vgl. dazu auch Alex. V, 500–502: si fide recolas quam raro milite contra | victores mundi tenero sub flore iu­ ventae | quanta sit aggressus Macedo). ⇔ Indem Alexander die glänzenden Waffen der Perser erwähnt, die sogar dem strahlenden Glanz der Sonne Konkurrenz machen, brandmarkt Walter damit erneut die Prunksucht der Perser (vgl. Komm. II, 388–407). ⇔ Mit dem Ausblick auf die Beute ist Alexander nicht nur in der Lage, seine Soldaten zu motivieren, sondern gibt damit auch ein beeindruckendes Beispiel seiner angemessenen Gebefreudigkeit, indem er verkündet, von den persischen Schätzen selbst nichts zu begehren, sondern lediglich den Ruhm der gewonnenen Schlacht für sich beanspruchen will (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit angemes­ sener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I; zu Alexanders



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Verständnis wahren Ruhms vgl. Komm. IV, 350–373; vgl. auch die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). Auch mit diesem Verhalten erfüllt Alexander eine zentrale Vorgabe der aristotelischen Tugendlehre (vgl. Komm. III, 215–220). Alexanders Tapferkeit (579–588) 579–588 Exemplar virtutis habe … Alexandrum … primus in ag­ mine primo  | rex apparuerit … Exemplo moveat fortes … exhibeat quicunque regit: Am Ende seiner mitreißenden Rede stellt sich Alexander selbst als Beispiel eines tapferen Feldherrn dar, der stets in vorderster Front kämpft – stilistisch mit einem gesperrten Polyptoton hervorgehoben – und damit stets seiner Vorbildfunktion gerecht wird. ⇔ Damit rückt Walter, wie mit den Worten precedens acies bereits angedeutet wird, unmittelbar vor Beginn der Schlacht mit der Tugend der Tapferkeit noch einmal die wichtigste Tugend eines Feldherrn in den Mittelpunkt und bringt sie in Verbindung mit seinem wichtigsten Protagonisten (vgl. Alex. IV, 547; vgl. auch Komm. I, 116–143, v.a. 128: Hostibus ante alios primus fugientibus insta). Die Schlacht beginnt (588–593) 588–593 Sic fatur, et ecce | concurrunt acies. It tantus ad ethera cla­ mor … in Chaos antiquum rediviva lite relabens | machina corrueret, rerum compage soluta … concussa darent elementa fragorem: Walter verdeutlicht die gewaltigen Ausmaße und die weltgeschichtliche Bedeutung der Schlacht mit einer Anleihe aus der Mythologie, nach der die Welt wieder in ihr altes Chaos zu versinken drohe, ihr Gefüge sich aufzulösen scheine und die Elemente – in ihren Urzustand zurückkehrend – wieder zerrüttet würden. Darüber hinaus gibt Walter mit den Worten rediviva lite einen unscheinbaren Hinweis

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auf einen sozusagen in umgekehrter zeitlicher Abfolge noch einmal aufflammenden Kampf der riesenhaften Giganten – Symbol für den Aufstand der chaotischen und ungesetzlichen Kräfte – gegen die olympischen Götter. ⇔ Stellt man in Rechnung, dass Walter in der Alexandreis die Perser typologisch schon mehrfach mit dem Geschlecht der Giganten in Verbindung gebracht hat, stilisiert er damit auch die letzte große Schlacht bei Gaugamela zu einer Auseinandersetzung zwischen den das Recht und die Ordnung repräsentierenden Griechen und den Persern, die für das Unrecht und die Unordnung stehen (vgl. Komm. II, 325–371, v.a. 349–350; vgl. auch Komm. II, 494–529, v.a. 498–501; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).

Einführung zu Buch V Bevor Walter in Buch V mit der ausführlichen Darstellung des Schlachtgeschehens bei Gaugamela beginnt, rückt er zu Beginn mit zwei heilsgeschichtlich bedeutsamen Hinweisen zum konkreten Zeitpunkt der Schlacht noch einmal den für die Griechen günstigen Ausgang der letzten großen Auseinandersetzung ins Blickfeld des Lesers. Zum einen macht er diesen Umstand mit der astronomischen Bezugnahme auf die Jupitersöhne Castor und Pollux und die Schlacht der Giganten gegen die olympischen Götter und die damit einhergehende typologische Verbindung Alexanders mit Herkules deutlich, zum anderen betont er diesen Sachverhalt mit der expliziten Erwähnung der Danielprophetie und der damit in Verbindung stehenden biblischen Zeitrechnung (vgl. Komm. V, 1–10; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; zur typologischen Verbindung Alexanders mit Herkules vgl. Komm. II, 319–371). Auch über die Darstellung Alexanders als ferreus malleus, der als eiserner Hammer die feindlichen Linien der Perser zerschlägt – die Bezugnahme auf die Inschrift des Darius-Grabmals ist in diesem Zusammenhang evident –, oder mit der erneuten Bezugnahme auf die Giganten beim Kampf Alexanders gegen den Riesen Geon hebt Walter auch während des Schlachtgeschehens die heilsgeschichtliche Dimension im Wirken seines wichtigsten Protagonisten mehrfach hervor (vgl. Komm. V, 26–31; vgl. Alex. VII, 421–424: Et quia non latuit sen­ sus Danielis Apellem, | aurea signavit epigrammate marmora tali: | «Hic situs est typicus aries, duo cornua cuius | fregit Alexander, totius malleus orbis; vgl. Komm. V, 38–75). Darüber hinaus streicht der Autor der Alexandreis auch im Kontext der Schlacht bei Gaugamela die herausragende Tugendhaftigkeit seines wichtigsten Protagonisten heraus, der gleich zu Beginn

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des Aufeinandertreffens in einem initialen Zweikampf gegen den Perser Aristomenes seine Tapferkeit unter Beweis stellt und damit für seine Soldaten ein leuchtendes Vorbild abgibt (vgl. Komm. V, 11–25; zur Bedeutung eines initialen Zweikampfes vgl. auch Komm. III, 11–27; zur Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 116–143; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). In einem Gefecht gegen einen persischen Reitertrupp unterstreicht Walter die Vorbildfunktion Alexanders, indem dieser vor allen anderen den Kampf mit den Persern sucht und sogleich den gegnerischen Anführer tötet (vgl. Alex. V, 365–369; vgl. auch Komm. V, 350–375; zur Vorbildfunktion eines Feldherrn als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 128–132). Nach der siegreichen Schlacht bei Gaugamela verteilt Alexander die Beute an seine Soldaten und erfüllt damit auch die in der Aristoteles-Rede eingeforderte Tugend der angemessenen Gebefreu­ digkeit (vgl. Komm. V, 431–455; zur Tugend der angemessenen Gebe­ freudigkeit vgl. Komm. I, 144–151 bzw. 156–163; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch I). Ebenso verhält sich Alexander im Hinblick auf die Tugend der angemessenen Zürnkraft vorbildlich, indem er wegen der Kapitulation der Perser die Hauptstadt Babylon verschont (vgl. Komm. V, 431–455; zur Tugend der angemessenen Zürnkraft vgl. Komm. I, 115; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I). In Walters Schilderung verschiedener Zweikämpfe lassen sich zahlreiche intertextuelle Bezugnahmen auf antike Autoren feststellen, die über ihren imitativen Charakter hinaus auch das aemulative Anliegen des mittelalterlichen Autors zum Ausdruck bringen. Damit gelingt es Walter, entweder die Themensetzung innerhalb seiner Darstellung gegenüber den antiken Vorlagen nach seinen Vorstellungen zu variieren oder die Helden der antiken Epen in ein



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vergleichsweise schlechtes Licht zu rücken. So etwa macht Walter im Kontext von Clitus’ Kampf gegen den Perser Sanga und dessen Vater Mecha deutlich, dass beim Verlust der eigenen Kinder in der Schlacht nicht wie bei den antiken Vorbildern Vergil und Statius der Zorn das vorherrschende Gefühl darstellt, sondern der Schmerz (vgl. Komm. V, 76–122). Überdies betont Walter in seiner Schilderung des Zweikampfes zwischen Nicanor und dem Perser Rhemnon die Zielstrebigkeit und Entschlossenheit des griechischen Kämpfers kontrastierend zu Vergils Darstellung des wenig erfolgreichen Aeneas bei der Verfolgung des Turnus oder des nur wenig erfolgreicher als Aeneas agierenden Tydeus bei dessen Kampf gegen Eteocles (vgl. Komm. V, 145–165 bzw. 166–182; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Ohne Zweifel ist bei derartigen intertextuellen Kontrastimitationen auch Walters Selbstverständnis als Dichter berührt, der dem Leser bedeuten möchte, dass nicht nur die antiken Helden hinter den Protagonisten seines carmen heroicum zurückzustehen haben, sondern dem Autor der Alexandreis auch der Vorrang vor den antiken Dichtern gebührt (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6). Zu den bemerkenswerten Episoden in Buch V gehört auch das Eingreifen der Götter Mars und dessen Schwester Bellona, die dem makedonischen König den Auftrag erteilen, die Verfolgung des Darius aufzugeben, da dem persischen König vom Schicksal bestimmt sei, durch die Hand seiner eigenen Männer zu fallen, und er besser Parmenion zu Hilfe eilen solle, da sich dieser auf dem anderen Heeresflügel im Kampf gegen den tapferen Perser Mazaeus in großen Schwierigkeiten befinde (vgl. Komm. V, 205–255; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Da sich Alexander trotzig weigert, dem göttlichen Auftrag nachzukommen, scheint auch diese Episode eine in aemulativer Absicht inszenierte Kontrastimitation zu sein, mit der Walter die

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Willfährigkeit des vergilischen Aeneas gegenüber göttlichen Mächten – zu denken ist dabei etwa an die Dido-Episode im vierten Buch der Aeneis, in welchem der trojanische Held auf Merkurs Geheiß die karthagische Königin verlässt und gehorsam die Küsten Italiens anstrebt – als weniger heldenhaftes Verhalten kritisieren möchte (zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Nach dem Sieg bei Gaugamela zieht Alexander nach Babylon, wo ihm der Perser Mazaeus in Anerkennung der persischen Niederlage die Tore der prunkvollen Stadt öffnet und ihm einen triumphalen Empfang bereitet (vgl. Komm. V, 456–490). Bisweilen wurde diese inhaltlich und sprachlich an die Evangelienberichte angelehnte Beschreibung der persischen Hauptstadt in der modernen Forschung als eine blasphemische Angleichung Alexanders an Christus und damit einhergehend als moralische Kritik Walters an Alexander und seiner Hybris verstanden (vgl. Ratkowitsch 1996, 122). Dieser These muss jedoch mit aller Entschiedenheit widersprochen werden, da die zweifelsohne vorhandenen und von Ratkowitsch durchaus richtig erkannten Parallelen zu den Evangelienberichten gar nicht an die Adresse Alexanders gerichtet sind, sondern vielmehr das moralisch depravierte Babylon in seiner unbelehrbaren Blindheit zur Umkehr bewegen sollen. Deutlich differenzierter in den Kategorien ihres Urteils ist die diesbezügliche Einschätzung Wieners, die den Sachverhalt wie folgt beschreibt: Von Hybris oder von moralischer Depravation ist an diesem Punkt bei Alexander keine Rede! Die Parallelen zwischen Babylon, das für Alexander Stätte des Triumphs und seines Todes ist, und Jerusalem, das Christus den triumphalen Empfang und den Tod bereitet, können nicht moralisch als Hybrisvorwurf gegen den angemaßten Weltenherrscher Alexander ausgelegt werden, weil Walters Text dazu keinen einzigen Anhaltspunkt bietet, viel-



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mehr die Übereinstimmungen positiv und als Erfüllung heiliger Prophezeiung hervorhebt (vgl. Wiener 2001, 78; zum Hybris-Vorwurf an Alexander bezogen auf die gesamte Alexandreis vgl. Einleitung 7.2 und 7.4).

Dieser Befund findet seine Bestätigung auch in der Struktur der Darstellung des Perserkriegs, innerhalb derer Walter es abgesehen von einigen wenigen Vorverweisen auf die Zeit nach dem Perserkrieg vermeidet, eine auf die konkrete Situation der Erzählung bezogene moralische Kritik an seinem wichtigsten Protagonisten Alexander zum Ausdruck zu bringen (zur Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Den Abschluss von Buch V bildet eine für die gesamte Alexan­ dreis grundlegende Passage, in der sich Walter mit dem Hinweis auf die Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im Kampf gegen die Muslime über den eigentlichen Grund für die Abfassung seines Alexander-Epos äußert (vgl. Komm. V. 491–520; zur Stellung der zentralen Textstelle innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79; zur poetologischen Bedeutung der Stelle vgl. Einleitung 6).

Kommentar zu Buch V Themenübersicht (1–10) C 1–2 Quintus habet strages varias et funera caris | deplorata suis: Weite Teile des fünften Buchs schildern mit der Schlacht von Gaugamela die letzte der drei großen Schlachten im Krieg der Griechen gegen die Perser (vgl. Komm. V, 1–430). C 2–6 Victos apud Arbela Persas | consulit Arsamides, duro de tem­ pore tractans, | an pocius sit ei reparato robore latis | Medorum regnis rursus committere fatis. | Sed proceres herent: Nach der Niederlage in der Schlacht bei Gaugamela suchen die Perser ihr Heil in der Flucht. Daraufhin fragt Darius seine Generäle hinsichtlich des weiteren Vorgehens um Rat. Diese sind jedoch von der gerade erlittenen Niederlage so betroffen, dass sie nicht in der Lage sind, ihrem König einen konstruktiven Vorschlag zu unterbreiten. ⇔ Die Anfangsstellung von victos und die Verbindung mit den durch die Ortsangabe apud Arbela gesperrten Persae macht auch syntaktisch die Niederlage der Perser deutlich, die zudem durch das endbetonte fatis den von Walter beabsichtigten schicksalhaften Charakter annimmt (vgl. Komm. V, 376–421; vgl. auch Komm. V, 422–430; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). C 6–7 Ad donativa maniplos | convocat Eacides et donis vulnera cu­ rat: Nach der Schlacht bei Gaugamela verteilt Alexander entsprechend dem Forderungskatalog der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit die persischen Schätze an seine Soldaten, um damit einen Ausgleich für die in der Schlacht erlittenen Wunden zu schaffen (vgl. Komm. V, 431–455; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateini-



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schen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I; zur Tugend der angemessenen Gebefreudig­ keit vgl. auch Komm. I, 144–151 bzw. 156–163). C 8–10 Ecce vir illustris et non inglorius illa | precedente acie, stipatus prole virili,  | Mazeus regem Babilonis menibus infert: Walter hebt wie schon im Kontext der Schlacht bei Issus die herausragende Tap­ ferkeit des Persers Mazaeus hervor, der zur Freude Alexanders inzwischen eingesehen hat, dass weiterer Widerstand zwecklos ist und dem makedonischen König die Tore Babylons öffnet (vgl. Komm. V, 456–490). Die Schlacht bei Gaugamela (1–430) Der Zeitpunkt der Schlacht bei Gaugamela (1–10) 1–10 Lege Numae regis lata de mensibus olim  | quintus … mensis erat … gaudebant hospite Phebo | Ledei fratres … creditur et scripto Daniel mandasse latenti:  | Affuit a siccis veniens Aquilonibus hyr­ cus, | ultio divina, proles Philippica, Magnus: Mit dem astronomisch zu verstehenden Hinweis, dass sich die Sonne beim Aufeinandertreffen der beiden Könige im zodiakalen Sternbild der Zwillinge Castor und Pollux befindet, verlegt Walter den Beginn der Schlacht nach dem vom etruskischen König Numa (∼750–672 v. Chr.) auf zwölf Monate erweiterten Kalender in den Mai des Jahres 331 v. Chr. zurück, obwohl die Schlacht tatsächlich aller Wahrscheinlichkeit nach erst am 1. Oktober desselben Jahres stattgefunden hat (vgl. Christensen 1905, 104–105). Eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, aus welchem Grund Walter die Schlacht um mehrere Monate verlegt, blieb die moderne Forschung bisher schuldig. Eine mögliche Erklärung bietet der weitere Textverlauf, in welchem Walter nichts unversucht lässt, Alexanders Sieg in der Schlacht von

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Gaugamela durch verschiedene, geschickt platzierte Signale vorwegzunehmen, wie z.B. der mehrfach angesprochene positive Einfluss der Schicksalsgöttin Fortuna auf die Pläne des makedonischen Königs, aber auch die wiederholte Einbettung der Szenen in die christliche Heilsgeschichte (vgl. auch Komm. IV, 285–300). Insofern ist es naheliegend, dass Walter auch schon mit dem Auftakt zu Buch V in vergleichbarer Weise einen Hinweis auf den Sieg Alexanders bei Gaugamela geben möchte. Folgt man diesem Gedanken weiter, ließe sich die Verlegung der Schlacht mit der von Walter ins Spiel gebrachten astronomischen Konstellation in Verbindung bringen, nach der sich aufgrund der Präzession zur Zeit Alexanders die Sonne im Monat Mai im zodiakalen Sternbild der Zwillinge aufhielt. Da die Zwillinge Castor und Pollux in der Mythologie als die Söhne Jupiters gelten, wäre damit eine unmittelbare Verbindung zu den olympischen Göttern und sogar zum Göttervater Jupiter selbst hergestellt, die tatsächlich mit keinem anderen Tierkreiszeichen im Zodiakkreis zu verwirklichen wäre. Der Sieg der olympischen Götter in der Gigantenschlacht ist wiederum eng mit Herkules verknüpft, der seinerseits – wie schon mehrfach ausgeführt – in der Alexandreis typologisch betrachtet mit Alexander in Beziehung gesetzt wird (vgl. Komm. II, 319–371; vgl. auch Komm. II, 486–492). Nimmt man hinzu, dass der Sterndeuter Aristander während der Mondfinsternis am Vorabend der Schlacht bei Issus den griechischen Soldaten deutlich gemacht hatte, dass ausschließlich kosmische Ereignisse, die mit der Sonne zu tun haben, einen Einfluss auf das Schicksal der Griechen haben, könnte die Verlegung der Schlacht dahingehend gedeutet werden, dass in der epischen Inszenierung Walters diese für Alexander günstige astronomische Konstellation in ihrer astrologischen Ausdeutung einen geschickt platzierten Hinweis auf den für Alexander günstigen Ausgang der Schlacht von Gaugamela darstellt (vgl. Komm. III, 463–543). ⇔ Die hier entwickelte Argumentation lässt sich durch den Umstand stützen, dass ein derartiges Vorgehen Walters auch schon vor der Schlacht bei Issus zu beobachten war,



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als er mit dem Hinweis auf die überbordende Prunksucht der Perser die Feinde Alexanders auch dort schon vor der eigentlichen Schlacht im Voraus als Verlierer abgestempelt hatte (vgl. Komm. III, 4–10). Überdies werden die an dieser Stelle im antik-paganen Kontext auf den Monat bezogenen Angaben zum Zeitpunkt der letzten großen Schlacht im zweiten Teil des Abschnitts durch die biblischen Aussagen zum Jahr dieser Auseinandersetzung ergänzt. Denn insbesondere mit dem auf Alexander bezogenen hyrcus verweist Walter im Rahmen der Lehre von den vier Weltreichen auf die von Daniel prophezeite Ablösung des Perserreichs durch Alexander (zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Auch durch die Epithetisierung Alexanders mit den aus dem biblischen Kontext stammenden Begriffen wie ultio divina und luem Medis Persisque verdeutlicht Walter dem mittelalterlichen Leser, dass Alexanders Sieg über das Perserreich dem von Daniel prophezeiten göttlichen Heilsplan entspricht und demzufolge der Ausgang der letzten großen Schlacht bereits feststeht (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2). Alexander gegen Aristomenes (11–25) 11–25 Quem procul ut vidit galea flammante choruscum | Indus Aris­ tomenes … ultor Aristomenen et parcere nescius ensis | Acephalum red­ dit. «Nostra est victoria, nostra est!» | ingeminant Graii … quem duce Fortuna virtus infracta tuetur: Ebenso wie bereits in der Schilderung der Schlacht bei Issus wird auch das an der vorliegenden Stelle beschriebene Kampfgeschehen von Gaugamela antiken epischen Vorbildern folgend in eine Vielzahl von Einzelszenen aufgelöst (vgl. die Einführung zu Buch III). Wie in der damaligen Schlacht wird Alexander mit seinem hier dargestellten initialen Zweikampf gegen den

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Inder Aristomenes auch an dieser Stelle als Abbild des vergilischen Aeneas inszeniert, der im Kampf gegen die Italiker den hünenhaften Theron besiegt und damit eine für den Ausgang der Schlacht richtungsweisende und von den Seinen bejubelte Heldentat vollbringt (vgl. Komm. III, 11–27). Zudem gibt Walter mit dem stilistisch durch ein Hyperbaton hervorgehobenen Ausdruck ultor … ensis und dem sprachlich innerhalb dieser Sperrung stehenden persischen Kämpfer Aristomenes in Wiederaufnahme der Worte ultio divina aus dem Abschnitt zuvor einen weiteren nicht zu übersehenden Hinweis auf die innerhalb der christlichen Heilsgeschichte für Alexander vorgesehene Aufgabe (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Gleichzeitig gelingt es ihm mit den Worten ultor und ultio jedoch auch, die antikpagane Ebene in seine Darstellung miteinzubeziehen, die mit dem vonseiten der Griechen als Rachefeldzug propagierten Charakter des Perserfeldzugs in Zusammenhang steht. Weitere Gründe für den erstaunlichen Umstand, dass Alexander aus jeder noch so gefährlichen Situation in der Schlacht immer wieder siegreich hervorgeht, stellen für Walter die Führung durch die Schicksalsgöttin Fortuna und Alexanders ungebrochene Tugendhaftigkeit dar (vgl. Alex. V, 25). ⇔ Damit nimmt Walter zum wiederholten Mal genau jene antik-paganen göttlichen Kräfte sowie namentlich diejenigen Charaktereigenschaften des makedonischen Königs in den Blick, die seinem wichtigsten Protagonisten im bisherigen Verlauf des Perserkriegs – man denke nur an das unheilvolle Bad im Kydnus und die sich daran anschließende Behandlung durch seinen Leibarzt Philipp – zur Seite gestanden und ihn erst zu diesen besonderen Leistungen befähigt haben (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch die Einführung zu Buch II; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).



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Weitere Zweikämpfe Alexanders (26–31) 26–31 Ille per insertos invictus et inpiger enses … hic eques, ille pe­ des, Egyptius hic, Syrus ille: Mit der Darstellung eines unbesiegten und rastlosen makedonischen Königs, der als eiserner Hammer die feindlichen Linien zerschmettert, zeigt Walter wie schon zuvor den gerade im Kontext der letzten entscheidenden Schlacht in besonderer Weise in Szene gesetzten Zusammenhang zwischen Alexanders Wirken und der christlichen Heilsgeschichte auf (vgl. Alex. V, 28: ferreus armatos contundens malleus artus; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Dabei erinnert Walters Darstellung, die von zahlreichen christlich konnotierten Epitheta geprägt ist, an Hieronymus’ Worte im Kommentar zum Buch Daniel, wonach für Alexanders Erfolge weniger dessen Tapferkeit als vielmehr der Wille Gottes ausschlaggebend gewesen sei (vgl. Hier., Comm. in Dan. lib., VII, col. 530: Et potestas data est ei, non Alexandri fortitudinis, sed Domini voluntatis fuisse; zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Unter stilistischen Gesichtspunkten bedient sich Walter an der vorliegenden Stelle wie schon im Kontext der Schlacht bei Issus ein weiteres Mal der von Vergil und Statius her bekannten Figur der Regressio, indem er mit Eliphaz und Pharos nicht nur die Namen der von Alexander getöteten persischen Kämpfer nennt, sondern auch deren Abstammung, die von Alexander jeweils benutzte Waffe, deren Abteilung innerhalb des persischen Heeres und deren Herkunft erwähnt (vgl. Komm. III, 59–62). Philotas rächt Hesifilus und Laomedon (32–37) 32–37 Sicca prius sterilisque diu iam flumine fusi … Enos quia fude­ rat ense | Hesifilum, Caynan quia Laomedonta securi: Die Schlacht

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tobt und auf beiden Seiten sind Verluste zu beklagen. Walter unterstreicht den hohen Blutzoll in dieser Schlacht mit einem Bild, nach dem der völlig vertrocknete und unfruchtbare Boden des Schlachtfelds nun durch das Blut der Gefallenen durchfeuchtet wird. ⇔ Philotas rächt sich für die Ermordung des Hesifilus und des Laomedon an den Persern Enos und Caynan. Alexander gegen den Riesen Geon (38–75) 38–75 Ibat Alexandro vulnus letale daturus,  | si sineret Fortuna, Geon … ne deroget ultra | caelicolis … quantus ubi annosam sed adhuc radice superbam | montibus evellit Boreae violentia quercum … pecto­ ra vulneribus Acherontis ad antra remittunt: Der mütterlicherseits von den Giganten und väterlicherseits von einem schwarzen Äthiopier abstammende Geon schlägt sich mordend durch die Reihen der Griechen und versucht bis zu Alexander vorzudringen, um mit diesem endlich den Zweikampf aufnehmen zu können. ⇔ Walter hebt in seiner Beschreibung insbesondere den riesenhaften Körper des Geon und dessen schwarze Hautfarbe hervor, die in erster Linie das für ihn furchterregende Erscheinungsbild des Mannes ausmachen. Mit der kurzen Bemerkung si sineret Fortuna macht Walter jedoch gleich zu Beginn seiner diesbezüglichen Darstellung deutlich, dass auch die körperliche Überlegenheit des aufseiten der Perser stehenden Kämpfers nicht dazu führen wird, dass der unter dem Schutz der Schicksalsgöttin stehende Alexander – wie schon im Kampf gegen Aristomenes zuvor – als Verlierer aus diesem Zweikampf hervorgehen wird (vgl. Alex. V, 39; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch die Einführung zu Buch II). Auch mit dem von Geon selbst vorgebrachten Hinweis, dass sein Kampf gegen Alexander eine Wiederauflage des Ansturms der Giganten auf die olympischen Götter sei, wird von Walter der für den makedonischen König positive Ausgang der krie-



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gerischen Auseinandersetzung durch die in der Alexandreis angelegte und immer wieder in Szene gesetzte typologische Verbindung Alexanders mit Herkules bzw. der Perser mit den Giganten bereits implizit vorweggenommen (vgl. Komm. II, 319–371; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Nachdem Geon mehr als fünfzehn Griechen mit seiner dreiknotigen Keule niedergestreckt hat – nach Zwierlein (2004) 646–647 eine Anleihe aus den Fasti des Ovid, in denen Herkules den riesigen Cacus mit einer ebenfalls dreiknotigen Keule mehrfach ins Gesicht schlägt –, steht er schließlich vor Alexander und fordert ihn mit einer von großer Überheblichkeit geprägten Schmährede auf, sich ihm im Zweikampf zu stellen (vgl. Ov., Fast. I, 575–576: Occupat Alcides adductaque clava trinodis | ter qua­ ter adverso sedit in ora viri). ⇔ Der von Ovid geschilderte Kampf zwischen Herkules und dem Riesen Cacus ist für Walter möglicherweise auch deshalb ein besonders geeigneter Anknüpfungspunkt für seine eigene Darstellung, da mit dem Kampf gegen einen Riesen – ganz unabhängig davon, wer von beiden die Keule schwingt – ein weiterer typologischer Bezug zwischen Herkules und Alexander hergestellt werden kann, der dem aufmerksamen mittelalterlichen Leser den Sieg des makedonischen Königs in diesem Zweikampf und in der Schlacht von Gaugamela in Aussicht stellt (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Noch bevor Geon seine Schmährede beenden kann, schleudert Alexander seinen Wurfspieß auf seinen Gegner, nagelt diesem die Zunge am Gaumen fest und bringt ihn damit zum Schweigen. ⇔ Mit dieser Darstellung übernimmt Walter – wie Harich (1986) 120 darlegt – ganz allgemein das in antiken Epen häufig verarbeitete Motiv, nach welchem ein mit lästernden Worten in den Kampf schreitender Gegner durch ein Geschoss im wahrsten Sinne des Wortes zum Schweigen gebracht wird, um – wie Walter mit den Worten ne deroget ultra caelicolis formuliert – nicht länger die Götter verunglimpfen zu können (vgl. Verg., Aen., X 322–323:

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Ecce Pharo, voces dum iactat inertes | intorquens iaculum clamanti sistit in ore). Zwierlein (2004) 645–646 meint das von Walter verwendete Bild ganz konkret auf die Psychomachia des spätantiken Dichters Prudentius zurückführen zu können, in der die personifizierte Fides die blasphemischen Worte der Discordia verstummen lässt, indem sie ebenso wie Alexander die Zunge ihres Gegenübers durchbohrt. Auch hierbei scheint sich mit der Kontrastierung zwischen der positiv konnotierten und dann auf Alexander bezogenen Fides mit der negativ aufgeladenen und mit dem Gigantensproß Geon in Beziehung gesetzten Figur der Discordia eine für Walter willkommene Gelegenheit ergeben zu haben, den für Alexander positiven Ausgang dieses Zweikampfes über eine erneute typologische Bezugnahme vorwegzunehmen (vgl. Prud., Psych. 715–725; vgl. auch Komm. IV, 588–593; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Da sich Geon ungeachtet seiner schweren Verletzung noch immer auf den Beinen halten kann, reitet Alexander in vollem Galopp auf ihn zu und wirft ihn mit der Kraft seines Pferdes zu Boden. Die im Mythos als personifizierte Erde beschriebene Gaia reagiert als Mutter der Giganten auf die sich abzeichnende Niederlage Geons mit einem tosenden Wind, den Walter mit dem Nordwind vergleicht, der eine alte und allzu sehr auf ihre Wurzeln vertrauende Eiche – Walter charakterisiert den Baum dabei mit dem vielsagenden Attribut superbam – aus dem Boden reißt und den Berg hinabstürzen lässt (vgl. Alex. V, 70). ⇔ Harich (1986) 120 ist der Meinung, dass es sich dabei um ein abgewandeltes Zitat aus der Aeneis handelt, bei dem Vergil anstelle des auf quercum bezogenen superbam das Attribut validam verwendet (vgl. Verg., Aen., IV, 441–443: Ac velut annoso validam cum robore quercum | Alpini Boreae nunc hinc nunc flatibus illinc | cruere inter se certant). Mit dem auf diese Weise adaptierten Vergleich verweist Walter auf die im Forderungskatalog der Aristoteles-Rede im Gegenstandsbereich des Zorns ausgeführte Tugend der angemessenen Zürnkraft, die den von der Vernunft ge-



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leiteten Feldherrn in einer Situation wie dem Kampf gegen einen hochmütigen und mit großer Dreistigkeit auftretenden Gegner wie Geon keine andere Wahl lässt, als diesen zu töten (vgl. Komm. I, 115; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Alexanders Soldaten vollenden schließlich die Tötung des am Boden liegenden Riesen mit zahlreichen Schwertstößen. Clitus gegen Sanga und dessen Vater Mecha (76–122) 76–122 Parte furens alia Parthorum proterit agmen  | inclitus ille Clytus … tendit ad infernam natis comitantibus urbem: Walter wechselt auf die andere Seite des Schlachtgeschehens hinüber und rückt damit die kriegerische Leistung des Clitus in den Mittelpunkt der Betrachtung. ⇔ Dabei versäumt er es nicht – wie im Kontext der Schlacht bei Issus auf Parmenion bezogen –, auch hier auf die spätere Ermordung des Clitus durch Alexander hinzuweisen, der damit für seine im Perserkrieg erbrachten Leistungen ebenso wie Alexanders wichtigster General Parmenion keinen seinen Taten entsprechenden Lohn erhalten wird (vgl. Alex. V, 78–79; zu Parmenion vgl. Komm. III, 53–58). ⇔ Clitus hatte bereits einen der Söhne des Mecha niedergestreckt, bevor sich der zweite Sohn namens Sanga dafür erfolglos zu rächen versucht und ebenso von Clitus getötet wird (vgl. Alex. V, 80–93). ⇔ Wie Zwierlein (2004) 647–648 feststellt – allerdings ohne nach der hinter der imitativen Übernahme liegenden Intention zu fragen –, arbeitet Walter an dieser Stelle zwei Szenen aus der Pharsalia Lucans und der Aeneis Vergils ineinander und verknüpft diese zusätzlich mit Versen aus der Thebais des Statius und den Saturae des Juvenal. Doch stellt diese Übernahme antiker Vorbilder für Walter an der vorliegenden Stelle keinen Selbstzweck dar. Vielmehr geht es Walter übergeordnet darum, den durch den Tod der eigenen Kinder hervorgerufenen unsäglichen Schmerz eines Va-

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ters episch in Szene zu setzen. Von Lucan übernimmt er dabei die anfängliche Erstarrung des Vaters, der im Kontext der Belagerung von Massilia in einer Seeschlacht beim Anblick seines sterbenden Sohnes Argos ebenso wie Mecha in Walters Schilderung – von unsäglichem Schmerz übermannt – noch nicht einmal in der Lage ist, Tränen der Trauer zu vergießen (vgl. Luc., Phars. III, 733–735: Pervenit ad puppim spirantesque invenit artus. | Non lacrimae cecidere genis, non pectora tundit, | disentis toto riguit sed corpore palmis). Auch wenn im Unterschied zu Walters Darstellung der Schmerz in Lucans Versen an dieser Stelle noch keine explizite Erwähnung findet, wird er nur wenig später nachgereicht, indem der antike Dichter davon berichtet, dass sich der grausame Schmerz des Vaters noch steigert, als er aus seiner anfänglichen Erstarrung erwacht (vgl. Luc., Phars. III, 741–742: viresque cruentus | coepit habere dolor). Indem Walter für seine eigene Darstellung zudem die Verse Lucans mit entsprechenden Szenen aus der Aeneis und der Thebais miteinander verknüpft, ist der Autor der Alexandreis über die bloße Imitation hinaus in der Lage, seine Intention noch deutlicher herauszuarbeiten. Denn mit dem nach wie vor im Kontext unterdrückter Trauer verwendeten Verb sorbere lenkt Walter die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine vergleichbare Stelle bei Statius – dieser benutzt beinahe wortgleich das Verb resorbere –, in der Lykurg ebenso wie Mecha nicht in der Lage ist, Tränen über den Verlust des eigenen Sohnes zu vergießen (vgl. Stat., Theb. V, 654–655: lacrimasque insana resorbet | ira pa­ tris). In einer bemerkenswerten Kontrastimitation nennt Walter als Grund für die Unterdrückung der Tränen jedoch nicht wie seine antike Vorlage den Zorn, sondern ersetzt diesen in auffallender Weise durch das Gefühl des Schmerzes (vgl. Alex. V, 96–97: dolor intus obortas  | sorbuerat lacrimas; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Doch Walter geht noch einen Schritt weiter. Als Mecha schließlich aus seiner ersten Erstarrung herausfindet, verflucht er den Clitus und wünscht



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ihm, dass er ebenso wie er selbst einmal einen derartigen Verlust und den damit verbundenen Schmerz erleben möge. Dabei bildet Walter die Intensität dieses im Mittelpunkt seiner Darstellung stehenden Gefühls sprachlich und stilistisch dadurch ab, dass er den Schmerz mit der Formulierung quod doleo doleant von einem Polyptoton unterstützt gleich zweimal innerhalb eines einzigen Verses verwendet (vgl. Alex. V, 113–114: Parcarum vindice filo | quod doleo doleant et idem quod lugeo plangant). Auch dieser Szene der Alexan­ dreis liegt eine Kontrastimitation zugrunde, die auf eine Situation aus dem zweiten Buch der Aeneis verweist. Nachdem Polites von der Hand des Pyrrhus vor den Augen seines Vaters Priamus den Tod gefunden hat, hält dieser vergleichbar zu Walters Darstellung eine Rede, in der er den Mörder seines Sohnes verflucht. Indem Walter den bei Vergil als Beweggrund für die Rede des Priamus genannten Zorn ebenso wie bei der Übernahme der Stelle bei Statius ein weiteres Mal durch den Schmerz ersetzt, macht er dem Leser mit diesen jeweils nur geringfügigen Änderungen seine über den ganzen Abschnitt reichende Intention deutlich, den Schmerz des Mecha über den Verlust seiner Kinder – zumal gleichzeitig beide Söhne den Tod finden – als existentielle Erfahrung herauszustellen, die letztlich mit keinem anderen Leid der Welt zu vergleichen ist (vgl. Verg., Aen. II, 533–534: Hic Priamus, quamquam in media iam morte tenetur, | non tamen abstinuit nec voci iraeque pepercit). In dieselbe Richtung weist Walters imitative Übernahme einer Stelle aus einer Satire des Juvenal, die eine ironische Frage an eine als grausame Viper bezeichnete Mörderin ihrer beiden Kinder enthält, ob sie, – hätte sie sieben Kinder gehabt –, auch sieben Kinder vergiftet hätte (vgl. Iuv., Sat. VI, 641–642: Tune duos una, sevissima vipera, cena? | Tune duos? Sep­ tem, si septem forte fuissent). Indem Mecha den Mörder seiner Söhne imitativ mit beinahe denselben Worten anspricht, gelingt es Walter mit dem Hinweis auf dieses Verbrechen an den eigenen Kindern ein weiteres Mal, den unsäglichen Schmerz des persischen Vaters über den Tod seiner beiden Söhne in Szene zu setzen (vgl. Alex. V, 104–

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105: «Tune duos,» inquit «tortor sevissime, fratres, | tune duos ante ora patris mucrone vorasti). ⇔ Es ist davon auszugehen, dass Walter mit der an dieser Stelle eingesetzten Kontrastimitation auch einen aemulativen Ansatz gegenüber seinen antiken Vorbildern verfolgt, die in den Augen des mittelalterlichen Autors mit dem Zorn ein weniger bedeutendes Gefühl zur Grundlage ihrer Darstellung gemacht haben und demzufolge als weniger bedeutende Dichter hinter dem Autor der Alexandreis zurückzustehen haben (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6). ⇔ Ebenso wie Priamus in der Aeneis wirft Mecha nach seiner Rede seinen Speer kraftlos und ohne Wirkung zu erzielen, auf den Mörder seiner Söhne. Beide Väter werden anschließend von ihrem jeweiligen Kontrahenten getötet. Nicanor gegen Rhemnon (123–182) Das zähe Ringen der Truppen (123–144)

123–144 Iamque propinquabat … Primis arrisit subdola gestis  | eius et excepit blande Fortuna furentem … Rumpere fila manu non sufficit una sororum … unamque duae iuvere sorores: Walter wendet sich an dieser Stelle Nicanors Zweikampf gegen den aus Arabien stammenden Rhemnon zu und lässt mit der Bemerkung, dass Fortuna anfangs den griechischen Kämpfer noch unterstützt, den für Nicanor letztlich tödlichen Ausgang dieses Gefechts schon zu Beginn seiner Darstellung anklingen. Zuerst gelingt es Nicanor, sich in Richtung Darius vorzukämpfen, bis Rhemnon mit seinen Männern das weitere Vordringen der Griechen verhindern kann. Es kommt zu einem unbeschreiblichen Blutvergießen, was Walter mit der bitteren Feststellung unterstreicht, dass Atropos als eine der Parzen beim Durchschneiden der Lebensfäden Unterstützung von ihren Schwestern Clotho und Lachesis benötigt (zur Verwendung des Parzenmotivs in der Alexan­ dreis vgl. Komm. I, 5–8; vgl. auch die Einführung zu Buch I).



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Nicanor tötet Rhemnon (145–165)

145–165 Mixta plebe duces pereunt utrinque … emicuit numerosa cede Nicanor  | perque tot obiectos vestigat Remnona Persas … Uter­ que | cuspide pretenta superos agnovit in ictu | propitios, crudeque li­ cet pulsatus acerno | stipite, mansit eques tamen … et ventris latebras capulo tenus induit ensis: Obwohl es Nicanor mit seinen Männern gelingt, die von Rhemnon in die Schlacht geführten Perser zu töten, kann sich der persische Anführer der direkten Konfrontation mit Nicanor entziehen. In der vorliegenden Szene verfolgt Nicanor nun den fliehenden Perser, da er der Meinung ist, dass in diesem Gefecht überhaupt nichts erreicht sei, wenn der gegnerische Kompanieführer am Leben bleibe. Nicanor gelingt es schließlich, Rhemnon zu stellen und ihn im Zweikampf zu töten (vgl. Alex. V, 148–165). ⇔ Wie Zwierlein (2004), 634–635 anmerkt, hat Walter für seine Darstellung dieser Szene zwei Episoden aus der Aeneis Vergils und der Thebais des Statius miteinander verwoben. Allerdings äußert sich Zwierlein auch hier nicht zu der über das imitative Vorgehen hinausgehenden Intention Walters, die an dieser Stelle darin besteht, in einer subtil gestalteten dreifachen Klimax die erfolgreiche Verfolgung Rhemnons und dessen Tötung durch Nicanor und die dabei zum Ausdruck gebrachte Entschlossenheit und Zielstrebigkeit des griechischen Kämpfers kontrastierend zu seinen epischen Vorbildern in Szene zu setzen. In diesem Kontext verweist Walter mit dem Verb vestigare (vgl. Alex. V, 148) auf das zwölfte Buch der Aeneis, wo Aeneas dem Nicanor vergleichbar den Rutulerkönig Turnus verfolgt (vgl. Verg., Aen. XII, 464–467: Ipse neque aversos dignatur sternere morti | nec pede congressos aequo nec tela ferentis | insequitur: solum densa in caligine Turnum | vestigat lustrans, solum in certami­ na poscit; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Im Unterschied zu Nicanor jedoch ist Aeneas in der entsprechenden Szene nicht in der Lage,

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seinen Gegner zu stellen, sondern wird durch das Eingreifen der Göttin Iuturna, die ihren Bruder Turnus mit dem Streitwagen entführt, davon abgehalten, diesen im Zweikampf zu töten (vgl. Verg., Aen. XII, 477–480: medios Iuturna per hostis | fertur equis rapidoque volans obit omnia curru, | iamque hic germanum iamque hic ostentat ovantem | nec conferre manum patitur, volat avia longe). Auch Tydeus verfolgt dem Nicanor vergleichbar im achten Buch der Thebais seinen Gegner Eteocles und versucht diesen ebenso im Zweikampf zu stellen (vgl. Stat., Theb. VIII, 671–672: Hine super Thebis? Haec robora regis? Ubi autem | egregius dux ille mihi). Beide Kontrahenten setzen ihre Lanzen ein, diese verfehlen jedoch ihr jeweiliges Ziel, da Tydeus dem Geschoss ausweichen kann und Eteocles durch das Eingreifen der grausamen Erinys – also durch göttlichen Einfluss – überlebt (vgl. Stat., Theb. VIII, 680–687: Ille nihil contra, sed stridula cornus in hostem | it referens mandata ducis, quam provi­ dus heros | iam iam in fine viae percussam obliquat, et ipse | telum ingens avide et quanto non ante lacerto | impulit. Ibat atrox finem positura duello  | lancea (convertere oculos utrimque faventes  | Sido­ nii Graique dei), crudelis Erinys | obstat et infando differt Eteoclea fratri). Vom Glauben beseelt, von göttlichen Mächten unterstützt zu werden, werfen auch bei Walter beide Kämpfer ihren Speer, die sich ungeachtet einer als möglich beschriebenen Verwundung dennoch beide im Sattel ihrer Pferde halten können (vgl. Alex. V, 155–158: Uterque | cuspide pretenta superos agnovit in ictu | propitios, crudeque licet pulsatus acerno | stipite, mansit eques tamen). Während Tydeus im weiteren Verlauf des Zweikampfes keine Möglichkeit findet, seinem Gegner mit gezücktem Schwert im Nahkampf zuzusetzen, da Eteocles – von seinen Thebanern geschützt – zurückweicht und sich damit der Entscheidung entzieht, zerschlagen bei Walter die beiden Kontrahenten mit gezückten Schwertern den Helm ihres Gegners (vgl. Stat., Theb. VIII, 688–691: Ibi ingens | pugna virum, stricto nam saevior inruit ense  | Aetolus, retroque datum Thebana tegebant | arma ducem; vgl. auch Alex. V, 158–161: Hic vacuata pro­



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pinquum | vertitur ad capulum manus. Erea casside quassa | proflu­ vio rigat arva cruor, nec sustinet iras | mucronis clipeus). Da Nicanor den Perser Rhemnon nach schwerem Kampf schließlich zu töten vermag, gelingt ihm damit etwas, was den jeweiligen Protagonisten im antiken Epos – Aeneas gelingt es noch nicht einmal, einen direkten Kontakt zu Turnus herzustellen und auch Tydeus kann seinen Gegner nur mit dem Speer bewerfen, ohne ihn zu verwunden – verwehrt bleibt. (zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Komm. V, 205–255; vgl. auch Einleitung 3). ⇔ Zusammen mit Nicanors erfolgreich geführtem Zweikampf ergibt sich daraus die eingangs angesprochene Klimax, mit der Walter nicht nur die Zielstrebigkeit und Entschlossenheit des griechischen Kämpfers in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, sondern zugleich auch den Kampf bei Gaugamela als weltgeschichtlich betrachtet bedeutenderes Ereignis in Szene zu setzen versteht. Demzufolge begibt sich Walter auf poetologischer Ebene mit seiner subtil inszenierten Klimax in aemulativer Absicht auch in den dichterischen Wettstreit mit den von ihm kontrastiv verwendeten antiken Epikern. Im selben Maße nämlich, wie die in den antiken Epen beschriebenen Helden hinter Nicanor zurückzustehen haben, haben auch die antiken Epiker hinter dem Autor der Alexandreis zurückzustehen (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Nicanors Tod (166–182)

166–182 Extimplo turbati Arabes … Obruitur primo iaculis. Strepit erea cassis | glandibus et saxis … mixtoque cruore | membra lavat su­ dor … mens infractaque virtus | et princeps animus capto sub pectore regnant … turbine fulmineo vicinas obruit edes: Eine weitere für das epische Geschehen typische Kampfszene, innerhalb derer sich ein einzelner Kämpfer einer feindlichen Übermacht gegenübersieht und sich dagegen zu wehren versucht, schildert Walter unmittelbar im Anschluss an die Darstellung von Rhemnons Tod. Nicanor wird

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plötzlich von hyrkanischen Reitern umzingelt, die ihn mit Speeren und einem Trommelfeuer aus Steinen und Felsbrocken so heftig beschießen, dass dessen Helm und Schild kaum noch in der Lage sind, die vielen Geschosse aufzuhalten. ⇔ Auch hier lässt Walter – wie Zwierlein (2004) 635–642 feststellt –, verschiedene Szenen aus der Aeneis, der Pharsalia und der Thebais ineinanderfließen. Allerdings stellt für Walter die Bezugnahme auf antike Vorbilder auch in der vorliegenden Szene keinen Selbstzweck dar. Vielmehr ist sie von der Absicht getragen, die herausragende Tapferkeit Nicanors, der nicht nur bis zum letzten Atemzug gegen die feindliche Übermacht ankämpft, sondern in diesem heroischen Abwehrkampf auch zahlreiche Perser mit in den Tod reißt, über eine geschickt inszenierte vierfache Klimax kontrastierend in Szene zu setzen und den makedonischen Kämpfer auch aemulativ von seinen antiken Vorlagen abzusetzen. Walter betont diesen zentralen Gesichtspunkt der Tapfer­ keit zudem mit einem Vergleich, demgemäß Nicanors Ende einem einstürzenden Turm gleicht, der wegen seiner enormen Größe in einer eng bebauten Stadt wie Rom noch zahlreiche benachbarte Häuser miteinstürzen lässt (vgl. Alex. V, 181–182). Auch Turnus wird in der Beschreibung Vergils von einem gewaltigen Geschosshagel der gegnerischen Übermacht eingedeckt, als er in das Lager der Teukrer eindringt. Anders als Nicanor jedoch ist er nicht in der Lage oder dazu bereit, den Kampf bis zum Ende zu führen, sondern zieht es vor, sich mit einem Sprung in den Tiber zu retten (vgl. Verg., Aen. IX, 806–816: Ergo nec clipeo iuvenis subsistere tantum | nec dex­ tra valet, iniectis sic undique telis | obruitur … Tum demum praeceps saltu sese omnibus armis | in fluvium dedit). In Lucans Schilderung wird Scaeva, der als Zenturio Caesars in der Schlacht von Dyrrhachium erfolgreich gegen eine ebensolche Übermacht der Truppen des Pompeius ankämpft, von so vielen Geschossen durchbohrt, dass nur dieser Wald aus Lanzen weitere Treffer verhindern kann (vgl. Luc., Phars. VI, 194–195: nec quidquam nudis vitalibus obstat  | iam praeter stantes in summis ossibus hastas). Als Caesars Soldaten



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endlich zu Hilfe eilen, bricht Scaeva ohnmächtig zusammen und kommt mit zahlreichen schweren Verletzungen nur knapp mit dem Leben davon. Scaevas heldenhafte Tat wird nur noch von Nicanor übertroffen, der sich trotz schwindender Kräfte nur noch durch seine Vernunft, seine ungebrochene Tapferkeit und seinen vornehmen Geist – mens infractaque virtus | et princeps animus – auf den Beinen halten kann, bis ihn schließlich der Tod ereilt (vgl. Alex. V, 175–176). ⇔ Damit inszeniert Walter Nicanors herausragende Tap­ ferkeit im Sinne einer Klimax kontrastierend zu seinen epischen Vorbildern Vergil und Lucan, indem er deutlich macht, dass Alexanders General in seiner Haltung zum Kampf den feige fliehenden Turnus bei weitem übertrifft, mit seinem heldenhaften Tod jedoch auch Caesars überlebenden Zenturio noch auszustechen vermag (zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). ⇔ Etwas anders liegen die Dinge hinsichtlich Walters Bezugnahme auf die Thebais des Statius. Dort findet Tydeus nach einem vergleichbaren Abwehrkampf schließlich ebenso wie Nicanor den Tod. Auch Tydeus’ Kampfesmut und Tapferkeit sind vorerst ungeachtet seiner schweren Verwundungen und seiner schwindenden Kräfte ungebrochen (vgl. Stat., Theb. VIII, 738– 741: odi artus fragilemque hunc corporis usum, | desertorem animi … nec me virtus suprema fefellit). Im Unterschied zu Nicanors Ende ist Tydeus’ Tod letztlich jedoch nicht das Ergebnis seiner auf der Tugend der Tapferkeit basierenden Standhaftigkeit, sondern die Folge eines persönlichen Fehlverhaltens. Athene hatte nämlich zuvor bereits bei Zeus erfolgreich Tydeus’ Unsterblichkeit erwirkt, tritt aber von diesem Vorhaben angewidert zurück, als ihr Schützling, schon vom Tod gezeichnet, nach dem noch zuckenden Haupt des Melanippos verlangt und vom Wahnsinn getrieben – erigitur Tydeus vultuque occurrit et amens – das Gehirn seines Feindes verzehrt (vgl. Stat., Theb. VIII, 751–766). Insbesondere die bei Walter mit den bereits zitierten Worten mens infractaque virtus | et princeps animus

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zum Ausdruck gebrachte geistige Klarheit und die von der Vernunft getragene moralische Überlegenheit Nicanors stehen dabei in auffälligem Kontrast zu Statius’ Darstellung, der mit dem Attribut amens Tydeus’ Verhalten eben gerade jenseits aller Vernunft als wahnsinnig beschreibt. Damit lässt sich folgerichtig auch Walters Bezugnahme auf Statius in die oben angesprochene Klimax einreihen, in der Tydeus mit seinem heldenhaften Kampf und seinem von ihm selbst in Kauf genommenen Tod zwar Turnus und Scaeva an Tapferkeit übertrifft, dem geistig gesunden und moralisch vorbildlichen Nicanor jedoch nachzustehen hat, da die näheren Umstände seines Todes ein schlechtes Licht auf seine moralische Integrität werfen (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Auch hier begibt sich Walter auf poetologischer Ebene wie im Abschnitt zuvor in aemulativer Absicht in den dichterischen Wettstreit mit den von ihm kontrastiv verwendeten antiken Epikern, die er über eine subtile Inszenierung der jeweiligen Protagonisten zu übertreffen sucht (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Hephaestio gegen Phidias (183–204) 183–204 Interea Macedum planctu pulsatus acerbo | advolat orba­ ta catulis truculentior ursa | diluvium mundi Macedo … Si cederet illi | gloria Martis, erat unde orta superbia … sed dispare fato … qua flammivomo rictu micat erea tigris … et eterno clauduntur lumina sompno: Vom Jammern seiner Gefolgsleute angetrieben, eilt Alexander unverzüglich herbei, um die durch Nicanors Tod eingetretene Gefahrenlage zu entschärfen. ⇔ Zwierlein (2004) 626 meint in diesem Zusammenhang Walters Formulierung, dass Alexander dabei grimmiger als eine ihrer Jungen beraubte Bärin vorgeht, mit zwei ineinandergefügten Stellen aus den Metamorphosen Ovids in Verbindung bringen zu können, ohne sich allerdings weiter über



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den Sinn einer derartigen Übernahme zu äußern (vgl. Ov., Met. XIII, 547: utque furit catulo lactente orbata leaena in Verbindung mit Met. XIII, 803: feta truculentior ursa). ⇔ Mit der Bezeichnung diluvium mundi nimmt Walter erneut Bezug auf die einer biblischen Sintflut gleichenden und sich über das Perserreich ergießenden Eroberungen Alexanders, mit denen sich die Prophezeiungen Daniels erfüllen (vgl. Alex. V, 185; vgl. auch Harich 1987, 234–235; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Alexanders energisches Vorpreschen ist von Erfolg gekrönt, zahlreiche Perser suchen ihr Heil in der Flucht. Einzig Memnons Sohn Phidias stellt sich ihm entgegen. ⇔ Mit den auf Phidias bezogenen Begriffen superbia und sed dispare fato macht Walter deutlich, dass dessen von Hochmut getragenen Absichten a priori zum Scheitern verurteilt sind und das Schicksal andere Pläne verfolgt (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Noch bevor er zu Alexander vordringen kann, wird er von Hephaestio getötet. Mit dem Hinweis, dass der enge Freund Alexanders den Schild seines Gegners ausgerechnet an derjenigen Stelle spaltet, an der ein glänzender bronzener Tiger mit flammenspeiendem Maul abgebildet ist, bemüht Walter zum wiederholten Mal das Motiv der prunksüchtigen Perser, die nur dem äußeren Anschein nach, nicht jedoch in der konkreten kriegerischen Auseinandersetzung eine echte Gefahr darstellen (vgl. Komm. IV, 498–525). Eine Götterbotschaft für Alexander (205–255) 205–255 At levo in cornu, cui nulli Marte secundus | Parmenio pree­ rat, discors Bellona furebat … eripiet Fortuna michi: Auch wenn die vorliegende Szene in ihren Grundzügen Curtius nachempfunden ist, der ebenso über Parmenions Bedrängnis auf dem linken Heeresflügel und Alexanders Enttäuschung über Darius’ Flucht berichtet,

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setzt Walter in der epischen Umsetzung seiner historischen Vorlage darüber hinaus den Auftritt der blutbesudelten Kriegsgöttin Bellona und ihres Bruders Mars in Szene, die in ihrem schrecklichen Gefolge die personifizierten Gestalten des Furor, der Ira und des Impetus mit sich führen (vgl. Curt., Hist. IV, 16, 1–4). Mars beauftragt Bellona, dem makedonischen König die Botschaft zu überbringen, dass es ihm nicht bestimmt sei, Darius persönlich zu töten. Für den persischen König sei vorgesehen, durch Verrat der eigenen Leute zu fallen. Er solle stattdessen besser Parmenion auf der anderen Seite des Schlachtgeschehens zu Hilfe eilen, der von Mazaeus bedrängt in großen Schwierigkeiten stecke. In der Gestalt von Athene überbringt Bellona dem makedonischen König die ihr von Mars aufgetragene Botschaft, um daraufhin auffallend schnell wieder zu entweichen. Alexander ruft der Göttin noch nach, dass er ungeachtet ihrer Botschaft nicht damit aufhören werde, den persischen König zu verfolgen, selbst wenn ihm Merkur persönlich verkünden würde, dass seine Schwestern zusammen mit seiner Mutter von den Persern geraubt worden seien. ⇔ Wie Harich (1987) 123 bemerkt, wirkt die Botschaft der Göttin wie ein Stimulus, der Alexander erst recht in seinem Bestreben bestärkt, Darius unbedingt in seine Gewalt bringen zu wollen. Insofern besitzt die Götterszene die Funktion, Alexanders Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit herauszuarbeiten, der ungeachtet der göttlichen Intervention nicht von seinem ursprünglichen Vorhaben abzubringen ist. Mit dem an dieser Stelle in Szene gesetzten epischen Motiv der Götterbotschaft und dem deutlichen Hinweis Alexanders auf den Götterboten Merkur stellt Alexanders ablehnende Reaktion damit möglicherweise eine von Walter aemulativ angelegte Kontrastimitation zur Dido-Episode der Aeneis Vergils dar (zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13); zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Im Unterschied zu Aeneas nämlich, der auf Merkurs rhetorische Frage, aufgrund welcher Hoffnung er in Karthago eine



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geruhsame Zeit verbringen wolle, nach einigem Zögern und wenig willensstark dem göttlichen Befehl Folge leistet und Dido verlässt, weigert sich Alexander mit deutlichen Worten, den Anweisungen Bellonas nachzukommen (vgl. Verg., Aen. IV, 271: qua spe Libycis teris otia terris?). Alexander begründet seine Weigerung damit, dass die einzige Hoffnung der Griechen – man beachte dabei den über den Begriff spes hergestellten Bezug zu den an Aeneas gerichteten Worten Merkurs – auf einen Sieg in der Schlacht darin liege, den gegnerischen König zu stellen, auch wenn sich dadurch anderweitig größere Verlust ergäben (vgl. Alex. V, 247: Ex Dario pendet nostri spes unica voti). Auch die auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Erfindung Walters, die Göttin Bellona beim Aufeinandertreffen mit Alexander in ihrer Funktion als Götterbotin und im Sinne eines weiblichen Pendants zu Hermes bzw. Merkur das Aussehen und die Rüstung Athenes zu verleihen, wird dann verständlich, wenn man bedenkt, dass in der griechischen Mythologie Athene nicht selten in Begleitung von Hermes erscheint und die Verbindung dieser beiden Gottheiten durch die Jahrhunderte hindurch bildhaft in zahlreichen Hermathenen ihren Ausdruck gefunden hat. Insgesamt verhält sich Alexander der Logik einer Schlacht folgend nicht anders als der kurz zuvor von Walter positiv in Szene gesetzte Nicanor, der seinen Gegner Rhemnon ebenso hartnäckig verfolgt, um das Gefecht zu einem positiven Ende bringen zu können. Der mögliche Einwand, Alexander verfolge ohne Rücksicht auf Verluste egoistisch und unbelehrbar nur sein eigenes Ziel, greift dabei zu kurz. Denn Alexander muss sich entsprechend der Vorgaben der Aristoteles-Rede so verhalten, dass er immer das große Ganze im Blick behält und sein strategisches Vorgehen an dieser Prämisse ausrichtet (vgl. Komm. I, 133–136 bzw. Komm. I, 136–143). Dazu gehört auch, dass er auf der einen Seite aus vernünftigen Gründen Verluste in Kauf nimmt, um auf der anderen Seite mit Darius’ Gefangennahme eine für die gesamte Schlacht entscheidende Situation herbeizuführen, die gemessen am übergeordneten Ziel seines Unternehmens die erlittenen Verluste auszugleichen

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vermag. Insofern geht es Walter mit der an dieser Stelle vorgenommenen Verwendung des antik-paganen Götterapparats darum, Alexanders Weigerung, auf die Verfolgung des Darius zu verzichten, kontrastierend zum gehorsamen Aeneas bei Vergil als vernünftiges und für einen moralisch handelnden Feldherrn angemessenes Verhalten zu charakterisieren und dessen damit einhergehende Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit positiv herauszustellen (zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Komm. V, 145–165; vgl. auch Einleitung 3). ⇔ Inwiefern dabei im Sinne eines Vorverweises auf die Zeit nach dem Perserkrieg auch eine unterschwellige Kritik Walters an Alexanders fehlender Bereitschaft, sich dem christlichen Gott unterzuordnen, mitschwingt, ist schwer zu beurteilen. Immerhin könnte man Alexanders Bemerkung, dass er bis in die Unterwelt vordringen würde, um Darius in die Hand zu bekommen, in diesem Sinne deuten, da später auch im Gespräch der Göttin Natura mit Leviathan der grenzenlose und bis in die Unterwelt reichende Eroberungsdrang des makedonischen Königs als Grund für dessen Vergiftung angeführt wird (vgl. Alex. X, 98–99: et ni tibi caveris, istud | non sinet intactum Chaos). Im Vordergrund steht dieser Aspekt an der vorliegenden Stelle jedoch nicht, zumal sich Walter ansonsten nicht scheut, bezogen auf die Zeit nach dem Perserkrieg in gezielt eingesetzten Autorkommentaren explizit Kritik an Alexanders Hybris zum Ausdruck zu bringen (vgl. Komm. III, 242–257). Alexander und die Griechen bedrängen Darius (255–282) 255–282 Sic fatus in armis | se locat … Iam victoris fragor aures | pul­ sabat Darii, iamque irrumpebat in ipsos | consortes lateris funestae turbo procellae: Alexander nimmt den Kampf ungeachtet der Ratschläge Bellonas wieder auf und versucht seiner ursprünglichen Absicht folgend zu Darius vorzudringen. ⇔ In weiteren Zweikämpfen bedient sich Walter erneut der Figur der Regressio, indem er mit



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Afer und Lysias zuerst die Namen der persischen Kämpfer nennt, im Anschluss daran deren Herkunft thematisiert, dann mit Craterus und Amintas die griechischen Gegner hinzunimmt, um abschließend auf die Waffen einzugehen, mit denen die Perser zu Tode gekommen sind (vgl. Komm. III, 59–62). ⇔ Weitere aus Sicht der Griechen erfolgreich geführte Zweikämpfe – auch Polipercon, der doch eigentlich lieber nachts gekämpft hätte, wird lobend erwähnt – münden in der Feststellung Walters, dass der makedonische König, könnte er das außerordentliche Engagement seiner Männer sehen, Freude darüber empfände, so viele Kämpfer vom Schlag eines Alexander zu haben. Joseph von Exeter wandelt in seinem auf der Basis spätantiker Prosatexte von Dares Phrygius und Dictys Cretensis entstandenen und nur kurz nach der Alexandreis erschienenen Epos De bello Troiano Walters Formulierung dahingehend ab, dass er von so vielen Kämpfern vom Schlage Hectors berichtet, was als weiterer Beleg für die außerordentliche Wirkungsmacht der Ale­ xandreis schon kurz nach ihrem Erscheinen angeführt werden kann (vgl. Jos. v. Ex., De bello Troiano IV, 33–34: Ut quot Priamidas, tot iurent Hectoras esse | quot Troes, tot Marte pares tibi, Troile, dicant). ⇔ Die Szene endet mit der Feststellung Walters, dass die Griechen bereits zu Darius’ Leibwachen vorgedrungen sind und der unmittelbare Kontakt zum persischen König nur noch eine Frage der Zeit ist. Darius zwischen Kampf und Flucht (283–306) 283–306 Eger in adversis animus sapientis, et egre | consulit ipse sibi cum duro tempore primis | diffidit rebus et spes languescit inermis. | Nam quid agat Darius? Quo se regat ordine demens? … in domini coniurant fata clientes: Nach einer grundsätzlichen Betrachtung über die Handlungsoptionen eines vernünftigen Mannes im Falle einer für ihn hoffnungslosen Situation wendet sich Walter dem persischen König zu und verdeutlicht mit zwei kurzen Fragen Darius’

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Unfähigkeit, in seiner mit dem Begriff demens wiedergegebenen Verblendung überhaupt eine vernünftige Entscheidung zu treffen (vgl. Alex. V, 286). Walter bewertet die aus seiner Sicht bestehenden Handlungsoptionen des persischen Königs und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass weder eine Flucht Sicherheit biete noch der weitere Kampf in Ermangelung einer ausreichenden Zahl von Soldaten sinnvoll sei (vgl. Alex. V, 287–290). Darius schwankt und zögert und sieht sich nicht in der Lage, aufgrund eigener Überlegung eine Entscheidung über das weitere Vorgehen zu treffen (vgl. Alex. V, 292– 294). Die Inszenierung des Zögerns und Schwankens trägt in Walters Darstellung ähnliche Züge wie schon während der Schlacht bei Issus und stellt auch hier eine Anlehnung an Lucans Beschreibung des Pompeius vor der Schlacht bei Pharsalus dar (vgl. Zwierlein 2004, 614–615; vgl. auch Komm. III, 189–202). Doch ist Walters vorliegende Schilderung um zwei wichtige Aspekte erweitert. Zum einen wird die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer weiteren Flucht des Darius aufgeworfen – nach Issus konnte er sich immerhin noch nach Babylon zurückziehen –, zum anderen integriert Walter eine Vorschau auf das weitere Schicksal des persischen Königs (vgl. Harich 1986, 124). Im Unterschied zu Issus – dort war Darius gemeinsam mit seinen Soldaten geflohen – flieht er vom Schlachtfeld von Gaugamela erst, als seine Männer in Scharen die Flucht ergreifen. Damit inszeniert Walter den persischen König kontrastierend zu Alexander, der immer in vorderster Front den Lauf der Dinge bestimmt und sich dabei als der geborene Anführer erweist, als unentschlossen und zaghaft agierenden Mitläufer, der seine Soldaten nicht führt, sondern sich von ihnen – ihrem schlechten Vorbild folgend – mitreißen lässt. Der von Walter mit invitus bezeichnete Unwille des Perserkönigs, die Flucht zu ergreifen, ist an dieser Stelle keineswegs als Zeichen noch vorhandener Tugendhaftigkeit zu bewerten, sondern beschreibt vielmehr Darius’ innere Kapitulation, die ihm auch eine Gefangennahme durch die Griechen als eine mögliche Option erscheinen lässt. Ebenso wie Pompeius bei Lucan



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in der Pharsalia die Sinnlosigkeit seiner Flucht vor Caesar einsieht, wird dem persischen König bei Walter klar, dass zum einen die Entscheidung zur Flucht vor Alexander und zum anderen der Versuch, in die Obhut seiner treulosen Mitstreiter Bessus und Narbazanes zu gelangen, einer Wahl zwischen Scylla und Charybdis gleicht (vgl. Alex. V, 300–306; vgl. auch Zwierlein 2004, 616–617; zu Darius’ wenig tugendhaften Verhalten vgl. auch Komm. III, 189–202). ⇔ Mit den auf Bessus und Narbazanes bezogenen Worten de humili plebe nimmt Walter Bezug auf die Aristoteles-Rede, die eindringlich davor gewarnt hatte, von Natur aus weniger befähigte und demzufolge minder vernunftbegabte Personen in Führungspositionen zu bringen, die im Ernstfall nicht die charakterliche Größe besitzen, ihrem König die Treue zu halten (vgl. Alex. V, 303; vgl. Alex. I, 86–87: nec, quos humilis natura iacere | exalta; vgl. auch Komm. III, 189– 202). Demnach wird Darius’ Niederlage auch als unmittelbare Folge der Nichtbeachtung der aristotelischen Tugendlehre inszeniert, was den Programmcharakter der Aristoteles-Rede für die Alexandreis insgesamt und für die darin beschriebenen Akteure erneut unterstreicht (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Alexander verfolgt Darius (307–318) 307–318 Magnus ut ablatum medio de limine mortis | accepit Dar­ ium … totumque rigavit Agaunum: Alexander versucht alles, um den persischen König nicht entkommen zu lassen. Walter bringt die Intensität, mit der die Verfolgung des Darius durch den makedonischen König betrieben wird, mit zwei eindrücklichen Vergleichen aus der Natur sehr anschaulich zum Ausdruck: zum einen mit einem sich über den Himmel bewegenden Meteor, der in schnellem Lauf seinen Feuerschweif hinter sich herzieht, zum anderen mit der aus den Alpen hervorbrechenden Rhone, die mit ihren gewaltigen

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Fluten das antike Agaunum – das heutige im Wallis zwischen Martigny und dem Genfer See liegende St. Maurice – überschwemmt (vgl. Alex. V, 311–318). Walter verbindet die Zerstörung von Agaunum dabei mit einer im Mittelalter sehr populären und auf die Pas­ sio Acaunensium martyrum des Lyoner Bischofs Eucherius († um 450) zurückgehenden Legende, nach der eine römische Legion – die ursprünglich aus Ägypten stammende legio Thebea –, von Maximian zur Christenverfolgung eingesetzt werden sollte und gegen Ende des 3. Jahrhunderts den Märtyrertod erlitten haben soll, weil sie sich dem kaiserlichen Befehl widersetzt hatte. ⇔ Die mit der Beschreibung der reißenden Rhone eingeleiteten sechs Verse waren in der Ausgabe von Colker bereits in Buch II in nur geringfügiger Abwandlung wenig überzeugend als Vergleich mit einem munter dahinplätschernden Bächlein in einem zuvor inszenierten locus amoe­ nus in Verbindung gebracht worden (vgl. auch Komm. II, 306–318). Die Flucht des Darius und der Perser (319–349) 319–349 Sed iam precipiti per saxa per invia saltu | transierat Licum … Labuntur passim, lapsosque involvit hyatus  | fluminis, et virides stupuere cadavera Nymphae: Darius überquert auf seiner Flucht vor Alexander den Lycus und überlegt, ob er die Brücke über den Fluss abbrechen soll, um Alexander daran zu hindern, ihm weiter zu folgen. Er entscheidet sich dazu, die Brücke nicht zu zerstören, um seinen fliehenden Soldaten den Rückzug nicht zu versperren (vgl. Alex. V, 321–329). ⇔ Walter rückt den persischen König an dieser Stelle in ein äußerst positives Licht, indem er erwähnt, dass für Darius mit Rücksicht auf seine Ehre die Rettung der eigenen Leute wichtiger sei als für das eigene Schicksal Sorge zu tragen. Walters Darstellung ist ein weiterer Beleg für den schon mehrfach festgestellten Sachverhalt, dass er dem persischen König jenseits einer vergleichenden Charakterisierung mit Alexander bestimmte Tu-



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genden nicht grundsätzlich abspricht (vgl. Komm. IV, 280–284). ⇔ Der Rückzug des persischen Heeres verläuft indes völlig ungeordnet und kostet unter den persischen Soldaten zahlreiche Opfer, die entweder durch das Trinken von verschmutztem Wasser sterben oder bei der Überquerung des Flusses von besagter Brücke stürzen und ertrinken (vgl. Alex. V, 335–349). Ein letztes Gefecht (350–375) 350–375 Languentes gladios et hebentia tela suorum | intuitus Macedo … Martius ille furor ubi nemo cadebat inultus: Alexander eilt noch vor Einbruch der Nacht nun doch auf den linken Heeresflügel, um Parmenion zu Hilfe zu eilen. Ein Bote bringt ihm indes auf halber Strecke die Nachricht von Parmenions Sieg, so dass er sich sogleich anschickt, mit seinen Reitern ins Lager zurückzukehren (vgl. Alex. V, 355–359). Auf dem Weg dorthin treffen sie auf eine Gruppe versprengter persischer Reiter, die nach kurzem Zögern Alexander und seine Begleiter angreifen. Nach kurzem Gefecht, in welchem Alexander den persischen Anführer tötet, ist die feindliche Reiterschar besiegt (vgl. Alex. V, 360–375). Erneut weist Walter im Kontext dieser Auseinandersetzung auf die prunkvolle Ausrüstung der Perser hin, die zwar die Äcker im Abendlicht erleuchten können, für den Kampf jedoch wenig geeignet sind (vgl. Komm. IV, 563–578). ⇔ Indem Alexander wie gewohnt weit vor seinen Soldaten die Feinde angreift, erfüllt er auch hier die im Tugendkatalog der Aristoteles-Rede im Kontext der Tugend der Tapferkeit eingeforderte Vorbildfunktion für seine Soldaten (vgl. Komm. I, 128–132; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Walter versäumt es zudem nicht zu erwähnen, dass Alexander auch in dieser bedrohlichen Situation auf die Hilfe der Schicksalsgöttin zählen kann, die ihm – ganz entgegen ihrer eigentlichen Natur – beständig zur Seite steht (zum Götterapparat und der Rolle des

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Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; vgl. auch die Einführung zu Buch II). Darius’ Ansprache an seine Soldaten (376–421) 376–421 Verum cum, Phebi radiis Athlantide stella  | iam vultus audente suos opponere … fortunam reparasse suam rursusque retusis | hostibus adversa de parte tulisse tryumphos: Auf seiner nächtlichen Flucht gelangt Darius nach Arbela. Dort hält er vor den wenigen ihm noch verbliebenen Soldaten eine Ansprache, um sie aufzumuntern und sich mit ihnen über das weitere Vorgehen abzustimmen. ⇔ Auch wenn die Situation von Curtius vorgeprägt ist, gestaltet Walter den ersten Teil von Darius’ Rede, in welchem der persische König zu seinen Soldaten über die Rolle der Schicksalsgöttin im Zusammenhang mit der gerade verlorenen Schlacht spricht, ohne Bezugnahme auf seine historische Hauptquelle. Bei Walter versucht Darius seine Soldaten davon zu überzeugen, dass die wankelmütige Fortuna das Kampfgeschehen nur zufällig negativ beeinflusst habe und man in einem neuen Anlauf versuchen müsse, das Schlachtenglück wieder auf die eigene Seite zu ziehen (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Als historische Beispiele für wechselndes Schlachtenglück führt er Croesus’ Niederlage gegen den Perserkönig Cyrus an, der seinerseits wieder durch Amyris zu Fall kam oder die Niederlage des zuvor bei den Thermopylen noch siegreichen Xerxes nach der Schlacht bei Salamis (vgl. Alex. V, 386–397). Walter benutzt den Begriff der Thermopylen an dieser Stelle irreführend, da er diesen nicht explizit mit Xerxes’ dortigem Sieg in Verbindung bringt, sondern damit – wie Streckenbach (1990) wohl richtig vermutet – dessen von den Thermopylen aus sichtbaren Rückmarsch mit dessen Landheer nach der verlorenen Seeschlacht bei Salamis beschreibt. Darius zeigt in Walters Darstellung eine ausgeprägte Schicksalsergebenheit, die



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in einem auffälligen Kontrast zu Alexanders Verständnis dieser göttlichen Macht steht. Vor der Schlacht bei Issus war Alexander etwa ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Schicksalsgöttin auf seiner Seite steht (vgl. Alex. II, 452–453: ecce dies optata, parat qua provida nobis | solvere promissum tociens Fortuna tryumphum). Auch vor der Schlacht in Gaugamela offenbart Alexander dieses Verständnis von der grundsätzlichen Gewogenheit des Schicksals gegenüber der eigenen Sache, als er seine Soldaten fragt, welchen Sinn die früheren Siege am Granikus und bei Issus gehabt haben sollen, wenn Fortuna nicht auch in der bevorstehenden Schlacht auf ihrer Seite stehe (vgl. Alex. III, 549–552: Bellum quod Granicus amnis | vidit et angusto Cilicum victoria saltu | quid laudis quid ho­ noris habent nisi fine beato | terminet extremum deus et Fortuna try­ umphum?). Noch im Abschnitt zuvor hatte Walter mit den Worten perpetua in dubiis rebus Fortuna zudem betont, dass sich Fortuna in Bezug auf Alexander eben gerade nicht wankelmütig zeige, sondern diesem entgegen ihrer eigentlichen Natur beständigen Beistand gewähre (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Ale­ xandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch die Einführung zu Buch II). ⇔ Die hier beschriebenen Unterschiede in der Beurteilung des Schicksals zeigen deutlich die verschiedenen Charaktere der beiden Könige auf. Während Darius dem Schicksal gegenüber eine vornehmlich passive oder sogar ohnmächtige Rolle einnimmt, wird Alexander von Walter im Kontrast dazu als ein König beschrieben, der das Schicksal quasi zwingt und gar nicht erst darüber nachdenkt, ob ihn das Schlachtenglück als Spielball des Schicksals auch irgendwann einmal verlassen könnte. ⇔ Im zweiten Teil seiner Rede spekuliert Darius darüber, dass die Griechen in ihrer Gier nach Gold und weiteren Schätzen schwächer sein würden, wenn sie beutebeladen noch einmal in die Schlacht ziehen müssten. Er selbst möchte sich mit seinen Soldaten in das vom Krieg noch unberührte Medien zurückziehen und neue Truppen ausheben (vgl. Alex. V, 398–416). Bezeichnenderweise benutzt Darius an dieser Stelle Alexanders Argumenta-

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tion aus dessen Feldherrnrede vor der Schlacht bei Issus, indem er die Auffassung vertritt, dass ein Krieg nicht mit Gold, sondern mit Eisen gewonnen werde (vgl. Alex. II, 457–460: Cernitis inbelles auro fulgere catervas, | cernitis ut gemmis agmen muliebre choruscet: | Pre­ tendit predae plus quam discriminis. Aurum | vincendum est ferro). Auch die Erkenntnis, dass Königreiche nicht durch Schätze, sondern durch die Tapferkeit und die Tatkraft der Soldaten geschützt werden, gibt eigentlich eher das in der Alexandreis vielfach wiedergegebene Tugendverständnis Alexanders wieder. Darius’ Einsicht kommt – wie der weitere Verlauf der Ereignisse zeigen wird – zu spät, zumal Alexander, sollte es die Situation erfordern, durchaus in der Lage ist, aus taktischen Gründen auf die erbeuteten Schätze zu verzichten und diese zu verbrennen (vgl. Komm. VIII, 49–74). ⇔ Ungeachtet dessen demonstriert Walter mit seiner Beschreibung des persischen Königs aber auch, dass er diesem die Kriegstauglichkeit nicht grundsätzlich abspricht, sondern jenseits einer Kontrastierung mit Alexander immer wieder auch Darius’ tugendhaften Seiten in den Blick zu rücken versteht (vgl. Komm. IV, 280–284; vgl. auch Komm. V, 319–345). ⇔ Abschließend versucht Darius noch einmal mit Beispielen aus der persischen Geschichte zu verdeutlichen, dass der Krieg noch nicht verloren sei und das Schlachtenglück auch wieder die persische Seite begünstigen könne (vgl. Alex. V, 417–421). Die Reaktion der persischen Soldaten (422–430) 422–430 Finierat Darius. Vox plena pavoris et exspes  | visa suis … uno  | maturant animo Medorum visere fines: Darius’ Ansprache beeindruckt die persischen Soldaten nicht, da dessen Auftritt zum einen wenig überzeugend wirkt, zum anderen die kurz bevorstehende Eroberung Babylons und anderer persischer Städte durch Alexander das Kräftegleichgewicht so stark beeinflussen wird, dass an eine Wiederaufnahme des Kampfes und einen noch möglichen



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Sieg vernünftigerweise nicht zu denken ist. Dennoch ziehen die persischen Soldaten – wie Walter vielsagend bemerkt – mehr aus Gehorsam als aus echter Überzeugung mit ihrem geschlagenen König nach Medien. Von Gaugamela nach Babylon (431–455) 431–455 Nec mora distribuens celebres apud Arbela gazas | munifi­ cus Macedo … agmine quadrato stupefactae illabitur urbi: Noch in Gaugamela verteilt Alexander die Beute an seine Soldaten. Ebenso wie nach der erfolgreichen Schlacht bei Issus erfüllt Alexander damit auch nach dem Sieg in Gaugamela die im Forderungskatalog der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen Gebe­ freudigkeit formulierte Aufgabe, den eigenen Soldaten die Schätze des Feindes zu überlassen und damit deren angegriffenen Gemüter zu heilen und deren Gier nach Gold zu befriedigen (vgl. Komm. III, 215–220; vgl. auch Alex. I, 144–150; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ Noch auf dem Weg nach Babylon kommt ihm der Perser Mazaeus entgegen und übergibt ihm freiwillig die Kontrolle über die Stadt. Alexander ist froh, keine lange Belagerung in Kauf nehmen zu müssen und zeigt dem Mazaeus gegenüber, der sich in allen Schlachten des Perserkriegs als äußerst tapfer erwiesen hatte, großes Wohlwollen. Durch die persische Kapitulation ist Alexander im Sinne der Tugend der angemessenen Zürnkraft nämlich in der Lage, die Stadt und deren Bewohner zu verschonen und als friedfertiger Sieger Babylon zu betreten (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humi­ litas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I).

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KOmmentar Alexanders Einzug in Babylon (456–490)

456–490 Splendet in occursu tanti Babilonia regis, | et quas congessit veterum sollertia regum exponuntur opes … Memphitae vates currum victoris adorant: Alexanders Einzug in Babylon wird von Walter über die Darstellung bei Curtius hinaus mit zahlreichen sprachlichen und inhaltlichen Parallelen zu den Evangelienberichten gestaltet, um den übermäßigen Reichtum der prunkvollen Stadt und die moralische Verkommenheit ihrer Einwohner in Szene zu setzen. Beispielsweise berichtet Walter davon, dass auf der Straße Blumen und Zweige gestreut werden und benutzt damit ein Bild, das dem Einzug Christi in Jerusalem entnommen ist (vgl. Alex. V, 470–471; vgl. auch Mt. 21, 8: plurima autem turba straverunt vestimenta sua in via, alii autem caedebant ramos de arboribus et sternebant in via). Auch das Motiv, dass viele Menschen auf die Dächer steigen, um den neuen König besser sehen zu können, zeigt auffällige Parallelen zum Einzug Jesu in Jericho, bei dem der kleine Zacchaeus auf einen Maulbeerbaum steigt, um den Messias besser sehen zu können (vgl. Alex. V, 479–482; vgl. auch Luk. 19, 1–4: vir nomine Zaccheus … ascendit in arborem sycomorum ut videret illum). Auch die von Walter genannten Instrumente sind zwar alle bereits in der Antike bekannt, verweisen in ihrer Zusammenstellung doch eher auf Stellen im Alten Testament, in denen sie zum Lob Gottes gespielt werden (vgl. Alex. V, 483–486). Das anmaßende Verhalten der Mägde und Diener, die in ihren geliehenen prunkvollen Kleidern ihren niedrigen Stand zu vergessen scheinen und glauben, nun selbst zur reichen Oberschicht zu gehören, oder auch die in Käfigen eingesperrten Wildtiere, die sich nur mit Knurren und Fauchen gegen ihre unnatürliche Gefangenschaft wehren können, stellen gemäß Walter eine pervertierte Welt dar, die er in ihrer fallax opulentia ganz bewusst einer moralischen Kritik unterzieht (vgl. Alex. V, 464–469 bzw. 475–478; zur Einordnung von Alexanders Einzug in Babylon vgl. die Einführung zu Buch V; zum Hybris-Vorwurf an Alexander



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bezogen auf die gesamte Alexandreis vgl. Einleitung 7.4) ⇔ Dabei ist es – wie Wiener (2001) 63–64 feststellt – besonders bemerkenswert, dass Walter die Szene von Alexanders Einzug in Babylon mit der Inszenierung der prachtvollen Gewänder der Babylonier und auch Alexanders Triumphzug als solchen nach dem literarischen Vorbild Claudians gestaltet und damit in imitativer Weise auch sein aemulatives Anliegen zum Ausdruck bringt (vgl. Claud., Paneg. de quarto cons. Hon. Aug., 8, 565–618; vgl. auch Claud., De cons. Stil. III, 24, 14–50). Die Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer (491–520) 491–520 Numquam tam celebri iactatrix Roma tryumpho  | victo­ rem mirata suum tam divite luxu | excepit … gens omnis et omnis | lingua Ihesum caneret et non invita subiret  | sacrum sub sacro Re­ morum presule fontem: Diese für die Alexandreis insgesamt sowohl in inhaltlicher als auch in kompositorischer Hinsicht zentrale Textstelle führt in ihrem ersten Teil über einen Vergleich von Alexanders triumphalem Einzug in Babylon mit dem Triumphzug des Augustus nach seinem Sieg bei Actium einerseits und Caesars Triumphzug nach seinem Sieg bei Pharsalus andererseits zu der Schlussfolgerung Walters, dass der makedonische König gemessen an seinem jugendlichem Alter, der kurzen Zeit seines Wirkens und der vergleichsweise kleinen Streitmacht Taten vollbracht hat, die einen derartig aufwendigen und pompösen Triumphzug rechtfertigen (vgl. Alex. V, 491– 509). Hierbei klingen nicht zufällig Passagen aus dem ersten Teil des Prooemiums an, in denen Alexanders herausragende militärische Leistungen und der enorme Wirkungskreis seiner weitreichenden Eroberungen hervorgehoben werden, die – so Walter weiter – auch die Taten eines Julius Caesar oder des weströmischen Kaisers Honorius bei weitem übertreffen (vgl. Komm. I, 5–8). Doch ist der darge-

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botene Überbietungstopos an dieser Stelle freilich nicht nur auf die weniger bedeutenden Leistungen der antiken Feldherrn oder Kaiser bezogen, sondern erstreckt sich natürlich auch auf die von Walter explizit genannten Dichter Lucan und Claudian (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6). ⇔ Im zweiten Teil der Textstelle schlägt Walter den Bogen in die eigene Zeit (vgl. Alex. V, 510–520). Indem er Alexanders erfolgreichen Kampf gegen die barbarischen Völker des Ostens mit der Aufforderung an die zeitgenössischen Fürsten verbindet, einen ebenso erfolgreichen und auch zeitlich begrenzten Kampf gegen die Feinde des Christentums zu führen, wird deutlich, aus welchem Grund er ausgerechnet den makedonischen König als zentrale Figur für sein Epos ausgewählt hat. Vor diesem Hintergrund muss der Wunsch des Autors der Alexandreis nach einem französischen König gesehen werden, der – von der divina clementia gelenkt – einem wiedererstandenen Alexander gleicht. Dabei ist wohl an niemand anderen zu denken als an den bereits im Prooemium angesprochenen jungen König Philipp II. von Frankreich, der nach dem Tod seines am 19. September 1180 verstorbenen Vaters Ludwig VII. als König von Frankreich die Geschicke seines Landes zu lenken hatte (vgl. Komm. I, 5–8; vgl. auch Komm. II, 306–318; zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3). Zeitgenössischer Hintergrund beim Wunsch Walters nach einem alexanderhaften christlichen Anführer und eigentlicher Impulsgeber für die Abfassung der Alexandreis ist dabei neben dem desaströs verlaufenen zweiten Kreuzzug (1147–1149) die vernichtende Niederlage des byzantinischen Kaisers Manuel gegen die von Walter in einer inter­ pretatio Romana als Parther bezeichneten muslimischen Seldschuken im Jahre 1176. Als Folge einer derartigen christlichen Herrschaft würden sich die in einer weiteren interpretatio Romana mit Karthago identifizierte muslimische Berber-Dynastie der Almohaden, die in Walters Zeit über den Mahgreb und al-Andalus ihre Herrschaft ausgebreitet hatte, dem christlichen Anführer unterwerfen und be-



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geistert die heilige Taufe vom Bischof von Reims, Walters Gönner Wilhelm von Blois, empfangen. Ebenso wäre dann auch der Makel der Niederlage Karls des Großen in Spanien getilgt, der in der Nähe von Roncevalles – so zumindest gemäß der Überlieferung durch das altfranzösische Rolandslied – gegen die muslimischen Sarazenen eine schwere Niederlage erlitten hatte (vgl. Komm. II, 306–318; zur Stellung der zentralen Textstelle innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3).

Einführung zu Buch VI Nach dem am Ende des fünften Buchs geschilderten Einzug Alexanders in Babylon weist Walter zu Beginn von Buch VI in einer Apostrophe an die persische Hauptstadt – diese wird vom Autor der Alexandreis kontrastierend zur Tugendhaftigkeit Alexanders als Hort der schamlosen Ausschweifung und sittlichen Verwahrlosung gebrandmarkt – mit der expliziten Erwähnung der prophetischen Bücher der Bibel auf den Übergang der Herrschaft vom medischpersischen Reich (gemini cornua regni) auf das Reich Alexanders (hyrcus) hin (vgl. Komm. VI, 1–15). Nachdem Alexander Babylon nach nur vierunddreißig Tagen wieder verlassen hat – der verderbliche Einfluss der persischen Metropole auf die Griechen und ihren Anführer bleibt dabei nicht unerwähnt –, nimmt der siegreiche Feldherr eine durch den Sieg bei Gaugamela notwendig gewordene Neuorganisation seines Heeres vor (vgl. Komm. VI, 33–62). Im Kontext dieser Neuordnung hebt Walter insbesondere Alexanders Tugendhaftigkeit hinsichtlich der Tugend der Gerechtigkeit hervor, die den makedonischen König befähigt, nach objektiven Maßstäben Belohnungen zu verteilen und wichtige Positionen im Heer neu zu besetzen (zur Tugend der Ge­ rechtigkeit innerhalb der Aristoteles-Rede vgl. Komm. I, 105–114). Nachdem das griechische Heer durch Nachschub aus der Heimat ergänzt werden konnte, bricht Alexander in das Gebiet der Uxier auf, um auch den Widerstand des in den Bergen des Zāgros östlich von Susa beheimateten Volkes zu brechen (vgl. Komm. VI, 63–144). Walter nutzt die Episode der Eroberung von Susa und der Unterwerfung der Uxier, um dem kriegerischen Ereignis entsprechend zum wiederholten Mal die Feldherrntugenden seines wichtigsten Protagonisten in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken, die es diesem ermöglichen, auch den harten Kampf mit



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dem trotzigen Bergvolk erfolgreich zu gestalten. Dabei ist es überaus bemerkenswert, dass Walter mit der angemessenen Gebefreudigkeit, der Tapferkeit und der angemessenen Zürnkraft nicht nur alle aristotelischen Tugenden eines Feldherrn nacheinander herausarbeitet, sondern innerhalb der zentralen und zudem bewusst in die Mitte seiner Darstellung gerückten Tugend der Tapferkeit mit der Über­ zeugungskraft, der Schnelligkeit, der Handlungsschnelligkeit, dem strategischen Vermögen sowie der Vorbildfunktion auch sämtliche Teilaspekte dieser wichtigsten Feldherrntugend ins Feld führt und mit Alexanders erfolgreicher Kriegsführung ursächlich in Beziehung setzt (zur Mittelstellung der Tugend der Tapferkeit vgl. die Strukturskizze zur Aristoteles-Rede in der Einführung zu Buch I; zur Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 116–143). Damit wird der Nachweis geführt, dass ein tugendhaftes Verhalten gerade im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen in Walters Darstellung die notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen Feldherrn darstellt (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Nachdem der makedonische König die altpersische Residenzstadt Persepolis dem Erdboden gleichgemacht hat, begegnen ihm dreitausend am ganzen Körper grausam verstümmelte Kriegsgefangene, die im griechischen Heer ob ihres schrecklichen Schicksals großes Entsetzen auslösen. Alexander stellt ihnen frei, in die griechische Heimat zurückzukehren oder aber fern der Heimat den Rest ihres versehrten Lebens zu verbringen (vgl. Komm. 196–212). Damit nutzt Walter auch diese Episode, um Alexanders herausragende Tugendhaftigkeit nach einer gewonnenen Schlacht in Szene zu setzen, indem er dessen an­ gemessene Zuwendung gegenüber seinen mit großer Brutalität verstümmelten Landsleuten hervorhebt (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs amici­ cia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch I). Ebenso wie es Alexander durch sein tugendhaftes Verhalten gelingt, alle seine Unternehmungen zum Erfolg zu führen, scheitert

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Darius umgekehrt daran, dass er nicht in der Lage ist, die in der Aristoteles-Rede zur Sprache gebrachten Tugenden in praxi umzusetzen. Dies wird etwa in Darius’ Reaktion auf das vergiftete Angebot des mit cruentum mancipium (grausamer Sklave) angesprochenen Narbazanes deutlich, der seinem König den hinterlistigen Vorschlag unterbreitet, die Lenkung des Reichs an Bessus zu übergeben. Damit macht Walter deutlich, dass der persische König den großen Fehler begangen hat, wichtige Positionen in seinem Heer mit schwachen und charakterlich zweifelhaften Personen zu besetzen, die bei der ersten Gelegenheit – die Aristoteles-Rede hatte genau davor eindringlich gewarnt – ihre Loyalität dem eigenen König gegenüber aufkündigen und rücksichtslos selbst nach der Macht greifen (vgl. Komm. VI, 425–434; zur Aristoteles-Rede über Sklaven von Natur aus vgl. Komm. I, 85–91). Mit derselben kritischen Distanz schildert Walter das Verhalten des persischen Königs gegenüber seinen eigenen Soldaten, die er aufgrund seines offenkundigen Phlegmas und seiner mangelnden Entschlossenheit nicht mehr zu motivieren vermag (zur Überzeugungskraft als Teilbereich der Tugend der Tapfer­ keit innerhalb der Aristoteles-Rede vgl. Komm. I, 118–127). Die Darstellung eines überforderten und demoralisierten persischen Königs gipfelt dabei in der Bemerkung des Autors der Alexandreis, dass die Perser zu diesem Zeitpunkt eigentlich keinen richtigen Anführer mehr besitzen (vgl. Komm. VI, 443–450). Andererseits versäumt Walter es nicht, dem Leser in Kontrastierung mit Narbazanes und Bessus auch Darius’ positiven Charaktereigenschaften vor Augen zu führen, wenn er das gütige Wesen des persischen Königs hervorhebt, der den Verrätern nach ihrem Umsturzversuch noch einmal mit großer Nachsicht begegnet (vgl. Alex. VI, 482–485: Sed nec tunc fraudis amicos | penituit sceleris cum certus uterque videret  | quam mitis naturae hominem regemque virum­ que  | falleret). Auch mit der Schilderung von Darius’ Weigerung, gegen die Verräter in den eigenen Reihen entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, da er nicht selbst zum Verräter am eigenen Volk



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werden möchte, rückt Walter diesen in ein überaus positives Licht und macht damit noch einmal seine über das gesamte Epos hinweg immer wieder zum Ausdruck gebrachte Intention deutlich, den persischen König jenseits einer vergleichenden Charakterisierung mit Alexander nicht grundsätzlich als einen in moralischer Hinsicht ungeeigneten König darzustellen (vgl. Komm. VI, 511–524). Ebenso kommt dieses Ansinnen in Walters Darstellung von Darius’ Flucht zum Ausdruck, als dieser den mutigen Entschluss fasst, sich nicht weiter nach Medien zurückzuziehen, sondern die Entscheidung im offenen Kampf mit Alexander suchen zu wollen (vgl. Komm. VI, 297–310). Buch VI endet mit Walters Schilderung eines untätigen und schicksalsergebenen persischen Königs, der es nicht versteht, den Verschwörern in den eigenen Reihen die Stirn zu bieten (vgl. Komm. VI, 548–552; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Damit macht Walter deutlich, dass Darius anders als sein makedonischer Kontrahent die Vorgaben der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen Zürnkraft missachtet und demzufolge auch scheitern muss (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).

Kommentar zu Buch VI Themenübersicht (1–11) C 1–2 Sextus Alexandrum luxu Babilonis et auro  | corruptum ost­ endit: Nach einer Apostrophe an die Stadt Babylon schildert Walter den verderblichen Einfluss der von Ausschweifung und Luxus geprägten persischen Metropole auf die griechischen Soldaten und ihren Anführer Alexander (vgl. Komm. VI, 16–32). C 2–3 Castrensia munera certis | distribuit numeris: Nachdem sich Alexander vierunddreißig Tage in Babylon aufgehalten hat, vollzieht er nach seinem Aufbruch in das Gebiet der Uxier auf halbem Weg eine Neuorganisation seines Heeres, die den veränderten Verhältnissen nach dem Sieg bei Gaugamela geschuldet ist (vgl. Komm. VI, 33–62). C 3–5 Armato milite fines | Uxios intrat. Sysigambis liberat urbem | et Medatem precibus: Alexander besiegt die Uxier nach schwerem Kampf und zeigt sich den Bitten von Darius’ Mutter Sisigambis zugänglich, die besiegten Perser mit ihrem Anführer Medates zu verschonen (vgl. Komm. VI, 63–144). C 5–7 A menibus eruta fumat | inclita Persepolis. Movet occursus mi­ serorum | turbatum regem: Die altpersische Residenzstadt Persepolis wird von Alexanders Truppen dem Erdboden gleichgemacht. Mit der Einnahme der Stadt befreit Alexander eine Gruppe griechischer Kriegsgefangener, die von den Persern zuvor grausam verstümmelt worden waren (vgl. Komm. VI, 161–296).



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C 7–9 Darius discrimina Martis  | rursus inire parat. Hic sedicio patricidas | separat a Dario: Darius rüstet sich erneut zum Kampf, wird jedoch durch einen von Bessus und Narbazanes vom Zaun gebrochenen Aufstand in eine verzweifelte Lage gebracht (vgl. Komm. VI, 297–489). C 9–11 Sed eos innata simultas | acceptos reddit et credula pectora pla­ cat, | nec fatum mutare valent decreta Patronis: Der im persischen Heer treue Dienste leistende Grieche Patron warnt Darius vor den Verschwörern Bessus und Narbazanes. Auch wenn Darius seinem griechischen Söldner Glauben schenkt, kann er sich nicht dazu durchringen, die beiden Verschwörer bloßzustellen und verhaften zu lassen. Somit sind nach Walters Worten auch Patrons Hinweise nicht in der Lage, den schicksalhaften Untergang der Perser und ihres Königs aufzuhalten (vgl. Komm. VI, 490–552). Alexander in Babylon (1–32) Apostrophe an die Stadt Babylon (1–15) 1–15 Ecce lues mundi, regum timor unicus, ecce | quem tociens pote­ ras, Babilon, legisse futurum | eversorem Asiae, sacra quem predixe­ rat hyrcum | pagina, quem gemini fracturum cornua regni … Aspice quam blandis victos moderetur habenis. | Aspice quam clemens inter tot prospera victor.  | Aspice quam mitis dictet ius gentibus ut quos  | hostes in bellis habuit cognoscat in urbe | cives et bello quos vicit vin­ cat amore: Walter spricht in einer Apostrophe die Stadt Babylon an und macht ihr den Vorwurf, die prophetischen Bücher der Bibel nicht gelesen zu haben, in denen der Sieg des Geißbocks (Alexander) über den zweigehörnten Widder (das medisch-persische Reich) angekündigt worden war. Neben dieser Einbettung von Alexanders Sieg in den Kontext der biblischen Lehre von den vier Weltreichen

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stellt Walter zudem die beispiellose Tugendhaftigkeit Alexanders – sprachlich und stilistisch durch eine dreifache Anapher mit einem jeweils anschließenden indirekten Fragesatz verbunden – hinsichtlich der Tugend der angemessenen Zürnkraft heraus, die er gegenüber dem besiegten Feind an den Tag legt (zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Insofern inszeniert Walter den makedonischen König auch an dieser Stelle zum einen aus der christlichen Perspektive als einen Herrscher, der mit der Ablösung des Perserreichs die Prophezeiungen Daniels erfüllt, zum anderen aber auch aus antikpaganem Blickwinkel als vorbildlichen Feldherrn, der die Vorgaben der Aristoteles-Rede in praxi umzusetzen versteht (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Walters Bemerkung, dass jedes Land gerne von einem solchen König regiert werden würde, wenn Alexander weiterhin jene ihm angeborene Tugendhaftigkeit an den Tag gelegt hätte, ist als Vorverweis auf die Zeit nach dem Perserkrieg zu verstehen, in der sich der makedonische König vonseiten des Autors der Alexandreis insbesondere dem christlich motivierten Vorwurf der Hybris hinsichtlich seines maßlosen Expansionsstrebens und seines ebenso maßlosen Strebens nach Gottgleichheit ausgesetzt sehen wird (vgl. Komm. VIII 358–476; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Babylons verderblicher Einfluss auf die Griechen und Alexanders Aufbruch aus Babylon (16–32) 16–32 Hos tamen a tenero scola quos inpresserat evo | ornatus animi … ter deni tenuere dies et quatuor … desidis effrenum piger irrupisset in hostem: Walter brandmarkt den negativen Einfluss der sündigen Stadt Babylon auf die Moral der griechischen Soldaten und deren



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Anführer Alexander. Die Beschreibung Babylons steht dabei in einem auffälligen Kontrast zur Charakterisierung des makedonischen Königs im Abschnitt zuvor, in welchem Walter gerade noch dessen herausragende Tugendhaftigkeit hervorgehoben hatte. Auch wenn durch das an dieser Stelle auf Alexander bezogene Verb frangere der Eindruck entstehen mag, dass der makedonische König durch die Sittenlosigkeit Babylons möglicherweise gebrochen sein könnte und man darin möglicherweise eine moralische Kritik des Autors der Alexandreis an seinem wichtigsten Protagonisten erkennen möchte, greift dieser Gedanke zu kurz, da – wie in den folgenden Episoden zu sehen sein wird – Alexander die persische Hauptstadt aus eigenem Antrieb nicht nur bald wieder verlässt, sondern von Walter auch weiterhin als tugendhaft handelnder Feldherr und König dargestellt wird (vgl. Alex. VI, 19). Aus diesem Grund wird das Verb frangere in der deutschen Übersetzung auch besser mit schwächen wiedergegeben, um deutlich zu machen, dass Alexander durch den Einfluss der sündigen Stadt zwar nicht gänzlich unangetastet bleibt, er sich gerade wegen seines tugendhaften Charakters jedoch nicht vollends vereinnahmen lässt und sich mit seiner Entscheidung, Babylon nach vierunddreißig Tagen wieder zu verlassen, selbständig vom verderblichen Einfluss der persischen Hauptstadt befreien kann. Insofern bezieht sich die moralische Kritik des Autors der Alexandreis nicht auf Alexander selbst, sondern ist vielmehr an die moralisch depravierte Stadt Babylon gerichtet, die sich das tugendhafte Verhalten des makedonischen Königs eigentlich hätte zum Vorbild nehmen und dessen Herrschaft als Chance zur moralischen Umkehr begreifen können (zur Frage der moralischen Bewertung Alexanders im Kontext seines Aufenthalts in Babylon vgl. die Einführung zu Buch V; zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4).

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KOmmentar Alexanders Neuorganisation des griechischen Heeres (33–62)

33–62 Ergo Semiramiis postquam Mavortius heros | finibus egressus … Monet allicit artat | fortes conductos cives prece munere scripto … et maius fuit armatos decreta rigoris | suscipere in bello quam ius in pace pacisci: Nach dem Aufbruch aus Babylon organisiert Alexander sein inzwischen durch den Nachschub aus der Heimat ergänztes Herr neu, indem er anstelle schlecht vernehmbarer akustischer Signale gut sichtbare Zeichen für den Aufbruch aus dem Lager einführt und zudem jeweils einem Trupp von tausend Mann einen Chiliarchen als Anführer bestimmt. Eine weitere Neuerung stellt die Besetzung von Führungspositionen im Heer dar, die nicht mehr wie bisher üblich nach dem landsmannschaftlichen Prinzip vergeben werden, sondern sich nunmehr ausschließlich an der Leistung und der Bewährung des jeweiligen Soldaten orientiert. Die Chiliarchen hatten – wie Walter berichtet – darauf zu achten, dass unter den Reitern niemand Belohnungen und Ruhm einfordert, die der im Kampf gezeigten Leistung nicht entsprechen. ⇔ Auch ermahnt Alexander seine Fußsoldaten, mit den ihren Taten entsprechenden Belohnungen zufrieden zu sein. Diese mit der Tugend der Gerechtigkeit in Verbindung stehenden Maßnahmen Alexanders können als unmittelbare Reaktion auf die Erfahrung sittlicher Verwahrlosung in Babylon angesehen werden und dienen dem Ziel, die eigenen Soldaten wieder auf den ursprünglichen Pfad der Tugend zurückzuführen. Mit dieser Forderung nach gerechten Maßstäben bei der Zuteilung von Belohnungen und Führungspositionen stellt Walter einen unmittelbaren Bezug zur Aristoteles-Rede her, in der die Tugend der Gerechtigkeit als eine allen anderen Tugenden übergeordnete Tugend thematisiert wird (vgl. Komm. I, 105–114). Doch belässt es Walter in seiner Schilderung nicht bei der Verbindung Alexanders mit der Tugend der Gerechtigkeit, sondern bringt seinen wichtigsten Protagonisten im weiteren Textverlauf im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Uxier auch mit der als zentrale Feldherrntugend geltenden Tugend



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der Tapferkeit in ihren verschiedenen Ausprägungen in Verbindung. Walter hebt dabei mit den asyndetisch angeordneten Prädikaten mo­ net allicit artat zunächst ausdrücklich Alexanders Fähigkeit hervor, die Soldaten, Söldner und Landsleute – fortes conductos cives – von der Wichtigkeit gerechten Handelns zu überzeugen und arbeitet mit der für einen Feldherrn bedeutsamen Überzeugungskraft einen ersten Aspekt der Tugend der Tapferkeit heraus. Walters Wortwahl erinnert dabei ebenso wie die alliterative Gestaltung der jeweils letzten beiden Glieder sehr an die in der Aristoteles-Rede gewählte Formulierung precibus monituque minisque, mit der dort die Aufforderung an den Feldherrn gestaltet wird, die Soldaten zum Kampf zu ermuntern (vgl. Komm. I, 118–127; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Walter beendet den Abschnitt mit einem überschwänglichen Lob auf Alexander, der im Unterschied zu den römischen Kaisern – explizit wird der spätantike Kaiser Theodosius genannt – nicht nur in der Lage ist, in Friedenszeiten ein Rechtssystem zu etablieren, sondern dem es sogar gelingt, den noch im Kampf stehenden und damit weniger leicht zu disziplinierenden Soldaten strenge Regeln vorzugeben. ⇔ Damit lässt Walter – wie im Prooemium und am Ende von Buch V bereits ausgeführt – auch hier keinen Zweifel darüber aufkommen, dass Alexanders Leistungen diejenigen der römischen Kaiser bei weitem übertreffen und demzufolge auch die römischen Dichtungen eines Lucan oder Claudian hinter dem Werk Walters zurückzustehen haben (vgl. Komm. I, 1–5; vgl. dazu auch Komm. V, 491–520; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Das aemulative Anliegen Walters wird dadurch noch verstärkt, dass mit den Worten deus ultrices Furias arceret Olympo,  | Theodosius terris ein intertextueller Bezug zu Claudian hergestellt wird, der in seiner Invektive gegen Rufinus die Furie Allecto Klage darüber führen lässt, dass die zerstörerischen Kräfte durch Jupiter vom Olymp und durch Theodosius von der Erde ferngehalten werden (vgl. Claud., In Ruf. I, 50–51: quas Iuppiter arcet Olympo, | Theodosius terris).

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Die Eroberung von Susa und der Krieg gegen die Uxier (63–144) Die Einnahme von Susa und die Schlachtvorbereitungen gegen die Uxier (63–80) 63–80 Hec ubi mature tractata libentibus omnes | accepere animis, Susam tradentibus urbem | civibus et multis hilarato milite gazis, | agmen ad Uxias convertit turbidus arces … artificum ut studiis tali munimine tuta | funditus erueret muros armata iuventus: Auf dem Weg in das Gebiet der Uxier nimmt Alexander die Stadt Susa kampflos ein. Walter betont in Anlehnung an die Aristoteles-Rede mit den Worten tradentibus urbem auch an dieser Stelle die für einen erfolgreichen Feldherrn bedeutsame Tugend der angemessenen Gebefreu­ digkeit, die der makedonische König entsprechend der Vorgaben seines Lehrers gegenüber den eigenen Soldaten nach seinem Sieg an den Tag legt (vgl. Komm. I, 144–151 und 156–163; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Im Unterschied zu den Bewohnern von Susa sind die Uxier unter ihrem Anführer Medates nicht bereit, dem makedonischen Eroberer ihre gut geschützte Stadt kampflos zu überlassen. Auch wenn der Kampf gegen die Uxier durch Curtius’ Darstellung vorgeprägt ist, möchte Walter mit seiner Darstellung in Ergänzung der zuvor geschilderten Überzeugungskraft Alexanders dennoch nicht auf die Inszenierung weiterer Aspekte der Tugend der Tapferkeit verzichten. Walter betont nämlich – und das in erkennbarem Unterschied zu Curtius – mit dem auf Alexander bezogenen Attribut turbidus zum wiederholten Mal in der Alexandreis die Schnelligkeit seines wichtigsten Protagonisten, mit der er nach der kampflosen Einnahme von Susa in das Gebiet der Uxier vordringt (vgl. Komm. I, 116–117; vgl. dazu auch Komm. II, 91–102). Als der makedonische



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König im Kontext der Schlachtvorbereitungen gegen das wehrhafte Bergvolk erfährt, dass es einen den Feinden unbekannten Schleichweg in die Stadt gibt, schickt er sofort eine unter Taurons Führung stehende Reiterschar los, um die Stadt von zwei Seiten angreifen zu können. Damit führt Walter dem Leser auch die immer wieder positiv herausgestellte Handlungsschnelligkeit Alexanders vor Augen (vgl. Komm. I, 136–143). Er selbst dringt von einer aus Flechtwerk geschaffenen Deckung geschützt mit der Hauptstreitmacht bis an die Mauern der Stadt vor. Auch hier schildert Walter den makedonischen König entsprechend der Vorgaben der Aristoteles-Rede als einen strategisch klug handelnden Feldherrn, der nichts dem Zufall überlässt und mit seiner umsichtigen Planung erst die Voraussetzungen für den militärischen Erfolg schafft (zum strategischen Vermögen als Teilaspekt der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 133–136). Die Schlacht gegen die Uxier (81–102) 81–102 Sed gravis accessus cum dura minetur acutis | cotibus et sa­ xis succidi nescia tellus … et discent michi condescendere turres: In der Schilderung der Schlacht gegen die Uxier setzt Walter den makedonischen König zum wiederholten Mal als einen Anführer in Szene, der als erster unter den ersten – inter primos … primus – gegen die Mauern der Stadt zieht. Damit nimmt der Autor der Alexandreis inhaltlich und auch sprachlich Bezug auf die Anweisungen der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Vorbildfunktion eines Feldherrn, der stets in vorderster Linie dem Feind entgegentreten soll (vgl. Komm. I, 128–132). ⇔ Neben den in den Abschnitten zuvor herausgestellten Aspekten der Tugend der Tapferkeit verweist Walter mit der Vorbildfunktion Alexanders auch auf den letzten Aspekt dieser zentralen Feldherrntugend. Damit inszeniert Walter seinen wichtigsten Protagonisten als einen hinsichtlich der Tugend der Tapferkeit in allen Aspekten vorbildlichen und jederzeit handlungs-

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fähigen Feldherrn, der genau diejenigen Fähigkeiten besitzt, die sich – wie Walter an zentraler Stelle am Ende von Buch V ausgeführt hat – ein christlicher König und Anführer im Kampf gegen die Muslime zum Vorbild nehmen soll (vgl. Komm. V, 491–520). Auch die von Walter schon mehrfach für Alexander verwendete Blitzmetapher – fulminat in muros – verweist in bewusster Umdeutung des negativ konnotierten Caesar bei Lucan auf das von beispielloser Dynamik geprägte und mit der christlichen Heilsgeschichte in Einklang stehende Vorgehen des makedonischen Königs (vgl. Alex. VI, 91; zur Blitzmetapher vgl. Komm. II, 388–407). ⇔ Am Ende des Abschnitts steigert Walter im Unterschied zu seiner historischen Vorlage Curtius – dieser berichtet eher beiläufig lediglich von einer Ansprache des makedonischen Königs an seine Soldaten – Alexanders herausragende Rolle für die erfolgreiche Eroberung der Festung der Uxier mit einer Rede an seine Soldaten, in der er an ihre Ehre appelliert und ihnen klarmacht, dass keine Mauer einem Eroberer wie ihm standhalten könne (vgl. Alex. VI, 94–102). Wie schon im Kontext der Neuorganisation des Heeres stellt Walter damit ein weiteres Mal die Überzeugungskraft Alexanders heraus, dem es auch unter schwierigen Bedingungen gelingt, seine Soldaten zum Kampf anzuspornen und damit zum Sieg zu führen. Alexanders Sieg über die Uxier (103–144) 103–144 Dixit, et in summa Tauron apparuit arce … triste reporta­ tur responsum a principe nullum | esse locum veniae, parvas superesse doloris | suppliciique moras … ut mitiget iram regis et ut victis invictus parcat et urbi … Que tunc moderatio Magni, | que pietas fuerit vel que constantia regis | arguit hoc unum quod non Medati modo verum | omnibus ignovit et libertate priori | concessa captam captivis reddidit urbem … Si vaga victori Dario Fortuna dedisset | urbem pre manibus, non impetrasset ab illo | plura parens quam que victis dedit hostibus



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hostis: In der vorliegenden Textpassage arbeitet Walter am Verhalten Alexanders exemplarisch die beiden von der Vernunft gesteuerten Handlungsmöglichkeiten innerhalb der aristotelischen Tugend der angemessenen Zürnkraft heraus, die entweder in der Zerstörung der Stadt und der Hinrichtung der Bürger liegt oder in bewusstem Gegensatz dazu die Verschonung der besiegten Feinde vorsieht (vgl. Komm. I, 115). ⇔ Das strategisch kluge Vorgehen Alexanders, Tauron über den Schleichweg die Stadt von oben herab angreifen zu lassen, ist letztlich von Erfolg gekrönt. Die Mehrzahl der Uxier ergreift die Flucht und zieht sich, nicht ohne zuvor Gesandte mit der Bitte zu Alexander zu schicken, unversehrt abziehen zu dürfen, in die Burg zurück. Dieser lehnt entsprechend den Anforderungen der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen Zürnkraft eine Begnadigung ab, da die Uxier mit ihrem Widerstand einen Kampf provoziert und den geeigneten Zeitpunkt für eine Kapitulation verpasst haben (zur Zerstörung von Theben und der von Cleades überheblich und ebenso zu spät vorgebrachten Bitte um Verschonung vgl. Komm. I, 284–348). Erst als Sisigambis auf Medates’ Bitte hin – die von Walter gewählte Formulierung ut mitiget iram | regis et ut victis invictus parcat et urbi verweist dabei zweifelsfrei unmittelbar auf die Aristoteles-Rede – aufrichtig und ohne Rücksicht auf ihr eigenes Schicksal Alexander anfleht, zumindest den inzwischen einsichtigen Medates zu verschonen, sieht sich Alexander in Erfüllung der innerhalb der Tugend der angemessenen Zürnkraft zum Ausdruck gebrachten Anforderung des facilis oranti aus eigener Überlegung und ohne regeldogmatische Vorgabe in der Lage, seine Entscheidung zu revidieren und nicht nur Medates, sondern gleich der ganzen Stadt freien Abzug zu gewähren und sogar allen Bürgern die Äcker ohne jede Tributpflicht zurückzugeben (vgl. Komm. I, 115; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Alexanders Sinneswandel ist vor allen Dingen deshalb möglich, weil Sisigambis’ Verhalten von echter Demut geprägt ist, die als unabdingbare Voraussetzung für

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Alexanders Einlenken angesehen werden muss und von Walter aus diesem Grund auch mehrfach positiv herausgearbeitet wird. Walter stellt dieses von der Tugend der angemessenen Zürnkraft geprägte Verhalten des makedonischen Königs abschließend noch einmal mit der Bemerkung heraus, dass Sisigambis im Falle von Darius’ Sieg von ihrem Sohn nicht mehr erhalten hätte als von ihrem Feind Alexander (vgl. Alex. VI, 142–144). ⇔ Im Kontext der Auseinandersetzung mit den Uxiern versteht es Walter damit meisterhaft, an Alexanders Verhalten explizit die für einen Feldherrn maßgeblichen aristotelischen Tugenden der Tapferkeit – und dies in all ihren einzelnen Aspekten –, der angemessenen Gebefreudigkeit und der ange­ messenen Zürnkraft zu inszenieren. Dies zeigt noch einmal den für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede ebenso wie die Bewunderung Walters für die militärischen Fähigkeiten des antiken Feldherrn, die – wie an zentraler Stelle am Ende von Buch V deutlich zum Ausdruck gebracht wird – dem zeitgenössischen christlichen Anführer im Kampf gegen die Muslime als Vorbild dienen sollen (vgl. Komm. V, 491–520). Schwere Kämpfe gegen den Statthalter der Provinz Persis (145–160) 145–160 Nec mora, divisis cum Parmenione catervis,  | imperat ut Darium caute vestiget … Non alias Macedo, graviora pericula pas­ sus, | experto didicit semper variamque sibique | dissimilem et nulli fortunam stare perhennem … victaque sederunt victricibus arma sub armis: Während Parmenion durch das persische Flachland zieht, gerät Alexander bei der Verfolgung des Darius im Gebirge in eine schwierige Situation. Ariobarzanes, dem Statthalter der Provinz Persis, gelingt es mehrfach, den makedonischen König zurückzudrängen und ihn daran zu hindern, den Engpass der Persischen Tore zu passieren. Erst nach schweren Kämpfen und hohem Blutzoll unter den eigenen Leuten ist Alexander schließlich in der Lage, seinen



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persischen Widersacher zu besiegen. ⇔ Walter nutzt diese Begebenheit, um auf das wankelmütige Schicksal hinzuweisen, dem auch der makedonische König ungeachtet seines Sieges über Ariobarzanes unterliegt (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; zum Selbstverständnis Alexanders hinsichtlich der Begünstigung durch das Schicksal vgl. Komm. IV, 546–562; vgl. auch die Einführung zu Buch II). Alexander in Persepolis (161–296) Alexander macht Persepolis dem Erdboden gleich (161–195) 161–195 Vix bene purgato noctis caligine caelo … rapax ostendat Ara­ xes  | menia marmoreis paulo distantia ripis: Nach dem Sieg über Ariobarzanes überquert Alexander auf einer eigens errichteten Brücke den Araxes und eilt unverzüglich vor die Tore von Persepolis. Mit dem auf Alexander bezogenen Begriff festinus hebt Walter an dieser Stelle erneut die Schnelligkeit des makedonischen Königs hervor, mit der es diesem zum wiederholten Mal gelingt, seine Feinde zu überraschen (zu Alexanders Schnelligkeit vgl. Komm. VI, 63–80; zur Schnelligkeit als Teilaspekt der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 116–117). ⇔ Alexander macht Persepolis dem Erdboden gleich, da es sich dabei um jene königliche Residenz handelt, von der aus Xerxes im Jahre 480 v. Chr. seinen gigantischen Feldzug gegen Griechenland begonnen hatte. Insbesondere die im Kontext der Perserkriege von Xerxes bewusst in die Wege geleitete Zerstörung der Akropolis war als unverzeihliche Freveltat im kollektiven Gedächtnis der Griechen fest verankert, so dass die völlige Zerstörung von Persepolis an dieser Stelle auch von Walter ganz im Sinne antik-paganer Vorstellungen als gezielter und moralisch vertretbarer Racheakt der Griechen gegenüber den Persern beschrieben wird (zum Charakter des

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als Rachefeldzug verstandenen Perserkriegs vgl. Komm. V, 11–25). ⇔ Mit den Worten avara vetustas kritisiert Walter die Habgier der persischen Alten, die riesige Schätze ohne einen praktischen Nutzen in Persepolis zusammengetragen hatten (vgl. Alex. VI, 171). Diese Habgier der Perser findet ihre Entsprechung – von Walter nicht ohne einen ironischen Unterton wiedergegeben – im nicht minder habgierigen Verhalten der griechischen Soldaten, die bei der Verteilung der Schätze in ihrer blinden Wut nicht nur zahlreiche wertvolle Gegenstände zerstören, sondern sich sogar gegenseitig umbringen, um an die besten Stücke im persischen Schatz zu gelangen (zum moralisch fragwürdigen Verhalten der griechischen Soldaten bei der Verteilung der Beute vgl. auch Komm. II, 220–224). Alexander begegnet verstümmelten Kriegsgefangenen (196–212) 196–212 Dixeris indignam dignamve his cladibus urbem | ambigitur … visuros dulcia rura | divitis Europae, uxores dulcesque propinquos | spondet et in patrio capturos cespite sompnum: Beim Betreten der besiegten Stadt begegnet Alexander dreitausend am ganzen Körper verstümmelten griechischen Kriegsgefangenen, die zudem von den Persern als Sinnbild ihrer Entehrung auf der Stirn mit einem Brandmal gekennzeichnet worden waren. Die griechischen Soldaten und auch ihr König ringen um Fassung und können sich ihrer Tränen nicht erwehren. Alexander fordert sie auf, tapfer zu sein und bietet ihnen als Entschädigung für ihr grausames Schicksal die Rückkehr in die griechische Heimat an. ⇔ Die ganze Episode ist ursprünglich wohl eine Erfindung des Alexanderhistorikers Kleitarch, dem es zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. vermutlich darum gegangen war, Hassgefühle des Lesers gegenüber den Persern erneut zu schüren (vgl. Wiesehöfer 1994, 24). Curtius verleiht der Episode zusätzliches Gewicht, indem er ein dramatisches Rededuell zwischen Euctemon aus Kyme und Theteus von Athen einfügt, in welchem auf



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höchst emotionale Art und Weise die Frage erörtert wird, ob die verstümmelten Griechen in Asien bleiben oder das Angebot ihres Anführers Alexander, in die Heimat zurückkehren zu dürfen, annehmen sollen. Damit unterscheidet sich die Darstellung des römischen Historikers in ihrer überaus detailreichen und äußerst spannungsgeladenen Ausgestaltung deutlich von der sonstigen Überlieferung, die keinerlei Reden wiedergibt und überdies nur von achthundert Gefangenen berichtet (vgl. Diod. Βιβ. ἱστ. XVII, 69, 2–9; vgl. auch Iust. Epit. Hist. XI, 14). Abgesehen davon gestaltet Curtius seine Darstellung leicht erkennbar gemäß der römischen Vorstellungswelt, wenn er Theteus sagen lässt, dass er ad penates et in patriam zurückkehren wolle (vgl. Curt., Hist. Alex. V, 5, 20). Pausch (2016) 87 stellt als Begründung für diese erweiterte Darstellung bei Curtius einen interessanten Zusammenhang mit der im Jahre 20 v. Chr. erfolgten und in der römischen Literatur noch lange Zeit kontrovers diskutierten Rückkehr der römischen Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft der Parther her und stellt diesbezüglich fest: »Indem Curtius die römische Parallele als zusätzliche Folie aufruft, erhöht er die emotionale Wirkung der ohnehin schon mit allen Mitteln der rhetorischen Kunst gestalteten Episode und eröffnet dem Leser zugleich die Möglichkeit, bei der Abwägung der Frage, ob die Entscheidung der befreiten Gefangenen, in Asien zu bleiben, richtig war oder nicht, das konträre Schicksal der römischen Kriegsgefangenen in Betracht zu ziehen.« ⇔ Obgleich Walter hinsichtlich dieser Episode im Wesentlichen seiner historischen Hauptquelle Curtius folgt, gilt es für ein tieferes Verständnis der Stelle in der Alexandreis ein besonderes Augenmerk auf einen wesentlichen Unterschied in seiner Darstellung zu richten. Walter gibt nämlich das traurige Schicksal der Griechen im Unterschied zu Curtius, der die Episode noch vor den Kämpfen um Persepolis eingefügt hat, erst nach der Eroberung der Stadt wieder. Vor dem Hintergrund der programmatischen Bedeutung der Aristoteles-Rede für die Alexandreis als Ganzes ist anzunehmen, dass Walter mit diesem Vorgehen dem Eindruck

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entgegenwirken will, dass die rücksichtslose und brutale Zerstörung von Persepolis – auch wenn dies bei Curtius gar nicht intendiert war – als nicht von der Vernunft getragene Überreaktion des makedonischen Königs beim Anblick seiner verstümmelten Landsleute erscheinen könnte. Mit einer derartigen Positionierung der Episode bei Walter wird Alexanders Vorgehen bei der Zerstörung von Persepolis damit – wie im Kommentarpunkt zuvor bereits angesprochen – ausschließlich mit dem ursprünglichen, auf der vormaligen Zerstörung Griechenlands durch die Perser beruhenden Racheplan der Griechen in Verbindung gebracht, der nach antik-paganen Maßstäben ohne Zweifel den Vorgaben der aristotelischen Tugend der an­ gemessenen Zürnkraft entspricht (vgl. Komm. I, v. 115; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung von Buch I). Diesem Gedanken folgend kann auch Alexanders großzügiges Angebot, seinen verstümmelten Landsleuten die Rückkehr in ihr Heimatland zu ermöglichen, als wohlmeinender Akt der an­ gemessenen Zuwendung verstanden werden (zur Tugend der ange­ messenen Zuwendung vgl. Komm. I, 152–154; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ Somit dient auch diese Episode bei Walter in erster Linie der Inszenierung der außerordentlichen Tugendhaftigkeit des makedonischen Königs, obgleich mit der in der Alexandreis vorgenommenen Positionierung darüber hinaus doch auch eine zusätzliche und nachträgliche Rechtfertigung – auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Walter zu Beginn des Abschnitts die Frage in den Raum stellt, ob Persepolis diesen verheerenden Untergang verdient hat – für die völlige Zerstörung und Plünderung der Stadt beabsichtigt zu sein scheint.



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Das Rededuell zwischen Euctemon und Theteus (213–296) 213–296 Secedit vallo vulgus miserabile donec … immo  | quos penes invisum iam desiit esse cadaver … Hactenus Euctemon, cui sic oriun­ dus Athenis | Theteus obiecit … modo libera detur | visendi a superis natalia rura facultas … Finierat Theteus sed paucos repperit huius  | voti participes … ne frumenta solo desint, cultoribus era: Die Kriegsgefangenen beraten sich, ob sie Alexanders großzügiges Angebot, in die Heimat zurückzukehren, annehmen sollen, oder ob sie doch lieber in der Fremde Asiens bleiben wollen. Euctemon plädiert in einer überaus pessimistischen Rede für einen Verbleib in Asien, da er der Ansicht ist, dass ihre Angehörigen in der Heimat mit einem derartigen Leid nicht umgehen könnten und ihrer geschundenen Körper wegen zudem eine Zurückweisung durch ihre Ehefrauen zu erwarten sei. ⇔ Obgleich sich Walter auch in der Übernahme der beiden Reden im Wesentlichen an Curtius orientiert, verdient eine Passage in der Rede des Euctemon besondere Beachtung, da sie keinerlei Parallele zu seiner historischen Hauptquelle besitzt. Euctemon entwirft dort innerhalb seines Plädoyers für einen Verbleib in Asien ein überaus negatives Bild der in Griechenland zurückgelassenen Ehefrauen, die seinen Ausführungen zufolge nach einer eventuellen Rückkehr ihren verstümmelten Ehemännern wenig sexuelles Interesse entgegenbringen dürften. Seine für die Ehefrauen wenig schmeichelhaften Ausführungen führen zu der von Ernüchterung getragenen rhetorischen Frage Usque adeo sexus nobis incognitus ille est?, die ihrerseits den Auftakt zu einem misogynen Ausbruch bildet, in welchem die grundsätzliche Unbeständigkeit und mangelnde Zuverlässigkeit der Frauen angeprangert wird, die – so Euctemon – schon unter normalen Umständen ihren Ehemännern schwer zusetzen (vgl. Alex. VI, 253; vgl. auch Alex. VI, 248–256). Walter scheint sich damit jenseits der Darstellung bei Curtius in einen zeitgenössischen Diskurs einzuschalten, der – wie der in den Jahren 1174 bis 1186 entstandene und gerade in Frankreich weit verbreitete Traktat De amore des An-

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dreas Capellanus zeigt – die erotische Liebe und die Verworfenheit der Frauen zum Thema hat. Der zeitweise am Hof des französischen Königs Philipp II. tätige Autor beschreibt darin einen konkreten Fall, bei dem eine Frau, die ihren Liebhaber zurückweist, nachdem dieser ein Auge oder ein anderes Körperteil verloren hat, mit der Begründung verurteilt wird, dass eine Frau grundsätzlich aller Ehre für unwürdig zu gelten habe, die wegen einer aus einem üblichen Kriegsunfall resultierenden Verstümmelung, wie sie tapferen Kämpfern zuzustoßen pflegt, die Entscheidung treffe, dem Liebespartner ihre Liebe zu entziehen (vgl. Capell., De amore II, 35–36: Amator quidam, quum proeliando viriliter oculum vel alium sui corporis amisisset or­ natum, quasi indignus ac taedosius a sua coamante repellitur, et soliti sibi denegantur amplexus. […] Omni honore mulier censetur indigna, quae ob deformationem solito belli contingentem eventu, et quae solet viriliter evenire bellantibus, coamantem suo iudicavit amore privan­ dum). Dass Walter auf die zeitgenössische Diskussion dieses Falls Bezug nimmt, zeigt sich auch daran, dass er mit den Worten penitus vel lumine cassi den bereits von Curtius angeführten Verstümmelungen auch den von Capellanus erwähnten Verlust des Augenlichts hinzufügt, eine Verletzung, die bei der mittelalterlichen Kampftechnik offenbar sehr häufig vorkam (vgl. Alex. VI, 201; vgl. auch Kullmann 2000, 60). Wie intensiv die Diskussion um das Thema offenbar gerade zur Abfassungszeit der Alexandreis geführt wurde, belegt auch der unter dem Titel Ille et Galeron zwischen 1167 bis 1178 entstandene Roman von Gautier d’Arras, in welchem sich der Held des Geschichte nach dem Verlust eines Auges von seiner Geliebten in der irrigen Annahme trennt, sie könnte ihn wegen der erlittenen Verstümmelung nicht mehr lieben. So sehr Walter damit die Verfehlungen der Frauen in den Blick nimmt, so wenig scheint er Interesse daran zu haben, auch das Verhalten der Männer einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Das bei Curtius von Euctemon vorgebrachte Argument, nicht in die Heimat zurückzukehren, da nicht zu erwarten sei, dass die griechischen Ehefrauen ihre in Asien gezeugten Kinder ak-



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zeptieren könnten, findet bei Walter nämlich keine Erwähnung. ⇔ Theteus widerspricht in seiner Gegenrede Euctemon vehement und möchte Alexanders großzügiges Angebot, in die griechische Heimat zurückzukehren, unbedingt annehmen. Niemand dürfe nach dem Zustand seines Körpers beurteilt werden, zumal dieser nicht von Natur aus so grausam entstellt sei, sondern sein Aussehen von Feindeshand erhalten habe (vgl. Alex. VI, 266–267). Damit macht sich Theteus die Argumentation des Richterspruchs aus Capellanus’ De amore zu eigen, der deutlich macht, dass eine Verunstaltung der Körperglieder durch Feindeshand doch ein Zeichen von Tapferkeit darstelle, die ihrerseits normalerweise Frauenliebe zu erregen pflege. Demzufolge könne ihr missgestaltetes Aussehen kein Grund für eine Zurückweisung durch die Ehefrauen sein (vgl. Capell., De amore II, 36: Hominum enim audacia maxime mulierum concitare consue­ vit amorem et eas in amandi proposito diutius enutrire. Quare igitur membrorum deformitas, quae naturaliter ex audacia ipsa inevitabili procedit eventu, amoris damno afficere debet amantem?). ⇔ Die Gegenrede des Theteus findet unter den Kriegsgefangenen jedoch keine Zustimmung. Die meisten seiner missgestalteten Gefährten ziehen es dem Vorschlag des Euctemon folgend vor, in der Fremde Asiens zu bleiben und dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Demzufolge verteilt Alexander freigiebig Land und Geld an seine bedauernswerten Landsleute. Darius zwischen Alexander und den Verschwörern Bessus und Narbazanes (297–552) Alexander nimmt die Verfolgung des Darius wieder auf (297–310) 297–310 Hiis ubi consulte providit Martius heros … pugnandoque mori decrevit honestius esse | quam victam tociens fatis extendere vi­ tam: Alexander nimmt die Verfolgung des Darius wieder auf, um

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den endgültigen Sieg über das Perserreich zu erlangen. ⇔ Der an dieser Stelle bemühte Vergleich Alexanders mit einem Panther geht ebenso wie die bereits erfolgte Identifizierung mit einem Ziegenbock auf die biblische Danielprophetie zurück, mit dem Walter den Leser erneut auf den heilsgeschichtlich legitimierten Auftrag Alexanders – die Eroberung des Perserreichs – hinweist (vgl. Alex. V, 6–10; vgl. dazu auch Alex. VII, 359–360: pardis velocius agmen | ad Tanaim transfert). ⇔ Mit den Worten precipiti cursu thematisiert Walter als Teilaspekt der Tugend der Tapferkeit erneut auch die außergewöhnliche Schnelligkeit Alexanders, mit der er den persischen König verfolgt (vgl. Alex. VI, 299; zur Schnelligkeit vgl. auch Komm. VI, 63–80, zur Schnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapfer­ keit vgl. Komm. I, 116–117). ⇔ Als Darius erfährt, dass Alexander sich bereits in unmittelbarer Nähe aufhält, ändert er seine ursprünglichen Pläne, sich möglichst weit in das Land der Meder zurückzuziehen und beschließt, die Entscheidung im offenen Kampf zu suchen. Dies kann als weiterer Beleg für den bereits mehrfach festgestellten Sachverhalt gewertet werden, dass dem persischen König vom Autor der Alexandreis jenseits einer vergleichenden Charakterisierung mit Alexander bestimmte Tugenden nicht grundsätzlich abgesprochen werden (vgl. Komm. V, 319–345). ⇔ Erneut ist auch eine ausgeprägte Schicksalsergebenheit des Darius zu erkennen, der seine bisherigen Niederlagen weniger seinem persönlichen Versagen zurechnet, sondern vielmehr ursächlich mit dem für die persische Seite nachteiligen Wirken des Schicksals in Verbindung bringt (zu Darius’ Schicksalsergebenheit vgl. Alex. IV, 58–67; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Darius’ Rede an seine Soldaten (311–369) 311–369 Unde viae comites paulo consistere iussos | intuitus … ut te contingat Olimpo  | teste vel egregia vinci vel vincere pugna: Darius



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teilt seinen Soldaten mit, dass er die endgültige Entscheidung im Kampf gegen Alexander auf dem Schlachtfeld suchen möchte, auch wenn sie alle dabei den Tod finden sollten. Der persische König begründet seinen Entschluss mit der tieferen Einsicht, dass sie aufgrund ihres tugendhaften Verhaltens auch im Falle eines militärischen Scheiterns mit ewigen Ruhm rechnen könnten. Darius hat anders als im direkten Anschluss an die Schlacht von Gaugamela, wo er noch überzeugt war, das Blatt wenden zu können, inzwischen eingesehen, dass ihm die Götter die Unterstützung für seinen nach eigenen Maßstäben gerechten Krieg entzogen haben und den Persern letztlich nur noch die Hoffnung auf ein möglichst ehrenvolles Ende – stilistisch durch ein Polyptoton und eine damit einhergehende Alliteration hervorgehoben – bleibt (vgl. Alex. VI, 361–363: saltim | finis honestus erit, fortesque licebit honesto | mortis more mori; vgl. auch Komm. V, 376–421). ⇔ Walter zieht an dieser Stelle zum wiederholten Mal das in der Alexandreis immer wieder bemühte Ruhmesmotiv heran, das nicht nur einen wichtigen Leitfaden im Handeln seines wichtigsten Protagonisten Alexander darstellt, sondern auch für seinen persischen Widersacher Darius uneingeschränkte Gültigkeit besitzt (vgl. Zwierlein 2004, 676; vgl. auch Komm. IV, 350–373; zu Walters Verständnis wahren Ruhms vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). Die Reaktion der persischen Soldaten (370–383) 370–383 Hactenus Arsamides, sed non excepit eodem | verba cohors animo … comitum titubantia firmat | pectora et invito parat ire per equora vento: Ungeachtet der eindringlichen Rede des Darius sind die persischen Soldaten von den Worten ihres Anführers nicht überzeugt. Erst als dem persischen König Artabazus in einem Freundschaftsdienst zur Seite springt und ihm im Namen aller Soldaten ihre Unterstützung zusichert, spenden sie ihrem Anführer den an-

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gemessenen Beifall. ⇔ Walter unterstreicht die Sinnlosigkeit und die Hoffnungslosigkeit des persischen Unterfangens mit einem Vergleich aus dem Bereich der Seefahrt, bei welcher der Steuermann seine Matrosen aufzumuntern versucht, obwohl das Heck des Schiffs bereits zerstört und der Schiffbruch nur noch eine Frage der Zeit ist. Es ist nicht auszuschließen, dass Walter bei Vergleichen, die mit den Gefahren des Meeres in Zusammenhang stehen, aus dem Erfahrungsschatz seiner Überfahrten nach England geschöpft hat (vgl. Komm. IV, 301–327; vgl. auch Christensen 1905, 81). Die Intrige des Bessus und des Narbazanes (384–424) 384–424 At Bessus facinus iam premeditatus acerbum | Narbaza­ nesque suus … ad presens committe tui moderamina regni  | ut tibi restituat accepto tempore sceptrum: Walter entlarvt gleich zu Beginn des Abschnitts das eigentliche Vorhaben der beiden Verschwörer Bessus und Narbazanes, die ihren König entweder lebend festsetzen wollen, um ihn im Falle einer Niederlage gegen Alexander als Pfand in der Hinterhand zu behalten, oder danach trachten, ihn zu ermorden, sollte ihnen die Flucht vor Alexander gelingen, um dann mit einer erneuerten Streitmacht gegen den makedonischen König zu Felde zu ziehen. Narbazanes tritt vor Darius und führt ihm mit wenig schmeichelhaften Worten – er vergleicht den persischen König dabei als unnötigen und schädlichen Ballast, den man als Seemann auf einem sinkenden Schiff unbedingt abwerfen müsse – vor Augen, dass er einem widrigen Schicksal folgend einen Krieg ohne die Unterstützung der Götter führe und demzufolge abdanken müsse und die Herrschaft auf Bessus übertragen solle. Um dem respektlosen Ansinnen ein wenig die Schärfe zu nehmen, stellt er Darius auf heuchlerische Art und Weise in Aussicht, nach dem Sieg über Alexander die Herrschaft über das Perserreich wieder übernehmen zu dürfen. Narbazanes stellt in seiner anmaßenden Rede sogar die



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Tugendhaftigkeit seines Königs in Frage, indem er dessen Schicksalsergebenheit als Unfähigkeit desavouiert, alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten – gemeint ist dabei natürlich insbesondere Darius’ Ablösung als Feldherr und König – auszuloten, um doch noch siegreich aus dem Krieg gegen Alexander hervorzugehen. Darius’ Reaktion auf die Intrige (425–434) 425–434 Hec ubi dicta, animo vix temperat ille benignus | et paciens rector … eumque | haut mora vinciret, nudum nisi conderet ensem: Der von Walter mit benignus et paciens rector überaus positiv dargestellte persische König ist zu Recht aufgebracht und beschimpft seinen Unterfeldherrn Bessus als grausamen Sklaven, der in einer angespannten Situation wie nach der Niederlage in Gaugamela glaubt, den geeigneten Moment gefunden zu haben, seinen König zu töten und sich selbst zum Herrscher über das persische Reich aufzuschwingen (vgl. Alex. VI, 425–429). Walter hebt dabei mit Darius’ eigenen Worten dessen schwerwiegenden Fehler hervor, eine sklavenhafte Natur wie Bessus mit einer bedeutenden Führungsposition betraut zu haben, obwohl dieser dafür nicht die charakterlichen Voraussetzungen mitbringt. Sehen solche depravierten Charaktere gemäß Walter nämlich die Möglichkeit, ihre eigenen Interessen rücksichtslos durchzusetzen, verhalten sie sich – wie Aristoteles in seiner Rede einst dem noch jugendlichen Alexander ans Herz gelegt hatte – grimmiger als eine taube Natter (vgl. Alex. I, 90: in domi­ num surgens, truculentior aspide surda; vgl. auch Komm. I, 85–91). ⇔ Insofern zeigt sich in dieser Situation erneut der Programmcharakter der Aristoteles-Rede nicht nur für den makedonischen König selbst, sondern letztlich für alle anderen innerhalb der Alexandreis handelnden Personen (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).

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KOmmentar Der Rat des Artabazus an Darius (435–442)

435–442 Tunc vero a reliquis metari castra seorsum | precepere suis, at regi Artabazus irae | consulit ut parcat … Blando retinendus amore est | miles ne sanos turbet discordia sensus | neve a rege suos alienent Bactra quirites: Die Situation beruhigt sich vorerst dadurch, dass Bessus und Narbazanes ihr Lager in einiger Entfernung von Darius aufschlagen und damit die direkte Konfrontation erst einmal vermeiden. Als Freund gibt Artabazus dem persischen König den Rat, seinen Zorn über den Verrat der beiden Verschwörer zu zügeln und in dieser bedrohlichen Situation – Alexander ist bereits im Anmarsch – sein Augenmerk auf die ihm verbliebenen Soldaten zu richten, die für den anstehenden Kampf unbedingt seiner menschlichen Zuwendung bedürfen. ⇔ Damit übernimmt Artabazus für Darius beinahe die Rolle des Aristoteles bei Alexander, der seinem jugendlichen Schüler einst auch aufgetragen hatte, den eigenen Soldaten mit Warmherzigkeit zu begegnen – angesprochen ist in dieser Situation insbesondere die Tugend der angemessenen Zuwendung –, um einer möglicherweise sich entwickelnden oder bereits vorhandenen Entfremdung zwischen dem König und seinen Soldaten entgegenzuwirken sowie einer situativ bedingten Unzufriedenheit im Heer möglichst früh Einhalt zu gebieten (vgl. Komm. I, 152–154; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ Erneut zeigt sich damit der im Kommentarpunkt zuvor bereits angesprochene Programmcharakter der Aristoteles-Rede für alle innerhalb der Alexandreis handelnden Personen (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).



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Darius’ verzweifelte Lage (443–450) 443–450 Paruit Arsamides, superosque et fata secutus | castra locat … pervigiles librans in pectore curas: Im ersten Punkt folgt Darius dem Rat seines Freundes und Beraters Artabazus und geht nicht sogleich gegen die Verschwörer vor. Aber es gelingt ihm nicht – wie Artabazus ihm aufgetragen hatte –, die Stimmung im Lager zu seinen Gunsten zu wenden, da er grübelnd die Handlungsalternativen erwägt, ohne daraus eine von der Vernunft getragene Entscheidung für sein zukünftiges Handeln abzuleiten. Er verletzt damit die aus der Aristoteles-Rede hervorgehende und von Artabazus noch einmal deutlich zum Ausdruck gebrachte Anweisung, seinen Soldaten mit Warmherzigkeit zu begegnen. Walter beschreibt die durchaus noch beeinflussbare Stimmung im Lager als schwankend und stellt konstatierend fest, dass die Perser durch das zögerliche Verhalten des Darius eigentlich keinen richtigen Anführer mehr besitzen (vgl. Alex. VI, 446–447: In castris igitur, que iam rectore carebant, | motus erat varius animorum). Der listige Plan der Verschwörer (451–467) 451–467 At duo, conceptum iam mente cupidine regni | tractantes fa­ cinus, agitabant pectore regem | non nisi cum magno comprendi posse labore … Ergo dolis operam dare et excusare furorem | decrevere suum, simulanti voce reverti | ut decet, et tanti se penituisse reatus | ficturos, extrema pati pro rege paratos: Walter klärt an dieser Stelle auf, warum die Verschwörer nicht schon längst ihren König Darius in Fesseln gelegt oder sogar umgebracht haben. Er begründet das zögerliche Vorgehen der Verschwörer damit, dass auch in einem barbarischen Volk wie den Persern das Vertrauen in den König nur schwer zu erschüttern sei und für die Verschwörer die Gefahr bestehe, bei einer öffentlichen Festsetzung des Darius den Widerstand der königstreu-

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en Truppen auf den Plan zu rufen. Aus diesem Grund beschließen die Verschwörer entsprechend ihrem sklavenhaften Charakter eine List anzuwenden und den König mit falschen Entschuldigungen für ihr frevelhaftes Verhalten gnädig zu stimmen. Als Gipfel ihrer grenzenlosen Heuchelei versichern sie ihm, auch weiterhin bis zum Äußersten an seiner Seite kämpfen zu wollen. ⇔ Damit zeigt Walter erneut, wie falsch es von Darius gewesen war, derartig depravierte Charaktere mit Führungspositionen zu betrauen, die bei der ersten Gelegenheit oder der ersten Schwäche ihres Anführers eigene Pläne schmieden und ihrem König die Treue aufkündigen (vgl. Komm. VI, 425–434). Die Durchführung der List (468–489) 468–489 Crastinus amissum noctis caligine mundum  | reddide­ rat Tytan, et signum castra movendi | iam dederat Darius … laxis properabat habenis  | maturare fugam finesque subire repostos: Am nächsten Morgen gibt Darius das Zeichen zum Aufbruch. Auch die beiden Verschwörer finden sich ein und heucheln samt der ihnen ergebenen Schar unter Tränen ihre Ergebenheit gegenüber dem König. Walter lässt keinen Zweifel an der Unredlichkeit der Verschwörer aufkommen, indem er zum wiederholten Mal ihren sklavenhaften Charakter hervorhebt und dem Leser unmissverständlich zu verstehen gibt, dass sie nach wie vor nichts anderes als den Sturz ihres Königs im Sinn haben. Bessus und Narbazanes sind noch nicht einmal in der Lage, die Güte ihres Königs zu erkennen, als er ihnen seine Gnade gewährt und sie wieder im persischen Heer aufnimmt. Auch wenn Walter mit wenigen Hinweisen Darius’ trauriges Schicksal bereits vorwegnimmt, lässt er das Vorgehen des persischen Königs, den makedonischen Scharen durch einen weiteren Rückzug in das medische Kernland zu entkommen, ungeachtet der damit einhergehenden Missachtung des Schicksals durchaus in



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einem positiven Licht erscheinen (vgl. Alex. VI, 475–480: Sceptrum preradians et adhuc insignia regni | gestabat Darius curruque mica­ bat ab alto … et sustinuit venerari | tunc patricida ducem, quem post in vincula servus | detrusurus erat). Das wohlmeinende Angebot des Griechen Patron (490–510) 490–510 At Patron, Greci dux agminis, integer evo | et stabilis fidei … Si quis tamen hec quoque si quis | carmina nostra legat, numquam Patrona tacebit | Gallica posteritas. Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum moritura per evum: Im Gegensatz zu Bessus und Narbazanes möchte ausgerechnet der griechische Söldner Patron, der den persischen König in einem günstigen Moment von den weiterhin virulenten Plänen der Verschwörer in Kenntnis setzt, seinem Oberbefehlshaber aufrichtig helfen, indem er diesem anbietet, mit seinem Kontingent griechischer Soldaten als dessen Leibwache zu dienen. ⇔ Walter nutzt die Gelegenheit, um Patrons charakterlich einwandfreie Haltung und überaus beeindruckende Tugendhaftigkeit positiv herauszustellen und in einem daran unmittelbar anschließenden Autorkommentar zugleich seine eigene Dichtung in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Damit macht Walter über die Kernstellen seiner poetologischen Doppeldoktrin hinaus noch einmal deutlich, dass zwischen dem Erfolg und dem Bekanntheitsgrad eines Dichters und dem Ruhm einer gepriesenen Person – an der vorliegenden Stelle als Genitiv Singular auf den Griechen Patron bezogen und als Eigenname deshalb auch groß geschrieben – ein enger Zusammenhang besteht (zu den beiden Kernstellen der poetologischen Doktrin Walters vgl. Komm. I, 468–492 und Komm. V, 491–520; vgl. dazu auch Wulfram 2000, 238–239; vgl. auch Einleitung 6; zur Abhängigkeit des Ruhms vom erfolgreichen Wirken des Dichters jenseits der Kernstellen der Doppeldoktrin Walters vgl. Komm. VII, 344–348 bzw. Komm. X, 461–469). Doch

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dem Autor der Alexandreis gelingt es, mit den Worten gloria Patro­ nis zugleich auch einen Bezug zu seinem Gönner und Widmungsnehmer Wilhelm herzustellen. Indem das Wort Patronis innerhalb des Hexameters in seiner letzten Silbe nämlich eine Positionslänge aufweist – die Genitivendung -is- von Patronis im Singular des konsonantisch deklinierten Namens Patron besteht für sich genommen aus einer Kürze, weist Walter damit überaus sprachgewandt auf den Dativ Plural des innerhalb der o-Deklination flektierten Substantivs patronus hin. Demzufolge bezeichnet er mit gloria Patronis eben nicht nur den ewigen Ruhm des Griechen Patron, sondern überträgt mit diesem sprachlichen Kunstgriff den Ruhm auch allgemein auf alle Patrone und damit zugleich auch auf Wilhelm. ⇔ Die Wendung Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum moritura per evum benutzt Walter in leicht abgewandelter Form ansonsten nur noch zweimal in der Alexandreis (vgl. Alex. VII, 344–346: Te tamen, o Dari, si que modo scribimus olim | sunt habitura fidem, Pompeio Francia iuste | laudibus equabit; vgl. auch Alex. X, 468–469: vivet cum vate superstes | gloria Guillermi nullum moritura per evum). Darius lehnt das Angebot des Griechen Patron ab (511–524) 511–524 Iam reor eterno causarum secula nexu | non temere volvi … Si salvum iam me esse mei, si vivere nolint, | iam sero pereo, iam mortem ultroneus opto: Walter macht in Fortsetzung seines oben begonnenen Autorkommentars aus christlicher Sicht deutlich, dass das Wirken Gottes die oberste Instanz für alle Geschehnisse auf Erden ist und setzt diese für einen mittelalterlichen Autor nicht überraschende Einsicht in Beziehung zu Darius, der länger hätte leben können, wenn er auf Patrons Vorschlag eingegangen wäre. Damit stellt Walter implizit eine Verbindung zwischen der gerade geschilderten Situation und der Danielprophetie her, die bekanntlich die Ablösung des Perserreichs durch Alexander vorsieht (vgl. Komm. VI, 1–15).



Kommentar zu Buch VI

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⇔ Der persische König erläutert seinem treuen Söldner Patron die Gründe für sein ablehnendes Verhalten und macht deutlich, dass er nicht als Verräter seines eigenen Volkes gelten möchte, sondern es gegebenenfalls vorzieht, zusammen mit diesem unterzugehen. Auch an dieser Stelle schildert Walter den persischen König als moralisch einwandfrei handelnden Mann, dem die moralische Integrität wichtiger ist als das eigene Überleben (vgl. Komm. VI, 279–310). Der Verschwörer Bessus verunglimpft Patron (525–547) 525–547 Attonitus Patron et desperare coactus | consilio regis ad Greca revertitur amens | agmina … Vir sine pignoribus lare coniuge pauper et exul | emptorum preciis ut circumfertur harundo: Ungeachtet der Ablehnung will Patron ohne Rücksicht auf das eigene Leben den persischen König beschützen. Bessus lässt es sich nicht nehmen, den Griechen vor Darius schlecht zu machen und ihn als gierigen Söldner darzustellen, dem es nur um den eigenen finanziellen Vorteil gehe. Noch immer heuchelt Bessus gegenüber seinem König Dank und Ehrfurcht und hält es in der irrigen Annahme, Alexander könnte für derartige Ränkespiele empfänglich sein, für besser, seinen König nicht gleich zu töten, sondern ihn als Pfand für den makedonischen König aufzusparen. Im Grunde genommen wirft Bessus dem tugendhaften Patron dabei genau das vor, was er sich in seiner Verderbtheit selbst zum Ziel gesetzt hat. Darius’ Schicksalsergebenheit (548–552) 548–552 Annuit Arsamides, certus tamen omnia vera  | deferri a Grais … non parere suis et eis se credere nolle | quam falli et gladiis caput obiectare suorum: Auch wenn Darius seinem Söldner Patron Glauben schenkt und seinen eigenen Leuten misstraut, sieht er sich

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nicht in der Lage, die verfahrene Situation zu lösen und ergibt sich seinem Schicksal, indem er den offenen Konflikt mit den Verschwörern vermeidet (zur Schicksalsergebenheit des Darius vgl. Komm. VI, 297–310). ⇔ Auch wenn der Untergang des persischen Königs innerhalb der christlichen Heilsgeschichte unvermeidbar ist, stellt Walter dessen Scheitern damit zum wiederholten Mal auch in den Kontext der aristotelischen Tugendlehre, nach der dessen Unfähigkeit zu zürnen ein zu vermeidendes Laster darstellt und für einen König in einer derartig schwierigen Situation nicht ohne Folgen bleiben kann (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I; zur Tugend der angemes­ senen Zürnkraft in Bezug auf Darius vgl. Komm. III, 189–202; vgl. auch Komm. I, 115).

Einführung zu Buch VII Nachdem Darius am Ende des sechsten Buchs das Angebot des griechischen Söldners Patron abgelehnt hat, ihm gegen die Verräter in den eigenen Reihen beizustehen, geht Walter mit Beginn von Buch VII auf den Fortgang der Verschwörung ein, die in der Festnahme und der Verschleppung des persischen Königs ihren vorläufigen Höhepunkt findet (vgl. Komm. VII, 1–90). Innerhalb dieser längeren Passage zeigt Walter auf, dass das Scheitern des persischen Königs zwar durch das Schicksal vorgezeichnet ist, dieser jedoch auch selbst zum eigenen Unglück beiträgt, da er in Missachtung der aristotelischen Tugend des angemessenen Stolzes einer fatalen Fehleinschätzung der eigenen Person unterliegt, wenn er der Ansicht ist, ohne eigene Schuld zwischen den Feinden in den eigenen Reihen und der äußeren Bedrohung durch die Griechen zerrieben zu werden und er aufgrund seiner gerechten Herrschaft doch ein längeres Leben verdient habe (vgl. Komm. VII, 17–58; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw. des lateinischen Begriffs magnanimitas mit angemessener Stolz vgl. die Einführung zu Buch I). Auch hier zeigt sich erneut der Programmcharakter der Aristoteles-Rede für die Protagonisten des Epos, die nur erfolgreich sein können, wenn sie den in der Aristoteles-Rede zum Ausdruck gebrachten moralischen Handlungsaufforderungen nachkommen, sie jedoch auch zum Scheitern verurteilt sind, wenn sie diese nicht erfüllen können (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 7.4; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. auch Einleitung 7.4). Im Unterschied zu Darius wird Alexander auch im vorliegenden Buch aufgrund seiner Charakterfestigkeit im Hinblick auf eben diese

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aristotelischen Tugenden vom Autor der Alexandreis ausschließlich positiv dargestellt. Bei der Verfolgung des persischen Königs etwa arbeitet Walter die Schnelligkeit ebenso wie die Handlungsschnellig­ keit seines wichtigsten Protagonisten heraus, der nichts unversucht lässt, die Verschwörer einzuholen und Darius gefangenzunehmen, und zudem ausgesprochen flexibel auf unerwartete Veränderungen der äußeren Umstände zu reagieren weiß (zur Schnelligkeit sowie zur Handlungsschnelligkeit als Teilbereiche der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 116–117 bzw. Komm. I, 136–143). Auch erweist sich Alexander nach der Bestattung des persischen Königs bei der Verteilung von Geldern seinen Soldaten gegenüber als äußerst großzügig (vgl. Komm. VII, 431–435). Damit erfüllt der makedonische König neben der Tugend der Tapferkeit auch die Handlungsanweisungen der Aristoteles-Rede in Bezug auf die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit (vgl. Komm. I, 144–151 bzw. Komm. I, 165–163; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudig­ keit vgl. die Einführung zu Buch I). Ebenso gibt Alexander in der Ansprache an seine Soldaten ein beeindruckendes Beispiel seiner Überzeugungskraft, als es ihm gelingt, seine Männer mit stichhaltigen Argumenten von der ersehnten Rückkehr in die griechische Heimat abzuhalten (vgl. Komm. VII, 467–538; zur Überzeugungs­ kraft als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. 118–127). Losgelöst von einer vergleichenden Charakterisierung mit Alexander verfolgt Walter jedoch auch im vorliegenden Buch die erkennbare Absicht, den persischen König gemessen an den Vorgaben der Aristoteles-Rede nicht als einen grundsätzlich untauglichen Feldherrn und König darzustellen. Dieses Bestreben lässt sich unschwer an dem unmittelbar an die Schilderung von Darius’ Tod eingefügten Moralexkurs erkennen, in welchem Walter den persischen Verschwörer Bessus als exemplum eines rücksichtslosen und fehlgeleiteten Menschen dem persischen König kontrastierend gegenüberstellt und diesem als Dichter und Autor der Alexandreis sogar



Einführung zu Buch VII

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ewigen Ruhm in Aussicht stellt (vgl. Alex. VII, 341–347). Besonders bemerkenswert ist dieser Umstand auch insofern, als Walter sich dafür einer Formulierung bedient, die er ansonsten in der gesamten Alexandreis leicht abgewandelt nur noch zur Würdigung des griechischen Söldners Patron und zur Lobpreisung seines Gönners Wilhelm von Blois benutzt (vgl. Alex. VI, 507–510; vgl. auch Alex. X, 466–469). Auch in der darauf folgenden als Apostrophe an Darius gestalteten Passage ist dieser Vorsatz des mittelalterlichen Dichters unübersehbar, in welcher der lucanische Pompeius und der persische König mit Hilfe einer meisterhaft arrangierten Kontrastimitation eine moralische Aufwertung gegenüber dem lucanischen Caesar und dem Perser Bessus erfahren (vgl. Komm. VII, 344–347; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Über diese bemerkenswerte Würdigung des persischen Königs hinaus greift der Moralexkurs auf der zeitgenössischen Ebene zudem die katastrophalen Zustände in Kirche und Gesellschaft des 12. Jahrhunderts auf, die von Walter einer heftigen Kritik unterzogen werden (vgl. Alex. VII, 306–340; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Nach Alexanders Totenklage folgt eine ausführliche Ekphrasis des Darius-Grabmals, die dem aufmerksamen Leser vor Augen führt, dass der makedonische König seine von der christlichen Heilsgeschichte vorgesehene Aufgabe zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen erfüllt hat (vgl. Komm. 379–430; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Nachdem im griechischen Lager während eines ausgelassenen Gelages das Gerücht aufgekommen war, Alexander beabsichtige nach dem Sieg über den persischen König, in die Heimat zurückzukehren, beklagt sich dieser in einer Ansprache an seine Generäle darüber, durch die Pläne seiner Soldaten von der Herrschaft über

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die ganze Welt ausgeschlossen zu werden (vgl. Komm. VII, 435–466; zur Stellung dieser Textstelle innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2). Buch VII endet mit Alexanders mitreißender Ansprache an die einfachen Soldaten, in der er anders als zuvor vor den Generälen nicht seine weitreichenden Welteroberungspläne thematisiert, sondern lediglich auf die Absicherung des bisher Erreichten dringt, das durch eine überstürzte Rückkehr in die griechische Heimat gefährdet wäre (vgl. Komm. VII, 467–538).

Kommentar zu Buch VII Themenübersicht (1–10) C 1–2 Septimus in dominum servos liber armat et eius | iusticiam os­ tendit tandemque in vincula trudit: Zu Beginn von Buch VII schildert Walter die Intrige der Verschwörer Bessus und Narbazanes, die ihren König ungeachtet seines gerechten Verhaltens in Fesseln legen lassen (vgl. Komm. VII, 59–90). C 3–4 Interea Darium vestigans Magnus abactos | confecit sceleris confuso Marte ministros: Auf der Suche nach Darius gelingt es Alexander, die Truppen der Verschwörer zu besiegen, ohne allerdings des persischen Königs und der beiden Anführer der Verschwörung habhaft zu werden (vgl. Komm. VII, 91–239) . C 5–7 Tunc demum Darius iaculis confossus in ipsa | morte Polis­ trato, vivos dum quereret amnes,  | extremas voces et verba novissi­ ma mandat: Der griechische Soldat Polystratus findet zufällig den schwer verletzten Darius, der in der Stunde seines Todes dem makedonischen König über den griechischen Mittelsmann eine letzte Botschaft zukommen lässt (vgl. Komm. VII, 240–305). C 8–9 Inventum Macedo corpus rigat ubere fletu  | ac sepelit: Als Alexander den persischen König findet, ist dieser bereits seinen Verletzungen erlegen. Unter Tränen bestattet der makedonische König seinen einstigen Widersacher und beauftragt Apelles, für diesen ein prächtiges Grabmal zu errichten (vgl. Komm. VII, 348–378; vgl. auch Komm. VII, 379–430). C 9–10 Rursus vulgi procerumque tumultus  | comprimit et rapido

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cursu bachatur in hostem: Veranlasst durch ein im griechischen Lager umlaufendes Gerücht über die vorzeitige Rückkehr in die Heimat treffen die griechischen Soldaten Vorbereitungen für den Aufbruch nach Griechenland. Alexander bereitet dem Treiben ein jähes Ende, indem er zuerst seine Generäle und dann auch die versammelten Soldaten in einer mitreißenden Ansprache von ihrem Vorhaben abbringt (vgl. Komm. VII, 431–548). Die Verschwörung gegen Darius (1–90) Kosmische Zeichen künden von Darius’ Ende (1–16) 1–16 Restitit Hesperio merensque in littore Phebus | defixis herebat equis … Sed debile semper et exspes | consilium miseri vitamque tra­ hentis in arto: Am Vorabend der von Bessus und Narbazanes schon eine Zeit lang geplanten Verschwörung gegen Darius verlangsamt der vom frevelhaften Treiben im persischen Lager angewiderte Sonnengott Phoebus für eine Weile seinen von der kosmischen Ordnung vorgesehenen Lauf und weigert sich einstweilig, mit seinem Gespann am westlichen Gestade in den Fluten des Meeres zu versinken. Auch die Mondgöttin Diana sträubt sich zunächst eine gewisse Zeit, am Abendhimmel zu erscheinen, um nicht Zeugin eines derartig grausamen Verbrechens werden zu müssen. ⇔ Anders als noch vor der Schlacht bei Gaugamela jedoch – auch dort wurden kosmische Ereignisse mit dem Fortgang des epischen Geschehens verknüpft – verbindet Walter an der vorliegenden Stelle diese besondere Art der epischen Stilisierung zusätzlich mit der stoischen Konzeption des Fatums, dem sich aufgrund der darin enthaltenen Vorstellung von der Vorbestimmtheit allen Geschehens auch beide Gottheiten nicht entziehen können. Dem ewigen Gesetz und der heiligen kosmischen Liebe folgend gehen sie deshalb nach einem kurzen Moment des Ungehorsams und der damit entstandenen kos-



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mischen Unordnung dann doch wieder ihrer eigentlichen Aufgabe nach (vgl. Alex. VII, 6–7: Sed lex eterno que colligit omnia nodo | et sacer orbis amor, quo cuncta reguntur utrumque | corripuit iussitque vices explere statutas; vgl. auch Komm. IV, 301–327). Walters Bezugnahme auf stoisches Gedankengut ist dabei durch die Pharsalia Lucans vorgeprägt, der in einer Verbrüderungsszene zwischen den Soldaten der beiden Bürgerkriegsparteien in einer Apostrophe an die Göttin Concordia ebenso die heilige kosmische Liebe als Bild für die unabwendbare kosmische Ordnung bemüht (vgl. Luc., Phars. IV, 189–191: Nunc ades, aeterno complectens omnia nexu, | o rerum mixtique salus, Concordia, mundi | et sacer orbis amor). Zudem nimmt Walter mit dem widerstrebenden Verhalten der beiden als Gottheiten personifizierten Himmelskörper am Vorabend der Verschwörung mit Hilfe einer geschickt inszenierten Kontrastimitation Lucans Schilderung des Sonnenaufgangs am Tag der Schlacht bei Pharsalus auf, der dem ewigen kosmischen Gesetz folgend auch dort nach einigem Zögern letzten Endes doch erfolgen muss (vgl. Luc., Phars. VII, 1–3: Segnior, Oceano quam lex aeterna vocabat, | luctificos Titan numquam magis aethera contra | egit equos currum­ que polo rapiente retorsit, vgl. auch Zwierlein 2004, 661; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). ⇔ Walter lässt mit dieser epischen Stilisierung und der darin verwirklichten Einbindung stoischer Vorstellungen über den Kosmos und die dieser kosmischen Ordnung immanenten Unabwendbarkeit des Schicksals – im Griechischen als εἱμαρμένη bekannt – keinen Zweifel darüber aufkommen, dass das Ende des Darius und des von ihm beherrschten Perserreichs nicht mehr aufzuhalten ist (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5).

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KOmmentar Darius im Selbstgespräch (17–58)

17–58 Et tamen hec secum: «Quos me, pater impie divum, | distrahis in casus? … Numquid adhuc sanguis, numquid michi dextera, num­ quid | ensis ut hanc dubitem fatis absolvere vitam?: Der persische König beginnt seinen inneren Monolog mit der vorwurfsvollen Frage an den Göttervater, für welches Vergehen oder Verbrechen ihn das Schicksal eigentlich zu vernichten gedenke. Von inneren Feinden umringt werde er von Verrätern mit dem Tod bedroht, ohne dass er sich irgendeiner Schuld bewusst sei. In der Folge stellt Darius sein gerechtes Vorgehen gegenüber seinen Untergebenen und den besiegten Völkern heraus, für das er in seinen Augen ein längeres Leben verdient habe. Abschließend kommt er voller Resignation auf das Schicksal zu sprechen, das ihm in seiner Unabänderlichkeit nur noch die Möglichkeit gebe, den Tod mit eigener Hand herbeizuführen. ⇔ Es fällt auf, dass der persische König in seinen Ausführungen gleich zwei Missverständnissen aufsitzt. Zum einen hat – zieht man die Anweisungen der Aristoteles-Rede zu Rate – ein moralisch einwandfreies Verhalten nicht notwendigerweise Auswirkungen auf die Dauer der irdischen Existenz, sondern zieht lediglich ewigen Ruhm nach sich (vgl. Alex. I, 182–183: Si sic  | vixeris, eternum extendes in secula nomen; vgl. auch Komm. I, 182–183). Zum anderen schätzt er seine eigene moralische Integrität falsch ein, wenn er zwar zu Recht seine Verdienste im Bereich der Tugend der Gerechtigkeit hervorhebt, kein einziges Wort jedoch über sein immer wieder wenig tugendhaftes Verhalten hinsichtlich der als zen­ trale Feldherrntugend geltenden Tapferkeit verliert (vgl. Komm. III, 189–202; vgl. auch Komm. I, 116–143). Damit missachtet Darius die aristotelischen Vorgaben hinsichtlich der Tugend des angemessenen Stolzes, der den Gegenstandsbereich des richtigen Umgangs mit der Ehre umfasst und die erstrebenswerte Mitte zwischen den Lastern der Eitelkeit und der Kleinmütigkeit einnimmt (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw. des lateini-



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schen Begriffs magnanimitas mit angemessener Stolz vgl. die Einführung zu Buch I). Indem der persische König ausschließlich auf seine guten Taten im Kontext der Tugend der Gerechtigkeit Bezug nimmt, seine zahlreich vorhandenen Fehler in anderen Bereichen der aristotelischen Tugendlehre jedoch ausblendet, befindet er sich nicht in der aristotelischen Mitte der Tugend des angemessenen Stol­ zes und macht sich mit dieser mangelnden Selbsteinschätzung des Lasters der Eitelkeit schuldig. Anders ausgedrückt ist sein Stolz auf die eigene Person gemessen an seinen Taten jenseits der Tugend der Gerechtigkeit unangemessen und übertrieben (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Darüber hinaus weist auch die bei Darius zuletzt aufkommende Resignation, dem Schicksal ohnmächtig gegenüberzustehen und den Tod nur noch mit eigener Hand herbeiführen zu können, ebenso wie seine vorwurfsvollen Worte zu Beginn des Selbstgesprächs auf fehlgeleiteten Stolz hin. Allerdings verfällt er in seiner mutlosen Weinerlichkeit dabei nicht dem Laster der Eitelkeit, sondern verstrickt sich in das der Eitelkeit entgegengesetzte Laster der Kleinmütigkeit. Demzufolge legt Darius an keiner Stelle seines von Walter geschickt inszenierten inneren Monologs – gerade die Unfähigkeit einer richtigen Selbsteinschätzung legt literarisch an dieser Stelle eine Darstellung aus Darius’ Perspektive nahe – einen der aristotelischen Mitte entsprechenden angemessenen Stolz an den Tag und kann somit auch nicht mit einem für ihn positiven Ausgang der objektiv betrachtet bedrohlichen Situation rechnen (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Darius wird in Ketten gelegt und verschleppt (59–90) 59–90 Sic ait, et gelido terebrasset viscera ferro … Quis tuto ducere vi­ tam | sub servo poterit domini sitiente cruorem?: Darius ist noch nicht

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einmal in der Lage, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Ebenso fehlt seinen Gefolgsleuten der Mut und die Entschlossenheit, sich gegen die Verschwörer durchzusetzen, da sie in ihrer mangelnden Tugendhaftigkeit den eigenen Tod mehr fürchten als die Schande, ihren König im Stich gelassen zu haben. Folglich lassen Bessus und Narbazanes Darius in Fesseln legen, plündern den Hausrat des Königs und verschleppen ihn schließlich. ⇔ Walter nutzt die Gelegenheit dieses entscheidenden Umbruchs im Lager der Perser zu einer Klage über das wankelmütige Schicksal, das dem ehemals gefeierten persischen König endgültig seine Gunst entzieht und ihm ein wenig rühmliches Ende bereitet (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; vgl. auch die Einführung zu Buch II). ⇔ Erneut lässt Walter keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der tiefere Grund für diese Verschwörung im moralisch minderwertigen Charakter der Rädelsführer liegt, die ohne zu zögern ihrem König die Gefolgschaft aufkündigen, sobald sich ihnen eine günstige Gelegenheit dazu bietet. Mit den Worten truculentior aspide nimmt Walter dabei nicht zufällig Bezug auf die Aristoteles-Rede, in welcher der Stagirit seinen Schüler Alexander nahezu wortgleich vor der Beförderung charakterlich weniger befähigter Personen in höhere Positionen gewarnt hatte (vgl. Alex. VII, 82; vgl. auch Alex. I, 90: in dominum surgens, truculentior aspide surda; vgl. auch Komm. I, 85–91; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Insofern gibt Walter dem persischen König auch eine gewisse Mitschuld an der für ihn ausweglosen Situation, da er bei der Besetzung der wichtigsten Posten im Heer zu wenig auf die moralische Integrität seines Führungspersonals geachtet hatte. ⇔ Am Ende des Abschnitts führt Walter den Verschwörern mit mehreren rhetorischen Fragen deutlich vor Augen, dass ihr frevelhaftes Unterfangen ungeachtet ihres momentanen Erfolgs dennoch zum Scheitern verurteilt ist, da niemand be-



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reit ist, Männer zu unterstützen, die als charakterlose Sklaven ihren König rücksichtslos beseitigen, um selbst an die Macht zu gelangen. Alexander verfolgt Darius (91–378) Die Schnelligkeit und die Handlungsschnelligkeit Alexanders (91–105) 91–105 Interea, summis accincto milite rebus, | vestigans rapido Darii vestigia cursu | terrarum domitor … intentum celeri liquisse Ebactana, ceptum | haut mora flectit iter et Persidis arva relinquens | insequitur profugos, animi calcaribus actus … retrusum in vincula regem | affir­ mans seriemque rei pulchro ordine pandens: Bei der Verfolgung des persischen Königs muss Alexander seine Pläne mehrfach kurzfristig ändern und umgehend der jeweils neuen Situation anpassen. Walter hebt dabei nicht zum ersten Mal in der Alexandreis die große Schnel­ ligkeit und enorme Handlungsschnelligkeit des makedonischen Königs hervor, der mit der ihm eigenen Entschlossenheit nichts unversucht lässt, den flüchtigen persischen König möglichst schnell zu stellen (zu Alexanders Schnelligkeit und Handlungsschnelligkeit als Teilaspekte der aristotelischen Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. VI, 63–80; vgl. auch Komm. I, 116–117; vgl. auch Komm. I, 136–143). Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten (106–127) 106–127 Horruit auditis Macedo, ducibusque citatis  | «Est brevis iste labor et premia magna laboris | qui superest, socii … telaque fa­ tali spargentem Delion arcu: Neben der erneut hervorgehobenen Schnelligkeit inszeniert Walter an dieser Stelle auch die ebenso der aristotelischen Tugend der Tapferkeit zuzurechnende Überzeugungs­ kraft Alexanders, dem es in einer fesselnden Ansprache gelingt, seine

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Soldaten von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Verfolgung des Darius zu beschleunigen, um diesen vor der Niedertracht seiner eigenen Männer zu schützen (vgl. Komm. VI, 33–62; vgl. auch Komm. I, 118–127). Darüber hinaus hebt Walter mit Alexanders Aussage, dass es nicht weniger wert sei, einen beklagenswerten Mann zu verschonen als einen rebellischen Mann zu zerschmettern, das vorbildliche Verhalten des makedonischen Königs auch hinsichtlich der aristotelischen Tugend der angemessenen Zürnkraft hervor (vgl. Komm. I, 115; vgl. auch Komm. III, 140–188). ⇔ Mit dem Hinweis auf die antiken Gottheiten Mars, Athene, Apollon und auch auf den Göttervater Zeus, der einst seinen Blitz auf den Giganten Typhoeus geschleudert hatte – die genealogische und auch typologische Verbindung zwischen dem Geschlecht der Giganten und den Persern ist dem Leser der Alexandreis inzwischen bekannt –, lässt Walter erneut auch die typologische Beziehung zwischen Alexander und Herkules anklingen, der im Kampf der olympischen Götter gegen die Giganten erfolgreich seinem göttlichen Vater die Herrschaft gesichert hatte (vgl. Komm. II, 319–371; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Neben dieser Bezugnahme auf die antik-pagane Ebene weist Walter mit der Epithetisierung des Makedonenkönigs als Schicksalsgeißel der Welt ein weiteres Mal auch mit biblisch konnotierten Begriffen auf die Aufgabe seines wichtigsten Protagonisten im Heilsplan Gottes hin (vgl. Alex. VII, 119: mundi fatale flagellum; vgl. auch Alex. V, 185: diluvium mundi Macedo; vgl. auch Alex. VIII, 338: fatalis malleus orbis; zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2). Alexander erreicht das Lager der Verschwörer (128–174) 128–174 Ventum erat in vicum stellis nascentibus in quo | vinxerat Arsamidem furiato pectore Bessus … magna fatigatis pugnae docu­



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menta daturi, | viribus alternam multum conferre quietem: Auf seinem Weg in das Lager der Verschwörer gelangt Alexander in jene Stadt, in der Bessus und Narbazanes den persischen König zuvor in Fesseln gelegt hatten. Mit Hilfe persischer Überläufer, die Alexander eindringlich warnen, den feindlichen Kräften in deren Ausweglosigkeit auf keinen Fall ungeordnet und schlecht gewappnet zu begegnen, kommen die Griechen über Schleichwege schneller voran und können zudem in Erfahrung bringen, dass Darius noch am Leben ist. Noch einmal beschleunigt Alexander deshalb das Tempo und erreicht schließlich das auf einem nahen Hügel aufgestellte Heer der von Walter im aristotelischen Sinne erneut als sklavenhafte Charaktere apostrophierten Verschwörer (vgl. Alex. VII, 146: servilia cas­ tra). ⇔ Die zuvor schon betonte Schnelligkeit des griechischen Heeres wird an dieser Stelle durch den optischen Eindruck einer durch die galoppierenden Pferde hervorgerufenen riesigen Staubwolke, die für einen kurzen Moment allen den Blick auf die gegnerischen Streitkräfte nimmt, noch verstärkt (vgl. Komm. VII, 91–105). ⇔ Noch vor der Schlacht macht Walter deutlich, dass die persischen Verschwörer – an Zahl und Kampfkraft ihrem Gegner eigentlich weit überlegen – den Griechen und ihrem Feldherrn Alexander in erster Linie aus moralischen Gründen nicht gewachsen sind und demzufolge auch unterliegen werden. Als sich die Staubwolke nämlich verzogen hat, erfasst die Perser ohne einen nachvollziehbaren äußeren Grund – der Anblick der kampfbereiten und im Glanze ihrer Waffen erstrahlenden Griechen allein sollte entschlossene Soldaten normalerweise nicht allzu sehr ängstigen – aufgrund ihres nagenden Schuldbewusstseins, den eigenen König verraten zu haben, das nackte Entsetzen (vgl. Alex. VII, 161: pectora monstriferae tre­ muerunt conscia culpae). Umgekehrt erstürmen die durch die tagelange Verfolgung und den fehlenden Schlaf körperlich geschwächten Griechen aus einer strategisch eigentlich unvorteilhaften Lage vom Fuße des vom persischen Gegner besetzten Hügels aus die Anhöhe, um ungeachtet ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit die

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Entscheidung im Kampf zu suchen. ⇔ Damit stellt Walter ganz im Sinne der aristotelischen Tugendlehre klar, dass die Tugendhaftigkeit eines Feldherrn die entscheidende Größe für den militärischen Erfolg darstellt, auf der anderen Seite moralisches Fehlverhalten jedoch auch unweigerlich ins Verderben führt (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Die Flucht der Verschwörer und Darius’ Ermordung (175–209) 175–209 Sed Macedum terror et formidabile terris | nomen Alexan­ dri, momentum non leve bellis, | avertit pavidos et desperare coegit | vinci posse viros … Dispersi fugiunt alii vel quos metus urget | vel spes in dubiis semper comes optima rebus: Walter nennt mit dem auf dem ganzen Erdkreis Schrecken hervorrufenden Namen Alexanders über das bereits erwähnte Schuldbewusstsein der Verräter hinaus noch einen weiteren Grund für die nun beschriebene Flucht der Perser. Beide auf die psychische Verfassung der Verschwörer mit aller Wucht einwirkenden Faktoren – das Schuldbewusstsein ebenso wie der dem makedonischen König vorauseilende Ruf – belasten Bessus und Narbazanes so schwer, dass sie nicht in der Lage sind, ihre objektiv vorhandene Überlegenheit – Walter spricht in diesem Zusammenhang ironisierend von den Waffen der Perser, die sich sogar über die Flucht der Verschwörer empört zeigen – auch nur im Ansatz zu erkennen und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen (vgl. Alex. VII, 178–179: Fugit indignantibus armis | sediciosa cohors). ⇔ Als Darius sich furchtlos und zudem schicksalsergeben weigert, gemeinsam mit den Verschwörern zu fliehen, wird er von diesen von zahlreichen Spießen und Speeren niedergestreckt und schwer verwundet zurückgelassen. Auf getrennten Wegen fliehen die beiden Anführer der Verschwörung: Bessus zieht sich nach Baktra zurück und Narbazanes versucht sich in die Wälder Hyrkaniens zu retten.



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Die Schlacht gegen die verbliebenen Perser (210–239) 210–239 Quingenti tantum se collegere quirites, | qui pro iusticia pa­ triaeque iacentis honore | elegere mori Macedumque resistere turmis … in valle remota | constiterant, mortem Dariique suamque gemen­ tes: Während die meisten Perser ihr Heil in der Flucht suchen, sind am Ende noch fünfhundert persische Reiter bereit, den Griechen bewaffnet entgegenzutreten. Walter lässt es offen, ob sie von der Hoffnung angetrieben werden, durch einen siegreichen Kampf ihr Leben zu verlängern oder sie die Schande nicht ertragen können, ihren König zu überleben. Immerhin attestiert er ihnen und den in die Kampfhandlungen involvierten Fußsoldaten, sich in einem von vornherein aussichtslosen Kämpf glänzenden Ruhm zu erwerben. ⇔ Das griechische Heer erscheint zum wiederholten Mal mit großer Schnelligkeit auf dem Schlachtfeld – auch an dieser Stelle weist Walter damit auf einen Teilaspekt innerhalb der aristotelischen Tugend der Tapferkeit hin – und ist demzufolge sogar noch in der Lage, den persischen Gegner zu überraschen (vgl. Komm. VII, 91–105). War zuvor noch die unzulängliche psychische Verfassung der Perser der ausschlaggebende Grund für ihre eigentlich grundlose und überstürzte Flucht, so begründet Walter Alexanders Sieg in der Schlacht nun mit der psychischen Verfassung der Griechen, die von großer Siegesgewissheit und bemerkenswerter Entschlossenheit geprägt ist. Dies hat zur Folge, dass am Ende eine größere Zahl an Gefangenen von einer kleineren Zahl siegreicher Soldaten bewacht werden muss und die Sieger noch nicht einmal alle Beutestücke wegtragen können. Walter hebt zudem Alexanders herausragende Rolle als Feldherr hervor, der es nicht nur versteht, seine Soldaten mutig in den Kampf zu führen, sondern ihnen im richtigen Moment auf ein Zeichen hin auch Einhalt zu gebieten vermag. ⇔ Allerdings gelingt es den Griechen nicht, den persischen König gefangenzunehmen, der in einem entlegenen Tal seinem baldigen Tod entgegensieht. Indem Walter diesen für Alexander schmerzlichen Umstand augenzwinkernd als einen üblen

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Streich des Schicksals – dedecus fati – bezeichnet, macht er deutlich, dass Alexander im Grundsatz nach wie vor mit der Unterstützung der Schicksalsgöttin Fortuna rechnen kann, da er sich mit der Eroberung des Perserreichs noch immer auf dem Weg zur Erfüllung seiner heilsgeschichtlich legitimierten Auftrags befindet (vgl. Alex. VII, 236; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; vgl. auch die Einführung zu Buch II). Darüber hinaus findet mit der erfolglosen Suche nach Darius die Botschaft, die Bellona dem makedonischen König in der Schlacht von Gaugamela überbracht hatte, dass es ihm trotz seiner Bemühungen nicht bestimmt sei, Darius persönlich zur Strecke zu bringen, sondern dieser durch den Verrat seiner eigenen Männer fallen werde, ihre faktische Bestätigung, so dass Alexander nolens vo­ lens einsehen muss, dass auch er ungeachtet der bisherigen Begünstigung durch das Schicksal den göttlichen Mächten unterworfen ist (vgl. Komm. V, 205–255). ⇔ Insofern lässt sich der an dieser Stelle eingefügte Hinweis Walters, dass Alexander seinen langjährigen Widersacher Darius schicksalsbedingt nicht mehr lebend zu Gesicht bekommen wird, durchaus auch als geschickt platzierter Hinweis auf die Zeit nach dem Perserkrieg verstehen, in der sein wichtigster Protagonist der epischen Inszenierung zufolge die Unterstützung des Schicksals verlieren wird (zur Funktion der Vorverweise in der Ale­ xandreis vgl. Einleitung 7.4). Darius’ letzte Botschaft an Alexander (240–305) 240–305 Haut procul hinc querulus lascivo murmure rivus | labitur et vernis solus dominatur in herbis … et sacer erumpens luteo de carce­ re tandem | spiritus, hospicium miserabile carnis abhorrens, | prodiit et tenues evasit liber in auras: Der von Walter zu Beginn dieses Abschnitts beschriebene locus amoenus – genannt werden ein durch die Felsen brechender sprudelnder Bach, der in seinem weiteren Ver-



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lauf den trockenen Boden lebenspendend befeuchtet – hat an dieser Stelle eine kontrastive Funktion zu der unmittelbar im Anschluss geschilderten Szene, in welcher der Grieche Polystratus zufällig auf den blutüberströmten und im Sterben liegenden Darius trifft. ⇔ Der persische König drückt sein Bedauern darüber aus, dass er seine letzten Worte nicht mehr an Alexander persönlich zu richten vermag, um die alten Kriegsstreitigkeiten beizulegen, ist aber dennoch froh, einen der persischen Sprache mächtigen Gesprächspartner gefunden zu haben, der seine letzte Botschaft zu einem späteren Zeitpunkt an Alexander übermitteln kann. Auch wenn Mueldener anstelle des von Colker verwendeten Indo sermone die Lesart Greco sermone bevorzugt – Streckenbach begründet dies mit der Tatsache, dass der allerdings verlorengegangene Text bei Curtius durch spätere Ergänzungen mit Greco sermone wiedergegeben wird und es seines Erachtens sinnvoller erscheint, dass der persische König die griechische Sprache beherrscht als umgekehrt ein einfacher griechischer Soldat die persische Sprache –, lässt Darius’ Reaktion auf die ersten überraschenderweise in persischer Sprache vorgebrachten Worte des Griechen, dass er froh sei, für das anstehende Gespräch keinen Dolmetscher zu benötigen, auf die Richtigkeit der Lesart Indo sermone schließen, da er eine solche Unterstützung ungeachtet möglicherweise rudimentär vorhandener Griechischkenntnisse tatsächlich nur dann gebraucht hätte, wenn er von Polystratus auf Griechisch angesprochen worden wäre (vgl. Streckenbach 1990, 242). In seiner Rede hebt Darius mehrfach Alexanders Tugendhaftigkeit insbesondere bezüglich der Tugend der angemessenen Zürnkraft hervor und fühlt sich dem makedonischen König dafür zu Dank verpflichtet, dass die persische Königsfamilie in der griechischen Gefangenschaft unangetastet geblieben war (vgl. Alex. VII, 261: tam pius hostis; vgl. auch Alex. VII, 266–268: multumque obnoxius illi | quod matrem Darii prolemque modestus et irae | inmemor hostilis clementi pectore fovit). Zudem betont er den erstaunlichen Umstand, dass Alexander als Feind in seiner königlichen Haltung eine größere Treue bewiesen habe als seine

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eigenen Männer, die ihm nach dem Leben trachteten (vgl. Alex. VII, 270–272: regalem animum victis vultumque serenum | exhibuit victor hostique fidelior hostis | quam noti civesque mei). Als letzten Wunsch richtet Darius an Alexander die Bitte, an seinen Mördern verdiente Rache zu nehmen und ermahnt ihn zudem, dabei auch im eigenen Interesse Gerechtigkeit walten zu lassen (vgl. Alex. VII, 278–279: His precor a iusto reddatur principe talis | talio pro meritis, qualem patrici­ da meretur; vgl. auch Alex. VII, 287–289: Quam si distulerit vel forte remissius equo | egerit, illustris minuetur opinio regis | decolor et fame multum diversa priori). Darüber hinaus warnt er seinen ehemaligen Widersacher, auch als gütiger König auf der Hut vor Verrätern in den eigenen Reihen zu sein – möglicherweise ein dezenter Hinweis Walters auf die in Buch VIII geschilderte Verschwörung des Philotas (vgl. Alex. VII, 290–291: Adde quod a simili debet sibi peste cavere | rex pius et subiti vitare pericula casus). Zuletzt erkennt Darius in der Stunde seines Todes den Herrschaftsanspruch Alexanders – von Walter entsprechend mit einem raumgreifenden und über den ganzen Vers gespannten Hyperbaton stilistisch glänzend umgesetzt – über die ganze Welt an (vgl. Alex. VII, 296: totus Alexandro famuletur subditus orbis). Zudem runden zwei weitere, mit dem Herrschaftsbereich und dem Namen Alexanders spielende Hyperbata in Verbindung mit zwei etymologischen Figuren das Bild des nach Darius’ Tod konkurrenzlos herrschenden makedonischen Königs ab (vgl. Alex. VII, 297: Magnus et in magno dominetur maximus orbe). Mit seinem letzten Atemzug bittet Darius diesen um eine gebührende Bestattung, bis er schließlich den Tod findet. ⇔ Auch wenn Walter in den Grundzügen der Darstellung seiner historischen Hauptquelle Curtius folgt, betont er noch stärker als der römische Historiker die über die gesamte Zeit des Perserkriegs hin wirksame Tugendhaftigkeit Alexanders. Gerade weil das Tugendlob aus dem Munde des besiegten und im Sterben liegenden persischen Königs kommt, entfaltet die Lobpreisung ihre besondere Wirkung auf den mittelalterlichen Leser und verleiht der Darstellung damit zusätzliche Glaubwürdigkeit. Es ist



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sicherlich auch kein Zufall, dass ausgerechnet in derjenigen Situation, in welcher der Sieg der Griechen über das Perserreich ungeachtet noch einiger ausstehender Kämpfe bereits feststeht, abgesehen von der Milde und der Friedfertigkeit Alexanders die ebenso auch in Friedenszeiten bedeutsame Tugend der Gerechtigkeit einen besonderen Raum in Darius’ Rede einnimmt. Moralexkurs (306–343) 306–343 Felices animae, dum vitalis calor artus  | erigit infusos … Inde est quod regni flammatus amore satelles, | non reverens homi­ nes, non curans numina, Bessus | et patris et domini fatalia fila resol­ vit: Walter unterbricht den Ablauf der Handlung, um ähnlich wie gegen Ende des Epos in einem Autorexkurs Klage über den moralischen Zustand der Menschheit insgesamt und der römischen Kurie im Besonderen zu führen (vgl. Alex. X, 433–450; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). ⇔ Im Unterschied zu Walters späteren Ausführungen, die den moralischen Zustand der Menschheit am Ende mit dem Schicksal Alexanders in Verbindung bringen, mündet seine Klage an der vorliegenden Stelle in einer moralischen Verurteilung des als sklavenhaft charakterisierten Bessus, der sich rücksichtslos gegenüber Menschen und Göttern und einzig und allein aus eigennützigen Motiven gegen seinen König gestellt und diesen ermordet hat. Aus diesem Grund geht Walter anders als gegen Ende der Alexandreis an der vorliegenden Stelle auch nicht nur auf das aeternum bonum als dem eigentlichem Ziel allen menschlichen Strebens ein – er spricht diesbezüglich paraphrasierend von einem herrlichen Lohn und einer tiefen Erholung, die gerechte Seelen nach ihrer Trennung vom menschlichen Körper erwarten dürfen –, sondern macht implizit auch deutlich, dass derjenige, der sein irdisches Leben verbrecherisch und ungerecht gegen den Nächsten verbracht hat, eine ewige Bestrafung zu gewärtigen hat (vgl. Alex. VII,

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308–310: que maneant manes decurso tempore iustos | premia, que re­ quies, et quam contraria iustis | impius exspectet; vgl. auch Komm. X, 433–454; vgl. auch Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, IIIª q. 86 a. 4 co: Ex parte igitur aversionis ab incommutabili bono, consequi­ tur peccatum mortale reatus poenae aeternae, ut qui contra aeternum bonum peccavit, in aeternum puniatur). ⇔ Neben weit verbreiteten und stets zu beklagenden Sünden wie denjenigen der Habgier, der Wollust, der Völlerei und der Trunksucht prangert Walter als Ausdruck seiner zeitgenössischen Kritik auch die unter moralischen Gesichtspunkten katastrophalen Verhältnisse innerhalb der römischen Kurie seiner Zeit und die damalige Spaltung der christlichen Kirche an. Insbesondere der vielerorts praktizierte und mit dem Begriff der Simonie bezeichnete Ämterkauf, den er bereits in seinen moralischsatirischen Gedichten einer herben Kritik unterzogen hatte, muss dem Autor der Alexandreis ein besonders schmerzhafter Dorn im Auge gewesen sein (vgl. Alex. VII, 317–318: Non adeo ambirent cat­ hedrae venalis honorem | Symonis heredes; non incentiva malorum | pollueret sacras funesta Pecunia sedes; vgl. auch Mor.-sat. Ged. 9, str. 11: Evangelizantium sordidantur pedes,  | set nil credunt sordidum Simonis heredes; | Alienas vacuant, suas implent edes, | in tribunal vertitur pastoralis sedes). ⇔ Wenn Walter darüber hinaus den Gestank der Habsucht innerhalb der römischen Kurie und die damit einhergehende Bestechlichkeit der Richter geißelt, entwirft er das abstoßende Bild einer innerlich zutiefst zerrütteten Kirche, die ihren moralischen Kompass verloren hat und einer dringenden Erneuerung bedarf (vgl. Alex. VII, 326–327: Non lucri regnaret odor; pervertere formam | iudicii nollet corruptus munere iudex). Auf ganz ähnliche Weise hatte Walter auch diese von der Umkehrung des Rechts gekennzeichneten Zustände und die in ihrer Habsucht pervertierten Kleriker schon in seinen moralisch-satirischen Gedichten schonungslos an den Pranger gestellt (vgl. Walter v. Châtillon, Mor.-sat. Ged. 5, str. 5 und 9: In primis pontifices et prelatos noto, | nam iste grex hominum canone remoto | totus est in poculis, totus lucri



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voto | estuat et vite disconvenit ordine toto [...] Roma solvit nuptias contra nutum dei,  | pervertit iudicium, fovet partem rei; vgl. auch Tilliette 2008, 265–278). Mit der Formulierung et vite disconve­ nit ordine toto bedient sich Walter dabei einer Stelle aus den Episteln des Horaz, in der sich die Seele mit sich selbst im Widerstreit befindet, nicht mehr ein und aus weiß und entzweit mit der Ordnung des Lebens ihre innere Einheit nicht mehr herzustellen vermag (vgl. Hor. epist. 1, 1, 99). Auch in der Alexandreis nimmt Walter gerade in Fragen der praktischen Lebensführung und der ethisch-moralischen Gestaltung der irdischen Existenz des Menschen an zahlreichen Stellen Bezug auf diesen augusteischen Dichter, der unter den Gelehrten im Frankreich des 12. Jahrhunderts gerade in moralischen Fragen eine ausnehmend hohe Autorität genoss (zur Etablierung des antiken Dichters Horaz als moralische Autorität im Kontext christlicher Tugendvorstellungen in der Alexandreis vgl. Wirtz 2018, 81–99). ⇔ Überdies verurteilt Walter die Ambitionen junger Kleriker, die ungeachtet ihrer edlen Abstammung noch vor ihrem zur Charakterbildung geeigneten Studium und nur durch die Einflussnahme ihrer verdienstreichen Eltern das Amt eines Bischofs anstreben (vgl. Alex. VII, 320–323: Non aspiraret, licet indole clarus, aviti | sanguinis inpubes ad pontificale cacumen | donec eum mores, studiorum fructus, et etas | eligerent, merito non suffragante paren­ tum). Als historischen Hintergrund für die an dieser Stelle wohl kaum als allgemeine Bemerkung zu verstehende Einlassung Walters vermutet Christensen (1905) 7–8, Anm. 2 die unter Tumulten abgehaltene Wahl des Bischofs von Angers im Jahre 1102, der ungeachtet seiner Abstammung aus dem berühmten Geschlecht der Grafen von Martigny aufgrund seiner Jugend und noch fehlender Weihen von zahlreichen Bischöfen seiner Zeit entschieden bekämpft worden war. Doch Walter geht mit seinen kritischen Äußerungen noch deutlich weiter. Auch das von zahlreichen Konflikten geprägte Verhältnis zwischen der weltlichen und geistlichen Macht findet seine offenkundige Missbilligung, wenn er von Neid getriebene Kar-

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dinäle angreift, deren persönlicher Ehrgeiz im konkreten Fall zum päpstlichen Schisma (1159–1177) geführt hat (vgl. Alex. VII, 324–325: Non geminos patres ducti livore crearent | preficerentque orbi sortiti a cardine nomen; vgl. auch Einleitung 8). ⇔ Als weiteres Beispiel des verheerenden Kampfes zwischen diesen beiden mittelalterlichen Machtzentren verurteilt Walter mit aller Deutlichkeit die Ermordung von Thomas Becket und Robert von Cambrai, die beide im Amt eines Erzbischofs aus politischen Motiven einen gewaltsamen Tod fanden (vgl. Alex. VII, 328–330: Non caderent hodie nullo di­ scrimine sacri | pontifices, quales nuper cecidisse queruntur | vicinae modico distantes equore terrae; vgl. auch Einleitung 8; den folgenden Vers – Flandria robertum thomam dolet anglia cesum – hat Colker aus guten Gründen als versehentlich in den Haupttext geratene Glosse getilgt). ⇔ Abschließend geht Walter mit deutlichen Worten auf die Folgen ein, die sich aus diesem moralisch verwerflichen Verhalten ergeben – der Mensch ist zu jedweder Schandtat bereit und besitzt keine Ehrfurcht vor Recht und Gesetz –, bevor er den Blick ganz konkret auf den Verräter Bessus lenkt, der ebenso wie Alexander am Ende der Alexandreis als exemplum für die zuvor geschilderten moralischen Entgleisungen dient. Apostrophe an Darius (344–347) 344–347 Te tamen, o Dari, si que modo scribimus olim | sunt habi­ tura fidem, Pompeio Francia iuste | laudibus equabit. Vivet cum vate superstes | gloria defuncti nullum moritura per evum: Die Apostrophe an Darius nimmt Bezug auf zwei Stellen aus der Pharsalia Lucans und verbindet diese zu einem Versprechen Walters an Darius, dass er dem Pompeius an Ruhm gleichkommen werde, wenn der Alexandreis nach ihrer Veröffentlichung Erfolg beschieden sein sollte. Da kaum anzunehmen ist, dass Walter daran ernsthafte Zweifel hegte, dürfte es sich bei dem einschränkenden Konditionalsatz doch



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wohl eher um einen klassischen Bescheidenheitstopos handeln, der sich an Apostrophen eines Lucan oder Vergil orientiert (vgl. Wulfram 2000, 237, Anm. 51; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Damit macht Walter über die Kernstellen seiner poetologischen Doppeldoktrin hinaus noch einmal deutlich, dass zwischen dem Erfolg eines Dichters und dem Ruhm der gepriesenen Person ein überaus enger Zusammenhang besteht (zu den beiden Kernstellen der poetologischen Doktrin Walters vgl. Komm. I, 468–492; vgl. auch Komm. V, 491–520; vgl. auch Wulfram 2000, 238–239; vgl. auch Einleitung 6; zur Abhängigkeit des Ruhms vom erfolgreichen Wirken des Dichters jenseits der Kernstellen der Doppeldoktrin Walters vgl. Komm. VI, 490–510 und Komm. X, 461–469). ⇔ Im ersten Teil orientiert sich Walter dabei an einer Apostrophe, mit der sich Lucan vor der Schlacht bei Pharsalus an Pompeius wendet und ihm die Sympathie der künftigen Leser und damit auch den in Walters Augen offenbar verdienten Nachruhm zusichert (vgl. Luc., Phars. VII, 212–213: attonitique omnes veluti venientia fata,  | non trans­ missa, legent et adhuc tibi, Magne, favebunt; vgl. auch Wulfram 2000, 237). ⇔ Im zweiten Teil nimmt er Bezug auf eine Apostrophe an Caesar, die ebenso die Vorstellung von der Unsterblichkeit der in einem Epos besungenen Personen wiedergibt (vgl. Luc., Phars. IX, 980–986: O sacer et magnus vatum labor! Omnia fato | eripis et populis donas mortalibus aevum.  | Invidia sacrae, Caesar, ne tangere famae; | Nam, si quid Latiis fas est promittere Musis, | quantum Zmyrnaei durabunt vatis honores,  | venturi me teque le­ gent; Pharsalia nostra | vivet et a nullo tenebris damnabimur aevo). Den auf den ersten Blick ungewöhnlichen Vergleich des Darius mit Pompeius erklärt die Glosse im Codex Vindobonensis mit dem Umstand, dass beide auf vergleichbare Weise doch im Kampf für ihr Vaterland gestorben seien (vgl. Colker 1978, 453: POMPEIO quia sicut ille mortuus fuit pugnando pro patria, sic et tu similiter). Stellt

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man über diese Gemeinsamkeit hinaus in Rechnung, dass Lucans Apostrophe an Caesar und das darin enthaltene Versprechen auf dessen späteren Ruhm seinem negativen Caesarbild entsprechend von blanker Ironie getragen ist, verdeutlicht die Verschmelzung beider Lucan-Stellen in der Alexandreis die eigentliche Aussageabsicht Walters: Ebenso wie der von ira und furor getriebene Caesar in der Pharsalia Lucans rücksichtslos die eigenen Interessen verfolgt und als Römer die bestehenden politischen Verhältnisse in der eigenen Heimat gewaltsam zerschlägt, leistet der am Ende des obigen Moralexkurses als negatives exemplum herausgestellte Bessus als Perser mit Darius’ Ermordung seinen Beitrag beim Untergang des persischen Reichs. ⇔ Demzufolge geht es Walter mit seiner Darstellung hier vornehmlich darum, die siegreichen Protagonisten Caesar und Bessus moralisch zu diskreditieren, um in einem bewusst angelegten Kontrast Pompeius und Darius ungeachtet ihrer jeweiligen Niederlagen und der damit einhergehenden Vernichtung ihrer physischen Existenz eine moralische Aufwertung zukommen zu lassen. Da der Verräter Bessus an dieser Stelle als Negativfolie für Darius dient, versetzt sich Walter anders als bei der vergleichenden Charakterisierung mit Alexander in die Lage, das grundsätzlich vorhandene Tugendpotenzial des persischen Königs anzuerkennen und ihm demzufolge auch den verdienten Ruhm zuzusprechen (vgl. Komm. II, 1–17; vgl. auch Komm. II, 272–305; vgl. auch Komm. IV, 280–284; vgl. auch Komm. IV, 374–390; vgl. auch Komm. V, 319–345; vgl. auch Komm. V, 376–421). Allerdings sollte dabei nicht übersehen werden, dass der Autor der Alexandreis ungeachtet dessen dennoch der grundlegenden Überzeugung ist, dass der Ruhm der beiden Verlierer Pompeius und Darius hinter demjenigen Alexanders zurückzustehen hat (vgl. Alex. V, 498–509). ⇔ Die an der vorliegenden Stelle von Walter mit den Worten Vivet cum vate superstes | gloria defuncti nullum mo­ ritura per evum formulierte Ruhmestopik ist in der Alexandreis in ähnlicher Form nur noch an zwei weiteren Stellen zu finden (vgl. Alex. VI, 509–510: Si quis tamen hec quoque si quis | carmina nostra



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legat, numquam Patrona tacebit | Gallica posteritas. Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum moritura per evum; vgl. auch. Alex. X, 468–469: vivet cum vate superstes | gloria Guillermi nullum mori­ tura per evum; zur Unterscheidung von wahrem und eitlem Ruhm in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4). Alexanders Totenklage (348–378) 348–378 Magnus ut accepit Darium expirasse, citatum | turbidus ac­ celerat gressum, inventumque cadaver | perfudit lacrimis et compluit ubere fletu … Sic michi dent superi, traiectis Alpibus, una | cum populis Ligurum Romanas frangere vires: Die Totenklage Alexanders führt die Ruhmesthematik der eben besprochenen Apostrophe an Darius weiter und verbindet diese mit der Beschreibung der Tugendhaftigkeit des makedonischen Königs. Als Alexander vom Tod seines persischen Widersachers erfährt, betont Walter dabei nicht zum ersten Mal in der Alexandreis dessen außerordentliche Schnelligkeit, mit der dieser vorzurücken imstande ist (vgl. Alex. VII, 348–349: Mag­ nus ut accepit Darium expirasse, citatum | turbidus accelerat gressum; zur Schnelligkeit Alexanders als Teilbereich der Tugend der Tapfer­ keit vgl. Komm. VII, 91–105; vgl. auch Komm. I, 116–117). ⇔ Als Alexander den Leichnam des persischen Königs erreicht, bricht er in Tränen aus und betrauert den verstorbenen Feind, den er gerne persönlich besiegt hätte, wenn ihm dies nicht vom Schicksal verwehrt worden wäre. Von tiefer Trauer berührt, gesteht Alexander seinem verstorbenen Feind ewigen Ruhm zu, da er es gewagt habe, sich ihm und dem Schicksal entgegenzustellen (zur Unterscheidung von wahrem und eitlem Ruhm in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Nach eigener Aussage hätte Alexander als Ausdruck seiner an­ gemessenen Zürnkraft den persischen König – abgesehen von der Tatsache, dass Darius dieses Ansinnen zuvor bereits zurückgewiesen hatte – nicht anders als später den Inderkönig Porus als Statthalter

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in einem Teil seines eroberten Reichs eingesetzt, so dass dieser nur ihm selbst unterworfen gewesen wäre (vgl. Alex. VI, 345–347: Arbi­ trium victoris an id censetis honestum, | victus ut expectem Darioque precaria detur  | Mazei exemplo sola in regione potestas?; vgl. auch Alex. IX, 317–325). Alexander bedauert zutiefst, dass die erneut als sklavenhaft charakterisierten Verräter Bessus und Narbazanes ihm durch Darius’ Ermordung die Möglichkeit verwehrt haben, den eigenen Ruhm zu mehren, indem er dem besiegten persischen König gegenüber hätte Milde walten lassen. So bleibe ihm nur noch übrig, die ruchlosen Verräter zu jagen und diese ihrer gerechten Strafe zuzuführen. ⇔ Ganz unbescheiden bringt Alexander zudem seine weiteren Pläne zum Ausdruck, nach denen er nach der Unterwerfung des Ostens mit den Völkern der Gallier, Ligurer und Römer auch den Westen unter seine Herrschaft bringen will. Damit macht Walter zum wiederholten Mal in der Alexandreis als Vorverweis auf die Zeit nach dem Perserkrieg den Leser auf das Ende seines wichtigsten Protagonisten aufmerksam, der für sein jenseits des Perserreichs liegendes und aus christlicher Sicht als Maßlosigkeit gebrandmarktes Expansionsstreben, dem Wunsch nach Gottgleichheit und der damit einhergehenden Hybris den epischen Tod erleiden wird (vgl. Komm. III, 242–257; vgl. auch Komm. III, 330–341; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Mit der Formulierung traiectis Alpibus scheint Walter beim Leser eine Assoziation zu dem Karthager Hannibal wecken zu wollen, der mit der Überquerung der Alpen zwar auch eine heroische Leistung vollbracht hatte, letztlich jedoch wie Alexander auch beim Versuch, Rom zu Fall zu bringen, gescheitert war (vgl. Alex. VII, 377). Das Grabmal des Darius (379–430) 379–430 Dixit, et exequiis solito de more solutis, | regifico sepelit cor­ pus regale paratu … In summa annorum bis milia bina leguntur |



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bisque quadringenti decies sex bisque quaterni: Nach Alexanders Totenklage folgt eine ausführliche Ekphrasis des von Apelles errichteten Darius-Grabmals, das anders als das seiner Ehefrau Stateira nicht mit biblischen Szenen geschmückt ist, sondern eine nach dem T-O-Schema angefertigte Weltkarte zeigt, auf der sich die geographischen Vorstellungen des Mittelalters wiederfinden (vgl. Komm. VII, 379–430; zur Stellung der Ekphrasis des Darius-Grabmals innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; zur Stellung des Darius-Grabmals innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79; zu Apelles vgl. Komm. IV, 176–179). ⇔ Das am äußeren Kartenrand umlaufende O bezeichnet dabei den schon von Homer und Hesiod beschriebenen erdumfließenden Ozean, das innere T wird als Trennlinie zwischen den Kontinenten vom Mittelmeer (die senkrechte Linie), vom Don, dem Nil, den Dardanellen und dem Schwarzen Meer (die waagrechte Linie) gebildet. Auf der üblicherweise nach Osten ausgerichteten Karte erstreckt sich Asien über die gesamte obere Hälfte und ist so groß wie die beiden im unteren Teil der Karte liegenden Kontinente Afrika und Europa zusammen (zu mittelalterlichen geographischen Vorstellungen vgl. Komm. I, 396–426). Nach einer zuerst unspezifischen Beschreibung von Landschaften mit ihren jeweiligen Charakteristika folgt die Besprechung allgemein bekannter Gebiete mit ihren landestypischen Begebenheiten, wie etwa der durch den Nil bedingten Fruchtbarkeit Ägyptens oder dem wertvollen Elfenbein der Inder. Walter lässt es sich zudem nicht nehmen, durch bewusst angelegte Anachronismen – erwähnt werden Francia, das hier wohl in der engeren Bedeutung von Franzien als Land um die Île de France zu verstehen ist, und die Champagne –, auf seine eigene Herkunft im Nordosten Frankreichs hinzuweisen (vgl. Wulfram 2000, 266). Das antike Klischee von der Qualität des in Italien angebauten kampanischen Weins überträgt Walter auf die seit dem 6. Jh. n. Chr. auch mit Campania bezeichnete französische Champagne (vgl. Wulfram 2000, 266, Anm. 136). Mit der Normandie

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und England, letzteres mit der Erwähnung des sagenhaften Königs Arthur, ergänzt Walter seine anachronistische Darstellung um jene Landschaften, die unter einem etwas weiter gefassten Blickwinkel zur Einflusssphäre der französischen Kultur gehören. Weitere Völker wie das der habsüchtigen Ligurer und der rasenden Teutonen runden Walters vornehmlich von Stereotypen geprägte Beschreibung ab. ⇔ Der Unterschied in der Gestaltung des Darius-Grabmals lässt sich dahingehend deuten, dass mit Darius’ Tod der Übergang vom medisch-persischen Reich zum Reich Alexanders ungeachtet noch einiger weniger ausstehender Kämpfe – angesprochen sind dabei die zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgte Eroberung des am Südufer des Kaspischen Meeres gelegenen Hyrkanien und die noch fehlende Abrechnung mit den Königsmördern Bessus und Narbazanes – in ihrem Kern dennoch abgeschlossen ist (vgl. Wiener 2001, 88). In dieselbe Richtung weist auch die auf Darius’ Grabmal von Apelles angebrachte Inschrift, auf welcher der Künstler nicht nur das alttestamentliche Wissen von der Schöpfung der Welt bis zu Darius’ Tod zusammenfasst und mit 4868 Jahren zudem eine exakte Datierung vornimmt, sondern mit der expliziten Erwähnung der Danielprophetie und der Epithetisierung Alexanders als totius malleus orbis zudem auch deutlich macht, dass der makedonische König seine von der christlichen Heilsgeschichte vorgesehene Aufgabe zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen erfüllt hat (zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.2). Velte (2021), 104–105 bringt diesen wichtigen Sachverhalt wie folgt zum Ausdruck: »Die Darstellung [gemeint ist die Weltkarte auf Darius’ Grabmal] zielt auf Globalität, sie möchte schlechterdings die ganze Welt darstellen, um dadurch die historische Abfolge der Weltreiche zu evozieren, deren Wendepunkt Darius’ Tod markiert. […] Das Grabmal fungiert damit [gemeint ist der Sachverhalt, dass Darius namentlich nirgendwo auf dem Grabmal erscheint] nicht primär als Ausstellungsfläche der Persönlichkeit und der Taten des persischen Königs, sondern offenbart dessen Platz



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in der Geschichte als letzten Vertreter einer Dynastie, die durch Alexander beendet wird.« Dabei ist es im Kontext dieser Darstellung wichtig zu verstehen, dass der Prozess der Bedeutungszuschreibung lediglich zwischen dem auktorialen Erzähler und den mittelalterlichen Rezipienten stattfindet, da Alexander – obgleich Stifter und Auftraggeber des Darius-Grabmals – vom Wissen über den Beginn des von Daniel prophezeiten dritten Weltreichs ausgeschlossen ist (vgl. Velte 2021, 104; zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Alexander zwischen Perserreich und Welteroberung (431–538) Alexanders angemessene Gebefreudigkeit (431–435) 431–435 Interea meritos ad donativa quirites | invitat Macedo, ge­ mitus et vulnera largis | curat muneribus … sollempnes epulas et Bachi gaudia totis | instaurat castris: Walter kehrt nach der Beschreibung des Darius-Grabmals mit der Darstellung der weiteren Pläne des makedonischen Königs zur eigentlichen Erzählung zurück. Alexander beschenkt seine Soldaten für die geleisteten Dienste im nun kurz vor dem endgültigen Abschluss stehenden Perserfeldzug überaus großzügig. ⇔ Damit verweist Walter zum wiederholten Mal auf die Tugendhaftigkeit Alexanders, der es versteht, seine Soldaten nach einer gewonnenen Schlacht entsprechend den Anforderungen der aristotelischen Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit reich zu entlohnen und somit die angeschlagene Psyche und die Wunden seiner Soldaten zu heilen (vgl. Komm. I, 144–151). Alexanders Welteroberungspläne (435–466) 435–466 Ergo dum pocula tractat | deliciisque vacat diffusus in ocia miles … Oritur per castra tumultus  | leticiae, mixtosque ferunt ad

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sydera plausus … Applaudit curia regi | promittitque suas in cuncta pericula vires, | iussa secuturos proceres et mobile vulgus | si modo blan­ diciis dubias permulceat aures: Während eines Gelages macht sich im griechischen Lager ein Gerücht breit, wonach Alexander nach dem durch Darius’ Tod erfolgreich beendeten Kampf gegen die Perser die Heimreise nach Griechenland antreten möchte. Ohne den Wahrheitsgehalt des Gerüchts zu prüfen, packen die Soldaten ihre Habseligkeiten zusammen und bereiten sich auf den vermeintlichen Abmarsch vor. Als Alexander davon erfährt, ist er im ersten Moment derartig erschüttert, dass er zu keiner vernünftigen Reaktion fähig ist (vgl. Alex. VII, 450: contraxitque furor laxas rationis habenas). Erst als er sich ein wenig beruhigt hat, vermag er sich seinen versammelten Generälen mitzuteilen. Tränenüberströmt führt er erbittert Klage darüber, dass er von seinen eigenen Männern ausgerechnet an der Schwelle zum endgültigen Sieg über die Perser daran gehindert werde, sich auch der Herrschaft über die ganze Welt zu bemächtigen (vgl. Alex. VII, 454–456: in ipso | limine Alexandro mundi tocius apertum | precludi imperium). ⇔ Indem Walter an dieser Stelle die über das Perserreich hinausgehenden Welteroberungspläne Alexanders thematisiert, gibt er noch innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Rahmens des Perserkriegs mit diesem als Vorverweis zu verstehenden Abschnitt einen Fingerzeig auf den Zeitraum nach dem Perserkrieg – beginnend mit Buch VIII erobert der makedonische König zuerst das Volk der Skythen, um in der Folge dann auch den Inderkönig Porus zu unterwerfen und in die Gefilde der Antipoden vorzudringen –, in welchem sich Alexander auf die jeweilige Situation bezogen anders als im Rahmen des heilsgeschichtlich legitimierten Perserfeldzugs ganz konkret mit dem christlich motivierten Vorwurf der Hybris konfrontiert sehen wird (zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4; zur Bedeutung der an der vorliegenden Stelle zum Ausdruck gebrachten Welteroberungspläne Alexanders innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.3). ⇔ Alexanders Generäle spenden den Worten ihres



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Anführers Beifall, geloben ihm Gefolgschaft und fordern ihn auf, die im Adel und im einfachen Volk vorhandenen Zweifel über sein weiteres Vorgehen mit schmeichelnden Worten zu zerstreuen. Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten (467–538) 467–538 Ergo tribunali posito ducibusque citatis, | in facie procerum plebisque astante caterva, | cepit Alexander … Ergo avidis pugnae ten­ toria vellere Magnus | imperat et rapido cursu bachatur in hostem: Alexander ruft seine Soldaten für eine Ansprache zusammen. Darin geht Alexander anders als im Gespräch mit seinen Generälen kurz zuvor mit keinem einzigen Wort auf seine über die Eroberung des Perserreichs hinausreichenden Welteroberungspläne ein, sondern versucht seinen Männern lediglich vor Augen zu führen, dass mit Darius’ Tod die Eroberung des Perserreichs zum momentanen Zeitpunkt noch nicht endgültig vollzogen ist. Dieses durchaus nicht unkluge Vorgehen Alexanders ist wohl der Tatsache geschuldet, dass er seinen Soldaten nicht zumuten möchte, sich zu diesem Zeitpunkt gedanklich bereits mit der Zeit nach dem Perserkrieg zu beschäftigen, um nicht den noch ausstehenden endgültigen Sieg über den Erbfeind zu gefährden. Zu Beginn seiner Rede äußert Alexander sein Verständnis für das Ansinnen seiner Soldaten, in die Heimat zurückkehren zu wollen und lobt sie ausdrücklich für ihre Leistung, die Griechen vom persischen Joch befreit zu haben (vgl. Alex. VII, 469–480). Mit diesen verständnisvollen und auch – wie von seinen Generälen geraten – schmeichelnden Worten gelingt es Alexander, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf die eigentliche Botschaft seiner Rede zu lenken: Das von ihnen mit großem Einsatz eroberte Reich sei noch nicht hinreichend gefestigt, da sich die widerspenstigen Perser noch nicht an die griechische Herrschaft gewöhnt hätten (vgl. Alex. VII, 481–497). Dieser Umstand erfordere die unbedingte Anwesenheit griechischer Truppen, da die Feinde, die zwar schon

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besiegt, aber ungeachtet aller bisherigen Erfolge noch immer nicht vollständig bezwungen seien, bei einem Abzug der griechischen Truppen ohne Zögern die Gelegenheit zum Aufstand nutzen würden (vgl. Alex. VII, 498–500). Auch wenn Darius nicht mehr unter den Lebenden weile, rüsteten Bessus und Narbazanes bereits wieder zum Kampf. Erneut verurteilt Alexander dabei die beiden Verschwörer und Königsmörder überaus scharf und bezeichnet sie als zu ewiger Dienerschaft geborene Vasallen – eternum nati servire clientes –, die auf keinen Fall ungeschoren davonkommen dürften (vgl. Alex. VII, 501–506; zum sklavenhaften Charakter der beiden Verschwörer und der damit einhergehenden Bezugnahme Walters auf die Aristoteles-Rede vgl. Komm. VII, 59–90). Mit dem strategischen Argument, dass ein Feind im Rücken für ein abziehendes Heer ebenso wie für das bereits eroberte Gebiet eine nicht zu unterschätzende Gefahr darstelle und man den Feind durch das eigene Fehlverhalten nicht unnötigerweise wieder stärken dürfe, führt Alexander seinen Soldaten zudem die fatalen Folgen eines verfrühten Abzugs auch für die eigene Sicherheit deutlich vor Augen (vgl. Alex. VII, 506–515). Zuletzt appelliert er an das Ehrgefühl seiner Soldaten und macht ihnen klar, dass sie die schlimmen Entbehrungen des Perserfeldzugs nicht deshalb auf sich genommen hätten, um am Ende Darius’ Mördern das Feld zu überlassen, zumal es sich dabei um eine nicht mehr allzu schwierige und auch nicht besonders zeitaufwendige Aufgabe handle (vgl. Alex. VII, 516–533). ⇔ Mit der Ansprache Alexanders an seine Soldaten macht Walter zum wiederholten Mal in der Ale­ xandreis deutlich, dass es dem makedonischen König bei seinen Taten grundsätzlich um wahren Ruhm geht, der entsprechend der Vorgaben der Aristoteles-Rede nur durch ein tugendhaftes Verhalten erworben werden kann (zur Unterscheidung von wahrem und eitlem Ruhm in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4). Beispielsweise spricht Alexander zu Beginn seiner Rede jenen Ruhm an, den sich seine Soldaten durch ihre auf dem Schlachtfeld errungenen Siege verdient haben (vgl. Alex. VII, 473: et celebris vestras attollat glo­



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ria pugnas). Später verkündet er seinen Männern, dass ihnen ewiger Ruhm bei der Nachwelt nur beschieden sein werde, wenn Bessus und Narbazanes durch ihren Einsatz am Ende ihre verdiente Strafe erhalten hätten (vgl. Alex. VII, 526–529: Memoranda per evum | glo­ ria cum servos vestro mediante labore | audierit domino penas solvisse perempto | credula posteritas). Zuletzt betont er noch einmal, dass sie nur durch diese für den Erfolg im Perserkrieg bedeutsame Tat ewigen Ruhm erlangen könnten (vgl. Alex. VII, 531–533: Hoc uno, miles, honorem | perpetuare tuum … conciliare potes). ⇔ Die mitreißende Rede des makedonischen Königs verfehlt ihre Wirkung nicht, die Soldaten brechen auf der Stelle die Zelte ab und ziehen weiter gegen den persischen Feind (zur Überzeugungskraft Alexanders als Teilbereich der aristotelischen Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. VII, 106–127; vgl. auch Komm. I, 118–127).

Einführung zu Buch VIII Nachdem es Alexander am Ende des siebten Buchs gelungen war, seine Soldaten von der überstürzten Rückkehr in die griechische Heimat abzuhalten, schildert Walter zu Beginn von Buch VIII die Unterwerfung der am Südufer des Kaspischen Meeres lebenden Hyrkaner (vgl. Komm. VIII, 1–5; zur Stellung der Eroberung Hyrkaniens innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2). Da alle weiteren Episoden – insbesondere die Philotas-Verschwörung sowie die Gefangennahme und die Hinrichtung des Bessus – nicht mehr zu einer territorialen Erweiterung des eroberten Gebiets führen, ist mit diesem letzten Sieg auf persischem Boden für den mittelalterlichen Autor der von der christlichen Heilsgeschichte legitimierte Übergang vom medisch-persischen Reich zum Alexanderreich endgültig abgeschlossen. Die in mehrfacher Hinsicht für Alexander äußerst problematische und sich länger als ein Jahr hinziehende Eroberung der in Zentralasien gelegenen persischen Satrapie Sogdien – diese sich jenseits des Oxus abspielende und für die endgültige Eroberung des Perserreichs nicht unbedeutende Episode konnte erst durch Alexanders Vermählung mit der baktrischen Prinzessin Roxane zu einem aus griechischer Sicht glücklichen Ende gebracht werden – bleibt bei Walter indes unerwähnt. Dieser auf den ersten Blick erstaunliche Umstand wird erst verständlich, wenn man die diesbezügliche Darstellung bei Curtius hinzuzieht. Wie Müller (2016) 28 aufzeigt, blendet Walters wichtigste historische Vorlage den in diesem Kontext relevanten politischen Hintergrund völlig aus – den Umstand nämlich, dass die Heirat nach dem Versagen militärischer Mittel tatsächlich die einzige Möglichkeit gewesen war, die in Sogdien ausgebrochene und bis nach Baktrien reichende persische Revolte zu beenden – und stellt Alexanders Ehe mit Roxane ausnehmend nega-



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tiv lediglich als peinliche Mésalliance dar, die für den antiken Historiker ausschließlich in Alexanders unkontrollierter libido begründet liegt. Überdies stellt Alexander in Curtius’ Darstellung einen Selbstvergleich mit Achilles an, um diese Heirat vor seiner Führungsriege zu rechtfertigen, der vom antiken Autor in auffälliger Weise zur ironischen Negativstilisierung Alexanders genutzt wird (vgl. Curt., Hist. Alex. VIII, 4, 22–30). Offenbar hat Walter mit der Auslassung dieser langwierigen und beinahe misslungenen Eroberung von Sogdien der maßgeblichen Intention seines Epos folgend – der zeitgenössischen Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im Kampf gegen die muslimischen Feinde – wie an zahlreichen anderen Stellen der Alexandreis auch kein Interesse daran, den makedonischen König noch innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs auf der Erzählebene des Epos einer moralischen Kritik zu unterziehen (zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. Einleitung 3; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Gerade vor dem Hintergrund von Forschungsansätzen, die in Alexanders Darstellung bei Walter bereits innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs eine kritische Distanzierung des Autors der Alexandreis von seinem wichtigsten Protagonisten wahrnehmen wollen und dabei die Ansicht vertreten, Walter inszeniere den makedonischen König bewusst als homerischen Helden, um sich kritisch von diesem als einem verantwortungslosen Herrscher absetzen zu können, ist es doch äußerst bemerkenswert, dass Walter auch an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise die für diese Interpretation günstige Gelegenheit nutzt, Alexander in Anlehnung an seine historische Hauptquelle als in Bezug auf seine militärischen Fähigkeiten limitierten und moralisch wenig nachahmenswerten Feldherrn und König zu diskreditieren (zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Diese Erkenntnis lässt sich auch anhand der von Walter über den gesamten Perserkrieg aufgespannten Struktur stützen, innerhalb

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derer die mühelose Eroberung von Hyrkanien zusammen mit der in Buch I geschilderten kampflosen Eroberung von Kilikien und Phrygien eine äußere kompositorische Klammer bildet, die in ihrer gliedernden Funktion des epischen Geschehens als eigene und in sich konsistente Einheit innerhalb der Alexandreis auf bemerkenswerte Art und Weise die heilsgeschichtliche Dimension des Perserkriegs auch unter gestalterischen Gesichtspunkten widerzuspiegeln vermag (vgl. Komm. I, 359–385; zur Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Als Alexander nach Baktra aufbrechen möchte, um den Darius-Mörder Bessus seiner gerechten Strafe zuzuführen, erfährt der makedonische König von der Verschwörung des Philotas (vgl. Komm. VIII, 75–91). Walter nutzt diese Episode, um erstmals in der Alexandreis auch auf der Ebene der eigentlichen Erzählung seinen wichtigsten Protagonisten einer punktuellen Kritik zu unterziehen, die insbesondere mit Alexanders Streben in Zusammenhang steht, als Jupiters Sohn gelten zu wollen. Mit diesem Anspruch auf Gottgleichheit zieht Alexander nämlich den Vorwurf der Maßlosigkeit auf sich, der von Walter im weiteren Verlauf des Epos zum bestimmenden Element der christlich motivierten Kritik ausgebaut wird. Dieser an Alexander gerichtete moralische Vorwurf lässt sich an dieser Stelle auch nicht – wie dies Wiener versucht – mit dem Argument abschwächen, dass Walter diesen Anklagepunkt im Philotas-Prozess vorbringen musste, da er in seiner Darstellung beinahe wortgetreu Curtius folgt und er das Thema der göttlichen Abstammung dazu benutzt, um vor allem Philotas und weniger Alexander zu charakterisieren (vgl. Wiener 2001, 29–30). Denn auch bei der Schilderung von Alexanders Besuch in der Oase Siwa, der bei Curtius explizit mit Alexanders Bestreben in Verbindung gebracht wird, als Sohn Jupiters gelten zu wollen, folgt Walter in derselben Weise seiner historischen Hauptquelle. Dennoch gelingt es ihm in der eigentlichen Erzählung ausgerechnet dort, wo der eigentliche Ursprung dieser moralischen Verfehlung liegt, den in seiner historischen Vorlage sei-



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nem wichtigsten Protagonisten gegenüber intendierten kritischen Ton bewusst durch gezielte Auslassungen vollständig auszublenden (vgl. Komm. III, 370–407). Demzufolge hätte Walter eben diesen Vorwurf, den er bei Alexanders Besuch in der Oase Siwa noch ausgespart hatte, auch im Philotas-Prozess ausblenden können, zumal Parmenion und Philotas mit ihrem immer wieder kritischen Verhalten gegenüber ihrem König Anlass genug geboten haben, dessen Argwohn zu wecken. Dazu hätte es nicht des Vorwurfs bedurft, er halte sich für Jupiters Sohn und strebe Gottgleichheit an. Auch Walters über den Begriff des iudex iniquus transportierte Kritik am feindseligen und ungerechten Verhalten Alexanders gegenüber Philotas im Prozess selbst muss dahingehend gedeutet werden, dass sein wichtigster Protagonist auch aus antik-paganer Sicht im Auftreten gegenüber seinen eigenen Männern in moralischer Hinsicht nicht mehr der unangreifbaren Herrscherfigur entspricht, wie sie vom Autor der Alexandreis noch innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs gezeichnet wurde (vgl. Komm. VIII, 158–184; zur Stellung der Philotas-Verschwörung innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). Im Anschluss an die Darstellung der Philotas-Verschwörung nutzt Walter das wechselvolle Leben des griechischen Generals, das vom rasanten Aufstieg zum Anführer der Reiterei bis zur Verurteilung als Rädelsführer einer Verschwörung gegen Alexander reicht, zu einem Autorexkurs über die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms (vgl. Komm. VIII, 323–334; zum Unterschied zwischen wahrem und eitlem Ruhm vgl. auch die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). Nach der Gefangennahme und der Hinrichtung des Bessus, der von den Persern dem anrückenden makedonischen König mehr oder minder freiwillig ausgeliefert wird, widmet sich Walter ausführlich der Unterwerfung der Skythen (vgl. Alex. VIII, 358–495). Mit dem Angriff auf das Reich des nomadischen Reitervolks be-

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wegt sich Alexander im Kontext seiner Eroberungen erstmals auch territorial außerhalb des heilgeschichtlich legitimierten Perserkriegs. Insofern ist es nicht weiter überraschend, dass er dabei vom mittelalterlichen Autor massiv mit dem Vorwurf der Hybris bedacht wird. Interessant ist dabei die formale Struktur dieses Abschnitts, mit der ausgehend von einer äußeren Klammer – gebildet von einer Beschreibung des skythischen Volks zu Beginn und dem nur kurz erwähnten Sieg Alexanders am Ende – sowie einer weiteren Klammer im Inneren die beiden aus christlicher Sicht zentralen Vorwürfe hinsichtlich Alexanders Maßlosigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden (zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Dabei wird die in der Mitte der Darstellung zur Sprache gebrachte grenzenlose Eroberungswut des makedonischen Königs in zwei Passagen eingebettet, die Alexanders maßloses Streben nach Gottgleichheit thematisieren. Mit einer solchen formalen Anordnung der an Alexander gerichteten Vorwürfe gelingt es Walter, über die innere Struktur der Skythen-Episode die inhaltliche Aussage seiner an den makedonischen König gerichteten moralischen Kritik zusätzlich zu unterstreichen (zur Stellung der Skythen-Episode innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). Den Abschluss von Buch VIII bildet Walters Schilderung der Reaktion der östlichen Völker auf den Sieg Alexanders gegen die Skythen (vgl. Komm. VIII, 496–513). Ungeachtet der christlich motivierten Kritik durch den Autor der Alexandreis im Kontext der zuvor wiedergegebenen Skythen-Episode schildert dieser seinen wichtigsten Protagonisten aus antik-paganer Sicht dabei nach wie vor als tugendhaften Feldherrn und König, der bei seinen Eroberungen weder hartherzig noch habgierig vorgeht, sondern manche Völker mit seiner überall bekannten Milde gegenüber Besiegten bisweilen sogar zur freiwilligen Akzeptanz seiner Herrschaft veranlasst.

Kommentar zu Buch VIII Themenübersicht (1–10) C 1–2 Hyrcanos domat octavus nec iniqua ferentem | vota pharetra­ tam presentat Amazona regi: Mit Alexanders unspektakulärem Sieg über die am Südufer des Kaspischen Meeres lebenden Hyrkaner – stilistisch als brevitas mit lediglich zwei Worten gleich zu Beginn der Themenübersicht entsprechend zum Ausdruck gebracht – beendet Walter seine Darstellung über den Perserfeldzug, um sogleich auf den überraschenden Besuch der Amazonen im griechischen Lager einzugehen, deren Anführerin Thalestris dem makedonischen König den Wunsch unterbreitet, mit ihm einen Nachkommen zu zeugen (vgl. Komm. VIII, 1–5; vgl. auch Komm. VIII, 6–48). C 3 Uruntur gaze Macedum, mirabile factu: Die Nachricht, dass sich Darius’ Mörder Bessus auf seiner Flucht nach Baktra zurückgezogen hat und bereits Vorbereitungen für einen erneuten Kampf trifft, veranlasst Alexander, den sofortigen Aufbruch in die im Nordosten des Perserreichs gelegene Provinz Baktrien in die Wege zu leiten. Um die Bewegungsfreiheit und die inzwischen nicht mehr in ausreichenden Maße vorhandene Marschgeschwindigkeit des griechischen Heeres wiederherzustellen, lässt Alexander – Walter kommentiert dieses überaus tugendhafte Vorgehen seines wichtigsten Protagonisten hinsichtlich der Tugend der angemessenen Gebe­ freudigkeit mit den lobenden Worten mirabile factu – alle bisher erbeuteten Schätze verbrennen (vgl. Komm. VIII, 49–74). C 4–5 Detegitur Dymi facinus, sequiturque nefandus | in castris ge­ mitus oratio morsque Phylotae: Die Verschwörung des Philotas verhindert indes den Aufbruch des griechischen Heeres nach Baktrien

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und die weitere Verfolgung von Darius’ Mörder Bessus. Nach Alexanders Anklagerede versucht Parmenions Sohn, sich in Abwesenheit seines Königs zu verteidigen, kann die versammelten Griechen jedoch nicht von seiner Unschuld überzeugen. Unter der Folter gesteht er, als Drahtzieher zusammen mit einigen anderen Männern Alexanders Ermordung geplant zu haben, wofür er schließlich auch hingerichtet wird. ⇔ Mit der Philotas-Verschwörung beginnt Walter erstmals in der Alexandreis punktuell auch die in Alexanders Maßlosigkeit begründeten Schattenseiten seines wichtigsten Pro­ tagonisten innerhalb der eigentlichen epischen Erzählung näher zu beleuchten, die während des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs bisher lediglich in Vorverweisen und Ausblicken auf die Zeit nach dem Perserkrieg – vom epischen Geschehen mehr oder minder deutlich abgegrenzt – eingebettet waren. Im Philotas-Prozess wird von Walter dabei aus christlicher Sicht insbesondere Alexanders verwerfliches Streben nach Gottgleichheit angeprangert, aber auch aus antik-paganer Perspektive sein gegenüber dem Angeklagten mitunter fragwürdiges persönliches Verhalten einer kritischen Betrachtung unterzogen (vgl. Komm. VIII, 75–322). C 6–7 Impius attrahitur monstrum inplacabile Bessus, | suspensus­ que piat manes patricida paternos: Darius’ Mörder Bessus wird von den Persern an Alexander ausgeliefert und von Darius’ Bruder, der sich seit einiger Zeit dem makedonischen König angeschlossen hatte, zu Tode gebracht. Walter betont Bessus’ Ruchlosigkeit an dieser Stelle stilistisch elegant mit einem über den ganzen Vers gespannten und aus den Worten impius und Bessus bestehenden Hyperbaton, wobei die verwerfliche charakterliche Disposition des Verräters in betonter Stellung gleich zu Beginn des Verses genannt wird (vgl. Komm. VIII, 335–357) . C 8–10 Arma Scitis infert Macedo. Legatio postquam  | nil agit et monitus non flectunt principis iram, | gens invicta prius victori subdi­



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tur orbis: Nach dem Sieg über Hyrkanien als letzter der von Walter geschilderten persischen Satrapien und der damit einhergehenden Erfüllung seines christlichen Heilsauftrags greift Alexander mit dem bis zu diesem Zeitpunkt noch unbesiegten nomadischen Reitervolk der Skythen erstmals auch ein Volk an, das nicht mehr zum gerade von Alexander eroberten Herrschaftsbereich der Perser gehört. Mit der Unterwerfung der Skythen finden die im Kontext der PhilotasVerschwörung bereits punktuell zur Sprache gebrachten kritischen Töne hinsichtlich Alexanders Maßlosigkeit ihre deutlich vernehmbare und ausführliche Fortsetzung. Zentraler Vorwurf ist dabei neben der grenzenlosen Eroberungswut des makedonischen Königs erneut dessen Streben nach Gottgleichheit, der über die Rede eines skythischen Barbaren an ihn herangetragen wird und ihm die Mahnung zukommen lässt, den Bogen nicht zu überspannen und das rechte Maß nicht zu verlieren. Freilich bleiben die Worte des Barbaren ohne Wirkung auf Alexander, so dass auch das vormals unbesiegte Skythenreich in dessen Machtbereich eingegliedert wird (vgl. Komm. VIII, 358–495). Die Eroberung von Hyrkanien (1–5) 1–5 Memnonis eterno deplorans funera luctu … Hyrcanos subiit ar­ mato milite fines: Mit der aus militärischer Sicht unproblematischen Einnahme von Hyrkanien findet in nur wenigen Versen der letzte in der Alexandreis im Kontext der Eroberung des Perserreichs beschriebene Feldzug Alexanders Erwähnung (zur bewussten Aussparung des persischen Aufstands in Sogdien bei Walter vgl. die Einführung zu Buch VIII; vgl. auch Einleitung 3). Da die nach der Philotas-Verschwörung geschilderte Gefangennahme des Bessus in Walters Darstellung nicht mehr zu einer territorialen Erweiterung des eroberten Gebiets führt, ist mit diesem Sieg über die am Südufer des Kaspischen Meeres lebenden Hyrkaner für den mittelalterlichen

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Autor der von der christlichen Heilsgeschichte legitimierte Übergang vom medisch-persischen Reich zum Alexanderreich endgültig abgeschlossen (zur Stellung der Hyrkanien-Episode innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2). Die Amazonenkönigin Thalestris (6–48) 6–48 Quos ubi perdomuit vitamque cruentus ab ipso | Narbazanes molli Bagoa supplicante recepit … et quod querebat adepta | ad soli­ um regni patriasque revertitur urbes: Die von Walter in enger Anlehnung an Curtius’ Darstellung gestaltete Episode um den Besuch der Amazonen und ihrer Königin Thalestris im griechischen Lager lässt sich in drei Abschnitte gliedern (vgl. Curt., Hist. Alex. VI, 5, 24–32). Im ersten Abschnitt geht Walter nach der Beschreibung von deren Herkunft aus der Gegend zwischen dem Kaukasus und dem ins Schwarze Meer mündenden Phasis und nach der Feststellung, dass sie in diesem Gebiet die Herrschaft ausüben, auch auf das ungewöhnliche Aussehen der Amazonen ein, als deren markantestes Merkmal er die ausgebrannte rechte Brust nennt, die es den Frauen ermöglichen soll, Bogen und Speer besser zu tragen (vgl. Alex. VIII, 8–23). Im zweiten Abschnitt schildert Walter das Erstaunen der Amazonenkönigin, die sich nur schwer mit der aus ihrer Sicht gewöhnungsbedürftigen Vorstellung anfreunden kann, dass einem körperlich doch eher kleinen Mann wie Alexander eine so große Tugendhaftigkeit innewohnt (vgl. Alex. VIII, 24–35). Im dritten Abschnitt schließlich wird dann auch der Grund für den Besuch der Amazonenkönigin genannt, der darin liegt, dass sie ungeachtet ihrer anfänglichen Vorbehalte gegenüber Alexander mit diesem einen Nachkommen zeugen möchte (vgl. Alex. VIII, 36–48). ⇔ Wie Harich (1987) 204 anmerkt, ist Walters enge Anlehnung an Curtius’ Schilderung der Thalestris-Episode der bis auf Homer zurückreichenden Tradition des antiken Heldengedichts geschuldet,



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die den Typus der reitenden Kämpferin in der lateinischen Literatur mit der in Vergils Aeneis beschriebenen Volskerin Camilla und der amazonenhaften Jungfrau Asbyte aus den Punica des Silius Italicus geprägt hat (vgl. Verg., Aen. XI, 432–433; vgl. auch Sil. Ital., Pun. II, 58–88). ⇔ Wie Rombach (2008) 83 aufzeigen kann, geht Walter in seiner Charakterisierung der Amazonenkönigin als Barbarin jedoch über die bei Curtius bereits vorhandene Distanzierung gegenüber dem Fremden noch deutlich hinaus. Thalestris kehrt nicht nur wie bereits von Curtius geschildert mit ihrem offensiv vorgetragenen Wunsch, mit Alexander einen Nachkommen zeugen zu wollen, die Geschlechterrollen um, sondern muss in Walters Darstellung aufgrund ihrer im Vergleich zur griechischen Welt fehlenden philosophischen Bildung auch eine bei Curtius nicht in diesem Ausmaß intendierte Abwertung hinnehmen, die damit zum Ausdruck gebracht wird, dass der Autor der Alexandreis die Vorstellung der Amazonenkönigin, dass der Ruhm eines Mannes mit dessen Körpergröße korrespondieren müsse, im pejorativen Sinne als barbara simplicitas bezeichnet (vgl. Alex. VIII, 28). Ihre schlichte Vorstellung wird von Walter umgehend mit einer von Curtius unabhängigen philosophischen Sentenz widerlegt, wonach auch in einem weniger großen Körper bisweilen ein großer und starker Geist regiere, und in den Körpergliedern eine versteckte Kraft vorhanden sei, die den Rahmen des Körpers zu sprengen vermag (vgl. Alex. VIII, 33– 35). Mit der philosophischen Widerlegung ihrer primitiven Ansicht bildet Walter kontrastierend jedoch nicht nur Alexanders Bildungsvorsprung gegenüber der Barbarin Thalestris ab, sondern inszeniert sich mit dem von ihm vorgetragenen platonischen Antagonismus von Körper und Geist auch selbst als ausgewiesenen Kenner der antiken Philosophie. Rombach (2008) 83 bringt diesen Sachverhalt wie folgt auf den Punkt: »Hier wird […] Walters Vertrautheit mit dem platonischen Gedankengut des 12. Jahrhunderts ebenso deutlich wie das Bestreben, philosophische Erkenntnisse und ethische Normen in sentenzenhafter Form protreptisch und didaktisch auf-

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zubereiten. Das prodesse […] steht gleichberechtigt neben dem delec­ tare, das durch die Alterität der Amazonen und ihrer Lebensweise ausgelöst wird. Verschiedene Bereiche antiker Wissensbestände aus Geschichte und Philosophie werden abgerufen und in der Transformation miteinander verbunden.« Sicherlich dürfte unter dem Aspekt des delectare gerade auch das Fremde und Wundersame eine Rolle für die Übernahme der Amazonen-Episode in die Alexan­ dreis gespielt haben, die sich ansonsten bekanntermaßen nicht der romanhaften Tradition verpflichtet fühlt (vgl. Harich 1987, 204). ⇔ Somit stellt ungeachtet der Nähe zum antiken Vorbild diese dem Mythos entstammende Episode keine bloße Versifikation Walters dar, sondern bekommt durch nur geringfügige Modifizierungen des mittelalterlichen Autors eine ganz eigene, über die historische Vorlage hinausgehende Bedeutung innerhalb des epischen Geschehens zugewiesen. Obwohl Thalestris Alexanders Frage nach Waffenhilfe mit der Begründung ablehnt, in ihrem eigenen Reich für Ordnung sorgen zu müssen, lässt sich der makedonische König dennoch auf den Wunsch der Amazonenkönig ein, mit ihr einen Nachkommen zu zeugen. Nach dreizehn Nächten ziehen die Amazonen schließlich mit ihrer von Alexander schwangeren Königin wieder ab. Die Vernichtung der Kriegsbeute (49–74) 49–74 Interea Bessus sumpto diademate Bactra | moverat et veteri mutato nomine Scitis | accitis toto surgebat in arma paratu … et quos subdiderat regina Pecunia servos, | principis exemplo manumissos esse per ignem: Nachdem die Amazonen mit ihrer Königin Thalestris abgezogen sind, richtet Alexander seine Aufmerksamkeit erneut auf den noch immer nicht dingfest gemachten Bessus, der sich inzwischen nicht nur nach Baktra zurückgezogen und sich dort unter dem Namen Artaxerxes zum neuen persischen König erklärt hat, sondern auch die benachbarten Skythen überzeugen konnte, ihm



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Waffenhilfe gegen Alexander zu leisten. ⇔ Um dieser schwierigen Situation angemessen begegnen zu können, erteilt Alexander seinen Soldaten den für sie überraschenden Befehl, um der größeren Beweglichkeit und Schnelligkeit willen alle bisher im Perserkrieg erworbenen Beutestücke und Schätze auf einen Haufen zu werfen und zu verbrennen. Insbesondere der Umstand, dass auch Alexander als König auf seine persönlichen Beutestücke verzichtet, führt unter seinen Männern zur Akzeptanz dieser ungewöhnlichen Maßnahme. Walter kommentiert mit den bereits in der Themenübersicht zum vorliegenden Buch verwendeten Worten mirabile factu die aus seiner Sicht lobenswerte Tat Alexanders, der damit die Vorgaben der Aristoteles-Rede hinsichtlich der im Gegenstandsbereich des Gebens und des Nehmens angesiedelten Tugend der angemes­ senen Gebefreudigkeit in besonderer Weise erfüllt, da er in der Lage ist, aus einem vernünftigen Grund – der Wiederherstellung bzw. der Steigerung der Kampfkraft seiner Soldaten – auf die im Perserkrieg unter Einsatz des eigenen Lebens erbeuteten und zuvor an seine Soldaten verteilten Schätze zu verzichten (vgl. Komm. I, 152–154 bzw. Komm. I, 156–163; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Doch auch in seiner im Tugendbereich der Tapferkeit angesiedelten Vorbildfunk­ tion als Feldherr und König erweist sich Alexander als echter Anführer, indem er mit der Vernichtung des eigenen Beuteanteils ebenso einen Beitrag zur vollen Einsatzfähigkeit des Heeres leistet, um somit die Konzentration wieder auf die eigentliche Aufgabe richten zu können (vgl. Komm. I, 128–132). Walter geht im Unterschied zu Curtius, der lediglich davon spricht, dass Alexanders Soldaten durch die Maßnahme ihres Königs froh waren, nur ihr Gepäck und nicht ihre Disziplin eingebüßt zu haben, in seinem Lob auf Alexanders Tugendhaftigkeit so weit zu behaupten, dass die griechischen Soldaten nach ihrem anfänglichen Schmerz über den Verlust der Beute gesagt haben sollen, durch das Beispiel Alexanders vor dem Sklavenleben gerettet worden zu sein (vgl. Alex. VIII, 74: principis exemplo

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manumissos esse per ignem; vgl. auch Curt. Hist. Alex. VI, 6, 17: lae­ tabantur sarcinarum potius quam disciplinae fecisse iacturam). ⇔ Die Episode um die vernunftgeleitete Vernichtung der persischen Kriegsbeute macht deutlich, dass ungeachtet der Tatsache, dass sich Alexander nach der Eroberung von Hyrkanien inzwischen außerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs bewegt und sich somit im weiteren Verlauf seines Eroberungszuges auch immer wieder vornehmlich christlich motivierten moralischen Vorwürfen vonseiten des Autors der Alexandreis ausgesetzt sehen wird, dennoch aus antik-paganem Blickwinkel weiterhin immer wieder auch positive moralische Bewertungen erfährt, da es Walter nicht um eine generelle Kritik an der charakterlichen Disposition seines wichtigsten Protagonisten geht, sondern lediglich um die aus christlicher Sicht modifizierte Darstellung Alexanders im weiteren Verlauf seiner Eroberungen (vgl. Gartner 2018, 79–80). Die Verschwörung des Philotas (75–322) Die Entdeckung der Verschwörung (75–91) 75–91 Iamque legebat iter, iam Bactra subire parabat | exhonerata manus cum rex, invictus et hoste | tutus ab externo, pene interfectus ab ipsis | consulibus Macedum … Inducitur ergo, revinctis | a tergo ma­ nibus, faciem velatus, in aulam: Die Entdeckung der Verschwörung des Philotas verhindert den geplanten Aufbruch des griechischen Heeres nach Baktra. Walter stellt gleich zu Beginn seiner Darstellung klar, dass Alexander dem Anschlag seiner eigenen Leute vor allen Dingen deshalb entkommen ist, da er noch immer unter dem stilistisch durch eine bemerkenswerte Alliteration hervorgehobenen Schutz der Parzen steht (vgl. Alex. VIII, 79: adhuc Parcis parcenti­ bus). Damit verfolgt Walter wie schon bei der Eroberung von Gaza auch an der vorliegenden Stelle die Absicht, auf das unabänderliche



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Schicksal Alexanders hinzuweisen, der weder wie zum damaligen Zeitpunkt durch den Schwerthieb eines Barbaren noch in der vorliegenden Situation durch die Hinterlist der eigenen Leute sein Ende findet, sondern dem es bestimmt ist, erst durch den von der Schicksalsgöttin Lachesis gebrauten giftigen Sud zu sterben (vgl. Alex. III, 354–357: ferroque perire | non patitur Lachesis, cui iam fatale vene­ num | confectumque diu Lethea fece vitrina | pixide condierat; vgl. auch Komm. III, 342–369; zur Rolle der Fortuna im Leben Alexanders vgl. auch Komm. II, 186–200; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 5). ⇔ Auch wenn Philotas die ihm von Cebalinus angezeigte Verschwörung aus – wie Walter ironisierend anmerkt – guten Gründen zwei Tage lang verschwiegen hat und deshalb in Fesseln vor Alexanders Zelt geführt wird, versäumt es Walter nicht, die gerade für den Perserkrieg große Bedeutung dieses explizit als Freund des Königs bezeichneten Mannes hervorzuheben, ohne den Alexander nichts vollbracht hätte, was eines Heldengedichts würdig gewesen wäre (vgl. Alex. VIII, 80–83: Erat inter regis amicos | precipuus tota maior legione Phylo­ tas, | Parmenione satus, sine quo nil carmine dignum | gessit Alexan­ der). Die beinahe wortgleiche Formulierung hatte Walter in einem kurzen Autorkommentar inmitten der Schlacht bei Issus bereits für Parmenion benutzt, um auch dort auf den bedauerlichen Kontrast zwischen dessen überragender Leistung im Perserkrieg auf der einen Seite und dessen unrühmlichem Ende auf der anderen Seite – Parmenion wurde ebenso wie sein Sohn Philotas für seine führende Rolle innerhalb der Verschwörung von Alexander mit dem Tod bestraft – hinzuweisen (vgl. Alex. III, 56–58: Parmenio, sine quo nichil umquam carmine dignum | gessit Alexander, sed que provenerit illi | talio pro meritis magis arbitror esse silendum).

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KOmmentar Alexanders Anklagerede gegen Philotas (92–157)

92–157 Principis edicto populus convenerat armis | cinctus … Si me salvare velitis, | vindicis officium pretendite vindice pena: Auf dem Platz vor dem königlichen Zelt hält Alexander eine zweimal durch das entsetzte Raunen der griechischen Soldaten unterbrochene emotionale Ansprache, in welcher er der versammelten Menge von der gerade entdeckten Verschwörung gegen seine Person berichtet. Ebenso wie Walter zuvor führt auch Alexander seine glückliche Rettung vor dem explizit als Verbrechen bezeichneten Mordanschlag dabei auf die Gunst des Schicksals zurück (vgl. Alex. VIII, 99: For­ tunae munere vivo; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ Als Drahtzieher des geplanten Anschlags nennt der makedonische König seinen im Perserkrieg wichtigsten General Parmenion – ironisierend als Freund seines Vaters Philipp bezeichnet – und dessen Sohn Philotas, sowie als Komplizen Lecolaus, Demetrius und den durch das eigene Schwert zu Tode gekommenen Dimus (vgl. Alex. VIII, 103–105: ille meus, patris ille mei specialis amicus, | Parmenio, tantoque aliis prelatus amore, | tanti flagitii fuit auctor). Als Zeugen werden Metron, Cebalinus und Nicomachus vernommen, von denen die Ausführungen ihres Königs bestätigt werden. Insbesondere das lange Schweigen des Philotas nach der Anzeige des geplanten Attentats durch Cebalinus legt für Alexander den Verdacht nahe, dass dieser das Verbrechen als Anführer vor Ort – sein Vater Parmenion befand sich zu diesem Zeitpunkt in Medien und hatte dort in Abwesenheit des makedonischen Königs die oberste Befehlsgewalt inne – geplant hatte. Als Motiv für die von Alexander als schlimmstes aller Verbrechen bezeichnete Tat nennt er Philotas’ Hochmut, der sich aus der Machtstellung seines Vaters Parmenion erklären lasse und diesen befeuere, selbst nach der höchsten Stellung zu streben (vgl. Alex. VIII, 120–122: sane patria ditione tumescit. | Quem quia prefeci Mediae, maiora super­ bus | sperat et aspirat ad summi culmen honoris). Den Umstand, dass



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Philotas’ Komplizen diesen nicht als Drahtzieher des Verbrechens nennen, begründet Alexander damit, dass sie es aus Angst vor dem angesehenen General und wegen des Drucks, den dieser auf sie ausübe, nicht wagten, ihren Anführer bloßzustellen (vgl. Alex. VIII, 131–133: Indicium est ducis et terroris in illos  | prodere qui possunt. Qui cum de se fateantur, | de duce non audent ducti terrore fateri). ⇔ Bis zu diesem Punkt der Darstellung fällt keinerlei Schatten auf die Person Alexanders, der sich gegen ein Komplott wie dieses selbstredend zur Wehr setzen und insbesondere die Drahtzieher des Verbrechens anklagen und als gerechter Richter dann auch bestrafen muss. Mit der im unmittelbaren Anschluss daran folgenden Textpassage ändert sich die Situation jedoch grundlegend. Darin nämlich bringt Walter dem Leser gegenüber direkt aus dem Mund Alexanders die diesem gegenüber kritische Haltung des Philotas deutlich vernehmbar zu Gehör, die ihren Ausdruck darin findet, dass dieser sich für Alexander zwar über dessen Abstammung von Jupiter freue, er jedoch die Armen bedauern müsse, die unter einem so hochmütigen König leben müssten, der das Maß und die Möglichkeiten menschlicher Macht überschreite (vgl. Alex. VIII, 136–139: Se gaudere mi­ chi, genitum quem Iupiter a se | affirmabat, ait: miseris tamen esse dolendum, | vivendum quibus est tanti sub principe fastus, | excedente modum et stadium mortalis habenae; zur Stellung der Philotas-Verschwörung innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3). Um die Schwere der Schuld und die Ungeheuerlichkeit einer Verschwörung in den eigenen Reihen zu betonen, macht Alexander im weiteren Verlauf seiner Ansprache deutlich, dass er lieber im Perserkrieg als Beute seiner Feinde gefallen wäre, als zum jetzigen Zeitpunkt von einem griechischen Landsmann getötet zu werden (vgl. Alex. VIII, 148–149: Melius cecidissem Marte, futurus | hostis preda mei pocius quam victima civis). Am Ende seiner Ansprache legt er sein Schicksal in die Hände seiner Landsleute und macht ihnen bewusst, dass – ihre weitere Gefolgschaft vorausgesetzt – die Verschwörer ihre gerechte Strafe erhalten müssen (vgl. Alex. VIII,

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156–157: Si me salvare velitis,  | vindicis officium pretendite vindice pena). Alexander als ungerechter Richter (158–184) 158–184 Hec ubi persuasit ira dictante, relinquit  | concilium vinc­ tumque iubet proferre Phylotam … resuscitat iram | sedatumque facit rursum crudescere vulgus: Abgesehen von dem im Kommentarpunkt zuvor angesprochenen und für Walter als christlichem Autor zentralen Vorwurf an Alexander, in seiner Maßlosigkeit als Jupiters Sohn gelten zu wollen und damit Gottgleichheit anzustreben, werden an der vorliegenden Stelle im Philotas-Prozess erstmals auch dessen moralisch fragwürdigen Seiten im Verhalten gegenüber einem seiner eigenen Männer in Szene gesetzt. Auch wenn dieses verwerfliche Verhalten gegenüber seinem vor Ort wichtigsten General im weiteren Verlauf der Alexandreis keine weitere Erwähnung findet und auch andere moralische Fehltritte Alexanders hinsichtlich der Behandlung seiner Anführer für Walter insgesamt eine nur untergeordnete Rolle spielen, lässt er es sich an dieser Stelle dennoch nicht nehmen, auch die gegenüber Philotas gezeigte Maßlosigkeit seines wichtigsten Protagonisten zu thematisieren. ⇔ Ausgangspunkt dieser moralischen Kritik ist der mit den Worten iniquo iudice ausgerechnet von den eigenen Soldaten in den Raum gestellte Vorwurf, ihr König verletze als ungerechter Richter die Regeln einer gerechten Prozessführung (vgl. Alex. VIII, 176–178: absente parente superstes | tercius et patrium solus solamen iniquo | iudice barbaricis causam dicebat in horis). Doch an welcher Stelle verletzt Alexander die Regeln einer gerechten Prozessführung und woran genau lässt sich dessen ungerechtes Verhalten festmachen? Die Antwort auf diese Frage gibt Philotas in seiner im folgenden Kommentarpunkt noch näher untersuchten Verteidigungsrede selbst. Dort beklagt er sich nämlich darüber, dass Alexander, der sonst immer die Bedeu-



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tung eines gerechten Prozesses anerkannt habe, die Versammlung vor seiner Verteidigungsrede verlassen habe, ein Freispruch des Angeklagten jedoch nur in Anwesenheit des Richters erfolgen könne (vgl. Alex. VIII, 205–208: Preterea causam ingredior sine iudice, cui­ us | intererat iustae meritum cognoscere causae. |Nec video cur absit, ei dampnare nocentem | cum liceat soli solusque absolvere possit). Damit demaskiert Philotas den makedonischen König und stellt gegenüber seinen Zuhörern klar, dass dessen Urteil völlig ungeachtet seiner Verteidigung schon längst feststeht. ⇔ Der von Walter vermittelte Eindruck der moralischen Verwerflichkeit von Alexanders ungerechtem Verhalten wird zusätzlich noch verstärkt, wenn man vergleichend dazu Curtius’ diesbezügliche Darstellung hinzuzieht (vgl. Curt. Hist. Alex. VI, 9, 35). Es ist nämlich durchaus bemerkenswert, dass der antike Autor die von Walter mit iniquo iudice zum Ausdruck gebrachte Verfehlung Alexanders überhaupt nicht erwähnt und Alexander die Versammlung anders als in Walters Darstellung nicht voller Erbitterung, sondern in aller Ruhe und auch erst dann verlässt, nachdem er einige Worte mit Philotas gewechselt hat. Zudem wird bei Curtius anders als bei Walter an keiner Stelle Alexanders Abwesenheit während Philotas’ Verteidigungsrede kritisch hinterfragt. Darüber hinaus wird die Szene insgesamt in einen ganz anderen Kontext eingebettet. Bei Curtius nämlich beschimpft Koinus seinen Schwager Philotas mit den übelsten Worten, bezichtigt ihn des Hochverrats und ist gerade dabei, einen Stein auf diesen zu werfen, als Alexander ihn mit dem nachdrücklich vorgetragenen Hinweis, dass dem Beklagten zuerst einmal die Gelegenheit zur Verteidigung gegeben werden müsse und er ein Urteil, das auf einer anderen Verfahrensweise beruhe, auf keinen Fall dulden werde, daran hindert, den Stein tatsächlich zu werfen (vgl. Curt. Hist. Alex. VI, 9, 31–32: Sed rex manum eius inhibuit dicendae prius causae debere fieri potestatem reo nec aliter iudicari passurum se adfirmans). Alexander setzt sich also bei Curtius energisch für die Einhaltung der Rechtsordnung ein, die offenbar auch für ihn als König die einzige

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Grundlage für ein gerechtes Urteil darstellt. In Walters Schilderung hingegen erteilt Alexander beim Verlassen der Versammlung, ohne die in diesem Kontext nicht unbedeutende Vorgeschichte um Koinus mit einem einzigen Wort zu erwähnen, erbittert nur den Befehl, Philotas gefesselt vor die Versammlung zu führen, um ihm die Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben, damit man nicht sage, die Rechtsordnung habe am Sitz des übermächtigen Siegers ihre Gültigkeit verloren (vgl. Alex. VIII, 159–162: vinctumque iubet proferre Phylotam | dicturum causam ne iudiciarius ordo | dicatur vires tanti victoris in aula | amisisse suas). Damit führt Walter insofern eine bemerkenswerte Akzentverschiebung herbei, als Alexander im mittelalterlichen Epos offenbar lediglich den Anschein erwecken möchte, an der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung interessiert zu sein und diese nicht wie bei Curtius mit Nachdruck zu verteidigen gedenkt. Stellt man zudem in Rechnung, dass Walter seinen wichtigsten Protagonisten im Kontext des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs gegenüber seinem historischen Vorbild Curtius bisher stets eher in Schutz genommen hatte, als diesen kritisch zu hinterfragen, kommt man nicht umhin, in dieser Szene eine auch aus antik-paganer Sicht zum Ausdruck gebrachte moralische Kritik des Autors der Alexandreis an seinem wichtigsten Protagonisten Alexander zu sehen. Nimmt man hinzu, dass sich die Figur des ungerechten Königs – wie Meier (2009) 37 in ihrem lesenswerten Beitrag zum rex iniquus in der lateinischen und volkssprachigen Dichtung des Mittelalters unter expliziter Erwähnung von Lucans Pharsalia und Walters Alexandreis aufzeigt – insbesondere für Epen eignet, in denen es auch um Veränderungen in den Herrschergestalten geht, aus deren ambivalenter Bewertung erst die Möglichkeit einer interessanten Diskussion über die Königsgestalt erwächst, nimmt es nicht Wunder, dass Walter ausgerechnet zu demjenigen Zeitpunkt des epischen Geschehens, an dem Alexander den heilsgeschichtlich legitimierten Rahmen des Perserkriegs verlässt, über die Formulierung des iniquus iudex innerhalb der epischen Erzählung eine erste



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moralische Kritik gegenüber dem epischen Helden zum Ausdruck bringt (zur Stellung der Philotas-Verschwörung innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3). ⇔ Der Umstand, dass der Philotas-Prozess als solcher für Walter keine moralischen Fragen grundsätzlicher Art aufwirft, lässt sich auch an dem von Walter angeführten zeitgenössischen Vergleich von Philotas’ Schicksal mit demjenigen des Grafen Burchard aufzeigen, der an der Ermordung des Grafen von Flandern (1127) beteiligt gewesen und mit Zustimmung König Ludwigs VI. von Frankreich am Rad hingerichtet worden war (vgl. Alex. VIII, 168–171; vgl. auch Christensen 1905, 8; zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8). Walter spricht dabei ungeachtet der grausamen Todesart von einer verdienten Buße, die Burchard mit der Zerschmetterung seiner Gliedmaßen für sein Verbrechen hatte erleiden müssen. Da­ raus lässt sich ableiten, dass Walter auch für Philotas und Parmenion eine ihrem Verbrechen angemessene Strafe befürwortet und – für einen modernen Leser schwer zu verstehen – auch der Folter nicht grundsätzlich abgeneigt gegenübersteht. Aus diesem Grund lässt sich anhand des Verfahrens selbst und der Verurteilung eben gerade keine moralische Kritik Walters an Alexander festmachen, da beide Verschwörer lediglich ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Dass Walter einem seinem zeitgenössischen Verständnis nach vernunftgeleiteten Strafprozess positiv gegenübersteht, zeigt sich auch an seiner am Ende dieses Abschnitts zustimmend wiedergegebenen Schilderung des Generals Amyntas, der die von ihrer Wut auf Alexander und ihrem Mitleid mit Philotas unsicher gewordenen Soldaten mit scharfen Worten angeht und den Zorn der Anführer auf Philotas und die Strenge der einfachen Soldaten von neuem entfacht. ⇔ Insofern hat Walters innerhalb des Philotas-Prozesses punktuell immer wieder aufscheinende moralische Kritik an Alexander nicht die Funktion, seine beiden wichtigsten Generäle vom Vorwurf der Verschwörung freizusprechen. Vielmehr geht es Walter ungeachtet seiner Haltung gegenüber Philotas und Parmenion da­

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rum, seinen wichtigsten Protagonisten für sein erstmals in der Ale­ xandreis eben auch nicht immer vorbildhaftes Verhalten gegenüber einem seiner eigenen Generäle an bestimmten Stellen zu tadeln, ohne ihn deshalb gleich grundsätzlich moralisch diskreditieren zu wollen. Philotas’ Verteidigungsrede (185–301) 185–301 Tunc vero attonitus labefacta mente Phylotas … iure | posce­ bat natura suo: Philotas bekommt in Abwesenheit Alexanders die Gelegenheit, vor den Anführern und einfachen Soldaten zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen und sich zu verteidigen. Im ersten Moment ist er nicht fähig, die Anwesenden anzublicken geschweige denn das Wort an diese zu richten, sondern sinkt ohnmächtig zu dem an seiner Seite stehenden Wachmann hinüber. Walter lässt dabei offen, ob dieses Verhalten als Schuldeingeständnis ausgelegt werden müsse oder Philotas aus Angst vor der zu erwartenden Strafe eine derartige Reaktion zeige (vgl. Alex. VIII, 185–191). Eine Unschuldsvermutung zieht Walter jedenfalls nicht in Betracht. Diese ersten, der eigentlichen Rede vorangehenden Verse finden ihre Entsprechung unmittelbar nach dem Ende der Rede, als Philotas bei Alexanders Rückkehr in die Versammlung erneut zusammenbricht und zu Boden fällt (vgl. Alex. VIII, 301–305). ⇔ Philotas beginnt seine Rede mit einer captatio benevolentiae, indem er nicht nur sogleich seine Unschuld beteuert, sondern den Zuhörern auch die Schwierigkeit seiner Situation vor Augen zu führen versucht, in einer derartigen Bedrängnis – immerhin hat ihn Alexander mit dem Vorwurf der gemeinschaftlichen Verschwörung eines schweren Verbrechens angeklagt – überhaupt die richtigen Worte zu finden. Zudem habe das Schicksal ungeachtet seines reinen Gewissens, das ihm unter anderen Umständen allein Rettung sein könnte, schon das Richtbeil für ihn bereitgestellt und ihm die Möglichkeit einer er-



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folgreichen Verteidigung schon vorab verwehrt (vgl. Alex. VIII, 191– 204). ⇔ Nach diesem ernüchternden Einstieg kommt Philotas auf Alexanders fragwürdiges Verhalten in diesem Prozess zu sprechen, das ihm als Angeklagten durch dessen Abwesenheit die Möglichkeit nimmt, sich dem Ankläger gegenüber überhaupt sinnvoll zu verteidigen. Nicht sei damit zu rechnen – so Philotas weiter – von jenem Mann, der ihn in seinem Beisein in Fesseln hat legen lassen, in dessen Abwesenheit freigesprochen zu werden. Damit steht erneut das im Kommentarpunkt zuvor bereits angesprochene ungerechte Verhalten Alexanders im Raum, das ohne Vorbild bei Curtius von Walter in Szene gesetzt wird, um seinen wichtigsten Protagonisten erstmals in der Alexandreis innerhalb der eigentlichen epischen Erzählung in einem unter moralischen Gesichtspunkten weniger günstigen Licht erscheinen zu lassen. Dennoch möchte Philotas ungeachtet der Tatsache, dass seine Verteidigung insbesondere durch den an den makedonischen König gerichteten Vorwurf, ungerecht zu handeln – mit den kritischen Worten immo videtur | arguere iniusti weist Walter den Leser erneut auf Alexanders schuldhaftes Verhalten hin –, sein Recht einfordern und nicht zum Verräter seiner selbst werden (vgl. Alex. VIII, 205–216). ⇔ Bevor Philotas konkret auf Alexanders Vorwürfe eingeht, weist er in einer allgemeinen Bemerkung zuerst einmal alle Schuld von sich und will nicht begreifen, welches Verbrechens er überhaupt angeklagt werde (vgl. Alex. VIII, 216–217: Sed quo me crimine dampnet | curia, non video). Mit der expliziten Erwähnung des Gerichtshofs, über den andernorts in der Alexan­ dreis stets ein zeitgenössischer Bezug zum moralisch verwerflichen Gebaren der römischen Kurie hergestellt wird, weist Walter den Leser zum wiederholten Mal innerhalb der Philotas-Verschwörung auf Alexanders moralisch betrachtet nicht einwandfreies Verhalten gegenüber Philotas hin (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). ⇔ Erst jetzt geht Philotas konkret auf Alexanders Vorwürfe ein und versucht in einem ersten Schritt den ihm zuvor zum Nachteil ausgelegten Umstand, dass keiner der angeblichen Mitver-

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schwörer seinen Namen genannt geschweige denn ihn als Drahtzieher der Verschwörung denunziert hat, in Umkehrung der ursprünglichen Argumentation für sich zu nutzen. Unwahrscheinlich sei es, so Philotas, dass jemand einen anderen schone, der sich selbst nicht zu schonen verstehe. Im Gegenteil sei es glaubwürdiger, dass sich jemand unter dem Druck einer Anklage mit dem größeren Namen zu schützen versuche (vgl. Alex. VIII, 216–228). Um seinen Argumenten Autorität zu verleihen, führt Philotas zwei mit Odysseus in Verbindung stehende mythologische Beispiele an, die durch ihren veranschaulichenden Charakter bestätigen sollen, dass der weniger Angesehene im Falle eines Vorwurfs oder einer Anklage sich stets damit zu entschuldigen pflegt, lediglich dem Angeseheneren gefolgt zu sein (vgl. Alex. VIII, 229–240). ⇔ An diesem Punkt der Verteidigung fasst Philotas die bisher genannten und aus seiner Sicht ungerechtfertigten Vorwürfe zusammen: Keiner der Verschwörer habe ihn beschuldigt, nicht einmal gerüchteweise liege etwas gegen ihn vor und er selbst habe auch kein Geständnis abgelegt, womit er zugleich Alexanders Anklage als insgesamt haltlosen Vorwurf gegenüber einem vollkommen unschuldigen Mann kritisiert (vgl. Alex. VIII, 241–244). ⇔ In einem zweiten Schritt geht Philotas nun auf Alexanders Vorwurf ein, die Information über ein möglicherweise bevorstehendes Attentat nicht umgehend weitergeleitet zu haben. Der Beklagte versucht diesen schweren Vorwurf damit zu entkräften, dass er versichert, dieses von wenig glaubwürdigen Ohrenzeugen stammende Gerücht nicht ernstgenommen zu haben. Zudem hätte er Alexander längst töten können, als er sich mit diesem allein in dessen Zelt aufgehalten habe. ⇔ Auch den dritten von Alexander zur Sprache gebrachten Anklagepunkt, wonach er die Absicht gehabt habe, nach dessen Ermordung die Macht an sich zu reißen, weist er mit dem Hinweis weit von sich, keinen der anwesenden Landsleute zuvor mit Geschenken bestochen oder mit aufwendigen Ehrungen versehen zu haben, um sich deren Loyalität zu erkaufen (vgl. Alex. VIII, 244–267). ⇔ Zuletzt nimmt Philotas Stellung zu



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der von Alexander als Misstrauensvotum ausgelegten Äußerung, man müsse die Armen bedauern, die unter einem so hochmütigen König leben müssten, der das Maß und die Möglichkeiten menschlicher Macht mit seinem Anspruch, als Jupiter Sohn gelten zu wollen, überschreite. Philotas gibt unumwunden zu, einen Brief dieses Inhalts geschrieben zu haben, betont jedoch auch, diesen Brief nicht über Alexander, sondern an Alexander geschrieben zu haben, um ihm im Interesse einer guten Stimmung unter den Anführern den aufrichtigen Ratschlag zukommen zu lassen, sich lieber im stillen Gebet zu Jupiter zu bekennen als sich vor allen Anführern damit zu brüsten (vgl. Alex. VIII, 268–279). ⇔ Damit bringt Walter dem Leser gegenüber ein weiteres Mal den an den makedonischen König gerichteten, christlich motivierten Vorwurf zum Ausdruck, der ursächlich mit der Maßlosigkeit seines wichtigsten Protagonisten und dem damit einhergehenden Streben nach Gottgleichheit in Zusammenhang steht (vgl. Komm. VIII, 92–157). ⇔ Nachdem Philotas seine Sicht zu jedem einzelnen von Alexander vorgebrachten Vorwürfen dargelegt hat, führt er im nun folgenden Abschnitt Klage darüber, dass es ihm offenbar nichts geholfen habe, in den zahlreichen Kämpfen, in denen er beide Brüder verloren habe, seine Jugend geopfert und seinen Schweiß vergossen zu haben (vgl. Alex. VIII, 280–283). Damit nimmt Walter Bezug auf den zu Beginn seiner Darstellung der Verschwörung schon einmal anerkennend erwähnten Umstand, dass Alexander ohne Philotas nichts vollbracht hätte, was eines Heldengedichts würdig gewesen wäre (vgl. Komm. VIII, 75–92). ⇔ Im letzten Abschnitt seiner Verteidigungsrede geht Philotas auf seinen Vater Parmenion ein, der von Alexander in seiner Anklagerede als eigentlicher Drahtzieher der geplanten Verschwörung genannt worden war. Im vollen Bewusstsein, dass sein Vater wegen ihm und mit ihm den Tod erleiden wird, bedauert Philotas zuletzt, überhaupt geboren worden zu sein (vgl. Alex. VII, 283–301).

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KOmmentar Philotas’ Tod (301–322)

301–322 Sic fatur, et ecce  | rex in concilium ferro livente caterva  | stipatus rediit … ut se cruciamine longo | eripiens celeri finiret mor­ te dolores: Nach Philotas’ Verteidigungsrede kehrt Alexander, von seiner bedrohlich wirkenden Leibgarde beschützt, in die Versammlung zurück. Philotas sinkt eingeschüchtert zu Boden und ist nicht mehr in der Lage, auch nur ein Wort an die versammelten Anführer zu richten. ⇔ Damit schildert Walter den Beklagten wie vor seiner Verteidigungsrede nicht nur als ängstlichen und niedergeschlagenen Mann, der sich seinem Schicksal ergibt und es nicht wagt, Alexander in einer direkten Konfrontation Widerworte zu geben, sondern gibt mit der Wiederaufnahme einer vergleichbaren Szenerie Philotas’ Verteidigungsrede insgesamt auch einen formalen Rahmen (vgl. Alex. VIII, 301–305). ⇔ Unschlüssig über das weitere Vorgehen schlagen manche Anführer die Steinigung des Philotas vor, wieder andere halten die Folter für angemessen, um vielleicht doch noch die Wahrheit über die näheren Hintergründe der Verschwörung zu erfahren. Alexander schließt sich dem letzteren Vorschlag an und gibt den Befehl, die Folterbank herzurichten. Noch bevor die Folter beginnt, gesteht Philotas bereits seine Schuld und gibt unter brutalen Schlägen weitere Details des geplanten Verbrechens preis. ⇔ Walter gibt allerdings einschränkend zu bedenken, dass man nur Mutmaßungen darüber anstellen könne, ob Philotas nur deshalb ein Geständnis abgelegt hat, um noch schlimmeren Schmerzen zu entgehen (vgl. Alex. 306–322). Autorexkurs: Die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms (323–334) 323–334 O quam difficili nisu sors provehit actus | lubrica mortales … Prelatus qui preesse cupit prodesse recusat: An Philotas’ beachtlichem Aufstieg bis zum Anführer der Reiterei in Alexanders Heer und



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dessen plötzlichem Niedergang und Tod macht Walter in einem Autorexkurs aus christlicher Sicht beispielhaft die Bedeutungslosigkeit und Nichtigkeit eitlen Ruhms deutlich, der sich auf vergängliche Dinge wie politische Macht, weltliche Besitztümer oder die Wertschätzung der Welt gründet (vgl. Alex. VIII, 332–333: Quam frivola gloria rerum, | quam mundi fugitivus honor, quam nomen inane; vgl. Komm. IV, 350–373). ⇔ Damit gibt Walter die im Mittelalter weit verbreitete Vorstellung vom Rad der Fortuna wieder, das einen Menschen zwar aus seiner Bedeutungslosigkeit in ungeahnte Höhen zu führen vermag, auf dem Höhepunkt der Macht aber auch schon wieder am Niedergang des gerade eben noch Erhöhten arbeitet (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Ale­ xandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ In enger Verbindung mit dieser Vorstellung vom Schicksalsrad steht dabei das Vanitas-Motiv, das von der Vorstellung der Vergänglichkeit alles Irdischen geprägt ist und insbesondere den Versuch des Menschen, an irdischer Macht und irdischen Reichtümern festhalten zu wollen, als törichte Verblendung und Sünde geißelt (zum Unterschied zwischen wahrem und eitlem Ruhm vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). Die Hinrichtung des Bessus (335–357) 335–357 Sex ubi consumpti post tristia fata Phylotae | preteriere dies, propero rapit agmina cursu  | in Bessum Macedo … Qui dum con­ scendere temptat, | labitur; imperium dum querit et imperat, in se | regreditur, domini ponens insignia servus: Nachdem das Todesurteil an Philotas vollstreckt worden ist, greift Alexander sein ursprüngliches Vorhaben wieder auf und rückt gegen Bessus vor. ⇔ Walter betont dabei zum wiederholten Mal in der Alexandreis Alexanders Schnelligkeit und dessen ausgeprägte Fähigkeit, auch unter schwierigen äußeren Bedingungen seine Ziele konsequent zu verfolgen (zu Alexanders Schnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit

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vgl. Komm. I, 116–117; vgl. auch Komm. II, 75–90; vgl. auch Komm. II, 388–407). ⇔ Mit der Epithetisierung Alexanders als Schicksalshammer der Welt – fatalis malleus orbis – führt Walter dem Leser noch einmal die positiv verstandene Unerbittlichkeit des makedonischen Königs vor Augen, mit der er seine persischen Feinde zu beeindrucken vermag, die ihm aus Angst vor einem weiteren Vorrücken der griechischen Armee den als unversöhnliches Scheusal bezeichneten Bessus ausliefern, ohne dass es überhaupt zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt (vgl. Alex. VII, 424; zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2). Alexander richtet in aller Kürze noch das Wort an Bessus und führt diesem dabei den Wahnsinn und die Verwerflichkeit des Verbrechens vor Augen, einen so bedeutenden König wie Darius aus Herrschsucht in Fesseln gelegt und ermordet zu haben. Mit Alexanders Worten diskreditiert Walter den persischen Gefangenen in moralischer Hinsicht und legitimiert damit die grausame und als legitimen Racheakt in Szene gesetzte Hinrichtung des Bessus durch Darius’ Bruder, der sich seit einiger Zeit als Alexanders Leibwächter im griechischen Heer befindet. ⇔ Mit dem auf Alexander bezogenen Begriff terrarum eversor verweist Walter dabei rückblickend auf die Zeit des Perserkriegs, in welchem Alexander nicht eine einzige Niederlage hinnehmen musste und damit letztlich auch Darius’ Ende besiegelt hat (vgl. Alex. VIII, 349). ⇔ Am Ende des Abschnitts nimmt Walter den im Kommentarpunkt zuvor schon beschriebenen Gedanken vom Rad der Fortuna noch einmal auf und weist in diesem Zusammenhang erneut auf den in aristotelischem Sinne sklavenhaften Charakter des Bessus hin (vgl. Alex. I, 90: in dominum surgens, truculentior aspide surda; vgl. auch Komm. VI, 59–90).



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Die Unterwerfung der Skythen (358–495) Das Volk der Skythen (358–367) 358–367 At Macedo, dudum sicienti pectore regnum  | affectans Sci­ tiae, pardis velocius agmen | ad Tanaim transfert … ambitione sacra nolunt corrumpere vitam: Mit dem Angriff auf das Reich der Skythen bewegt sich Alexander im Kontext seiner Eroberungen erstmals in der Alexandreis auch in geographischer Hinsicht außerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs. Schneller als ein Panther ist Alexander – die eigentlich im Kontext der Heilsgeschichte angesiedelte Epithetisierung des makedonischen Königs als pardus ist an der vorliegenden Stelle als eher seltene Reminiszenz an den Perserkrieg zu werten – inzwischen im äußersten Nordosten des Perserreichs an den Ufern des Tanais angelangt, der in Walters Darstellung Baktrien von den Skythen – im europäischen Kulturkreis seit der Antike zumeist als allgemeine Bezeichnung für alle nomadisch lebenden Steppenbewohner verwendet und an der vorliegenden Stelle mit dem mittelasiatischen Volk der Saken zu identifizieren – trennt und angeblich zugleich die Grenze zwischen Europa und Asien darstellt (zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Ale­ xandreis vgl. Einleitung 7.2). Diese auf Curtius zurückgehende geographische Einordnung ist insofern unzutreffend, als es sich dabei um eine häufig zu beobachtende Verwechslung bzw. Gleichsetzung des in das Asowsche Meer fließenden Tanais (Don) – tatsächlich lange Zeit als natürliche Grenze zwischen Europa und Asien angesehen – mit dem weiter östlich in den Aralsee mündenden und in der Antike als Silis Tanais (Jaxartes oder auch Syr-Darja) bezeichneten Fluss handelt. Zudem trennt dieser Fluss nicht Baktrien von den Skythen, sondern das weiter nördlich gelegene Sogdien. Auch die Gleichsetzung der jenseits des Silis Tanais lebenden Skythen mit denjenigen Bewohnern, die nach Walters Angaben in einem Teil Sarmatiens nördlich des Schwarzen Meers ihre Siedlungen hatten, beruht auf derselben Verwechs-

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lung. ⇔ Nach dieser geographischen Einordnung folgt Walters Beschreibung der Lebensweise der Skythen, die in ungastlichen Höhlen wilder Tiere wohnen, Handel und Gewerbe verachten und mit der Nahrung zufrieden sind, die ihnen die Natur zur Verfügung stellt. Als Beweggrund für dieses einfache Leben nennt Walter den Wunsch der Skythen, ihr glückliches Leben – stilistisch prägnant durch ein über den Vers greifendes Hyperbaton in Szene gesetzt – nicht durch unheilvollen Ehrgeiz zerstören zu wollen (vgl. Alex. VIII, 363–367). ⇔ Damit stellt Walter das Volk der Skythen schon gleich zu Beginn des vorliegenden Abschnitts kontrastierend zu Alexander als Vorbild der Genügsamkeit dar, das mit der beatitudo dem einzig wahren Lebensziel folgt. Gleichzeitig bringt Walter dem Leser gegenüber mit den an der vorliegenden Stelle negativ konnotierten Worten ambitione sacra im Sinne einer zeitgenössischen Kritik nochmals die bereits im Moralexkurs in Buch VII mit dem Verb ambire vehement kritisierte und nicht weniger von falschem Ehrgeiz geprägte Simonie zu Gehör (vgl. Alex. VII, 317–318: Non adeo ambirent cathedrae venalis honorem | Sy­ monis heredes; vgl. auch Alex. VIII, 366–367: beatam | ambitione sacra nolunt corrumpere vitam; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). ⇔ Darüber hinaus ist es bemerkenswert, dass sich Walter in der gesamten Skythen-Episode der Moralvorstellungen des antiken Dichters Horaz bedient, der damit insbesondere mit den Oden und den Sermones Eingang in die Alexandreis gefunden hat (zur Etablierung des antiken Dichters Horaz als moralische Autorität in der Ale­ xandreis vgl. Wirtz 2018, 81–99). Die Skythen-Rede (368–476) Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit (368–403)

368–403 Dumque super Tanaim metatus castra pararet  | navigium Macedo … debeat occursum mortisque timere procellam?: Noch bevor Alexander mit seinen Soldaten über den Tanais übersetzen kann,



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überbringt ihm eine aus zwanzig Männern bestehende Gesandtschaft der Skythen eine Botschaft, die ihn mit dem Vorwurf der Maßlosigkeit konfrontiert und in der Ermahnung gipfelt, er solle sich nach seinen bisherigen und vom Schicksal begünstigten Eroberungen an dieser Stelle mit dem Erreichten begnügen, bevor ihm die wankelmütige Fortuna ihre Gunst entziehe (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ Die Rede des Skythen wirkt dabei insgesamt wie eine von Walter in den Mund des Barbaren gelegte Mahnung, den Bogen nicht zu überspannen und das rechte Maß nicht zu verlieren (zur Stellung der Skythen-Episode innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3). ⇔ Im ersten Abschnitt der Rede wird Alexander mit dem bezeichnenden Vorwurf konfrontiert, er wolle mit seinem grenzenlosen Eroberungsdrang die Möglichkeiten eines Menschen überschreiten – sinnigerweise wird die Passage als irreales Bedingungsgefüge wiedergegeben – und strebe in seiner Überheblichkeit Gottgleichheit an. Sinnbild für dieses frevelhafte Verhalten stellt dabei der in eine Metapher gekleidete Vorwurf dar, mit seinem riesigen Körper die Grenzen der Welt zu sprengen und als Ausdruck seines allumfassenden Herrschaftsanspruchs die ganze Welt zu umfassen (vgl. Alex. VIII, 374–380). Auch wenn diese bildhafte Ausdrucksweise von Curtius vorgeprägt ist, dürften Walter dabei auch die mittelalterlichen Mappae mundi, auf denen Christus als Weltenherrscher die kreisrunde Radkarte mit Händen, Füßen und Kopf umschließt, Pate gestanden haben. Darüber hinaus würde Alexander – so der Anführer der Skythen weiter –, noch immer nicht mit dem Erreichten zufrieden, im Streben nach göttlicher Allwissenheit nach der Quelle des Lichts suchen sowie nach Phoebus’ Vertreibung den Sonnenwagen besteigen und das Licht des Tages lenken (vgl. Alex. VIII, 381–384). Damit nimmt Walter Bezug auf den Mythos des Phaeton – dieser hatte in der Absicht, einen Tag lang die Sonne lenken zu wollen, den Sonnenwagen seines Vaters bestiegen und war dabei zu Tode gekommen –, und macht anhand der Absurdität dieses Unterfangens Alexanders bereits im Philotas-Prozess zur Sprache

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gebrachtes maßloses Streben nach Gottgleichheit deutlich. Mit den Worten, dass Alexander auch ohne die zuvor genannten Beispiele vieles erstrebt, ohne es jemals erreichen zu können, verlässt Walter den mythologischen Bereich und entwirft daraufhin eine beängstigende Zukunftsvision für die Zeit nach der Eroberung des Erdkreises und der Unterwerfung des gesamten Menschengeschlechts, die geprägt ist durch Alexanders wahnsinniges Wüten gegen Bäume, wilde Tiere und Felsen, gegen verborgen lebende Scheusale und sogar gegen die Urstoffe selbst (vgl. Alex. VIII, 385–390). Damit bringt Walter Alexanders frevelhaftes Bestreben zum Ausdruck, gegen die Natur als gottgegebenes System Krieg zu führen und dabei die gottgegebenen Grenzen der Natur sprengen zu wollen. Mit der Frage, ob Alexander denn nicht wisse, dass ein riesiger Baum mit seiner ausladenden Krone die himmlischen Götter herausfordert und eines Tages zu Fall kommen wird, verweist Walter auf Alexanders fehlendes Bewusstsein, mit seinem beispiellosen Aufstieg die menschlichen Möglichkeiten zu überschreiten und damit den göttlichen Zorn auf sich zu ziehen. Darüber hinaus müsse er den zu einem bestimmten Zeitpunkt notwendigerweise eintretenden Sturz auch eines mächtigen Mannes bedenken, der bisweilen sogar von einem Schwächeren herbeigeführt werden könne (vgl. Alex. VIII, 391– 403). ⇔ Damit nimmt Walter noch einmal Bezug auf die bereits im obigen Autorexkurs über die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms aus christlicher Sicht zur Sprache gebrachte Vorstellung vom Rad der Fortuna, das mit seiner Bewegung nicht nur den Aufstieg eines Mannes bis an die Spitze in Gang zu setzen vermag, sondern im weiteren Verlauf auch dessen Niedergang und Tod in die Wege leitet (vgl. Komm. VIII, 323–334). Alexanders Maßlosigkeit: Die grenzenlose Eroberungswut (404–459)

404–459 Quid nobis tecum? … Ergo manus si forte tibi porrexerit, alas  | corripe ne rapidis, quando volet, avolet alis: Im zweiten Ab-



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schnitt der Rede bringt der Anführer der Skythen seine Empörung zum Ausdruck, dass Alexander sich anschickt, seinen Eroberungszug über den Tanais hinaus ausdehnen zu wollen, obwohl sein Volk selbst niemals die Absicht hatte, gegen Makedonien in den Krieg zu ziehen. Zudem äußert er den Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden und nicht weiter über Alexander nachdenken zu müssen, um weiterhin ein in jeglicher Hinsicht genügsames und glückliches Leben führen zu können. Kontrastierend zu diesem Lebensmodell macht er deutlich, dass ein Begehren über ein bescheidenes und genügsames Leben hinaus das rechte Maß und die Grenze menschlichen Glücks überschreite (vgl. Alex. VIII, 414–415: Igitur si quid quesi­ veris ultra,  | excedunt tua vota modum finemque beati). Diese Beschreibung der auf Ackerbau und Viehzucht ausgerichteten ausgesprochen genügsamen Lebensweise der Skythen wird zum einen als alternatives Lebensmodell kontrastierend zu Alexanders maßlosem Vorgehen in Szene gesetzt, ist mit der Erwähnung der verschiedenen Waffen der Skythen zum anderen aber auch als Warnung an Alexander zu verstehen, die kriegerische Auseinandersetzung mit ihnen überhaupt erst gar nicht zu suchen (vgl. Alex. VIII, 416–421). Darüber hinaus versucht der Anführer der Skythen seinem makedonischen Widersacher ganz grundsätzlich vor Augen zu führen, dass die menschliche Habgier nicht durch den Erwerb immer weiterer Besitztümer gestillt, sondern dadurch ganz im Gegenteil nur immer weiter angeheizt werde (vgl. Alex. VIII, 422–431). Zudem riskiere er mit seinen weitreichenden Eroberungen immer neue Kriege, da die eroberten Völker bald nach ihrer Niederlage erneut Widerstand leisten würden. Im Folgenden wird die zu Beginn des Abschnitts bereits angedeutete Wehrhaftigkeit des skythischen Volks näher ausgeführt. Neben ihrer Unbestechlichkeit gegenüber allen Verlockungen wie Reichtum oder Macht betont der Anführer der Skythen insbesondere ihre Schnelligkeit – eigentlich eine noch im Perserkrieg stets mit Alexander in Verbindung gebrachte Eigenschaft –, mit der sie im feindlichen Lager auftauchen, ihre Feinde in die Flucht schlagen

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oder vor ihnen fliehen könnten. Als Schlussfolgerung aus diesen mahnenden Worten erteilt der Anführer der Skythen Alexander zuletzt noch den Rat, noch vor der Eroberung seines Volkes seinen Waffentaten ein Maß aufzuerlegen und das wankelmütige Schicksal nicht weiter herauszufordern (vgl. Alex. VIII, 454–455: impone modum felicibus armis | ne rota forte tuos evertat versa labores). ⇔ Mit diesen mahnenden Worten des Skythen wird vom Autor der Alexandreis somit der Vorwurf der Maßlosigkeit hinsichtlich Alexanders grenzenloser Eroberungswut in Szene gesetzt. Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit (460–476)

460–476 Denique, si deus es, mortalibus esse benignus | et dare que tua sunt non que sua demere debes … Pacem vultus habet, agitant precordia bellum: Der mit denique eingeleitete letzte Abschnitt der Rede konfrontiert Alexander mit einer zweifachen Kritik. Sollte er zum einen nämlich tatsächlich ein Gott sein – so der Anführer der Skythen – dürfe er den Sterblichen nichts wegnehmen, sondern müsse ihnen das geben, was ihm selbst gehöre. Wenn er jedoch ein Mensch sei, müsse er sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass er an das menschliche Dasein gebunden sei und nicht danach streben dürfe, sich als Mensch aufzugeben (vgl. Alex. VIII, 460–464). ⇔ Damit erneuert Walter über die Mahnung des Skythen den seit dem Philotas-Prozess bereits mehrfach an Alexander herangetragenen Vorwurf, Gottgleichheit anzustreben (zur Stellung der Skythen-Episode innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3). ⇔ Abschließend macht der Anführer der Skythen – stilistisch von Walter mit einem aus drei Teilen bestehenden Adynaton glänzend in Szene gesetzt – deutlich, dass es wahre Freundschaft zwischen Siegern und Besiegten niemals geben werde, da diese nur zwischen Menschen herrschen könne, die sich auf Augenhöhe begegneten und nicht die Unterwerfung des anderen zum Ziel hätten (vgl. Alex. VIII, 464–476).



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Alexanders Sieg über die Skythen (477–495) 477–495 Sic ait, at Macedo nichilominus agmine facto | arma Scitis inferre parat … confractis viribus illi | succubuere Scite, superos et fata secuti: Dass es Walter in der Skythen-Episode nicht um die Darstellung der eigentlichen Schlacht geht, sondern um die Inszenierung der moralischen Kritik an Alexander, ist auch an der kurzen und fast beiläufigen Erwähnung der skythischen Niederlage ablesbar. Sehr viel interessanter als die knappe Schlachtschilderung – Walter berichtet lediglich davon, dass Alexander nach der mühsamen Überquerung des Tanais den Feind nicht ohne eigene Verluste in einer gemeinsamen Kraftanstrengung besiegen konnte – ist die anschließende Metapher, in welcher die Skythen mit einer lange Zeit verschiedenen Winden – erwähnt werden der Eurus, der Zephir und der Auster – trotzenden Tanne verglichen werden, die erst durch den noch schlimmeren Ansturm des Boreas krachend zu Boden fällt. Alexanders Wüten gegen das skythische Volk wird von Walter dabei in einer weiteren Steigerung als ein im Vergleich zum Ansturm des Boreas noch schnelleres und wilderes Geschehen beschrieben. ⇔ Walter stellt abschließend fest, dass die Skythen den Göttern und dem Schicksal folgend – der Autor der Alexandreis nimmt an dieser Stelle seiner Wortwahl entsprechend den antik-paganen Blickwinkel ein – vor jenem als blutiges Schicksalsschwert und allgemeine Geißel der Welt bezeichneten Eroberer geschlagen zu Boden gesunken sind (vgl. Alex. VIII, 492–495: ille cruentus | fatorum gladius, terrarum publica pestis, | Magnus Ale­ xander, confractis viribus illi | succubuere Scite, superos et fata secuti). ⇔ Damit endet Walters Darstellung der Skythen-Episode, die als Inszenierung des christlich motivierten Vorwurfs der Maßlosigkeit den makedonischen König erstmals in der Alexandreis einer nicht wie im Philotas-Prozess nur punktuell zur Sprache gebrachten Autorkritik unterzieht, sondern diesem ausführlich und deutlich seine unter moralischem Blickwinkel verwerfliche, grenzenlose Eroberungswut und sein nicht minder verwerfliches Streben nach Gottgleichheit vorhält.

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KOmmentar Die Reaktion der östlichen Völker (496–513)

496–513 Hunc ubi vicinas dispersit fama tryumphum … sed de virtu­ tum motu certamen inisse: Als Reaktion auf Alexanders Unterwerfung der bisher unbesiegten Skythen erzittert der ganze Erdkreis. Walter betont ausdrücklich, dass neben der überragenden Kampfkraft der Griechen insbesondere auch deren Tugendhaftigkeit der ausschlaggebende Grund dafür sei, dass sich auch viele Völker freiwillig der Herrschaft des makedonischen Königs unterwerfen. Auch Alexander wird vom Autor der Alexandreis lobend hervorgehoben, indem er ihm einen rücksichtsvollen Umgang mit den Besiegten bescheinigt. Zudem attestiert er ihm, bei seinen Eroberungen keineswegs hartherzig oder habgierig vorgegangen, sondern immer nur von der Aussicht auf tugendhafte Taten geleitet in den Krieg gegen widerständige Völker gezogen zu sein. ⇔ Damit schildert Walter seinen wichtigsten Protagonisten kontrastierend zu der zuvor im Kontext der Skythen-Episode zum Ausdruck gebrachten christlich motivierten Kritik nach antik-paganen Maßstäben ausnehmend positiv. Diese Art der Darstellung ist ein erneuter Beleg dafür, dass Walter außerhalb des heilgeschichtlich legitimierten Perserkriegs zwar zunehmend auch die aus christlicher Sicht verwerflichen Seiten Alexanders in Szene setzt, er es dabei jedoch – wie bereits im Kommentarpunkt über die Vernichtung der Kriegsbeute gezeigt – nicht unterlässt, immer wieder auch dessen aus antik-paganer Sicht überragende Tugendhaftigkeit herauszustellen (vgl. Komm. VIII, 49–74; vgl. auch Einleitung 7.4).

Einführung zu Buch IX Nachdem sich am Ende des achten Buchs die meisten Völker des Ostens nach Alexanders Sieg über das Reitervolk der Skythen freiwillig der griechischen Herrschaft unterworfen haben, rückt der Autor der Alexandreis mit Beginn von Buch IX den Indienfeldzug des makedonischen Königs in den Mittelpunkt der Betrachtung, der sich für die griechische Streitmacht Walters Darstellung zufolge insbesondere wegen der charismatischen Herrschergestalt des Inderkönigs Porus als ernstzunehmende Herausforderung erweist (vgl. Komm. IX, 1–325). Noch auf dem Weg nach Indien legt Alexander nicht zum ersten Mal nach dem erfolgreich abgeschlossenen Perserkrieg – man denke dabei insbesondere an die in Buch VIII geschilderte Philotas-Verschwörung – den eigenen Gefolgsleuten gegenüber ein moralisch fragwürdiges Verhalten an den Tag, indem er seinen General und langjährigen Freund Clitus bei einem Streit während eines Gelages eigenhändig tötet und den königlichen Pagen Hermolaus sowie seinen in Ungnade gefallenen Hofhistoriographen Kallisthenes hinrichten lässt (vgl. Komm. IX, 1–8). Der geschilderte Sachverhalt findet seine Entsprechung im Moralexkurs von Buch III, wo Walter in einem seiner charakteristischen Vorverweise auf die Zeit nach dem Perserkrieg bereits explizit davon gesprochen hatte, dass der makedonische König, der zuvor – gemeint ist sein moralisch einwandfreies Verhalten während des Perserkriegs – seinen Feinden gegenüber gütig gewesen war, sich nach dem Perserkrieg schließlich aber als pflichtvergessener Feind seiner Freunde zu Mord und häuslichem Zank hinreißen lässt (vgl. Alex. III, 250–252: Qui pius ergo prius erat hostibus, hostis amicis | inpius in cedes et bella domestica demum | conversus, ratus illicitum nichil esse tyranno; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Auch wenn

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Walter damit zweifellos eine erkennbar kritische Haltung gegenüber seinem wichtigsten Protagonisten an den Tag legt, sollte dabei jedoch nicht übersehen werden, dass die diesbezügliche moralische Entrüstung eher beiläufig und ohne jegliche weitere Konkretisierung zum Ausdruck gebracht wird. Daraus lässt sich ableiten, dass es Walter nicht darum geht, diesen Tadel in Bezug auf Alexanders Verhalten gegenüber seiner eigenen Gefolgschaft besonders herauszustellen, um diesen womöglich auf dieselbe Ebene zu stellen wie den christlich motivierten Vorwurf der Maßlosigkeit hinsichtlich dessen unstillbarem Eroberungsdrang und dessen Streben nach Gottgleichheit (zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Ale­ xandreis vgl. Einleitung 7.4). Anhand einer intertextuellen Kontrastimitation mit der Ae­ neis Vergils und der Thebais des Statius – das Gleichnis eines vom Berg herabstürzenden Felsbrockens hatte schon in der Ilias Homers Verwendung gefunden – wertet Walter den Inderkönig Porus gegenüber dem Rutulerkönig Turnus bzw. dem gegen Theben kämpfenden Tydeus auf, der sich im Unterschied zu den antiken Protagonisten als der entschlossenere und tapferere Kämpfer erweist (vgl. Komm. IX, 35–70; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Mit dieser intertextuellen Kontrastimitation bringt der mittelalterliche Autor damit zum wiederholten Mal in der Alexandreis seinen aemulativen Anspruch gegenüber den antiken Dichtern zum Ausdruck (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Mit demselben Gleichnis lässt der Autor der Alexandreis jedoch auch keinen Zweifel darüber aufkommen, dass Porus ungeachtet seiner herausragenden Kampfkraft am Ende dem makedonischen König unterliegen wird. Auch in der Schilderung vom Heldentod der Griechen Nicanor und Symmachus, die im Alleingang den Versuch unternehmen, das



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andere Ufer des Hydaspes zu erreichen, um die Schlacht gegen Porus endlich in Gang zu bringen, arbeitet Walter mittels einer weiteren, ebenso aemulativ angelegten intertextuellen Kontrastimitation – erneut findet dabei die Aeneis Vergils und im Hintergrund auch die Thebais des Statius Verwendung – die vergleichsweise größere Tugendhaftigkeit der griechischen Kämpfer gegenüber den Trojanern Nisus und Euryalus heraus (vgl. Komm. IX, 71–147; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Mit den im Kontext der Tugend der angemessenen Zürnkraft formulierten Worten parce humili, facilis oranti, frange superbum hatte Walter in der Aristoteles-Rede eine subtil inszenierte Reminiszenz an Vergils Römerprogramm gestaltet, mit der er das parcere subiectis et debellare superbos des antiken Dichters imitativ aufnimmt und aemulativ erweitert (vgl. Alex. I, 115; vgl. auch Komm. I, 115; vgl. auch Verg., Aen. VI, 853). Besonders eindrücklich lässt sich dieser Sachverhalt an der Porus-Episode veranschaulichen, wenn man diese vergleichend mit der Turnus-Szene in der Aeneis in Beziehung setzt. Dabei fällt auf, dass Walter über motivische und sprachliche Parallelen nicht nur in imitativer Absicht auf eine zentrale Stelle innerhalb der Aeneis verweist, sondern durch das im Vergleich zu Aeneas in Bezug auf den Umgang mit dem besiegten Feind diametral entgegengesetzte Verhalten Alexanders auch einen aemulativen Anspruch gegenüber seinem antiken Vorbild erhebt. Ebenso nämlich wie der besiegt am Boden liegende Porus den Blick zum siegreichen Alexander emporrichtet, blickt auch der besiegt am Boden liegende Turnus zum siegreichen Aeneas empor. Zugleich stellt auch die Vorgabe parce humili aus der Aristoteles-Rede eine wörtliche Korrespondenz zu der Stelle in der Aeneis dar, in der Vergil den Rutulerkönig als humilis charakterisiert (vgl. Alex. IX, 291–293: Porum erecto lumine … attolentem oculos; vgl. auch Verg., Aen. XII, 930–931: Ille humilis supplex oculos dextramque precantem | protendens). Doch im

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Gegensatz zum vergilischen Helden Aeneas, der seinen auch nach dem Römerprogramm der Aeneis eigentlich verschonungswürdigen Feind am Ende in blinder Wut tötet, verschont Alexander den Inderkönig den Vorgaben der Aristoteles-Rede entsprechend, da er in seinem besiegten Feind bewundernd die Seele eines Siegers erkennt (vgl. Alex. IX, 317–318: Miratur Macedo fortunae turbine regem  | infractum victumque animum victoris habentem). Demzufolge ist Alexander in der Lage, in einem Akt der angemessenen Zürnkraft den zuvor noch vorhandenen Hass – absichtsvoll im Vers vor den Begriff der clementia gesetzt – zu besiegen (vgl. Alex. IX, 293: odium clementia vicit; vgl. auch Verg., Aen. XII, 946–947: furiis accensus et ira | terribilis). Damit entlarvt Walter Vergils Konzeption des parcere subiectis et debellare superbos mithilfe der aristotelischen Tugendlehre als unzureichende moralische Richtschnur, da sie die Entscheidungsgewalt über das Verschonen oder das Töten nicht wie in der Alexandreis durch die Erweiterung des facilis oranti im Protagonisten selbst belässt, sondern lediglich eine von außen aufgesetzte starre Verhaltensregel ohne eine darüber hinausgehende Reflexion anbietet (vgl. Gartner 2018, 51–53). Auf poetologischer Ebene erhebt sich Walter damit ein weiteres Mal aemulativ über sein im Prolog noch als unerreichbar apostrophiertes antikes Vorbild Vergil, indem er als Dichter mit Alexander für sein Epos nicht nur – wie im Prooemium bereits zum Ausdruck gebracht – einen weltgeschichtlich betrachtet bedeutenderen Helden ausgewählt hat, sondern dieser Held den vergilischen Helden Aeneas auch unter moralischen Gesichtspunkten bei weitem übertrifft (vgl. Komm. I, 1–5; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6). Im Gespräch mit Alexander legt der besiegte Inderkönig Porus dem siegreichen makedonischen König Selbstbeschränkung nahe und untermauert seine Kritik durch die eigene Erfahrung, die ihm gezeigt habe, dass dem Menschen Grenzen gesetzt seien und es auch für erfolgreiche Könige immer noch einen Stärkeren gebe, dem es



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sich unterzuordnen gelte (vgl. Alex. IX, 306–316). Damit thematisiert Walter aus christlicher Sicht wie bereits in der Skythen-Rede zuvor Alexanders mit dem Streben nach Gottgleichheit einhergehende Maßlosigkeit, die damit als eigentlicher Grund für dessen späteren Tod im Epos weiter ausgebaut wird (zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4; zur Stellung der Szene innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). Auf seinem weiteren Weg nach Osten trifft Alexander auf das Volk der Sudraker, das nicht gewillt ist, dem makedonischen Eroberer das Feld kampflos zu überlassen, und sich hinter den Mauern seiner Stadt verschanzt (vgl. Komm. IX, 341–500). Walter nutzt diese Episode, um ein letztes Mal in der Alexandreis neben Alexanders Begünstigung durch die Schicksalsgöttin Fortuna dessen herausragende Tapferkeit zu inszenieren, die ihren Ausdruck darin findet, dass der makedonische König die feindlichen Mauern überwindet und ohne die Hilfe seiner Männer einen heldenhaften Kampf gegen eine sudrakische Übermacht erfolgreich besteht (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Mit dieser beinahe melodramatischen Szene bereitet Walter zudem das spätere Eingreifen der Göttin Natura vor, da mit Walters Schilderung dieser Heldentat deutlich wird, dass Alexander nach seinem Sieg über die Sudraker mit menschlichen Kräften nicht mehr aufzuhalten ist (vgl. Wiener 2001, 88–89; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Kaum von seinen Verletzungen genesen, trifft Alexander am Ende von Buch IX bereits Vorbereitungen für weitere Eroberungen, die ihn bis zu den Völkern am Rande des Ozeans und zu den Nilquellen führen sollen (vgl. Komm. IX, 501–544). Die um die Gesundheit ihres Königs und auch um ihr eigenes Wohl besorgten Generäle schicken aus ihren Reihen Craterus zu Alexander, der diesem gegenüber zum Ausdruck bringt, dass es zum jetzigen Zeitpunkt doch besser sei, das bisher Erreichte zu bewahren, als zu immer neu-

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en Eroberungen aufzubrechen. Mit der von Walter dem Craterus in den Mund gelegten Frage, welches Ziel er eigentlich erstrebe und welches Maß er zukünftig einzuhalten gedenke, bringt der Autor der Alexandreis ein weiteres Mal die bereits im Kontext der Skythen-Rede und im Gespräch mit Porus zum Ausdruck gebrachte christlich motivierte Kritik an Alexanders Maßlosigkeit und dessen damit einhergehenden unstillbaren Eroberungsdrang zur Sprache (zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). In seiner Antwort an Craterus macht Alexander deutlich, dass er ungeachtet aller Vorbehalte in den eigenen Reihen beabsichtige, die Gefilde der auf der Gegenhemisphäre vermuteten Antipoden aufzusuchen, da ihm der bekannte Erdkreis inzwischen zu eng geworden sei (vgl. Komm. IX, 545–580). Unübersehbar verweist Walter damit auf den Moralexkurs in Buch X, in welchem Alexander aus christlicher Perspektive als Beispiel der Maßlosigkeit angeführt wird, dem der ganze Erdkreis nicht ausgereicht habe und jetzt nach seinem Tod eine mit Marmor verzierte Behausung von fünf Fuß im ausgeworfenen Boden ausreichen müsse (vgl. Alex. X, 448–450: Magnus in exemplo est. Cui non suffecerat orbis, | sufficit exciso defossa marmore terra | quinque pedum fabricata domus).

Kommentar zu Buch IX Themenübersicht (1–10) C 1–3 In nono Magnus collatis viribus Indos | turbidus aggreditur, sed fata deosque moratur  | armipotens Porus: Ein großer Teil von Buch IX beschäftigt sich mit Alexanders Indienfeldzug, in welchem der mächtige und äußerst schlagkräftige Inderkönig Porus dem griechischen Heer erbitterten Widerstand leistet. Mit Walters einschränkender Bemerkung, dass der waffenmächtige Porus mit seiner Gegenwehr das Schicksal und die Götter nur aufhalte, wird Alexanders Sieg indes bereits gedanklich vorweggenommen (vgl. Komm. IX, 1–325; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). C 3–4 Speciali flenda duorum | mors iuvenum planctu partem tur­ bavit utramque: Noch vor der entscheidenden Auseinandersetzung mit Porus jenseits des Hydaspes versuchen die Griechen Nicanor und Symmachus mit einigen Gefährten die indischen Truppenverbände durch einen Überraschungsangriff zu schwächen. Auch wenn es ihnen anfangs gelingt, zahlreiche Inder zu töten, werden sie schließlich von den nachrückenden gegnerischen Kräften besiegt und niedergestreckt (vgl. Komm. IX, 71–147). C 5–7 Magnus ut hostilem tenuit cum milite ripam,  | concurrere acies. Sed fracto denique Poro | franguntur reliqui cum toto Oriente tyranni: Nachdem es Alexander mit einer List gelungen ist, mit einigen seiner Männer an das andere Ufer des Hydaspes zu gelangen und damit in Schlagdistanz zu den indischen Streitkräften zu kommen, entbrennt der Kampf gegen Porus und das mit Schrecken erregenden Kampfelefanten ausgerüstete indische Heer (vgl. Komm. IX,

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148–178; vgl. auch Komm. IX, 179–325). ⇔ Nach Alexanders Sieg über Porus ergeben sich schließlich zahlreiche Völker des Ostens freiwillig der griechischen Herrschaft (vgl. Komm. IX, 326–340). C 8–10 Saltus Alexandri mirabilis agmina Graium  | seditione movet, mirabiliusque stupendae | propositum mentis nova mittit in arma cohortes: Einzig das Volk der Sudraker leistet Alexanders schier grenzenlosem Eroberungswillen noch Widerstand. Bei der schwierigen Einnahme der Stadt springt Alexander als einziger Grieche von der Mauer in die sudrakische Stadt hinein und sieht sich sofort einem nicht mehr enden wollenden Geschosshagel ausgesetzt. Auch wenn sich der makedonische König tapfer zur Wehr zu setzen weiß, verlassen ihn zusehends die Kräfte, bis er schließlich von einem Pfeil getroffen zu Boden sinkt und angesichts der schweren Verletzung und der aussichtslosen Situation eigentlich den Tod finden müsste. Doch es gelingt den griechischen Kämpfern im letzten Moment, ihrem König zu Hilfe zu eilen und diesen schwer verwundet zu bergen (vgl. Komm. IX, 342–500). ⇔ Kaum von seiner Verletzung genesen verkündet Alexander seinen zunächst wenig begeisterten Offizieren, die auf der Gegenhemisphäre lebenden Antipoden erobern zu wollen (vgl. Komm. IX, 545–580). Alexanders Indienfeldzug (1–325) Alexander als Feind seiner Freunde (1–8) 1–8 Ultima terribiles Macedum sensura tumultus | India restabat multo sudore domanda | et gravibus bellis … etenim testatur eorum | finis amicicias regum non esse perhennes: Auf dem Weg nach Indien wird Clitus, der seinem König in der Schlacht am Granikus noch das Leben gerettet hatte, bei einem Trinkgelage von Alexander eigenhändig ermordet. Als einer seiner wichtigsten Offiziere hatte



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dieser in angetrunkenem Zustand dessen Ansehen in den Schmutz gezogen, da er sich bei der Verteilung wichtiger Stellen im griechischen Heer zurückgesetzt fühlte. Auch der Page Hermolaus und der makedonische Geschichtsschreiber Kallisthenes finden wegen verdächtiger Umtriebe auf Alexanders Befehl hin den Tod. ⇔ Walter kommt aufgrund dieser in der Alexandreis nicht näher ausgeführten Ereignisse zu dem Schluss, dass Freundschaft mit Königen keinen Bestand hat und unterzieht damit seinen wichtigsten Pro­ tagonisten aus antik-paganer ebenso wie aus christlicher Sicht einer zwar kurzen, aber doch deutlich erkennbaren moralischen Kritik (zur Bedeutung dieser Episode vgl. die Einführung zu Buch IX; zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Die Geographie Indiens (9–34) 9–34 India tota fere nascenti subdita Phebo | Eoum spectat audaci vertice tractum … Rubentis | purgamenta freti que parvi ponderis in se | sola sibi fecit hominum preciosa libido: Die geographischen Beschreibungen von Indien gehen im Wesentlichen auf die Angaben bei Curtius zurück (vgl. Christensen 1905, 118, Anm. 1). Erzähltechnisch bildet der Exkurs über die Geographie Indiens vergleichbar dem Asienexkurs in Buch I eine auch als retardierendes Element zu verstehende Überleitung zwischen der in Buch VIII geschilderten Eroberung Skythiens und der mit dem Sieg über den Inderkönig Porus einhergehenden Inbesitznahme Indiens (vgl. Komm. I, 396– 426). Wie eine Glosse in dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden Codex Vindobonensis bemerkt, lässt es sich Walter mit dem Hinweis auf den ungeheueren Reichtum dieses Erdteils und das in den dortigen Flüssen gefundene Gold sowie die vom Indischen Ozean angespülten Perlen auch hier nicht nehmen, im Sinne einer zeitgenössischen Kritik die Habgier seiner eigenen Zeit an den Pranger zu

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stellen (vgl. Alex. IX, 26–28: aurum | illa fluenta vehunt gemmasque et cetera que sunt |ulterius solito nostris preciosa diebus; vgl. auch Cod. Vind. 568: Hic autor reprehendit nimiam avariciam modernorum, qui nimium appetunt aurum et argentum; vgl. auch Colker 1978, 468; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). ⇔ Am Ende des Abschnitts nimmt Walter diesen Gedanken noch einmal auf, indem er die menschliche Gier dafür verantwortlich macht, dass im Grunde genommen wertlose Dinge wie Perlen von den Menschen für kostbar gehalten werden (vgl. Alex. IX, 32–34: riden­ tes gemmas emptura, Rubentis | purgamenta freti que parvi ponderis in se | sola sibi fecit hominum preciosa libido). Der Inderkönig Porus (35–70) 35–70 Ergo ubi Pelleum prolem Iovis omnia mundi | regna flagel­ lantem Macedum virtute … qui tela simillima nimbo | in medium spargens facta statione cupita | de facili poterat naves avertere ripa: Als Alexander Indien erreicht, ergeben sich die meisten der dortigen Fürsten dem makedonischen König kampflos und überreichen diesem in Anerkennung seiner Macht und als Zeichen ihrer Unterwerfung zahlreiche Geschenke. ⇔ Walter zeichnet dabei ein überaus differenziertes Bild Alexanders, indem er zum einen zwar die Tap­ ferkeit der Griechen und ihres Anführers positiv herausstellt, ihn zum anderen mit der Bezeichnung als Jupiters Sproß und als Gott jedoch auch einer deutlich zum Ausdruck gebrachten christlich motivierten moralischen Kritik unterzieht, die den im Philotas-Prozess und in der Skythen-Rede bereits zur Sprache gebrachten Vorwurf der Maßlosigkeit wieder aufgreift und erneuert (vgl. Komm. VIII, 158–184 bzw. 185–301; vgl. auch Komm. VIII, 368–476). ⇔ Einzig der Inderkönig Porus wagt es, sich dem kampfbereiten griechischen Heer entgegenzustellen. Walter schildert diesen als einen dem makedonischen König in jeder Hinsicht ebenbürtigen Gegner, der



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nicht nur alle an Körpergröße überragt, sondern auch hinsichtlich seiner geistigen Kräfte alle anderen Inder übertrifft. ⇔ Mit einem eindrucksvollen Gleichnis, nach welchem ein vom Berg stürzender Felsen – gemeint ist damit Porus selbst – auf seinem Weg talabwärts zuerst krachend kleinere Felsbrocken zerschlägt, um dann schließlich durch die Macht des tief im Erdinneren verankerten und von Alexander verkörperten Felsmassivs gestoppt zu werden, verdeutlicht Walter überaus anschaulich zwar die gewaltige Energie, die vom Inderkönig ausgeht, lässt zugleich jedoch keinen Zweifel an der militärischen Unbesiegbarkeit seines wichtigsten Protagonisten Alexander aufkommen (vgl. Alex. IX, 42–47). Wie Zwierlein (2004) 627 aufzeigt, hatte bereits Vergil in Anlehnung an eine Stelle in Homers Ilias – dort wird Hektor bei der Erstürmung des griechischen Schiffslagers mit einem zu Tal donnernden Felsen verglichen, der nach seinem Weg der Zerstörung erst im flacheren Gelände seine ursprüngliche Wucht verliert – ein derartiges Bild auf Turnus übertragen, als dieser sich zögerlich und erst nach dem Selbstmord der Amata endlich dem Zweikampf mit Aeneas stellen will und auf die Stadtmauern von Laurentum zueilt (vgl. Hom., Ilias II, 13, 136–142: Τρῶες δὲ προὔτυψαν ἀολλέες, ἦρχε δ᾽ ἄρ᾽ Ἕκτωρ  | ἀντικρὺ μεμαώς, ὀλοοίτροχος ὣς ἀπὸ πέτρης, | ὅν τε κατὰ στεφάνης ποταμὸς χειμάρροος ὤσῃ | ῥήξας ἀσπέτῳ ὄμβρῳ ἀναιδέος ἔχματα πέτρης: | ὕψι δ᾽ ἀναθρῴσκων πέτεται, κτυπέει δέ θ᾽ ὑπ᾽ αὐτοῦ | ὕλη: ὃ δ᾽ ἀσφαλέως θέει ἔμπεδον, εἷος ἵκηται | ἰσόπεδον, τότε δ᾽ οὔ τι κυλίνδεται ἐσσύμενός περ; vgl. auch Verg., Aen. XII, 684–691: ac veluti montis saxum de vertice prae­ ceps | cum ruit avulsum vento, seu turbidus imber | proluit aut annis solvit sublapsa vetustas; | fertur in abruptum magno mons improbus actu | exsultatque solo, silvas armenta virosque | involvens secum: dis­ iecta per agmina Turnus | sic urbis ruit ad muros, ubi plurima fuso | sanguine terra madet striduntque hastilibus aurae). Mit der auffälligen Übernahme des vergilischen Gleichnisses wertet Walter nicht nur den Inderkönig Porus auf, der sich im Unterschied zu Turnus von vornherein und ohne irgendein Anzeichen von Unentschlos-

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senheit mit großer Tapferkeit seinem Gegner stellt, sondern liefert zugleich die Kontrastfolie für die in der Alexandreis wenig später geschilderte Situation, in der Alexander im Unterschied zu Aeneas seinen besiegten und am Boden liegenden Kontrahenten Porus entsprechend der moralischen Anweisungen aus der Aristoteles-Rede aus vernünftigen Gründen verschont und diesem nicht wie Aeneas in einem plötzlichen Wutanfall den Todesstoß versetzt, sondern ihm zum Erstaunen aller die Statthalterschaft über ein größeres Reich überträgt und ihn sogar in den Kreis seiner Freunde aufnimmt (vgl. Komm. IX, 291–325; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Indem Walter darüber hinaus mit seinem Gleichnis auch eine Verbindung zur Thebais des Statius herstellt, in der Amphiaraus die feindlichen Krieger niedermäht wie eine durch einen Wintersturm oder den Zahn der Zeit aus dem Berg gerissene Felsmasse, die auf ihrem abwärts gerichteten Sturz alles mit sich reißt, um schließlich – im Tal zum Stillstand gekommen – mit ihrer ungeheueren Masse den Lauf eines Flusses zu verlegen oder das Tal selbst auszuhöhlen, hebt er kontrastierend zum Feldherrn aus Argos auch die moralische Integrität des Porus hervor (vgl. Stat., Theb. VII, 744–749: sic ubi nubiferum montis la­ tus aut nova ventis | solvit hiems, aut victa situ non pertulit aetas, | de­ silit horrendus campo timor, arva virosque | limite non uno longaeva­ que robora secum | praecipitans, tandemque exhaustus turbine fesso | aut vallem cavat aut medios intercipit amnes; vgl. auch Zwierlein 2004, 627). Anders nämlich als der von Walter ungeachtet seiner Niederlage gegen Alexander in allen Belangen insgesamt überaus positiv dargestellte Inderkönig ist Amphiaraus durch seine Verwicklung in die Geschehnisse um den Tod des Tydeus – schon in Buch V hatte Walter den thebanischen Sagenkreis und die Ereignisse um Tydeus zur kontrastreichen Inszenierung seiner Charaktere genutzt – moralisch diskreditiert. Da Amphiaraus nämlich Tydeus für den



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Ausbruch des Kriegs gegen Theben verantwortlich machte, unterlief er Athenes Plan, diesem Unsterblichkeit zu verschaffen, indem er ihm das Hirn aus dem abgeschlagenen Kopf des Melanippos zum Verzehr übergab. Angewidert wandte sich Athene daraufhin von Tydeus ab und ließ ihn nun doch sterben (vgl. Komm. V, 166–182). ⇔ Ungeachtet der für das griechische Heer schwierigen Ausgangslage – Porus hatte sich mit seinen Soldaten am anderen Ufer des wegen nicht vorhandener Furten nur mit Schiffen überquerbaren Hydaspes mit seinen Kampfelefanten aufgestellt und erwartete den griechischen Feind von einer strategisch überlegenen Position aus – bringt Alexander beim Anblick der indischen Schlachtreihen seine Freude zum Ausdruck, eine gute Gelegenheit für einen großen Sieg geboten zu bekommen. Nicanor und Symmachus (71–147) 71–147 Fluminis in medio terrae radicitus herens | insula multa fuit … Resoluto corpore tandem | tendit ad Elisios angusto tramite cam­ pos: Die Episode vom Heldentod der beiden Freunde Nicanor und Symmachus, die von einer inmitten des Hydaspes gelegenen Insel aus versuchen, die Inder aus ihrer strategisch günstigen Position am anderen Ufer des Hydaspes zu vertreiben, ist wohl Vergils Erzählung über Nisus und Euryalus nachempfunden, die während Aeneas’ Abwesenheit – der trojanische Anführer befindet sich gerade bei den Etruskern – den Belagerungsring durchbrechen wollen, den Turnus mit den Rutulern um das Lager der Trojaner gezogen hat (vgl. Verg. Aen. IX, 176–458; bereits Statius hatte mit der Heldentat des Hopleus und des Dymas, die den Leichnam ihres Königs Tydeus im Schutz der Dunkelheit heimlich nach Hause tragen wollen, mit der Erwähnung des Euryalus und des Nisus explizit auf Vergils Darstellung Bezug genommen, vgl. Stat., Theb. X, 442–448: Ta­ les optatis regum in complexibus ambo, | par insigne animis, Aetolus

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et inclutus Arcas,  | egregias efflant animas letoque fruuntur.  | Vos quoque sacrati, quamvis mea carmina surgant | inferiore lyra, me­ mores superabitis annos. | Forsitan et comites non aspernabitur um­ bras | Euryalus Phrygiique admittet gloria Nisi). In beiden antiken Episoden sind die Handlungsträger zwei mutige junge Männer, die in einem Zwiegespräch einen für die jeweilige Situation sinnvollen Plan schmieden, um ihre Könige in geradezu vorbildlicher Eigeninitiative zu unterstützen. Nicanor und Symmachus wagen ihren gefährlichen Vorstoß, da sie Alexanders Ruhm in Gefahr sehen, der vom nur schwer zu überquerenden Hydaspes vermeintlich davon abgehalten wird, das von den feindlichen Indern besetzte andere Ufer zu erreichen. Nisus und Euryalus wiederum haben die Absicht, ihren bei den Etruskern weilenden König Aeneas zurückzuholen, um durch dessen Anwesenheit vor Ort die Belagerung der Rutuler zu beenden. Übergeordnetes Motiv ist in beiden Episoden der durch diese Heldentaten erstrebte Ruhm (vgl. Alex. IX, 96–99: Audendum est aliquid quod nos, de margine ripae | hostibus expul­ sis nostra virtute, coronet | victrici lauro, vel si quid fata minantur, | induat aeterna nudatos corpore fama; vgl. auch Verg. Aen. IX, 194–196: si tibi quae posco promittunt (nam mihi facti | fama sat est), tumulo videor reperire sub illo | posse viam ad muros et moenia Pal­ lantea; zur Unterscheidung von wahrem und eitlem Ruhm in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4; vgl. auch die Einführung zu Buch IV). Doch auch mit dieser Bezugnahme auf Vergils Aeneis geht es Walter nicht allein um die imitative Wiedergabe einer Episode seiner antiken Vorlage. Vielmehr tritt jenseits aller motivischen Über­ einstimmungen deutlich erkennbar auch die aemulative Absicht des mittelalterlichen Autors zu Tage, die signifikante Unterschiede in Walters Darstellung zur Folge hat. Während Nisus und Euryalus nämlich die vom Wein betäubten und im Schlaf liegenden Rutuler im Schutz der Dunkelheit und ohne jegliche Gegenwehr töten, stellen sich Nicanor und Symmachus am hellichten Tag mutig dem indischen Gegner im direkten Kampf Mann gegen Mann. Auch



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wenn Walter im Verhalten der beiden Griechen nach ihren ersten Erfolgen durchaus kritisch einen gewissen Übermut konstatiert, ist in der Aeneis das Auftreten insbesondere des Euryalus kontrastreich zum Geschehen in der Alexandreis in auffälliger Art und Weise von überbordender Mordgier und unbedachter Maßlosigkeit geprägt (vgl. Alex. IX, 116–117: Iam poterant iuvenes merita cum laude re­ verti, | sed nullo contenta modo est temeraria virtus; vgl. auch Verg. Aen. IX, 350–354: hic furto fervidus instat … sensit enim nimia caede atque cupidine ferri; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Ohne Entsprechung bei Walter schildert Vergil zudem die Gier der beiden Trojaner, die ungeachtet ihres eigentlichen Vorhabens den Brustschmuck und das Wehrgehenk des Rhamnes sowie den Helm des Mesappus an sich reißen und damit nicht nur in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, sondern sich auch durch die im Mondlicht glänzende Beute beim Erscheinen der rutulischen Reiter verraten (vgl. Verg. Aen. IX, 357–378; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6). Auch Nicanors und Symmachus’ heldenhafter Tod im unmittelbaren Kampfgeschehen gegen die indische Übermacht steht in einem auffälligen Kontrast zum wenig ruhmvollen Tod des Nisus und des Euryalus auf der Flucht vor den rutulischen Reitern. ⇔ Auf poetologischer Ebene begibt sich Walter damit nicht zum ersten Mal in der Alexandreis in aemulativer Absicht in den dichterischen Wettstreit mit seinem antiken Vorbild Vergil, der nicht nur mit seiner Darstellung weniger heldenhafter Protagonisten, sondern auch insgesamt als Dichter hinter der Alexandreis und ihrem Autor zurückzustehen hat (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6).

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KOmmentar Alexanders List (148–178)

148–178 Erexit Pori victoria visa suorum  | indomitum pectus … Attalus astabat cum Poro nuncius affert | rectorem Macedum et re­ rum dis­crimen adesse: Die im Abschnitt zuvor geschilderte Niederlage der griechischen Kämpfer und der damit einhergehende Tod der beiden Freunde Nicanor und Symmachus betonen ebenso wie Walters einleitende Bemerkung über den bisher unbezwungenen Porus die Schwierigkeit der vor Alexander liegenden militärischen Aufgabe. Der makedonische König sieht sich deshalb gezwungen, eine List anzuwenden, um das andere Ufer des Hydaspes zu erreichen und damit überhaupt erst die Gelegenheit für eine aussichtsreiche Gefechtssituation zu schaffen. Während Alexander den ihm in Wuchs und Aussehen ähnlichen Attalus in königliche Gewänder kleiden lässt und ihm aufträgt, sich vor aller Augen offen zu zeigen, um den am anderen Ufer aufgestellten Indern den Eindruck zu vermitteln, dass er nicht weiter versuche, den Hydaspes zu überqueren, gelingt es ihm, mit einigen Männern an einer unbewachten Stelle flussaufwärts überzusetzen und die Schlacht zu eröffnen. Porus wird von der Nachricht überrascht, dass der makedonische König und damit die Entscheidung im Kampf – stilistisch von Walter als Chiasmus in Szene gesetzt – sich in unmittelbarer Nähe befinden. ⇔ Walter nutzt die vorliegende Episode, um Alexanders herausragende Fähigkeiten als Feldherr und Motivator seiner Truppen in Szene zu setzen (vgl. Alex. IX, 177–178: Attalus astabat cum Poro nuncius affert  | rectorem Macedum et rerum discrimen adesse). Über die Attribuierung seines wichtigsten Protagonisten als Ver­ nichter der Könige und Verächter jeglicher Gefahr macht der Autor der Alexandreis deutlich, dass sich Alexander von Rückschlägen wie der Niederlage des Nicanor und des Symmachus nicht beeindrucken lässt und in aller Ruhe einen Plan schmiedet, der letztlich doch zum Erfolg der griechischen Bemühungen führt. Damit erfüllt Alexander nicht zum ersten Mal in der Alexandreis die in der



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Aristoteles-Rede im Kontext der Tugend der Tapferkeit mit den Worten metire oculis zum Ausdruck gebrachten Anforderungen an einen erfolgreichen Feldherrn hinsichtlich dessen strategischen Ver­ mögens (zum strategischen Vermögen als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 133–136; zur tropologischen Ebene der Ale­ xandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Auch bezüglich seiner in der Alexandreis immer wieder thematisierten Vorbildfunktion als Feldherr erfüllt Alexander die Vorgaben der Aristoteles-Rede, indem er in vorderster Front gleich das erste Schiff besteigt, das den Hydaspes überquert und mit diesem Verhalten seine Soldaten ermutigt, ihm mit großem Eifer zu folgen (zur Vorbild­ funktion als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 128–132). Über die Tugendhaftigkeit Alexanders hinaus versteht es Walter zudem, den Einfluss der Götter auf den Erfolg des Unternehmens in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Als Alexander nämlich mit seinen Soldaten den Hydaspes überquert, behindert ein undurchdringlicher Nebel die Sicht, was Walter zu der Bemerkung veranlasst, dass göttliche Mächte dem kühnen Plan des großen Feldherrn beistehen (vgl. Alex. IX, 161–163: Animosum numina Magni | propositum iuvere ducis, nam fusa per orbem  | involvit cecis nubes elementa tenebris; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Auch Alexander selbst deutet das Aufkommen des für eine sichere Überquerung des Hydaspes an sich problematischen Nebels furchtlos als göttliche Fügung, indem er darauf vertraut, dass sein gefährliches Unternehmen selbst das Dunkel hervorruft (vgl. Alex. IX, 169–170: confisus Macedo, sua tamquam occasio noctem | inducat). ⇔ Damit gibt Walter bereits vor der eigentlichen kriegerischen Auseinandersetzung einen Hinweis auf den für die Griechen glücklichen Ausgang der Schlacht, in der Alexander dennoch seine ganze Feldherrnkunst aufbieten muss, um den Inderkönig Porus zu besiegen.

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KOmmentar Die Schlacht am Hydaspes (179–325) Die feindlichen Heere treffen aufeinander (179–258)

179–258 Mox ubi lucidior excussit nubila mundus | atque adversa phalanx Phebo percussa refulsit … ab alto culmine monstri | spicula fundentem, medio velut equore solum, | destituere sui: Nachdem es Alexander und seinen Truppen durch eine List gelungen ist, den Hydaspes zu überqueren, kommt es zur entscheidenden Schlacht gegen die Inder und ihren waffenmächtigen König Porus. Der Ausgang dieses Treffens ist lange Zeit offen, da sich auf beiden Seiten Soldaten mit herausragenden kriegerischen Fähigkeiten gegenüberstehen. ⇔ Walter bringt den für beide Seiten verlustreichen Kampf mit der Bemerkung zum Ausdruck, dass zwei der drei Schwestern – gemeint sind die Parzen – kaum in der Lage sind, die Lebensfäden zu durchschneiden, die von der dritten Schwester gesponnen werden (vgl. Alex. IX, 194–195: mortalia fila sorores | sufficiunt vix nere duae que tercia rumpit; zur weiteren Verwendung des Parzenmotivs vgl. Alex. V, 140–144: sedes implentur avari | Ditis et umbriferi domus in­ satiabilis antri. | Rumpere fila manu non sufficit una sororum, | ab­ iectaque colo Cloto Lachesisque virorum | fata metunt, unamque duae iuvere sorores; vgl. auch Komm. I, 5–8; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ Erst als es den Griechen gelingt, die Kriegselefanten der Inder zu töten, ergreifen die Feinde die Flucht und lassen ihren König Porus im Stich, der indes weiterhin nichts unversucht lässt, das Kampfglück auf seine Seite zu ziehen. ⇔ Einerseits schildert Walter den Inderkönig dabei als einen überaus mutigen Anführer und fähigen Feldherrn, dem es ungeachtet des überraschenden Auftauchens der Griechen aufgrund seiner Handlungsschnelligkeit gelingt, augenblicklich viertausend Reiter und eine große Anzahl an Fußsoldaten gegen den griechischen Feind zu schicken (vgl. Alex. IX, 181–183: extimplo visis equitum bis milia bina | hostibus obiecit Porus centumque cruentis |



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plaustra referta viris). Ebenso ist er in der Lage, die eigenen Reihen wieder zu schließen, nachdem es den Griechen beinahe schon gelungen war, die Inder in die Flucht zu schlagen (vgl. Alex. IX, 230–232: Tamen agmine Porus | disposito rursus dispersa recolligit arma | ter­ ribilesque oculis elephantes obicit hosti). Andererseits begeht Porus aber auch einige taktische Fehler, die von den Griechen ausgenutzt werden und zur Niederlage des indischen Heeres entscheidend beitragen. Zum einen nämlich kommen die schwer beladenen Wagen der Inder im vom Monsunregen durchnässten Boden nicht schnell genug voran, und auch die schweren Bögen lassen sich im schlammigen Untergrund nur schlecht aufstellen, zum anderen sind die Kampfelefanten in der direkten Konfrontation mit der griechischen Reiterei zu langsam und haben dem schnellen Lauf der griechischen Pferde nichts entgegenzusetzen. Im Unterschied zum Inderkönig Porus schildert Walter den makedonischen König als einen Mann, der gerade in schwierigen Situationen in besonderer Weise in der Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen und mit seiner Entschlossenheit und seinem Drang, immer als erster voranzustürmen, die eigenen Soldaten zu motivieren versteht und ihnen damit stets als Vorbild zu dienen vermag (vgl. Alex. IX, 189–191: Econtra Mace­ do solita levitate per Indos | strennuus invehitur. Sequitur levis ala ru­ entem | atque exerta manus; zur Vorbildfunktion als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 128–132). Auch steht Alexander in Bezug auf die innerhalb dieser wichtigsten Feldherrntugend angesiedelten Handlungsschnelligkeit seinem indischen Gegner in nichts nach. Denn als die griechischen Soldaten durch das Vorrücken der riesigen Kampfelefanten für einen Moment ihre Ordnung verlieren und bereits die Flucht ergreifen wollen, schickt Alexander sofort agrianische und thrakische Reiter auf die riesigen Tiere los, so dass den Soldaten unverzüglich der Mut zurückkehrt und sie sich erneut in den blutigen Kampf stürzen (vgl. Alex. IX, 236–244; zur Handlungsschnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 136–143). ⇔ Die geistige Überlegenheit seines wich-

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tigsten Protagonisten bringt Walter auch damit zum Ausdruck, dass sich Alexander – von Walter explizit als unbesiegter und rastloser Kriegsheld bezeichnet – sogar darüber freut, endlich einen Gegner auf Augenhöhe gefunden zu haben, der mit seinen Kriegselefanten eine echte Herausforderung darstellt (vgl. Alex. IX, 199–200: Perque tot obiectos invictus et impiger hostes | ad Porum molitur iter Mavor­ tius heros; vgl. auch Alex. IX, 203–205: «Inveni tandem dignumque stupore meoque  | par animo discrimen,» ait «res ecce gerenda est  | cum monstris michi cumque viris illustribus una.»; zu Alexanders Freude über einen ebenbürtigen Gegner vgl. auch Alex. IX, 48–53). Alexander verfolgt Porus (258–290)

258–290 Sed cum peteretur ab omni | parte, lacessitus hinc inde no­ vemque fatiscens  | vulneribus lacer … donec multis turgentia telis  | interius pepulere foras vitalia vitam: Porus will den inzwischen aussichtslosen Kampf nicht aufgeben und wendet sich erst zur Flucht, als er von allen Seiten angegriffen und beschossen wird. Alexander setzt ihm – so Walter – gleich einem Blitz nach und hätte den Inderkönig auch sofort gestellt, wenn nicht sein Pferd Bukephalus, von zahlreichen Pfeilen tödlich getroffen, zu Boden gesunken wäre. ⇔ Nicht zum ersten Mal in der Alexandreis verwendet Walter diese ursprünglich bei Lucan im pejorativen Sinn auf Caesar bezogene Metapher, um Alexanders außerordentliche Schnelligkeit und enorme Dynamik im Sinne einer Umdeutung des lukanischen Caesar positiv in Szene zu setzen (vgl. Alex. IX, 262–263: Profugo par fulminis instat  | ira Dei Macedo; zur Gleichsetzung Alexanders mit einem Blitz vgl. Komm. II, 388–407). ⇔ Obgleich mit der Eroberung des Perserreichs Alexanders heilsgeschichtliche Aufgabe eigentlich abgeschlossen ist, bezeichnet Walter den makedonischen König an der vorliegenden Stelle aus Sicht des christlichen Autors im Sinne eines Epitheton commemorans noch immer als ira dei (zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Ale­



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xandreis vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Walter vergisst nicht zu erwähnen, dass Alexander zu Ehren seines treuen und schon seit seiner Zeit als Kronprinz von Makedonien an seiner Seite stehenden Pferdes die Stadt Bukephala gründet. Mit einem neuen Pferd nimmt Alexander die Verfolgung des Inderkönigs Porus wieder auf. In einem Szenenwechsel lenkt Walter nun den Blick auf den fliehenden Porus, der von einem abtrünnigen indischen Fürsten aufgefordert wird, sich doch endlich dem vom Schicksal begünstigten und zum Herrscher über die Welt bestimmten gütigen makedonischen König zu ergeben (vgl. Alex. IX, 270–274: Sed frater Taxilis, Indis | qui preerat, rex ipse quidem sed deditus illi | quem dederat mundo regem Fortu­ na, monebat | sollicite Porum, fortunae ut cederet utque | tam celebri tam propicio se dederet hosti). ⇔ Damit betont Walter nicht nur die aus antik-paganer Sicht überragende weltgeschichtliche Bedeutung Alexanders, sondern lässt ganz im Sinne der Aristoteles-Rede auch dessen Milde gegenüber besiegten Feinden anklingen. ⇔ Doch Porus will noch immer nicht aufgeben, tötet den indischen Verräter mit letzter Kraft und versucht erneut zu fliehen. Erst als sein riesiger Kampfelefant schwer verwundet zu Boden geht, ist auch Porus geschlagen. Als Alexander dem totgeglaubten indischen König – tatsächlich spricht Alexander in Anerkennung der Tapferkeit seines Feindes wertschätzend vom trefflichen Leichnam des Porus – die Rüstung abnehmen will, wehrt sich der Elefant noch ein letztes Mal und erliegt schließlich seinen schweren Verletzungen (vgl. Alex. IX, 286–290). Alexander und Porus im Gespräch (291–325)

291–325 At rex ut Porum, quem iam credebat Avernis | inmixtum populis, erecto lumine vidit  | attollentem oculos … Largius exhibuit dilatavitque prioris | imperii metas, tantoque exceptus honore | est hos­ tis, quantum sibi vix speraret amicus: Zu Alexanders Überraschung lebt Porus noch, dem er in aller Offenheit sogleich die Frage stellt,

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wie er es in seinem gewaltigen Hochmut überhaupt wagen konnte, sich mit ihm in offener Feldschlacht zu messen, obwohl er doch vom Ruhm des makedonischen Königs gehört haben müsste. Porus versichert ihm aufrichtig, dass er vor dem Aufeinandertreffen mit ihm nicht geglaubt hätte, auf dem ganzen Erdkreis einen Gegner finden zu können, der ihm selbst an Tapferkeit und Scharfsinn ebenbürtig sein könnte. Doch die Schlacht habe Alexanders Überlegenheit gezeigt, dem er sich von nun an als Zweiter nach ihm bereitwillig unterwerfe und unterordne (vgl. Alex. IX, 300–306: Ante malum certaminis huius | nemo erat in terris quem posse resistere quemve | censerem michi Marte parem vel mente, meamque  | vim noram et meritum, nondum tua fata tuasque  | expertus vires. Sed quam me fortior esses, | eventus belli docuit; tibi vero secundus | non minimum felix videor michi). Nach dieser Demutsgeste fordert Porus den siegreichen makedonischen König auf, sich Selbstbeschränkung aufzuerlegen und untermauert seinen Ratschlag mit der gerade selbst gemachten Erfahrung, ungeachtet der eigenen Tapferkeit dennoch einen Stärkeren gefunden zu haben. Damit sei der Beweis erbracht, dass dem Menschen Grenzen gesetzt seien (vgl. Alex. IX, 306–309: Ne tamen isto | attollas animum casu quia viceris. Ipse | exemplum tibi sum, qui cum fortissimus essem, | fortius inveni). ⇔ Die Worte des Porus wirken dabei insgesamt – vergleichbar der Skythen-Rede in Buch VIII – wie eine von Walter in den Mund des Inderkönigs gelegte christlich motivierte Mahnung, den Bogen nicht zu überspannen und das rechte Maß nicht zu verlieren (vgl. Komm. VIII, 368– 384). Auch Porus’ Ausführungen über die Habgierigen, die durch die Erinnerung an ihre Verluste schlimmer gequält werden, als sie durch ihre Reichtümer Freude erfahren, steht in engem inhaltlichen Zusammenhang zu der Aussage des Skythen, dass Alexander umso mehr begehren werde, je mehr er sich an Gütern verschafft habe (vgl. Alex. IX, 313–314: Gravius torquentur avari | amissi memores quam delectentur habendo; vgl. auch Alex. VIII, 425–430: Proch pudor, ad pecudes nostras extendis avaras | instabilesque manus. Et



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cum tibi regna ministrent | omnia divicias, tibi pauper inopsque vide­ ris. | Quid tibi diviciis opus est, que semper avaro | esuriem pariunt? Quanto tibi plura parasti, | tanto plura petis et habendis acrius ardes). Indem Porus mit seinem Ratschlag zudem das Bild der wankelmütigen Fortuna bemüht, die einen Menschen zwar zu höchster Macht aufsteigen lässt, diesen jedoch auch wieder herabzusetzen vermag, stellt Walter eine weitere Verbindung zur Skythen-Rede her, in welcher der Gedanke vom Schicksalsrad ebenfalls zum Ausdruck gebracht worden war (vgl. Alex. IX, 309–313: Ne dixeris esse beatum | qui quo crescat habet nisi quo decrescere possit  | non habeat. Satius est non ascendere quam post | ascensum regredi, melius non crescere quam post | augmentum minui; vgl. auch Alex. VIII, 448–455: Pro­ inde manu pressa digitisque tenere recurvis | fortunam memor esto tuam, quia lubrica semper  | et levis est numquamque potest invita teneri. | Consilium ergo salubre sequens quod temporis offert | gratia presentis, dum prospera luditur a te | alea, dum celeris Fortunae mu­ nera nondum | accusas, impone modum felicibus armis | ne rota forte tuos evertat versa labores). ⇔ Neben der Mahnung, das rechte Maß nicht zu verlieren und sich Selbstbeschränkung aufzuerlegen, wird in der vorliegenden Szene darüber hinaus jedoch von Porus auch explizit die Notwendigkeit angesprochen, sich einem noch Stärkeren unterzuordnen, womit Walter den Bezug zur fehlenden Unterordnung Alexanders unter den christlichen Gott herstellt (zur Stellung der Szene innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.2; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). ⇔ Zum Erstaunen der griechischen Anführer tötet Alexander den Inderkönig nicht, sondern kümmert sich gewandelten Sinnes mit gezügeltem Zorn – refrenata mutati pectoris ira – um diesen, nimmt ihn nach dessen Genesung in den Kreis seiner Freunde auf und beschenkt ihn mit der Verwaltung eines noch größeren Reichs (vgl. Alex. IX, 319–325). Als Begründung führt Walter an, dass Alexander den von den Stürmen des Schicksals ungebrochenen König bewundere, der sich ungeachtet seiner Niederlage die Haltung eines Siegers bewahrt habe

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(vgl. Alex. IX, 317–318). ⇔ Mit diesem bewusst inszenierten, vermeintlich unangebrachten Verhalten Alexanders – alle anwesenden Generäle hatten erwartet, dass er den Inderkönig tötet – verweist Walter zum wiederholten Mal in der Alexandreis auf die im Gegenstandsbereich des Zorns angesiedelte aristotelische Tugend der an­ gemessenen Zürnkraft, die es dem siegreichen makedonischen König angeraten sein lässt, einen Feind aus einem vernünftigen Grund heraus zu schonen, auch wenn dieser zuvor das Schwert gegen ihn erhoben hatte (vgl. Komm. III, 140–188). Mit der charakterlichen Größe des Porus, der nicht nur seine Niederlage offen eingesteht, sondern sich auch – zumindest in Alexanders bzw. Walters Augen – die Haltung eines Siegers bewahrt hat, ist dieser vernünftige Grund gegeben. Demzufolge schildert Walter in der Porus-Episode seinen wichtigsten Protagonisten ungeachtet der Tatsache, dass dieser sich eigentlich schon länger außerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs befindet, aus antik-paganer Sicht dennoch noch immer als einen König, dem es wie zuvor schon im Perserkrieg auch in der Auseinandersetzung mit dem Inderkönig gelingt, die in der Aristoteles-Rede zur Sprache gebrachten Vorgaben hinsichtlich der drei zentralen Feldherrntugenden der Tapferkeit, der angemessenen Zürnkraft und der angemessenen Gebefreudigkeit uneingeschränkt zu erfüllen. ⇔ Mit der an der vorliegenden Stelle auffällig in Szene gesetzten Tugend der angemessenen Zürnkraft verfolgt Walter jedoch auch die Absicht, Vergils in der Aeneis ausgeführtes Römerprogramm – bekanntermaßen mit den Worten parcere subiectis et debellare superbos zum Ausdruck gebracht – als unzureichende moralische Richtschnur zu diskreditieren und sich als Dichter damit in aemulativer Absicht über sein im Prolog der Alexandreis noch als unerreichbar apostrophiertes Vorbild zu stellen (zur Bedeutung der Porus-Episode im Hinblick auf das Römerprogramm der Aeneis vgl. die Einführung zu Buch IX; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6).



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Alexander als Welteroberer (326–340) 326–340 Postquam magnanimus Macedum victricibus armis | suc­ cubuit Porus … mentem preteritae memorem terrentia culpae: Walter bezeichnet Alexanders Sieg über Porus als großzügiges Geschenk des Schicksals und macht damit deutlich, dass ungeachtet der Tatsache, dass sich der makedonische König außerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Rahmens des Perserkriegs bewegt, er von der antik-paganen Macht der Schicksalsgöttin Fortuna nach wie vor unterstützt wird (vgl. Alex. IX, 328–329: elatus Macedo, cui vix cedentibus astris | prodiga tam celebrem dederat Fortuna triumphum; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Allerdings schränkt Walter seine eigene Aussage dahingehend ein, dass die Unterstützung im Krieg gegen Porus nur in Alexanders Augen auch eine Rechtfertigung für weitere Kriege im Osten darstellt (vgl. Alex. IX, 330–331: quo mediante sibi fines Orientis apertos | censebat; zu Alexanders Selbstverständnis des ihn begünstigenden Schicksals vgl. Komm. IV, 546–562). Insofern regt sich beim christlichen Autor Walter an dieser Stelle durchaus ein gewisses Unbehagen, das unter antik-paganen Maßstäben durchaus mutige Vordringen Alexanders in Richtung Osten grundsätzlich gutzuheißen. ⇔ Zum wiederholten Mal in der Alexandreis stellt Walter auch Alexanders Schnelligkeit heraus, mit der er zahlreiche Völker des Ostens unterwirft (vgl. Komm. II, 91–102). Auch Alexanders Gleichsetzung mit einem Blitz in Verbindung mit dessen Schnelligkeit stellt ein in der Alexandreis häufig verwendetes Motiv dar (vgl. Komm. II, 388–407; zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2). Dabei wird auch an der vorliegenden Stelle der bei Lucan auf Caesar bezogene und in der Pharsalia destruktiv und damit negativ konnotierte Blitz positiv umgedeutet, indem zwar der Erdkreis vor Alexander erzittert, dieses Zittern von Walter jedoch nicht mit der blinden Zerstörungswut Alexanders in Verbindung gebracht wird, sondern mit

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dem Bewusstsein dieser Völker über ihre einstige Schuld (vgl. Alex. IX, 340: mentem preteritae memorem terrentia culpae). Alexanders Kampf gegen die Sudraker (341–500) 341–500 Ausa tamen fatis Macedumque resistere famae | gens Su­ dracarum validae se menibus urbis | inclusit … Si tamen incolomem revocare tenacibus uncis | et clavum reparare queunt, sonat aura tu­ multu | leticiae, et primum vincunt nova gaudia luctum: Als eines der wenigen Völker leisten die Sudraker dem makedonischen König auf seinem Weg nach Osten erbitterten Widerstand. Gleich zu Beginn seiner Schilderung macht Walter jedoch deutlich, dass Alexander auch diese schwierige Aufgabe lösen wird, indem er das Bemühen der Sudraker, mit dem Rückzug in ihre gut befestigten Mauern gegen Alexander zu bestehen, als untauglichen Versuch beschreibt, den Lauf des Schicksals aufzuhalten (vgl. Alex. IX, 341–343: Ausa tamen fatis Macedumque resistere famae | gens Sudracarum validae se menibus urbis  | inclusit; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Da sich die Sudraker dem makedonischen König nicht in offener Feldschlacht stellen wollen, müssen die Griechen versuchen, über Sturmleitern in die Stadt zu gelangen. Alexander steigt als erster die steile Mauer hinauf und wird sogleich von feindlichen Bogenschützen unter Beschuss genommen (vgl. Alex. IX, 345–346: primus in oppositum galeato ver­ tice murum | evadit Macedo). Auch wenn die Griechen anfangs wegen des verheerenden Geschosshagels zögern, ihrem König zu folgen, siegt – so Walter – am Ende doch ihr Schamgefühl über die durchaus zurecht empfundene Gefahr (vgl. Alex. IX, 352–353: tan­ dem discrimina vimque  | telorum vicit pudor et confusio frontis). Ohne auf ihr eigenes Leben zu achten, klettern sie daraufhin mit großem Eifer ihrem Anführer hinterher. ⇔ Walter beschreibt an dieser Stelle seinen wichtigsten Protagonisten wie bereits zu Beginn



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der Schlacht bei Issus oder auch im Kampf gegen die Uxier als leuchtendes Vorbild für seine Soldaten, der es wagt, als erster den Feind zu bestürmen, nichts von seinen Männern verlangt, was er nicht selbst zu tun bereit ist und keinerlei Rücksicht auf sein eigenes Leben nimmt (vgl. Komm. II, 388–407; vgl. auch Komm. VI, 81–102; zur Vorbildfunktion als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 128–132). ⇔ Allerdings führt der Übereifer der griechischen Soldaten dazu, dass die Sturmleitern unter der zu großen Belastung zerbrechen und Alexander sich plötzlich ganz allein dem feindlichen Beschuss ausgesetzt sieht. Seine Kampfgefährten versuchen ihn dazu zu bringen, in ihre Arme zu springen und damit den vorläufigen Rückzug anzutreten. Doch Alexander springt zum Entsetzen seiner eigenen Männer kopfüber in die Stadt der Sudraker. Walter versäumt dabei nicht zu erwähnen, dass es der makedonische König gemessen an seiner göttlichen Abstammung für unwürdig ansieht, dem Feind den Rücken zu kehren und macht darüber hinaus deutlich, dass dieser Sprung eine entscheidende Bedeutung für den weiteren Verlauf und den Ausgang dieser Schlacht haben wird (vgl. Alex. IX, 366–370: cum rex, ausus mirabile dictu | atque fide maius, saltu se prepete dira | barbarie plenam preceps inmisit in ur­ bem, | indignum reputans divino stemmate, princeps | tot clarus titu­ lis si tergum ostenderet hosti). ⇔ Walter selbst wirft in diesem Kontext die Frage auf, wie Alexanders Verhalten eigentlich beurteilt werden müsse und kommt zu dem Schluss, dass er tapfer und tollkühn zugleich gehandelt habe (vgl. Alex. IX, 371–373: Queritur an fortis facto an temerarius isto | rex fuerit, sed si contraria iungere cu­ ras, | et fortis fuit et facto temerarius isto). Einerseits steckt in dieser Aussage eine leise Kritik des Autors der Alexandreis, da ein tollkühnes Verhalten nach den Maßstäben der aristotelischen Tugendlehre eigentlich als Laster zu betrachten ist, andererseits gibt der zuletzt eintretende militärische Erfolg dem makedonischen König recht und legitimiert dessen Verhalten damit ex eventu als tapfere und damit unter moralischen Gesichtspunkten richtige Reaktion auf die

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schwierige militärische Herausforderung. Der tiefere Grund für Alexanders Überleben inmitten der sudrakischen Feinde wird von Walter zugleich nachgeliefert: Nicht zum ersten Mal in der Alexan­ dreis nämlich greift die Schicksalsgöttin Fortuna ein, um ihrem Schützling in einer beinahe aussichtslosen Situation zu Hilfe zu kommen (vgl. Alex. IX, 374–376: cumque capi vivus posset perimive priusquam | surgeret, excussit Fortuna potenter utrumque | et miro miranda modo protexit alumpnum; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Ebenso wie bei der Darstellung von Alexanders unheilvollen Bad im Kydnus oder bei dem überraschenden Angriff eines feindlichen Kriegers auf den makedonischen König bei der Eroberung von Gaza verfolgt Walter mit der vorliegenden Inszenierung der unmittelbaren Todesgefahr für seinen wichtigsten Protagonisten auch an dieser Stelle die Absicht, auf Alexanders unveränderliches Schicksal hinzuweisen, das seine Vollendung erst durch einen von der Schicksalsgöttin Lachesis gebrauten giftigen Sud finden wird (vgl. Komm. II, 186–200; vgl. auch Komm. III, 342–369). ⇔ In der vorliegenden Situation sorgt die Schicksalsgöttin nicht nur dafür, dass Alexander – von Walter sinnigerweise als ultio caelestis bezeichnet – nach seinem gewaltigen Sprung über die sudrakische Mauer auf seinen Füßen landet und damit sofort kampfbereit ist, sondern sie hatte auch Vorsorge getroffen, dass sich hinter Alexander ein Lorbeerbaum befindet, an den er sich anlehnen kann und der ihn vor Angriffen in seinem Rücken schützt (vgl. Alex. IX, 381–384: Stabat enim laurus annoso stipite tamquam  | nata ducem Macedum vetulis defendere ramis. | Huius ut applicuit trunco insuperabile corpus, | ultio caelestis clipeum circumtulit). Dabei stellt es keinen Zufall dar, dass Alexanders heldenhafter Kampf gegen die Übermacht der Sudraker unter einem Lorbeerbaum stattfindet, der schon innerhalb des von Donat entwickelten stilus gravis und auch in der mittelalterlichen Rhetorik stets mit dem Kampf heldenhafter Krieger in Verbindung gebracht wird (zur weiteren Funktion des Lorbeerbaums in der Alexandreis



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vgl. Alex. II, 306–318). Abgesehen von der Unterstützung durch die Schicksalsgöttin kommt dem makedonischen König auch sein glänzender und auf dem ganzen Erdkreis verbreiteter Ruf zu Hilfe, der dazu führt, dass es zuerst einmal kein Sudraker wagt, den Nahkampf mit Alexander zu suchen. Nicht von ungefähr setzt Walter ausgerechnet an dieser Stelle auch Alexanders Tapferkeit in Szene, indem er dessen heldenhafte Haltung in diesem verzweifelten Kampf gegen die Übermacht der Sudraker herausstellt, in welchem der Held auch vor dem eigenen Tod nicht zurückschreckt (vgl. Alex. IX, 387–390: Celeberrima fama verendi | nominis, edomitum iam dilatata per or­ bem, | pro duce pugnabat et desperatio, magnae | virtutis stimulus, et honestae occasio mortis). ⇔ Als es einigen Sudrakern doch gelingt, näher an den inzwischen vermeintlich kampfunfähigen makedonischen König heranzurücken und sie diesen seiner Rüstung berauben wollen, tötet er zwei seiner Feinde mit dem Schwert (vgl. Alex. IX, 395–398: Quem cum spoliare pararent | qui stabant propius, hos sic mucrone recepit | Magnus ut ante ipsum vita fugiente iacerent | exanimes gemini). Erneut sind die Sudraker so von Alexanders Tap­ ferkeit beeindruckt, dass sie es ein weiteres Mal nicht wagen, sich ihm im Nahkampf zu stellen. Erst als ihm ein Pfeil die Seite durchbohrt und er stark blutet, lässt Alexander, der Ohnmacht schon nah, seine Waffen fallen. Als der Pfeilschütze an den totgeglaubten Feind heranrückt, tötet Alexander in einer letzten Kraftanstrengung auch diesen. Ungeachtet seiner misslichen Lage – Alexander selbst hat sich bereits mit dem eigenen Tod abgefunden – hält er bis zuletzt tapfer die Stellung und reizt sogar noch den Feind mit aufreizenden Worten. Inzwischen eilen einige Griechen, denen es inzwischen gelungen war, die Mauern zu durchbrechen, ihrem König zu Hilfe und können zumindest verhindern, dass Alexander getötet wird. Als sich unter den Griechen dennoch das Gerücht verbreitet, dass Alexander gefallen sei, intensivieren sie ihre Anstrengungen, brechen schließlich die restlichen Soldaten an zahlreichen Stellen durch die Mauern der Stadt, richten ein Blutbad unter den Sudrakern an

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und können ihren König im letzten Moment retten. ⇔ Walter betont an dieser Stelle auch die Tapferkeit der griechischen Soldaten, die sich von der Nachricht vom vermeintlichen Tod ihres Anführers nicht haben entmutigen lassen, sondern ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben weiterhin den Durchbruch versucht haben (vgl. Alex. IX, 442–447: Interea cecidisse ducem intra menia rumor | pertulit ad Grecos. Alios tam dira timore | fregisset sed eos animavit fama. Peric­ li  | tocius inmemores murum fregere dolabris,  | molitique aditum spreto discrimine mortis, | per murum fecere viam). Auch bei der anschließenden Versorgung von Alexanders Wunde durch den Arzt Critobulus inszeniert Walter die beinahe übermenschliche Tapfer­ keit seines wichtigsten Protagonisten. Denn als der Arzt einigen Männern aufträgt, ihren König beim Herausziehen des Pfeils festzuhalten, da jede Bewegung die Situation verschlimmern könne, erwidert Alexander, dass es für einen König unehrenhaft sei, gefesselt oder auch nur gehalten zu werden (vgl. Alex. IX, 474–476: «Non est» ait ille «decorum | vinciri regem, Critobole, sive teneri. | Libera sit regis et semper salva potestas.»). ⇔ Und tatsächlich gelingt es, den Pfeil aus der Wunde zu ziehen, ohne dass Alexander irgendeine falsche Bewegung gemacht oder auch nur im Ansatz das Gesicht verzogen hätte (vgl. Alex. IX, 477–479: et quod vix auderes credere, corpus | prebuit inmotum, neque vultus signa doloris | contraxit ru­ gas). Critobulus kann die Blutung stoppen, so dass am Ende Alexanders Leben gerettet werden kann (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Craterus mahnt Alexander (501–544) 501–544 Postquam Pellei curato vulnere pauci | effluxere dies … Ea­ dem Tholomeus et omnis concio cum lacrimis confusa voce perorat: Obwohl Alexander nach seiner Verletzung eigentlich noch nicht wieder



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vollständig genesen ist, trifft er schon nach wenigen Tagen Vorbereitungen für den Aufbruch zu weiteren Eroberungen. ⇔ Nach der ausdrücklichen Mahnung der Skythen und des Inderkönigs Porus, den Bogen nicht zu überspannen und das rechte Maß nicht zu verlieren, wird Alexander – erstmals auch aus den eigenen Reihen – von seinem General Craterus ein letztes Mal in der Alexandreis mit der christlich motivierten kritischen Frage konfrontiert, welches Ziel sein Mut und seines Geistes Begierde eigentlich erstrebe und welches Maß er in Zukunft einzuhalten gedenke (vgl. Alex. IX, 514–517: «Tua, regum maxime, virtus» | inquit «et esuries mentis, cui maximus iste | non satis est orbis, quem proponunt sibi finem | vel quem sunt habitura modum?»). Auch die von Walter in den Mund des Craterus gelegten Worte, dass dem makedonischen König der Erdkreis nicht genüge, macht deutlich, dass es bezüglich Alexanders grenzenloser Eroberungswut kaum noch Steigerungsmöglichkeiten gibt und der von der Göttin Natura eingeleitete epische Tod Alexanders ursächlich mit dessen Maßlosigkeit in Zusammenhang steht. Um Alexander von weiteren Eroberungen abzuhalten, bemüht auch Alexanders General Craterus wie schon die Skythen und auch der Inderkönig Porus das Bild des Schicksalsrads, nach dem es keinem Menschen erlaubt ist, immer auf derselben Stufe stehen zu bleiben, (vgl. Alex. IX, 526–528: Secunde | res ita se prebent ut nulli fas sit in uno | semper stare gradu; zum Bild des Schicksalsrads in der Alexandreis vgl. Alex. VIII, 323–334; vgl. auch Alex. VIII, 448–455; vgl. auch Alex. IX, 309–316; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Alexanders Antwort an Craterus (545–580) 545–580 Non fuit Eacidae pietas ingrata suorum … et ecce | nauti­ cus exoritur per fluminis ostia clamor: Auch wenn Alexander seinen Männern für ihre im Kampf gegen die Sudraker und auch in allen

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anderen Schlachten gezeigte Treue überaus dankbar ist, macht er deutlich, dass er nicht gewillt ist, die Mahnung seines Generals ernst zu nehmen und seinen inzwischen fast bis an den östlichen Ozean reichenden Eroberungszug zu beenden. Ganz im Gegenteil ziehe es ihn nach der Eroberung der bekannten Welt zu den Antipoden auf die andere Hemisphäre, da ihm – wie Craterus bereits angesprochen hatte – der Erdkreis tatsächlich zu eng sei (vgl. Alex. IX, 563–570: Proximus est mundi michi finis, et absque deorum | ut loquar invi­ dia, nimis est angustus et orbis, | et terrae tractus domino non sufficit uni. | Quem tamen egressus postquam hunc subiecero mundum, | en alium vobis aperire sequentibus orbem | iam michi constitui. Nichil insuperabile forti.  | Antipodum penetrare sinus aliamque videre  | naturam accelero). Auch die Bitte seines Generals, besser auf sein eigenes Leben zu achten, da er sonst Gefahr laufe, eines Tages doch in irgendeiner Schlacht zu sterben, führt Alexander ad absurdum. Nicht seine Lebensjahre seien der für ihn gültige Maßstab, sondern die Zahl seiner Siege (vgl. Alex. IX, 559–562: Sed mundi rex unus ego, qui mille tryumphos | non annos vitae numero, si munera recte | computo Fortunae vel si bene clara retractem | gesta, diu vixi). Falls er nach dem Willen der Schicksalsgöttin sein Leben bei der Eroberung der Antipoden beenden müsse, nehme er dies bereitwillig in Kauf (vgl. Alex. IX, 576–577: Hiis operam dare proposui nec rennuo claram  | si Fortuna ferat vel in hiis extinguere vitam). Auch ihre fehlende Gefolgschaft könne ihn nicht aufhalten, da es ihm nie an waffenfähigen Männern fehlen werde, die ihn bei seinem Vorhaben unterstützen werden (vgl. Alex. IX, 570–571: Michi si tamen arma negatis, | non possum michi deesse). Alexander selbst spricht mit der aus seiner Sicht freilich positiv verstandenen Bemerkung, dass er verborgene Länder betreten werde, die von der Göttin Natura dem Zugriff fremder Völker entrückt sind, einen wichtigen Aspekt genau derjenigen Maßlosigkeit an, der er sich aus Sicht der göttlichen Mächte schuldig macht und weswegen er später den epischen Tod erleiden wird (vgl. Alex. IX, 573–575: ignotosque locos vulgusque igno­



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bile bellis | nobilitabo meis, et quas Natura removit | gentibus occultas calcabitis hoc duce terras). Alexanders Soldaten lassen sich durch die eindringlichen Worte ihres Anführers überzeugen und geloben ihm auch für seine weiterreichenden Pläne Gefolgschaft.

Einführung zu Buch X Zu Beginn des zehnten Buchs nimmt Walter Alexanders bereits in Buch IX angekündigte Fahrt zu den auf der unbekannten Gegenhemisphäre vermuteten Antipoden wieder auf, mit der zwei unterschiedliche Intentionen des Autors verknüpft sind (vgl. Komm. X, 1–5). Zum einen erfüllt die Hinfahrt zu den unbekannten Gestaden der Gegenfüßler den literarischen Zweck, die im Anschluss daran geschilderte Reaktion der Göttin Natura auf diese aus christlicher Sicht maßlose Grenzüberschreitung des makedonischen Königs verständlich zu machen, die infolgedessen mit ihrem Gang in die Unterwelt den Tod Alexanders in die Wege leitet (vgl. Komm. X, 6–107; zur Göttin Natura als charakteristischer Gestalt des 12. Jahrhunderts vgl. Einleitung 5). Zum anderen dient die von Walter bewusst in die Länge gezogene Rückfahrt von der gescheiterten Antipodenfahrt nach Babylon dazu, den durch die Historie vorgegebenen Ablauf der Geschichte und den Tod des epischen Helden literarisch hinauszuzögern, so dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass sich der Autor der Alexandreis nur schwer von seinem wichtigsten Protagonisten zu trennen vermag (vgl. Komm. X, 249–282). Insofern ist diese Episode bezogen auf das gesamte Epos beispielhaft in der Lage, Walters zwischen antik-paganer Bewunderung einerseits und christlicher Kritik andererseits oszillierende Haltung gegenüber dem antiken Feldherrn in ihrer ganzen Bandbreite abzubilden. Für die Darstellung der Szene über den Abstieg der von Schmerz und Verzweiflung geplagten Göttin Natura in den Tartarus und der damit einhergehenden Zuhilfenahme acherontischer Mächte verbindet Walter zwei Episoden aus der Aeneis Vergils und den Meta­ morphosen Ovids miteinander und bringt dabei über die Imitation der antiken Autoren hinaus zugleich seinen aemulativen Anspruch insbesondere gegenüber dem Dichter aus Mantua zum Ausdruck



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(vgl. Komm. X, 6–107; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6). Dabei setzt Walter kontrastierend zu seinen epischen Vorbildern in einer dreifachen Klimax den aus christlicher Perspektive altruistischen und von Erfolg gekrönten Unterweltsbesuch der mittelalterlichen Gottheit Natura in Beziehung zu den durchwegs egoistischen und nur teilweise erfolgreichen Bemühungen der antiken Göttin Juno, die Mächte der Unterwelt für die eigenen Zwecke einzuspannen. Im Unterschied zu Natura nämlich gelingt es der antiken Göttin in der Aeneis ungeachtet der Hilfe der eigens aus der Unterwelt auf die Erde gerufenen Furie Allecto am Ende nicht, ihre gegen das Fatum gerichteten egoistischen und destruktiven Pläne gegen Aeneas und die Trojaner in die Tat umzusetzen (vgl. Verg., Aen. VII, 324–326; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Anders verhält es sich mit den Metamorphosen Ovids. Dort steigt Juno im Unterschied zur Darstellung bei Vergil persönlich in die Unterwelt hinab – bezogen auf eine Göttin ein Vorgang ohne Vorbild im älteren Epos und gerade deshalb von so großer Bedeutung im Hinblick auf Walters imitative Darstellung –, um in ihrem Zorn auf Athamas und Ino die Furie Tisiphone darum zu bitten, das ihr verhasste Ehepaar in den Wahnsinn zu treiben (vgl. Ov., Met. IV, 469–478). Junos Plan ist im Unterschied zur Darstellung bei Vergil von Erfolg gekrönt – Athamas tötet in seiner Verblendung Learchos und Ino stürzt sich mit ihrem anderen Sohn Melikertes von einem hohen Felsen ins Meer –, so dass man den Eindruck gewinnen könnte, dass die Darstellung bei Ovid keinen wesentlichen Unterschied zu Walters Schilderung aufweist. Dieser Gedanke greift jedoch zu kurz. Denn im Unterschied zu Natura handelt auch bei Ovid die ebenso von Eifersucht getriebene Juno ungeachtet ihres erfolgreichen Vorgehens noch immer aus egoistischen Motiven heraus und legt Vergils Darstellung vergleichbar ein nicht minder destruktives Verhalten an den Tag. Demzufolge inszeniert Walter eine über die

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motivische Imitation gestaltete dreifache Klimax, die vom erfolglosen und destruktiven und gegen das Fatum gerichteten Handeln Junos bei Vergil über die zwar erfolgreichen, aber immer noch de­ struktiven Bemühungen Junos bei Ovid bis zur erfolgreichen und altruistischen und im Sinne des Fatums handelnden Göttin Natura bei Walter reicht. Damit begibt sich Walter auf poetologischer Ebene über die reine Imitation hinaus in aemulativer Absicht in den dichterischen Wettstreit mit den genannten antiken Autoren. Im selben Maße nämlich, wie die in den antiken Werken beschriebene Göttin Juno hinter der mittelalterlichen Göttin Natura zurückzustehen hat, haben auch die antiken Autoren hinter dem mittelalterlichen Autor der Alexandreis zurückzustehen (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Den letzten Anstoß für die literarische Absicht, die Göttin Natura in die Unterwelt hinabsteigen zu lassen, hat möglicherweise Lucan gegeben, der in einem emotionalen Ausbruch gegen Alexander im letzten Buch der Pharsalia zu der Erkenntnis gelangt, dass nur die Natur – allerdings nicht wie bei Walter im Sinne einer personifizierten Göttin – mit Alexanders physischer Vernichtung dessen unbändiges Expansionsstreben aufhalten konnte (vgl. Luc., Phars. X, 39–42). Mit einem bemerkenswerten Autorexkurs bringt Walter seine Klage über den bevorstehenden Tod seines wichtigsten Protagonisten zum Ausdruck, der aus christlicher Sicht aufgrund seiner Maßlosigkeit zwar den Tod verdient hat, aus antik-paganer Sicht seinen Heldenstatus in Walters Darstellung deshalb jedoch nicht verliert (vgl. Komm. X, 191–215). In seiner Ansprache an die aus aller Welt nach Babylon gekommenen Gesandtschaften greift Alexander in einer Art Tatenbericht mit den Tugenden der Tapferkeit, der angemessenen Gebefreudigkeit und der angemessenen Zürnkraft in auffälliger Weise noch einmal die drei wichtigsten Feldherrntugenden auf und setzt diese in Beziehung zu seinen überaus erfolgreichen und sich auf den ganzen Erdkreis erstreckenden Eroberungszügen (vgl. Komm. X, 282–329;



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zur Stellung der Ansprache Alexanders an die Gesandten innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79; zu der im vorliegenden Kommentar gegenüber der in der Forschung gängigen Praxis veränderten deutschen Übersetzung bestimmter Tugenden vgl. die Einführung zu Buch I). Nachdem Alexander das Gift getrunken hat, bricht er zusammen. Mit seinen letzten Worten teilt er zum Erstaunen seiner Gefährten mit, dass er nun lange genug auf Erden geherrscht habe und zukünftig im Olymp den Göttervater Jupiter in einem erneuten Kampf gegen die Giganten unterstützen werde (vgl. Komm. X, 378–432). Hätte man nun als Leser erwartet, dass der gefallene Held angesichts seines kurz bevorstehenden Todes eine gewisse Einsicht zeigt und in der Rückschau auf sein Leben die eigene Überheblichkeit – mithin der eigentliche Grund für dessen Tod im Epos – erkennt und zu seinen zweifellos herausragenden Taten in Beziehung setzt, so sieht man sich getäuscht. Denn auch im letzten Moment seiner irdischen Existenz ist Alexander zu dieser Selbsterkenntnis nicht in der Lage, vielmehr treibt er seine von Selbstherrlichkeit geprägte Maßlosigkeit noch einmal auf die Spitze, indem er bereits neue Pläne für die Zeit nach seinem irdischen Dasein schmiedet. In Verkennung seiner narzisstischen Persönlichkeitsdefizite handelt Alexander damit aber noch immer genau nach demselben Muster, das ihn – legt man dabei christliche Maßstäbe zugrunde – letzten Endes den Tod im Epos erleiden lässt. Insofern wirkt Walters Darstellung wie eine nachträgliche Rechtfertigung für die in der Ale­ xandreis eingeleitete Ermordung des makedonischen Königs, der auf Erden niemals in der Lage gewesen wäre, seine blinde Eroberungswut zu zügeln und an irgendeinem Punkt seiner Existenz mit dem Erreichten zufrieden zu sein. An dieser Stelle des Epos scheint auch der Autor der Alexandreis, der über weite Strecken von Buch X nichts unversucht gelassen hatte, den epischen Tod seines wichtigsten Protagonisten literarisch hin­auszuzögern, seinen Frieden mit der Situation gefunden zu haben.

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In einem letzten christlich motivierten Moralexkurs macht Walter anhand der bitteren Erkenntnis, dass dem makedonischen Eroberer, dem in seiner verachtenswerten Hybris zu Lebzeiten der ganze Erdkreis nicht ausgereicht hat, nun nach seinem Tod ein kleines, nur fünf Fuß langes Grab ausreichen muss, deutlich, dass für alle darin aufgeführten moralischen Verfehlungen beispielhaft Alexander steht, der sich ungeachtet seiner herausgehobenen weltlichen Stellung der allgegenwärtigen Fragilität der menschlichen Existenz auch nicht entziehen kann (vgl. Komm. X, 433–454; zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Die Alexandreis endet mit Walters als captatio benevolentiae zu verstehendem Bekenntnis, sich fortan von der antikisierenden Dichtung abwenden zu wollen, und der daran anschließenden Widmung an seinen Gönner Wilhelm von Blois (vgl. Komm. X, 455–460 bzw. Komm. X, 461–469).

Kommentar zu Buch X Themenübersicht (1–10) C 1 Oceanum decimus audaci classe fatigat: Mit der Wiedergabe der bereits am Ende des neunten Buchs angekündigten Seefahrt zu den Gestaden der Antipoden – im Übrigen eine vom Autor der Alexan­ dreis frei erfundene Episode – geht Walter gleich zu Beginn seiner Themenübersicht von Buch X auf Alexanders letzte und nach der Unterwerfung der Skythen und der Eroberung Indiens aus christlicher Sicht folgenschwerste Grenzüberschreitung ein, die im weiteren Verlauf der Darstellung die jenseitigen Mächte auf den Plan ruft und als ausschlaggebender Grund für die Ermordung des makedonischen Königs in Szene gesetzt wird (vgl. Komm. IX, 545–580; vgl. Komm. X, 1–5; vgl. auch Komm. X, 168–190; vgl. auch Komm. X, 249–282). C 2–3 Infernum Natura Chaos civesque Iehennae | conquestu moni­ tisque movet: Die Göttin Natura begibt sich in die Unterwelt und versetzt die dortigen Bewohner mit einem emotionalen Bericht über Alexanders hochragende Pläne in entsetzliche Aufruhr. Mit ihrem eindrucksvollen Auftritt gelingt es ihr, Leviathan davon zu überzeugen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt dringend geboten ist, bei Alexanders Ermordung Unterstützung zu leisten (vgl. Komm. X, 6–107; zur Göttin Natura als charakteristischer Gestalt des 12. Jahrhunderts vgl. Einleitung 5). C 3–6 Redit equore Magnus | occeani domito, mirandaque pectore versans | occiduum bellis proponit frangere mundum | navigiumque parat: Auch wenn es Alexander wegen eines heftigen Sturms nicht gelingt, bis zu den Gefilden der Antipoden vorzudringen, kann er

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dennoch erfolgreich den Schiffbruch vermeiden und nach Babylon zurückkehren. Dort angekommen fasst er den auch für seine eigenen Männer überraschenden Entschluss, seine Eroberungen zukünftig in westlicher Richtung fortsetzen zu wollen (vgl. Komm. X, 168–190). C 6–7 Sed territus orbis in unum | confluit et misso veneratur mu­ nere Magnum: Die Gesandtschaften der im Osten unterworfenen Völker bringen als Zeichen ihrer Ehrerbietung Geschenke zu Alexander. Doch auch die im westlichen Europa lebenden Völker, die bisher noch keine kriegerische Auseinandersetzung mit Alexander hatten, lassen es sich nicht nehmen, in vorauseilendem Gehorsam den makedonischen König mit besonderen Gaben milde zu stimmen (vgl. Komm. X, 216–248). C 8–10 Qui, licet invictus ferro, mediante veneno | vincitur, et luteo resolutus carcere tandem | liber in ethereas vanescit spiritus auras: Auf dem Höhepunkt seiner Macht findet Alexander in Babylon schließlich den Tod. Beinahe bewundernd betont Walter dabei explizit, dass sein wichtigster Protagonist nicht durch das Schwert stirbt, sondern einem Giftmord zum Opfer fällt (vgl. Komm. X, 378–432). Alexanders Aufbruch zu den Antipoden (1–5) 1–5 Sydereos fluctus et amicum navibus amnem | prebuerat Zephirus … quam procul absit | hactenus Oceani populis incognitus amnis: Bei günstigem Wind segelt Alexander mit seiner Flotte auf südlichem Kurs zu den Gestaden der jenseits des Indischen Ozeans vermuteten Antipoden, ohne zu wissen, wie weit sich die riesige Wasserfläche bis dorthin ausdehnen mag, oder ob überhaupt mit der Existenz von Gegenfüßlern zu rechnen ist. ⇔ Diese von Walter frei erfundene Episode ist auch deshalb so gut geeignet, aus christlicher Sicht Alex-



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anders maßlose Eroberungswut zum Ausdruck zu bringen, da damit zum ersten Mal innerhalb der Alexandreis Völker und Weltgegenden angesprochen werden, die im Unterschied zu den Skythen oder den Indern zuvor noch von keinem Menschen des europäischen Kulturkreises mit eigenen Augen erblickt worden waren und deren Existenz bis in die Zeit Walters hinein mehr als fraglich erscheinen musste (zu der seit der Antike vielerorts diskutierten und bis in das Entdeckungszeitalter und die dritte Reise des Amerigo Vespucci empirisch nicht zu klärenden Frage über die mögliche Existenz von Antipoden vgl. Lehmann 2016, 167–191; zu Alexanders Antipodenfahrt vgl. auch die Einführung zu Buch X; vgl. auch Einleitung 7.4). ⇔ Walter beginnt seine Darstellung in Buch X auch deshalb mit dieser Episode, um dann sogleich die Reaktion der Göttin Natura auf diese Expedition zu schildern, die sich diese letzte und hinsichtlich Alexanders maßlosen Expansionsdrangs schwerwiegendste Grenzüberschreitung nicht mehr länger bieten lassen möchte (zur Göttin Natura als charakteristischer Gestalt des 12. Jahrhunderts vgl. Einleitung 5). Das Strafgericht in der Unterwelt (6–167) Descensus Ad Inferos – Die Göttin Natura in der Unterwelt (6–107) Charakterisierung der Göttin Natura (6–30)

6–30 Interea memori recolens Natura dolore … Dixit et obscuros ape­ rit telluris hyatus | Tartareumque subit declivi tramite limen: Um in die Unterwelt aufbrechen zu können, legt Natura ihre Arbeit an der noch formlosen Urmaterie – im Griechischen als ὕλη πρώτη und im Lateinischen als materia prima bezeichnet – nieder und ist nicht mehr in der Lage, den verschiedenen Körpern die Seelen einzuhauchen. Damit wird Natura bei Walter als Göttin beschrieben, die den Schöpfungsprozess in Gang hält und sich demzufolge für die creatio

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continua verantwortlich zeigt (zur Göttin Natura als charakteristischer Gestalt des 12. Jahrhunderts vgl. Einleitung 5). ⇔ Der Grund für ihr Einschreiten wird mit der von Hybris geprägten Absicht Alexanders angegeben, seinen bewaffneten Scharen ihre geheimsten Reiche öffnen zu wollen – eine beispiellose Grenzüberschreitung, die alle bisherigen Taten des makedonischen Königs in den Schatten stellt und am Ende dessen Ermordung durch die jenseitigen Mächte hervorruft. ⇔ Kontrastierend zum hochmütigen Verhalten Alexanders gegen die ganze Natur schildert Walter die Elemente Erde, Wasser und Luft, wie sie der Göttin auf ihrem Weg zur Schwelle des Tartarus die angemessene Ehrerbietung entgegenbringen und von ihr sogar noch einmal daran erinnert werden, die ihnen gesetzten Grenzen – anders als der mit den Worten nobis commune flagellum gebrandmarkte Alexander – niemals zu überschreiten und zu verletzen (vgl. Alex. X, 28; vgl. auch Roling 2003, 183). Die Laster am Eingang zur Unterwelt (31–57)

31–57 Ante fores Herebi Stigiae sub menibus urbis | liventes habitant terrarum monstra sorores … rerum prima parens, urbis se menibus infert, | qua videt aeternis animas ardere caminis: Am Eingang zur Unterwelt positioniert Walter verschiedene personifizierte Laster, die als liventes … terrarum monstra sorores ungeachtet ihrer christlichen Prägung in ihrer Aufstellung an die klassischen monstra im Vorhof der vergilischen Unterwelt erinnern (vgl. Verg., Aen. VI, 273–281: vestibulum ante ipsum primisque in faucibus Orci | Luctus et ultrices posuere cubilia Curae, | pallentesque habitant Morbi tristisque Senectus, | et Metus et malesuada Fames ac turpis Egestas, | terribiles visu formae, Letumque Labosque; | tum consanguineus Leti Sopor et mala mentis | Gaudia, mortiferumque adverso in limine Bellum, | ferreique Eumenidum thalami et Discordia demens | vipereum cri­ nem vittis innexa cruentis). Der von Walter aufgerufene Lasterkatalog, der sowohl Bestandteile der erst später etablierten sieben Tod-



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sünden als auch weniger schlimme Sünden enthält, entspricht dabei gemäß der gängigen mittelalterlichen Praxis keinem fest umrissenen Kanon (vgl. Korte 2009, 296–297). ⇔ Ohne sie namentlich explizit zu erwähnen, nennt Walter wie bereits in der Aristoteles-Rede zu Beginn die Avaritia als Mutter aller anderen Laster – verschiedene Glossierungen bestätigen diesen Befund –, die sich in ihrer unermesslichen und unstillbaren Gier in tausend Öfen geschmolzenes Gold einverleibt (vgl. Alex. I, 111–114: Cum semel obtinuit vi­ ciorum mater in aula | pestis avaritiae, que sola incarcerat omnes | virtutum species, spreto moderamine iuris  | curritur in facinus, nec leges curia curat; vgl. auch Colker 1978, 476: INTER QUAS Hic describit Avariciam, que est tamquam mater aliorum viciorum; vgl. auch Colker 1978, 296: MATER Avaricia). Der Umstand, dass Walter die Avaritia gleich zu Beginn seines Katalogs nennt und sie als Mutter aller Laster bezeichnet, entspricht der mittelalterlichen Vorstellung von der übergeordneten Bedeutung dieser Todsünde. Die besondere Stellung der Habgier unter den Sünden hat nur wenig später Thomas v. Aquin festgehalten, indem er im Zusammenhang mit diesem Laster von der Wurzel und der allgemeinen Ursache aller Übel spricht (vgl. Th. v. Aquin, De malo, q. 13, a. 1, ad 5: Ad quin­ tum dicendum, quod avaritia pertinet ad omnia peccata non sicut genus, sed sicut radix et principium: et ideo ex hoc non potest concludi quod avaritia sit generale peccatum, sed quod sit generalis quaedam causa peccatorum). Der überaus enge Zusammenhang der Avaritia mit der von Walter im Anschluss daran beschriebenen Superbia erklärt sich aus dem übergeordneten Charakter dieser beiden Todsünden (vgl. Th. v. Aquin, De malo, ad. 1: Potest tamen dici, quod etiam cupiditas et superbia, secundum quod sunt specialia peccata, habent quidem communitatem generalem super omnia peccata se­ cundum rationem finium). ⇔ Mit der Heuchelei – der Hypocrisis – und der Schmeichelei – der Pestis adulandi – stellt Walter darüber hinaus einen Bezug zur eigenen Zeit her, indem er sich betont kritisch über den ausgesprochen großen Erfolg dieser beiden auch als

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tödliches Gift bezeichneten typisch höfischen Laster äußert, die den Mächtigen dieser Welt – der Anbiederung ihres Hofstaats allzu sehr zugeneigt – das klare Urteilsvermögen rauben (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Erster Ort der Bestrafung: Leviathan und das Fegefeuer (58–81)

58–81 Est locus extremum baratri devexus in antrum … clarior intu­ muit tantumque superbia mentem | extulit ut summum partiri vellet Olympum: Auf ihrem Weg zu Leviathan erreicht Natura einen Ort in der Unterwelt, an dem die Seelen ihrer jeweiligen Schuld entsprechend vom ewigen Feuer gequält werden. Gar nicht oder nur mäßig gepeinigt werden dabei jene Seelen, die sich auf Erden abgesehen von der unausweichlichen Ursünde Adams nichts Wesentliches haben zuschulden kommen lassen. ⇔ Damit beschreibt Walter einen Bereich innerhalb der Hölle, der eigentlich dem christlichen Fegefeuer entspricht, das die Funktion der Reinigung und Läuterung der Seelen vor ihrer Aufnahme in den Himmel besitzt. Mit dieser in der Alexandreis wiedergegebenen Fegefeuer-Konzeption, die Walter wohl aus den weithin bekannten Sentenzen des Petrus Lombardus geschöpft hat, befand er sich in theologischer Hinsicht auf der Höhe seiner Zeit (vgl. Korte 2009, 298). ⇔ An diesem Ort der Läuterung begegnet Natura dem als Leviathan bezeichneten Fürsten der Hölle. Als dieser die Göttin erblickt, verlässt er sogleich die Feuerstelle, an der er beständig die Glut anfacht und legt seine Schlangengestalt ab, um Natura nicht zu erschrecken. Leviathan erscheint nun in der ursprünglichen Gestalt, die ihm Mutter Natur gegeben hatte, bevor er wegen seines Hochmuts aus dem Himmel vertrieben worden war. ⇔ Damit bezieht sich Walter auf den im Alten Testament im Buch des Propheten Jesaja geschilderten Sturz Luzifers und dessen Vertreibung aus dem Himmel. Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet Leviathan, der im Buch Hiob explizit als König über alle Söhne des Hochmuts bezeichnet wird, mit der Ermordung Alexanders beauf-



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tragt werden soll, der seinerseits wegen eben dieser Todsünde sein Ende finden wird (vgl. Hiob 41, 25: rex super universos filios super­ biae). Offenbar war Walter der Ansicht, dass der Teufel – in diesem Kontext mit Alexander zu identifizieren – nur mit dem als Beelzebub zu verstehenden Leviathan ausgetrieben werden könne. Die Klage der Natura am ersten Ort der Bestrafung (82–107)

82–107 Quo dea conspecto … nec se desistere donec | inferni tenebris mergatur publicus hostis: Die Göttin Natura schildert dem Herrscher der Unterwelt in eindrücklichen Worten Alexanders Taten, beginnend mit der Eroberung des Perserreichs und dem Sieg über den Inderkönig Porus bis hin zu dessen Plänen, die Antipoden und die Nilquellen aufzuspüren und das nach mittelalterlicher Vorstellung im Osten Asiens liegende Paradies zu belagern. Zudem führt sie ihm vor Augen, dass auch sein Reich in der Unterwelt nicht mehr vor Alexander sicher sein werde, wenn dieser nicht umgehend aufgehalten werden könne. Nachdem Leviathan zugestimmt hat, der Göttin Natura bei Alexanders Ermordung seine Unterstützung zukommen zu lassen, verlässt sie die Unterwelt wieder (zur Göttin Natura als charakteristischer Gestalt des 12. Jahrhunderts vgl. Einleitung 5). Die Unterweltsversammlung (108–167) Zweiter Ort der Bestrafung: Leviathan und die Hölle (108–125)

108–125 Nec mora, rugitu tenebrosam concutit urbem | conciliumque vocat … umbrarumque graves iubet obmutescere planctus: Leviathan beruft auf einem uralten und als Ebene der Sünden bezeichneten Plateau eine Unterweltsversammlung ein, um sich über die von der Göttin Natura vorgebrachten Klagen mit den Fürsten der Finsternis zu beraten. ⇔ Im Unterschied zum kurz zuvor dargestellten Fege-

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feuer übernimmt der Ort der Zusammenkunft nicht mehr die Aufgabe der Läuterung der weniger sündhaften Seelen, sondern dient der Bestrafung der für alle Ewigkeit verdammten Seelen. Damit verlegt Walter den Ort dieser Versammlung in die Hölle selbst, die durch die Schilderung ihrer klimatischen Extreme vom Autor der Alexandreis als ein wahrer locus horribilis charakterisiert wird (vgl. Korte 2009, 299). Insgesamt weist die an dieser Stelle verwirklichte mythologische Szenerie – wie im letzten Abschnitt der Darstellung des Strafgerichts anhand der Rede der Furie Proditio im Einzelnen noch zu zeigen sein wird – deutlich erkennbare Parallelen zu einer Passage aus Claudians Invektive gegen Rufinus auf, in der die Furie Megaera alle furchterregenden Wesen der Unterwelt ebenso zu einer Versammlung ruft, um gegen die immer weiter um sich greifende Glückseligkeit der Völker vorzugehen (vgl. Komm. X, 143–167). Die Rede des Leviathan am zweiten Ort der Bestrafung (126–142)

126–142 Ergo ubi compressit gemitus a pectore, surgens | in medium mandata deae proponit et addit … Ne forte sit ille futurus | inferni domitor, leto precludite vitam: Leviathan fasst in einer leidenschaftlichen Rede die zuvor von der Göttin Natura genannten Eroberungen Alexanders noch einmal zusammen und wirft die Frage auf, wie lange man diesem Verbrecher in seiner Maßlosigkeit – erneut weist Walter damit auf den aus christlicher Sicht eigentlichen Grund für Alexanders Tod hin – eigentlich noch die Gelegenheit dazu geben solle, den Erdkreis nach Belieben zu zertrümmern (vgl. Alex. X, 128–129: «Nam quis erit modus, o socii, aut que meta flagelli | hu­ ius» ait). Besonders betont der Fürst der Unterwelt den bereits von Natura angedeuteten Umstand, dass Alexander in die Unterwelt eindringen und auch an diesem Ort die Herrschaft an sich reißen könnte. ⇔ Dabei identifiziert Leviathan den makedonischen Eroberer irrtümlich mit Christus, der nach einem auch dem Fürsten der Unterwelt bekannten Schicksalsspruch einst die Herrschaft des



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Teufels beenden werde (vgl. Alex. X, 134–137: Est tamen in fatis, quod abhominor, affore tempus | quo novus in terris quadam partus novitate  | nescio quis nascetur homo qui carceris huius  | ferrea sub­ versis confringet). Im Unterschied zu der am ersten Ort der Bestrafung auf das Alte Testament bezogenen Darstellung Leviathans als gefallener Engel erscheint der Teufel am zweiten Ort der Bestrafung hier als der im Neuen Testament beschriebene Feind Christi, dem der letzte Kampf des von Walter mit triumphali ligno gekennzeichneten Messias gilt und dessen Existenz auch die Grundlage für den Teufelsglauben der christlichen Kirche im Mittelalter war (vgl. Alex. X, 139; vgl. auch Streckenbach 1990, 262–263). Die Eigentümlichkeit in Walters diesbezüglicher Darstellung fasst Korte (2009) 299 wie folgt zusammen: »Walter fügt an dieser Stelle einen heilsgeschichtlichen Durchbruch ein, indem er den Abstieg Christi in die Hölle und seinen Sieg über Tod und Teufel als eine Bestimmung des fatum einfließen lässt – eine eigenwillige Verbindung christlicher und heidnisch-antiker Vorstellungen. Wie schon einmal begehrt Leviathan gegen die (göttliche) Fügung auf und übersieht in seinem Plan die Diskrepanz, die sich ergäbe, würde Natura als vicaria Dei ihn mit der Vernichtung des Menschen beauftragen, der zum Sieg über ihn vorbestimmt ist.« Die Rede der Proditio am zweiten Ort der Bestrafung (143–167)

143–167 Vix ea ructarat cum blando subdola vultu | Proditio surgens … ad Chaos eternum solitasque revertitur umbras: Die Furie Proditio erklärt sich in der Versammlung bereit, Alexanders Ermordung zu übernehmen, da sie in Besitz eines todbringenden Gifts sei, das man lediglich dem Wein untermischen und Alexander reichen müsse. Der ihr gewogene Antipater könne diese Aufgabe übernehmen, da dieser ein Meister in der Kunst der Verstellung und Heuchelei sei. ⇔ Ebenso wie Walter am Motiv des Abstiegs einer Göttin in die Unterwelt seinen aemulativen Anspruch gegenüber Vergil und Ovid zum

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Ausdruck gebracht hat, besteht auch hier die poetologische Absicht des mittelalterlichen Autors, die Darstellung der Alexandreis in aemulative Beziehung zu einem literarischen Vorbild – an dieser Stelle zu dem von ihm stark rezipierten und auch im vorliegenden Kommentar im Kontext der Unterweltsepisode bereits angesprochenen Claudian – zu setzen (vgl. Komm. X, 108–125; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Der spätantike Dichter schildert in seiner Invektive gegen Rufinus nämlich ebenso eine solche Unterweltsversammlung, in der die Furie Megaera – der Proditio in der Alexandreis vergleichbar – den Prätorianerpräfekten Flavius Rufinus als denjenigen Mann vorschlägt, der entsprechend der Darstellung des Antipater bei Walter durch seine ausgeprägte Fähigkeit zur Heuchelei und zur Verstellung der Aufgabe gewachsen sein könnte, nach dem Tod des Kaisers Theodosius den Frieden in der Welt zu stören und gegen Stilicho, seines Zeichens Vormund für den zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährigen und späteren Kaiser Honorius, zu intrigieren (vgl. Claud., In Ruf. I, 80–82: Improba mox surgit tristi de sede Megaera, | quam penes insani fre­ mitus animique profanus | error et undantes spumis furialibus irae; vgl. auch Claud., In Ruf. I, 96–100: est mihi prodigium cunctis inmanius hydris, | tigride mobilius feta, violentius Austris | acribus, Euripi fulvis incertius undis | Rufinus, quem prima meo de matre ca­ dentem | suscepi gremio; vgl. auch Christensen 1905, 89; vgl. Alex. X, 150–152: Nam meus Antipater, Macedum prefectus, ab ipsis | cu­ narum lacrimis pretendere doctus amorem | voce sed occultis odium celare medullis; vgl. auch Claud., In Ruf. I, 104–106: meque etiam tradente dolos artesque nocendi | edidicit: simulare fidem sensusque minaces | protegere et blando fraudem praetexere risu). Rufinus wird in Claudians politischer Tendenzschrift als überaus skrupelloser und charakterlich fragwürdiger Gegenspieler des von ihm gepriesenen Stilocho herausgearbeitet und erleidet nach seiner Ermordung durch oströmische Truppen zuletzt im tiefsten Winkel der Hölle ewige Strafen (vgl. Weiss/Wiener 2020, 75–78; zum produkti-



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onsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Damit ist Rufinus in seinem Bestreben, den bestehenden Frieden zu hintertreiben, letztlich gescheitert. ⇔ Im eindeutigen Gegensatz dazu ist der Giftanschlag des Antipater – nach dem Tod des makedonischen Königs einer der wichtigsten Diadochen – von Erfolg gekrönt und wird von Walter als eine von der Göttin Natura in die Wege geleitete unabwendbare Maßnahme zur Wiederherstellung und Erhaltung des Friedens inszeniert, der im Laufe der Alexandreis nach der Eroberung des Perserreichs durch Alexanders maßlosen Eroberungsdrang zunehmend gestört worden war. Mit dieser Kontrastierung begibt sich Walter auf poetologischer Ebene über die motivische Imitation hinaus in aemulativer Absicht in den dichterischen Wettstreit mit dem spätantiken Dichter Claudian. Im selben Maße nämlich, wie Megaera und Rufinus im Werk Claudians hinter Proditio und Antipater zurückzustehen haben, hat auch der spätantike Epiker hinter dem Autor der Alexandreis zurückzustehen (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Alexanders Ermordung durch Gift konnte Walter dabei wohl aus Justin gewinnen, der auch die Unmöglichkeit der Aufbewahrung des Gifts in irgendeinem anderen Behältnis als in einem Pferdehuf vorgeprägt hat (vgl. Iust., Epit. Hist. XII, 14, 7: cuius veneni tanta vis fuit, ut non aere, non ferro, non testa contineretur, nec aliter ferri nisi in ungula equi potuerit; vgl. auch Alex. X, 146–148: quod nec testa capit nec fusilis olla metalli | nec vitri species nec vas aliud nisi solum | ungula cornipedis). ⇔ Letztlich findet der Plan der Proditio in der Versammlung allgemeine Zustimmung, so dass die Furie das Gift zu Antipater bringt und danach augenblicklich wieder in das Reich der ewigen Finsternis zurückkehrt.

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KOmmentar Alexanders weitere Pläne (168–190)

168–190 Iamque reluctantem Pelleus classe minaci | fregerat Ocea­ num … miranturque novum nudata cacumina solem: Die vorliegende Passage hat innerhalb der Darstellung zwischen den Umtrieben in der Unterwelt und Alexanders letzten Lebenstagen eine gleich zweifache Funktion. Zum einen rückt sie das zu Beginn von Buch X geschilderte und durch die Unterweltsepisode unterbrochene Geschehen um Alexanders Antipodenfahrt wieder in den Mittelpunkt der Betrachtung, zum anderen bereitet sie die im Anschluss folgende christlich motivierte Autorklage über Alexanders Maßlosigkeit und den dadurch bedingten und in auffälliger Weise auch zum Leidwesen des Autors der Alexandreis nicht mehr aufzuhaltenden Tod seines wichtigsten Protagonisten vor (vgl. Komm. X, 191–215). Hatten die Verse zu Beginn von Buch X Alexanders Abfahrt zu den Antipoden schon nur oberflächlich gestreift, so bleiben auch an dieser Stelle die Hintergründe der Rückfahrt nach Babylon im Dunkeln. Einzig die Erwähnung des widerspenstigen Ozeans lässt erahnen, dass der von Walter immerhin als Sieger über die empörten Wogen gefeierte Alexander – de facto durch einen Sturm zur Umkehr gezwungen – mit seiner Expedition zu den Antipoden gescheitert sein könnte. Ohne sein eigenes Schicksal zu kennen, fasst Alexander ungeachtet seiner erzwungenen Umkehr noch auf der Rückfahrt nach Babylon den Entschluss, nach der Ordnung der Verhältnisse in Asien seine Eroberungen zukünftig nach Westen zu richten und zu diesem Zweck eine gewaltige Flotte zu bauen. Autorexkurs: Klage über Alexanders Ende (191–215) 191–215 Quo tendit tua, Magne, fames? Quis finis habendi, | queren­ di quis erit modus aut que meta laborum? … Fuit ergo dignius illum | occultum sentire nephas quam cedere ferro: Mit einem Autorexkurs



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unterbricht Walter die Darstellung über Alexanders Rückfahrt nach Babylon, um eine Retardierung der zwangsläufig zur Katastrophe führenden epischen Handlung herbeizuführen. Mit diesem literarischen Kunstgriff bringt Walter – wie im weiteren Verlauf seiner Darstellung noch deutlicher zu Tage treten wird – zum Ausdruck, dass er eigentlich davor zurückschreckt, Alexanders Ermordung wiederzugeben und sie deshalb auch möglichst lange hinauszögern möchte. ⇔ Die Autorklage über Alexanders in Kürze bevorstehenden Tod selbst enthält dabei zwei auf den ersten Bick widersprüchliche Aussagen. Zum einen konfrontiert Walter seinen wichtigsten Protagonisten mit dem christlich motivierten Vorwurf, trotz seiner maßlosen und von der Hybris befeuerten Eroberungen am Ende nichts zu erreichen und deshalb immer bedürftig zu bleiben. Dabei begründet Walter diesen mit der mittelalterlichen Vanitas-Vorstellung in Verbindung stehenden Vorwurf damit, dass der Schlüssel zur Bedürfnislosigkeit und dem damit einhergehenden Glück des Menschen in der Genügsamkeit liege und nicht in der Gier, die nicht durch den bloßen Besitz von Gütern, sondern nur durch den fortwährenden und moralisch verwerflichen Versuch, immer weitere Güter zu erwerben, befriedigt werden könne. Zum anderen protestiert Walter vor den Göttern und der Schicksalsgöttin Fortuna gegen den wenig heroischen Giftmord an Alexander, den wohl auch die Götter – so Walter mit leicht ironischem Unterton – nicht mit Waffen hätten besiegen können. ⇔ Damit bringt der Autor der Ale­ xandreis auch noch kurz vor dem epischen Tod seines Helden seine ungeachtet der gerade formulierten christlich motivierten moralischen Kritik nach wie vor vorhandene Bewunderung für die militärische Schlagkraft des makedonischen Königs und die noch immer ungebrochene Sympathie für seinen wichtigsten Protagonisten zum Ausdruck (vgl. Wiener 2001, 89; zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Ashurst (2009) 28 bringt dieses für den modernen Leser oft schwer verständliche Nebeneinander von kritischer Distanzierung einerseits und offener

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Sympathie andererseits auf die vorliegende Stelle bezogen wie folgt auf den Punkt: »Taken together the twin apostrophes form a vivid and arresting example of a split judgement on Alexander, hero and anti-hero; it is one that appears again and again in the vast bulk of medieval romance and related literature about this most fascinating and extreme of figures.« Walters Vorgehen entspricht dabei dem innerhalb der Alexandreis schon mehrfach beobachteten Versuch, nach dem heilsgeschichtlich legitimierten Perserkrieg ungeachtet der christlich motivierten Kritik an Alexanders Maßlosigkeit dennoch aus antik-paganer Sicht immer wieder auch positive moralische Bewertungen einfließen zu lassen, da es ihm nicht um eine generelle Kritik an der charakterlichen Disposition seines wichtigsten Protagonisten zu tun ist, sondern um eine abhängig vom jeweiligen Blickwinkel möglichst differenzierte Betrachtungsweise des makedonischen Königs (vgl. Komm. VIII, 49–74; vgl. auch Komm. VIII, 477–495; vgl. auch Gartner 2018, 79–80). ⇔ Mit seinen an die Schicksalsgöttin Fortuna gerichteten Worten macht Walter zudem deutlich, dass sie als integraler Bestandteil des Fatums ihren Zögling nicht mehr länger unterstützen kann, da eine Rettung Alexanders zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ihrer Aufgabe als ausführender Gewalt innerhalb des göttlichen Heilsplans entspräche (vgl. Komm. II, 186–200; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Die Versammlung der Völker in Babylon (216–325) Der Aufmarsch der Völker in Babylon (216–248) 216–248 Ut tamen ante diem extremum, quem fata parabant … credere vix posses famae premobilis auram: Walters Bedauern über den baldigen Tod seines wichtigsten Protagonisten kommt gleich zu Beginn des vorliegenden Abschnitts noch einmal zum Ausdruck,



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indem der vom ganzen Erdkreis – gemeint sind damit Vertreter der drei zum damaligen Zeitpunkt bekannten Kontinente Europa, Afrika und Asien – nach Babylon strebende Aufmarsch der Völker gleichsam als Entschädigung für Alexander in Szene gesetzt wird und dabei auch eine gewisse Genugtuung des Autors der Alexan­ dreis über diese letzte Ehrerbietung gegenüber diesem beispiellosen Feldherrn und Herrscher kaum übersehen werden kann. Der Umstand, dass die Menschen – wie von Walter an der vorliegenden Stelle geschildert – überall auf dem Erdkreis vor Alexander erzittern, ist dabei ebenso wenig wie nach seinem Sieg über die Skythen als moralische Kritik am makedonischen König zu verstehen, sondern vielmehr als Anerkennung seiner herausragenden militärischen Leistungen und des daraus resultierenden Respekts aller Völker (vgl. Komm. VIII, 496–513). Von allen drei Kontinenten strömen die Gesandtschaften in Babylon zusammen, um ihrem König entweder als Besiegte ihre Ehrerbietung zu bezeugen oder als eigentlich noch frei lebende Völker prophylaktisch den Herrscher mit Geschenken gnädig zu stimmen, da sie durch die überaus flinke Fama auch in weit entfernten Gebieten von der Unbesiegbarkeit Alexanders gehört haben. ⇔ Damit nimmt Walter nicht ohne Grund gerade am Ende der Eroberungen des makedonischen Königs Bezug auf den ersten Vers des Prooemiums der Alexandreis, wo er über die Mehrdeutigkeit des Partizips digesta bereits angezeigt hatte, dass die Taten seines wichtigsten Protagonisten sich nicht nur auf den ganzen Erdkreis erstrecken, sondern auch durch die Fama die entsprechende Verbreitung finden (vgl. Alex. I, 1: Gesta ducis Macedum totum digesta per orbem). Alexanders Rückkehr nach Babylon (249–282) 249–282 Magnus ut accepit quod confluxisset in unum | ipsius exspec­ tans adventum territus orbis … His, ut brevius loquar, orbis | addun­

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tur tocius opes: Mit einem erneuten Szenenwechsel lenkt Walter ein weiteres Mal den Blick auf Alexander, der sich noch immer auf der Rückfahrt von der gescheiterten Antipodenfahrt befindet. Da ihm zu Ohren gekommen ist, dass Gesandtschaften vom ganzen Erdkreis nach Babylon gekommen waren, um ihm zu huldigen, beschleunigt er die Fahrt durch den Einsatz der Ruderer. ⇔ Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, dass Alexander ausgerechnet mit einer seiner hervorstechendsten und bisher stets als zuverlässiger Garant für seinen Erfolg dienenden Charaktereigenschaften – seiner Schnel­ ligkeit – den eigenen Tod beschleunigt. Auf der inhaltlichen Ebene der Erzählung treibt Walter demzufolge das epische Geschehen deutlich erkennbar voran, während er mit Alexanders nicht enden wollender Seefahrt unter strukturellen Gesichtspunkten gleichzeitig eine erneute Verzögerung herbeiführt. Diese paradoxe Gegenläufigkeit von Inhalt und Struktur mündet in einem dramatisierenden Vergleich Alexanders mit einem Tiger, der sein ersehntes Ziel – eine Herde von Pferden zu töten – zwar erreicht, durch das Erreichen seines ersehnten Ziels jedoch selbst von einem gut vorbereiteten Jäger getötet wird. Damit arbeitet Walter auf ingeniöse Weise die ganze Tragik der Situation heraus und unternimmt den Versuch, den für ihn schwer erträglichen Tod seines Helden auch für den Leser emotional erfahrbar zu machen. ⇔ Nachdem Alexander in Babylon angekommen ist, betritt er die Stadt und empfängt in Anwesenheit der wichtigsten Persönlichkeiten auf einem eigens aufgestellten Thron die Krone des Herrschers über die ganze Welt. Die Gesandtschaften werden vorgelassen und überreichen ihre Geschenke. Auch in diesem Moment macht Walter mit seiner Wortwahl noch einmal deutlich, dass ihn Alexanders vom Fatum bestimmtes Ende mit großem Schmerz erfüllt (vgl. Alex. X, 260–261: Iam sibi fatales Pelleus, proch dolor, arces | agmine quadrato stipatus inibat).



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Alexanders Ansprache (282–329) 282–329: Quibus ille receptis, | «Gratia diis,» inquit «quorum mi­ chi parta favore  | regna, triumphatae quas nondum vidimus urbes … Dedit hoc ubi, solvit  | concilium, proni curru iam deside Phebi: Erfreut von der Ehrerbietung der Völker hält Alexander vor den Gesandten eine als Resümee seiner bisherigen Eroberungen zu verstehende Ansprache, in welcher er eingangs den Göttern für ihre Unterstützung bei seinen weitreichenden Eroberungen dankt. Im Anschluss daran fordert er die Gesandten der nicht im Krieg besiegten Völker auf, dem Himmel dafür zu danken, sich ohne Blutvergießen der griechischen Herrschaft unterworfen zu haben. Mit seiner damit in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückten militärischen Überlegenheit stellt Alexander gleich zu Beginn seiner Ansprache mit der Tugend der Tapferkeit die für einen Feldherrn wichtigste Tugend heraus, die nicht nur in der Schlacht selbst ihre Wirkung entfalten konnte, sondern auch einige Völker im vorauseilenden Gehorsam zur Unterwerfung gezwungen hat (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Darauf widmet sich Alexander mit Darius und Porus den beiden wichtigsten Gegnern seines gesamten Eroberungsfeldzugs. Der Perserkönig hätte sich dabei – so Alexander – nur der griechischen Herrschaft beugen müssen, um wie der Inderkönig Porus als Statthalter in einem Teil seines ursprünglichen Reichs eingesetzt zu werden. Damit führt Alexander seinen Zuhörern vor Augen, dass er den Vorgaben der Aristoteles-Rede folgend auch unter schwierigen Bedingungen jederzeit in der Lage war, abgesehen von der für die Schlacht selbst entscheidenden Tugend der Tapferkeit auch nach einer Schlacht gegenüber Besiegten die Feldherrntugenden der an­ gemessenen Gebefreudigkeit und der angemessenen Zürnkraft wirksam werden zu lassen (zur Stellung der Ansprache Alexanders an die Gesandten innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). Darauf wendet sich

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Alexander seinen Soldaten zu und lobt auch deren Durchhaltevermögen und Tapferkeit. In diesem Kontext lässt er noch einmal die drei wichtigsten Schlachten gegen die Perser und auch den Sieg über den Inderkönig Porus und weitere Erfolge Revue passieren. Mit der Begründung, dass auf dem bisher bekannten Erdkreis seines Erachtens nichts mehr zu tun bleibe, versucht er seine Soldaten davon zu überzeugen, nach der ersten gescheiterten Expedition noch einmal den Versuch zu wagen, die auf der anderen Hemisphäre vermuteten Antipoden aufzusuchen und zu erobern, um die Waffenübung nicht erlahmen zu lassen. ⇔ Mit der Formulierung vincit | cuncta labor gestaltet Walter dabei einen imitativen Kontrast zu Vergils om­ nia vincit amor aus dessen Bucolica, um in aemulativer Absicht auf den höheren Wert seiner epischen Dichtung gegenüber der Hirtendichtung seines antiken Vorbilds hinzuweisen (vgl. Verg. Buc. X, 69; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. auch Einleitung 6; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). ⇔ Zuvor jedoch möchte Alexander noch Rom vernichtend schlagen – im Widerspruch zu seiner obigen Aussage gibt es offenbar doch noch etwas auf dem bekannten Erdkreis zu tun –, das ihm ungeachtet eines bereits bestehenden Vertrags seine Gefolgschaft aufgekündigt habe. ⇔ Im Zuge der an die eigenen Soldaten gerichteten Aufforderung Alexanders, die bekannten Grenzen zu sprengen und die auf der anderen Hemisphäre vermuteten Antipoden aufzuspüren und zu erobern, verweist Walter ebenso wie bei den oben angesprochenen Feldherrntugenden auf die Aristoteles-Rede, die ihm den Rat erteilt hatte, die göttlichen Schriften zu durchforschen, in denen – wie der Leser der Alexandreis weiß – lediglich die Eroberung des Perserreichs legitimiert wird. Da Alexander jedoch in Unkenntnis seines biblischen Heilsauftrags seine Eroberungszüge nach dem Sieg über das Perserreich nicht eingestellt hatte, sondern in seiner überbordenden Maßlosigkeit immer weiter



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nach Osten vorgerückt war – die geplante Antipodenfahrt dient dabei als Kulminationspunkt seiner grenzenlosen Gier –, wird demzufolge der epische Tod des Helden eingeleitet. ⇔ Mit Alexanders Ansprache zeigt Walter überdies auf, wie sein wichtigster Protagonist moralisch zu bewerten ist. Einerseits fungiert der makedonische König bis zum Ende des Epos als leuchtendes Vorbild hinsichtlich der in der Aristoteles-Rede aufgeführten antik-paganen Tugenden, andererseits ist er wegen seiner aus christlicher Sicht verabscheuungswürdigen Maßlosigkeit nicht mehr zu retten (zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Nach seiner Ansprache entlässt Alexander am späten Abend die Gesandtschaften. Unheilvolle Vorzeichen (330–355) 330–355 Iam maris undisonis rota merserat ignea solem | fluctibus, et preceps confuderat omnia tetro | nox elementa globo … forsitan et gladium et gladio crudelius omni  | vitasset fato sibi disponente ve­ nenum: Zu Beginn des vorliegenden Abschnitts bringt Walter den nächtlichen Nebel und die starke Bewölkung, die den Blick auf die Sterne und den Mond versperren und dem Seemann die Navigation erschweren, als unheilvolle Vorzeichen mit dem bevorstehenden Todestag Alexanders in einen ursächlichen Zusammenhang. Darüber hinaus werden auch verschiedene bereits bei dessen Geburt beobachtete göttliche Zeichen bemüht, um die Besonderheit dieser historischen Situation und die weltgeschichtliche Bedeutung des makedonischen Königs zum Ausdruck zu bringen. ⇔ Zum wiederholten Mal erhebt Walter damit unter poetologischen Gesichtspunkten mit einem Helden wie Alexander den Anspruch, mit seinem Epos die antiken Vorbilder Vergil, Lucan und Claudian zu überbieten, die ausnahmslos Anführer beschreiben, die einen im Vergleich zu Alexander überschaubaren Wirkungskreis besitzen und an die Tugend-

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haftigkeit des makedonischen Königs nicht einmal im Ansatz heranreichen, um sich damit gleichzeitig als neuen Homer zu inszenieren (vgl. Komm. I, 1–5; vgl. auch Komm. I, 468–492; vgl. auch Komm. V, 491–520; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). ⇔ Insgesamt führt Walter vier göttliche Vorzeichen an, die er aus verschiedenen Quellen schöpft. Das Vorzeichen der vom Himmel gefallenen Steine stellt ein Anleihe aus den Historiarum adversum paganos libri VII des Orosius dar, der das von Walter benutzte Bild noch dahingehend erweitert hatte, dass Felsen mit Hagel gemischt die Erde getroffen haben (vgl. Oros., Pauli Orosii Hist. adv. pag. III, 7, 4: Tunc etiam nox usque ad plurimam diei partem tendi visa est et saxea de nubibus grando descendens veris terram la­ pidibus verberavit). Das Vorzeichen des sprechenden Lamms ist bereits bei Isidor erwähnt und ursprünglich auch bei Hieronymus zu finden. Der Epitome des Valerius entlehnt ist Walters Darstellung einer Schlange, die aus dem Ei einer Henne kriecht. Der antike Autor schildert die Episode der romanhaften Tradition folgend allerdings ausführlicher als Walter und gibt auch den nicht unbedeutenden Umstand wieder, dass die Schlange schon stirbt, bevor sie in ihre Behausung zurückgekehrt ist (vgl. Iul. Val. Epit. I, 11: Dum igitur Philippus in quadam regione sederet, ubi aves plurimae circumerra­ rent, intentusque agendis rebus animum occupasset, repente gallina in sinum eius supersiliens considensque enixa est ovum. Sed ovum il­ lud, sinu eius evolutum, humi concrepuit. Cuius testula dissultante visus est de ea dracunculus exisse. Isque circumcursans atque ambiens ovi testulam, dum rursus eo unde exierat intrare vellet, morte praeven­ tus est). Christensen (1905) 152–153 ist der Ansicht, dass Walter die insbesondere in den Legenden überlieferte Deutung dieses Vorzeichens für die Weltherrschaft und das frühe Ende Alexanders nicht erfasst und lediglich als einfaches Wunderzeichen bei der Geburt des Knaben verstanden habe. Dagegen spricht jedoch der einfache Sachverhalt, das Valerius im weiteren Textverlauf genau diese Deutung in der Erläuterung des Zeichendeuters Antiphon wiedergibt, die



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Walter wohl gekannt haben dürfte (vgl. Iul. Val. Epit. I, 11: At ille percunctatus respondit, filium ei nasciturum, qui omnem mundum obiret omnemque suae ditioni subiugaret; hunc quoque, antequam in patriam, de qua exierat, redeat, occasu celeri periturum). Sehr viel plausibler erscheint es, dass Walter nicht näher auf die Deutung dieses Vorzeichens eingeht, da diese dem mittelalterlichen Leser bekannt gewesen sein dürfte und keiner näheren Erklärung bedurfte. Das letzte der von Walter angeführten vier göttlichen Vorzeichen schildert zwei Adler, die während Alexanders Geburt einen ganzen Tag lang am Dachfirst des väterlichen Hauses miteinander kämpfen. An dieser Stelle dürfte die Epitome des Justin Pate gestanden haben, auch wenn die beiden Vögel beim römischen Geschichtsschreiber lediglich sitzen und nicht wie bei Walter kämpfen (vgl. Iust., Epit. Hist. XII, 16, 4: Prodigia magnitudinis eius in ipso ortu nonnulla apparuere. Nam ea die, qua natus est, duae aquilae tota die perpetes supra culmen domus patris eius sederunt, omen duplicis imperii, Eu­ ropae Asiaeque, praeferentes). Christensen (1905) 152 erklärt den Unterschied in der Darstellung sicherlich nicht zu Unrecht damit, dass Walter dieses Vorzeichen stärker mit der kriegerischen und stürmischen Natur Alexanders in Verbindung bringen wollte. ⇔ Im letzten Teil dieses Abschnitts stellt Walter den Göttern die rhetorische Frage, für welches Verbrechen Alexander eigentlich ihre Gunst in einem so kurzen Leben verwirkt habe, um sich die Frage sogleich selbst zu beantworten: Ursache für den frühen Tod Alexanders ist dessen verwerfliches Streben nach Gottgleichheit, gepaart mit der Unfähigkeit, sich in seinem maßlosen Hochmut mit irdischem Ruhm zu begnügen. Es reicht an diesem neuralgischen Punkt in Alexanders Lebens zum Leidwesen Walters nicht mehr aus, sich – wie in der Ansprache vor den Gesandtschaften geschehen – auf die Erfüllung antik-paganer Tugenden zu berufen. Es entspricht zwar sehr wohl der Intention Walters, den makedonischen König bis zum Ende auch als Idealbild antik-paganer Tugendhaftigkeit in Szene zu setzen, aber nach dem Versuch, die Gefilde der Antipoden

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zu erreichen, gewinnt die christlich motivierte Kritik am Verhalten Alexanders deutlich erkennbar die Oberhand. Somit stellt die Missachtung des biblischen Heilsauftrags in Verbindung mit dem Streben nach Gottgleichheit letzten Endes den eigentlichen Grund für den epischen Tod des makedonischen Königs in der Alexandreis dar (vgl. Gartner 2018, 70–71; vgl. auch Komm. X, 282–329; zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). Alexanders letzter Tag (356–432) Das unaufhaltsame Fatum (356–377) 356–377 Iam piger expleta flectebat nocte Bootes | emeritos currus … Sed iam magnanimi fatalis venerat hora | rectoris mersura caput, nec fata sinebant | differri scelus ulterius mundique ruinam: Auch die Morgendämmerung steht ganz im Zeichen des aufziehenden Tages, an dem Alexander den Tod finden wird. Weder senkt sich der morgendliche Tau auf die Gräser noch ist das übliche Gezwitscher der Vögel am Morgen zu hören. In Erwartung der kommenden Trauer verstummt auch die Nachtigall und der Morgenstern soll sich – so Walter weiter – dem anbrechenden Tag verweigert haben. Die Sonne wendet sich mit nur mattem Glanz bereits am Morgen dem Untergang zu, bis sie sich zwar unwillig, dann aber schließlich doch – den kosmischen Gesetzmäßigkeiten folgend – in der gewohnten Weise am Himmel erhebt. ⇔ Walter betont damit wie schon im Autorexkurs zuvor die Unabänderlichkeit des Fatums, die es auch dem Sonnengott nicht erlaubt, seinen Wagen zu wenden und mit diesem ungewöhnlichen Verhalten Alexanders Tod zu verhindern (vgl. Komm. X, 191–215). Dennoch versucht Walter mit einer an den Sonnengott gerichteten emphatischen Apostrophe ein letztes Mal, das eigentlich unaufhaltsame Schicksal aufzuhalten (vgl. Alex. X, 372–



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374: Siste gradum, venerande parens et lucis et ignis, | siste gradum. Nisi luciferum converteris orbem, | extinguet Macedum tua, Phebe, lucerna lucernam). Noch einmal bringt Walter damit ungeachtet der eigenen Inszenierung von Alexanders Tod sein großes Bedauern und sein offensichtliches Mitgefühl für den gefallenen Helden zum Ausdruck, der trotz seines aus antik-paganem Blickwinkel betrachtet zeit seines Lebens zumeist tugendhaften Verhaltens wegen seiner nach christlichen Maßstäben verwerflichen Maßlosigkeit und seines überheblichen Strebens nach Gottgleichheit den epischen Tod finden muss (vgl. Komm. X, 282–329). Am Ende muss Walter eingestehen, dass das Fatum für ein derartiges nun doch auch explizit als Verbrechen verurteilte Verhalten des makedonischen Königs und für die von diesem verschuldete Verwüstung der Welt keinen weiteren Aufschub gewähren kann. Alexanders Tod (378–432) 378–432 Eois redolens fulgebat odoribus aula | Non tantus ciet astra fragor cum quatuor axem | stelliferum quatiunt agitando tonitrua fratres: Walter wendet den Blick zurück in den Palast, wo der Tag mit Gesprächen zugebracht wird. Nachdem Alexander vom giftigen Wein getrunken hat, bricht er zum Entsetzen der Anwesenden plötzlich zusammen. ⇔ Dabei betont Walter die Ungeheuerlichkeit der Situation, indem er die große Diskrepanz zwischen dem Vater und Gebieter, der stets furchtlos gegenüber dem Feind so oft die feindlichen Linien geschlagen hatte, und dem zu Boden gesunkenen und nun im Sterben liegenden Mann kontrastierend hervorhebt (vgl. Alex. X, 383–385: Et qui securus ab hoste | in bello tociens hos­ tilia fuderat arma, | et pater et dominus cadit et perit inter amicos). ⇔ Auch wenn Alexanders Freunde entsetzt sind, hegen sie anfangs noch die Hoffnung, ihr König könnte sich wieder erholen, da sie in der Vergangenheit – man denke dabei an die Episode am Kyd-

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nus oder an den Kampf gegen die Sudraker – bereits mehrfach die Erfahrung gemacht hatten, dass die Schicksalsgöttin Fortuna ihren Günstling auch aus scheinbar aussichtslosen Situationen hatte retten können (vgl. Komm. II, 186–200; vgl. auch Komm. IX, 341–500; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Als sich jedoch die Anzeichen verdichten, dass der Tod ihres Anführers nicht mehr aufzuhalten sein würde, spricht dieser mit letzter Kraft ein letztes Mal zu seinen Männern, um ihnen in dieser schweren Stunde eine ganz eigene Bewertung für seinen Tod mit auf den Weg zu geben. Er selbst begreift diesen nicht als Niederlage oder als bedauernswertes Ereignis, sondern kann darin den richtigen Moment erkennen, nach langer Herrschaft auf Erden die irdische Existenz nun aufzugeben, endlich den engen Kerker des Körpers zu verlassen und in göttliche Sphären vorzudringen. Er meint in Zukunft mit dem vom Alter geschwächten Jupiter im Olymp zu herrschen und Mars beim Kampf gegen die von den waffenschmiedenden Zyklopen unterstützten Giganten zu Hilfe kommen zu müssen, die möglicherweise erneut den Aufstand gegen die olympischen Götter proben (vgl. Alex. X, 410–412: Rursus in ether­ eas arces superumque cohortem | forsitan Ethneos armat presumptio fratres | duraque Typhoeo laxavit membra Pelorus). ⇔ Stellt man in Rechnung, dass sich die olympischen Götter in der ursprünglichen Gigantomachie nur durch die tatkräftige Hilfe des Herkules durchsetzen konnten und Walter seinen zum damaligen Zeitpunkt noch jugendlichen Helden bereits in Buch I mit dem Alkiden in Verbindung gebracht hat, wird deutlich, dass Alexander an dieser Stelle ein weiteres und letztes Mal als zweiter Herkules inszeniert werden soll (vgl. Komm. I, 39–41; vgl. auch Zwierlein 2004, 622–623; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Auch der Umstand, dass Walter Alexanders Kampf gegen die Perser immer wieder mit dem mythischen Kampf der olympischen Götter gegen die Giganten in Verbindung gebracht hat, lässt diese Bezugnahme auf Herkules am Ende



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von Alexanders Lebens als besonders gelungen erscheinen (vgl. Komm. II, 319–371; vgl. auch Komm. II, 494–529; vgl. auch Komm. IV, 285–300; vgl. auch Komm. V, 1–6; vgl. auch Komm. V, 38–75; vgl. auch Komm. VII, 106–127). Zwierlein (2004) 623 bringt eine mögliche Abhängigkeit in Walters diesbezüglicher Darstellung von einem anonymen Makkabäer-Gedicht ins Spiel – das Gedicht selbst scheint dabei von dem pseudo-senecanischen Hercules Oetaeus beeinflusst zu sein –, das eben den von Walter verarbeiteten Gedanken entwickelt, Alexander werde zum Himmel erhoben, um die Götter vor einem neuen Ansturm der Giganten zu schützen (vgl. auch Zwierlein 1987, 193). ⇔ Nachdem Alexander seinen goldenen Ring an Perdikkas übergeben hat – die umstehenden Generäle deuten dies als Willensbekundung ihres Königs, diesem die Herrschaft zu übertragen –, stirbt der makedonische König unter lautem Wehklagen seiner Landsleute. Moralexkurs (433–454) 433–454 O felix mortale genus si semper haberet | eternum pre mente bonum finemque timeret … transtulit ad dictam de nomine principis urbem: In unmittelbarem Anschluss an Alexanders Tod hebt Walter in einem langen und letzten Moralexkurs die für die ganze Menschheit aus christlicher Sicht maßgebliche Lehre hervor, die man aus dem individuellen Beispiel Alexanders gewinnen kann. Dabei zeigt er nicht nur ganz allgemein die Folgen moralischen Fehlverhaltens für das Seelenheil der Menschen auf, sondern prangert mit seiner an Deutlichkeit kaum zu überbietenden moralischen Kritik auch noch einmal ganz konkret die gesellschaftlichen Zustände des ausgehenden 12. Jahrhunderts an (vgl. Komm. VII, 306–343; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Dabei macht Walter gleich zu Beginn deutlich, dass die Menschen ungeachtet ihrer sozialen Stellung im Leben durch ihr moralisch verwerfliches und nur auf

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die zeitlich begrenzte irdische Existenz ausgerichtetes Verhalten ihr eternum bonum – nach christlicher Vorstellung gleichbedeutend mit dem ewigen Leben und der Gottesschau – aufs Spiel setzen und dabei nicht ausreichend für ihr Seelenheil Sorge tragen. Damit richtet Walter den Blick auf die jenseitige Existenz des Menschen, die aus christlicher Sicht nicht nur eine sehr viel größere Bedeutung besitzt als das irdische Dasein, sondern auch maßgeblich von einem gottgefälligen und tugendhaften Leben im Diesseits bestimmt wird. Wie Wirtz (2018) 84–85 zeigen kann, orientiert sich Walter dabei mit dem Gedanken, dass die irdische Existenz auch gesellschaftlich hochgestellter Persönlichkeiten zeitlich begrenzt ist, nicht zuletzt an den ethischen Vorstellungen des augusteischen Dichters Horaz, der auf ganz ähnliche Weise die moralisch fragwürdigen Zustände seiner Zeit kritisiert (vgl. Hor., Epist. I, 6, 25–27: Cum bene notum | por­ ticus Agrippae, via te conspexerit Appi, | ire tamen restat Numa quo devenit et Ancus; vgl. auch Hor., Od., carm. 3, 21–24: Divesne prisco natus ab Inacho | nil interest an pauper et infima | de gente sub divo moreris, | victima nil miserantis Orci; zur Etablierung des antiken Dichters Horaz als moralische Autorität im Kontext christlicher Tugendvorstellungen in der Alexandreis vgl. Wirtz 2018, 81–99). Im Folgenden zeigt Walter die Gefahren auf, denen sich der Mensch in seiner Gier bei seinem sinnlosen Streben nach Reichtümern, trügerischem Ruhm und flüchtigen Ehrenstellen allzu risikobereit aussetzt, und durch die er letztlich sein eternum bonum aufs Spiel setzt. Damit prangert Walter nicht zum ersten Mal in der Alexandreis die unter moralischen Gesichtspunkten unhaltbaren Zustände innerhalb der römischen Kurie seiner Zeit an, die untrennbar mit dem als Simonie bezeichneten Ämterkauf – das zu honores gestellte Attribut profugos steht dabei nicht ohne Grund in erkennbarem Kontrast zum obigen eternum bonum – verbunden sind (vgl. Komm. VII, 306–343; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Auch Walters Bemerkung über den flatterhaften Charakter vergänglichen Ruhms scheint hierbei eine Anleihe aus den Werken des Horaz zu



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sein, der sich in einer seiner Satiren in Bezug auf den unausweichlichen Tod des Menschen in ganz ähnlicher Weise äußert (vgl. Alex. X, 437–438: dum fallax gloria rerum | mortales oculos vanis circum­ volat alis; vgl. auch Hor., Serm. II, 1, 57–58: seu me tranquilla senec­ tus | exspectat seu mors atris circumvolat alis; vgl. auch Wirtz 2018, 85–86). ⇔ Walters diesbezügliche Ansichten über die Bedeutungslosigkeit irdischen Ruhms – gemeint ist in diesem Zusammenhang nur die sich auf unbedeutende Güter wie Reichtum oder Ehrenstellen gründende gottlose fallax gloria – sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ruhm an sich innerhalb der Alexandreis auch aus christlicher Sicht dann als erstrebenswert gilt, wenn er einem übergeordneten bzw. höheren Ziel dient. Gerade derjenige Ruhm nämlich, der sich aufgrund eines tugendhaften Lebens unter Einhaltung der Gebote Gottes einstellt, ist – wie an zahlreichen Stellen in der Alexandreis gezeigt werden kann – durchweg positiv konnotiert (zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4; vgl. auch Gartner 2018, 71, Anm. 56). ⇔ Mit dem schon in der antiken Metaphorik häufig eingesetzten Motiv eines auf schwankenden Wogen zur See fahrenden Schiffs vergleicht Walter den Menschen, der sein Leben und seine Güter in seiner maßlosen Gier und seiner fieberhaften Rastlosigkeit den unsicheren und gefährlichen Wellen anvertraut, ohne zu gewärtigen, dass sein Verhalten von verabscheuungswürdigem Hochmut zeugt. Auch in diesem Kontext ist die Nähe zum antiken Dichter Horaz spürbar, der das nämliche Motiv in seinen Werken häufig bemüht (vgl. Hor., Epist. I, 1, 45–48: Impiger extremos curris mercator ad Indos, | per mare pauperiem fugiens, per saxa, per ignis: | Ne cures ea quae stulte miraris et optas, | discere et audire et melio­ ri credere non vis?; vgl. auch Wirtz 2018, 87). Mit der Bemerkung über eine von Räuberbanden und widrigen Wetterverhältnissen bedrohte Reise über die schneebedeckten Alpen in die mit den harschen Worten avare menia Rome gebrandmarkte Tibermetropole gibt Walter eine persönliche Erfahrung wieder, die mit seiner Reise

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nach Rom und der dort gemachten Erfahrung von Korruption innerhalb der immer wieder in der Alexandreis kritisierten römischen Kurie in Zusammenhang steht (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Dabei nutzt Walter die eigene Erfahrung einer derartigen Reise, um dem Leser mit der Möglichkeit eines plötzlich auftretenden Fiebers, das den Reisenden mitsamt seiner möglicherweise dort erworbenen Schätze innerhalb kürzester Zeit hinwegraffen kann, zu konfrontieren und ihm damit die Sinnlosigkeit äußerer Güter vor Augen zu führen. Auch mit diesem Motiv nimmt Walter Bezug auf Horaz, der in einem seiner Briefe nicht nur vom Glück eines Menschen spricht, der mit dem zufrieden ist, was er zum Leben braucht, sondern auch die Nutzlosigkeit von Gold und Silber beschreibt, die einen kranken Herrn auch nicht von Fieberschauern und Sorgen befreien können (vgl. Hor., Epist. I, 2, 46–49: Quod satis est cui contingit, nihil amplius optet. | Non domus et fundus, non aeris acervus et auri | aegroto domini deduxit corpore febris, | non ani­ mo curas; vgl. auch Wirtz 2018, 89). ⇔ Abschließend lässt es sich Walter indes nicht nehmen, noch einmal auf Alexanders besondere Rolle im Weltgeschehen hinzuweisen, indem er seinen wichtigsten Protagonisten versöhnlich noch immer und zuletzt als nobile corpus und depositum fati toto venerabile mundo bezeichnet, der auf Betreiben des Ptolemäus in die nach dem makedonischen König benannte Stadt am Nil gebracht wird (vgl. Alex. X, 450–454). Walters Abwendung von der antikisierenden Dichtung (455–460) 455–460 Sed iam precipiti mersurus lumina nocte … qui semel ex­ haustus sitis est medicina secundae: Mit dem Bild des ins Meer tauchenden Sonnenwagens beendet Walter nicht nur Alexanders letzten Lebenstag, sondern läutet damit auch kunstvoll das Ende des Epos ein. Nach dem langen, christlich geprägten Moralexkurs verabschiedet sich Walter abschließend von den antiken Musen,



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um sich nach eigener Aussage fortan der christlichen Dichtung zu widmen. Auch an dieser Stelle nimmt Walter mit den Worten Iam satis est lusum, iam ludum incidere prestat Bezug auf Horaz, der in einer seiner Episteln ankündigt, aus Altersgründen die Nichtigkeiten der leichten Dichtung verlassen zu wollen, um die Spielereien den Jungen zu überlassen und sich selbst der Philosophie zuwenden zu können (vgl. Alex. X, 457; vgl. auch Hor., Epist. II, 2, 141–144: Nimirum sapere est abiectis utile nugis | et tempestivum pueris con­ cedere ludum | ac non verba sequi fidibus modulanda Latinis, | sed verae numerosque modosque ediscere vitae; vgl. auch Wulfram 2008, 73–74, insb. Anm. 89). Ebenso wenig wie Horaz jedoch damit die leichte Dichtung als solche verurteilt, wertet auch Walter – wie auch in der am Ende der Alexandreis folgenden Widmung an seinen Gönner Wilhelm von Blois erkennbar wird – das eigene Epos über den antiken Feldherrn und König nicht ab (vgl. Hor. Epist. I, 14, 36: nec lusisse pudet, sed non incidere ludum). Vielmehr geht es ihm darum, sich nach getaner Arbeit an einem antikisierenden Epos wie der Alexandreis als christlicher Dichter zu inszenieren und mit einer Art captatio benevolentiae im christlichen Leser die Bereitschaft hervorzurufen, nicht allzu strenge christliche Maßstäbe an sein Alexander-Epos anzulegen. In diese Richtung weisen auch Walters Worte, dass es ihn nach einer anderen Quelle dürstet, die in der Lage sein soll, auch seinen zweiten Durst zu stillen (vgl. Alex. X, 459–460: Alium michi postulo fontem, | qui semel exhaustus sitis est medicina secundae). Auch hier lohnt sich ein Blick auf die oben bereits zitierte Epistel des Horaz, in welcher der augusteische Dichter an Florus gerichtet beinahe wortgleich deutlich macht, dass er einen Arzt konsultieren müsse, wenn keine noch so große Wassermenge seinen Durst zu löschen vermag (vgl. Hor. Epist. II, 2, 145–147: quocirca mecum loquor haec tacitusque recordor: | si tibi nulla sitim finiret copia lymphae, | narrares medicis). Geht es bei Horaz um den Abschied von der lyrischen Poesie – erneut bewegt sich die Wortwahl mit ludere und bibere dabei in den oben beschriebenen Wort-

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feldern –, so möchte Walter nach Abschluss seiner antikisierenden epischen Dichtung zur christlichen Dichtung zurückfinden (vgl. Hor. Epist. II, 2: lusisti satis, edisti satis atque bibisti: | tempus ab­ ire tibi est, ne potum largius aequo | rideat et pulset lasciva decentius aetas). Walters Widmung an seinen Gönner Wilhelm von Blois (461–469) 461–469 At tu, cuius opem pleno michi copia cornu | fudit … vivet cum vate superstes | gloria Guillermi nullum moritura per evum: Mit den letzten Versen der Alexandreis widmet Walter das Epos seinem Gönner Wilhelm von Blois, der als Erzbischof von Reims nicht nur über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt, um den Autor der Alexandreis in allen Lebenslagen zu unterstützen, sondern auch die unentbehrlichen Bildungsvoraussetzungen besitzt, um die Großartigkeit des Werks überhaupt erkennen zu können. Damit schlägt Walter den Bogen zum zweiten Teil des Prooemiums, in welchem er seinen Gönner bereits für dessen Bildung gepriesen, diesen um Beistand für sein Epos gebeten und ihm das Werk als Lorbeerkranz für dessen Haupt schon vorab gewidmet hat (vgl. Alex. I, 24–26: Huc ades et mecum pelago decurre patenti, | funde sacros fontes et cri­ nibus imprime laurum | ascribique tibi nostram paciare camenam; vgl. auch Zwierlein 2004, 678). ⇔ Auch die im Prolog bereits ausführlich angesprochene Thematik gehässiger Neider taucht in Walters Bitte um Beistand am Ende des Epos noch einmal auf (vgl. Alex. X, 462: ut hostiles possim contempnere linguas). ⇔ Mit der Formulierung Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum moritu­ ra per evum verbindet Walter den Ruhm seines Gönners mit seinem Werk, das – sollte diesem Erfolg beschieden sein – beiden ewigen Ruhm einbringen werde (vgl. Alex. VI, 509–510: Si quis tamen hec quoque si quis  | carmina nostra legat, numquam Patrona tacebit  | Gallica posteritas. Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum



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moritura per evum; vgl. auch Alex. VII, 344–346: Te tamen, o Dari, si que modo scribimus olim | sunt habitura fidem, Pompeio Francia iuste | laudibus equabit). ⇔ Walters Worte zeigen dabei nicht nur die Zufriedenheit oder sogar den Stolz auf sein antikisierendes Epos, sondern geben noch einmal beredtes Zeugnis über das Verständnis von wahrem Ruhm in der Alexandreis ab, der aus christlicher Sicht immer dann positiv konnotiert ist, wenn er das Ergebnis einer tugendhaften Leistung darstellt und wie die Alexandreis zugleich einem übergeordneten bzw. höheren gottgefälligen Ziel – der Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im Kampf gegen die Muslime – zu dienen imstande ist. Ablehnung findet bei Walter indes nur derjenige Ruhm, der sich lediglich auf äußere Güter und nichtige Anerkennung gründet – abwertend als fallax gloria bezeichnet – und ausschließlich um seiner selbst willen erstrebt wird sowie keinem übergeordneten bzw. höheren gottgefälligen Ziel dient (zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4; vgl. auch Gartner 2018, 71, Anm. 56).

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Index nominum Alexandreidos cum annotationibus Die Namen der Personen und Orte werden in alphabetischer Reihenfolge entsprechend der in der Alexandreis verwendeten Lesart aufgelistet. Finden im Text mehrere Lesarten Verwendung, wird durch einen Pfeil unmittelbar nach dem jeweiligen Namen auf die alternative Lesart verwiesen (Amintas → Amyntas). Neben der mittellateinischen Lesart werden in Klammern zudem die Namen ergänzt, wie sie entweder im klassischen Latein üblicherweise angegeben werden → Bachus (Bacchus) oder in der deutschen Sprache geläufig sind → Ezechias (Hiskia). Abner: Im Alten Testament Heerführer von König Saul → IV 231. Abysares: Ein indischer König (Abisares), der vor der Eroberung durch → Ale­ xan­der die Herrschaft über die unter dem Namen Abhisara bekannte Gebirgsgegend zwischen den Flüssen → Hydaspes und → Achesis (Acesines) ausgeübt hatte → IX 508. Achab: Im 9. Jh. v. Chr. König des Nordreichs Israel (Ahab) → IV 245. Achaz: Im 8. Jh. v. Chr. König des Südreichs Juda → IV 258. Acheron: Mythologischer Fluss der Unterwelt, daher als pars pro toto auch die Bezeichnung für die Unterwelt insgesamt → V 75, 254. Achesis: Ein unter dem heutigen Namen Chenab bekannter indischer Fluss (Acesines), der nicht – wie Walter fälschlicherweise annimmt – in den → Ganges fließt, sondern vom → Indus aufgenommen wird → IX 24. Acheus: Adj. zu Achei (Achaei) → achäisch (Achaeus), andere Bezeichnung für griechisch → IV 180; V 373. Achillas: Ein persischer Unterhändler → IV 72. Achilles → Eacides: Griechischer Held vor Troja, in der Erzählung der → Alexandreis neben → Hercules (Herkules) das wichtigste Vorbild → Ale­xan­ders → I 199, 221, 471, VIII 236. Achivi → Achyvi: Andere Bezeichnung für die Griechen → II 298; IV 24; V 310. Achor: Ein Tal zwischen Jericho und Ai, in welchem der Sünder Achan aus dem Stamm Juda gesteinigt wurde, da er sich des Diebstahls schuldig gemacht hatte → IV 215. Achyvi → Achivi → VII 56. Acteon: Der Jüngling Acteon (Actaeon) hatte auf der Jagd die mit ihren Nymphen in einer Quelle badende → Diana überrascht und war von der erzürnten Göttin

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in einen Hirsch verwandelt worden. Daraufhin wurde er von seinen eigenen Hunden, die ihn aufgrund der veränderten Gestalt nicht mehr erkannten, zerfleischt → III 456. Actorides: Persischer Kämpfer → III 96. Afer → Aristonides: Persischer Kämpfer → V 262, 263, 265, 266. Affrica: Der Norden Afrikas (Africa) → VII 407; X 228. Agaue: In der antiken Mythologie Tochter des Kadmus und Mutter des Pentheus, der nach dem Tod des Kadmus die Herrschaft über Theben innehatte → I 303. Agaunum: Das heutige nicht weit vom Rhoneknie entfernte St. Maurice im Kanton Wallis zwischen Genfer See und Martigny → II 318f; V 318. Agenor: Phönizischer König, Ahnherr der karthagischen Königin Dido → III 330. Agilos: Persischer Kämpfer, der in der Schlacht von → Yssos (Issus) von → Parmenio getötet wurde → III 72. Agriani: Ein wehrhaftes Bergvolk, das sowohl für den Nahkampf als auch für das Werfen von Speeren bekannt war und aufseiten von → Ale­xan­der im Perserkrieg kämpfte → IX 239. Aiax: In der antiken Mythologie einer der wichtigsten griechischen Helden im Trojanischen Krieg → VIII 230. Alcides → Alcydes: → Hercules, Sohn → Iupiters (Jupiters) und der Alkmene, griechischer Held und in Walters Epos neben → Achilles das wichtigste Vorbild → Ale­xan­ders (Herkules) → I 338. Alcydes → Alcides → I 40. Ale­xan­der → Magnus → Macedo → Peleus → Pelleus → Philippis → Philippica proles: Sohn Philipps II., makedonischer König und Hegemon des Korinthischen Bundes, Anführer der panhellenischen Streitmacht im Krieg gegen die Perser und wichtigster Protagonist der → Alexandreis → I C. 2, I 251, 266, 432, 449; II C. 2, II 19, 21, 34, 68, 83, 206, 469; III 15, 57, 173, 280, 449; IV 87, 136, 147, 554, 580; V 38, 63, 178, 188, 261, 278, 280, 425, 503; VI C. 1, VI 101, 133, 305, 440; VII 146, 154, 176, 187, 230, 265, 296, 301, 363, 424, 439, 455, 469; VIII 44, 83, 96, 341, 494; IX C. 8, IX 41, 48, 151, 196, 418, 449; X 27, 104, 149, 229, 340. Alexandreis: Der Name des von Walter verfassten Epos über → Ale­xan­der den Großen → prol. 14. Alpes: Das als Alpen bekannte Hochgebirge in Mittel- und Südeuropa, das sich in einem etwa 1200 Kilometer langen und etwa 200 Kilometer breiten Bogen von der Ligurischen Küste im Westen bis zum Pannonischen Becken im Osten erstreckt → VII 377; X 182. Alpinus: Adj. zu → Alpes → II 318a; V 313; VIII 482; IX 43; X 442. Aman: Höchster Regierungsbeamter des persischen Königs → Xerxes (Haman) → IV 271.



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Amazon → Amazones: Die Amazone → VIII C. 2. Amazones → Amazon: In der antiken Mythologie ein Volk überaus kriegerischer Frauen, die in verschiedenen Regionen am Schwarzen Meer oder auch im → Caucasus (Kaukasus) und im Norden Anatoliens gelebt haben sollen → VIII 16. Amazonius: Adj. zu → Amazon und → Amazones → VIII 9. Ambitio: Personifikation der Ruhmsucht → IV 410. Amintas → Amyntas: Ein Offizier (General der Infanterie) und Statthalter → Ale­ xan­ders → III 108; V 265. Amos: Vater des biblischen Propheten Jesaja → IV 258. Amphilocus: Persischer Kämpfer → III 60. Amphion: Sohn → Iupiters (Jupiters) und der Antiope, König von Theben und Gatte der → Niobe → I 340. Amulon: Persischer Kämpfer → V 267. Amyntas → Amintas → II 427; VIII 180. Anchira: Antike Stadt (Ancyra) im Norden von Phrygien → II 91. Andromachus: Griechischer Kämpfer → IX 121. Anglia: England → VII 413. Antheus: Einer der Giganten (Antaeus), dem die Berührung mit seiner Mutter Gaia (Erde) immer wieder neue Kräfte verlieh und von → Hercules (Herkules) im Ringkampf erst bezwungen werden konnte, als er ihn in die Höhe hob und erdrückte → III 434. Antigonus: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders und nach dessen Tod einer der Diadochen → II 432; III 55, 59; V 269. Antipater: Ein Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders und nach dessen Tod einer der Diadochen → X 150, 203. Antipodes: Mutmaßliche Bewohner auf der bis in das europäische Entdeckungszeitalter hinein noch unbekannten Gegenhemisphäre (Gegenfüßler) → IX 569; X 99, 315. Antonius: Zusammen mit Octavian und Lepidus einer der Triumvirn im 2. Triumvirat; nach seinem Sieg über die Caesarmörder in der Schlacht bei Philippi (42 v. Chr.) erhielt er die östlichen Provinzen als Herrschaftsgebiet, zu dem auch Ägypten gehörte. Dort heiratete er → Cleopatra (Kleopatra). Im Krieg mit Octavian um die Vorherrschaft im römischen Reich musste er sich in der Schlacht bei Actium im Jahre 31 v. Chr. der unter dem Oberbefehl von Agrippa stehenden Flotte Octavians geschlagen geben → V 494. Aonidae: Thebaner, die Bewohner der Stadt Theben → I 286, 320; II 455. Aonius: Adj. zu → Aonidae → I C. 4.

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Apelles: Einer der bedeutendsten Maler, Künstler und Bildhauer im antiken Griechenland → IV 179, 218; VII 384, 393, 421. Apollo → Delios → Delius → Phebus (Phoebus): Sohn → Iupiters (Jupiters) und der Latona; Bruder der → Diana; Gott des Bogenschießens, der Weissagung, der Heilkunde, der Wissenschaften und der Künste, insbesondere der Musik und der Dichtkunst, Führer der Musen → II 529. Applausus: Personifikation des schmeichlerischen Beifalls → IV 427. Aquilo → Boreas: Der Sohn des Titanen Astraeus und der Göttin Eous stellte die Personifikation des winterlichen Nordwinds dar und und wurde in der Antike zusammen mit seinen Brüdern → Eurus (Ostwind), → Nothus (Südwind) und dem Westwind → Zephirus (Zephyrus) verehrt → V 9. Arabes: Die Araber, die Bewohner Arabiens → I 415; III 72, 369; IV 571; V 166, 374, 473; VIII 59. Arabites: Wie eine Glosse im Codex Vindobonensis (13. Jh.) mit Rennon Arabites id est de Arabia existens nahelegt, bedeutet der Begriff »aus Arabien stammend« (vgl. Colker 433) → V 133. Araxes: Bedeutender Fluss in → Persis (Aras), fließt an der Stadt → Persepolis vorbei → VI 162, 194. Arbela: Assyrische Stadt, in deren unmittelbaren Nachbarschaft → Darius in der Schlacht von → Gaugamela im Perserkrieg endgültig dem makedonischen König unterlag → III 459; V C. 2, V 381, 431. Archigenus: Berühmter syrischer Arzt unter Domitian, Nerva und Trajan (Archigenes) → II 231. Arctos → Artos: Großer und Kleiner Bär am nördlichen Sternenhimmel; meton. für Norden → I 410. Arethas: Satrap von Syrien → III 12, 18. Argi: Die Argiver, andere Bezeichnung für die Griechen → I 354. Argivus: Adj. zu → Argos, griechisch → V 72, 233; IX 214. Argolici: Andere Bezeichnung für die Griechen → I 469, 494; II 188, 282, 393. Argos → Argivi: Hauptstadt der Argolis (Landschaft auf der Peloponnes) als pars pro toto auch für ganz Griechenland → I 372; III 422; VII 457. Aristander: Der angesehenste Seher → Ale­xan­ders → III 502. Aristomenes → Indus: Indischer Kämpfer → V 12, 20. Ariston: Ein Offizier (General der Kavallerie) → Ale­xan­ders → IX 208, 209. Aristonides → Afer: Persischer Kämpfer mit dem Namen → Afer, Sohn eines nicht näher bezeichneten und nicht mit dem makedonischen Reiteroffizier identischen Ariston → V 262. Aristonus: Ein Offizier und Leibwächter → Ale­xan­ders → IX 433, 439.



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Aristotiles: Griechischer Philosoph und Lehrer → Ale­xan­ders des Großen (Aristoteles) → I C 1, I 42, 223, 334; IX 5. Armenia: Hochland am Oberlauf des → Eufrates (Euphrat) und des → Tigris I 418; VII 476. Arsamides: → Ale­xan­ders wichtigster Gegner → Darius III. war der Sohn des Arsames und gehörte der persischen Achämenidendynastie an → V C. 3; VI 370, 443, 548; VII 129. Artabazus → Arthabazus: Persischer Kämpfer und guter Freund des Perserkönigs → Darius → VI 436. Arthabazus → Artabazus → VI 374. Arthofilos: Persischer Kämpfer (Ardophilus) → III 35, 45. Arthurus: König Artus, sagenhafter König der Briten → VII 412. Artos → Arctos → I 399. Asael: Heerführer des biblischen Königs David → IV 231. Asia → Asya: Der Kontinent Asien ebenso wie die Halbinsel Kleinasien → I C. 8, I 379, 398, 406, 425, 435: II 71, 76, 82, 96, 480; IV 65; VI 3, 95, 215, 348, 407; VII 26, 170, 398, 416, 532; VIII 362; IX 562; X 92, 172. Assirii: Einwohner von Assyrien (Assyrii) → I 412; VIII 490. Astrea: Jungfräuliche Göttin der Gerechtigkeit (Astraea), die im eisernen Zeitalter als letzte Gottheit die Erde verließ und als Sternbild Virgo (Jungfrau) am Himmel steht → I 177. Asya → Asia I C. 5. Athenae: Die Stadt Athen, das geistige Zentrum Griechenlands → I 284; II 456; VI 263; VII 408. Athlantiades: Hermes (Atlantiades), Enkel des → Athlas (Atlas) → V 245. Athlantis stella: Die Siebengestirn der Plejaden, die sieben an den Himmel versetzten Töchter des → Athlas (Atlas) und der Pleione (Atlantis stella) → V 376. Athlas: Sohn des Titanen Iapetus und der Klymene (Atlas), Vater der Plejaden, Träger des Himmelsgewölbes, durch das Medusenhaupt in den Berg Atlas verwandelt → I 487; IV 294. Atropos: Neben → Clotho und → Lachesis eine der drei → Parcae (Parzen). Atropos (die Unabwendbare) hatte die Aufgabe, die Lebensfäden der Menschen abzuschneiden. Gegen die Entscheidung der Parzen konnten sogar die Götter keine längere Lebenszeit für die Menschen erwirken → VII 54. Attalus: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders → IX 153, 177. Aulis: Hafenstadt in → Boetia (Böotien), Sammelpunkt der griechischen Flotte für die Überfahrt nach Kleinasien → III 424. Aurora → Eous: Göttin der Morgenröte, meton. für Morgen oder Osten → II 227; III 387, 407; VIII 2.

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Auso: Persischer Kämpfer → III 201. Auster → Nothus (Notus): Der Südwind, meton. für Süden, der neben dem Westwind → Zephirus (Zephyrus), dem Nordwind → Aquilo und dem Ostwind → Eurus einen der vier Hauptwinde darstellt → I 399; IV 321; V 235, 434; VIII 197, 484; IX 11. Automedon: Wagenlenker des → Achilles und des Patroclus im Trojanischen Krieg, meton. auch allgemein die Bezeichnung für einen besonders geschickten Wagenlenker → III 62. Avernus: Der Avernersee, ein Kratersee in Kampanien in der Nähe von Cumae (Eingang zur Unterwelt), meton. für die Unterwelt selbst → IX 291; X 120. Baal: Nach dem biblischen Bericht gerieten die Israeliten bereits auf ihrer Wüstenwanderung in Kontakt mit dem Baalskult, der in den Erzählungen zumeist als Konkurrenz zu Jahwe als dem einzigen Gott auftaucht → IV 247. Babilon → Babylon: Die am → Eufrates (Euphrat) liegende Hauptstadt des persischen Reichs → I 414; II 366, 393; III 202; V C. 10, V 423, 443; VI C. 1, VI 2, 19, 28. Babilonia → Babilon (Babylon) → V 456. Babilonius: Adj. zu → Babilon (Babylon), babylonisch, chaldäisch → IV 542; V 381. Babylon → Babilon → X 153, 170, 203, 235. Bachus → Liber: Sohn → Iupiters (Jupiters) und der Semele, Gott des Weines (Bacchus) → I 167, 439; VII 314, 411, 434. Bactra: Hauptstadt der gleichnamigen Landschaft am Oxus → IV 128, 339; VI 304, 409, 442, 501; VII 102, 206; VIII 49, 75, 360, 424, 432. Bagoas: Liebling des → Darius, Geschenk des → Narbarzanes an → Ale­xan­der, der diesen um dieser Gabe willen verschont hat → VIII 7. Balthasar: Babylonischer König (Belsazar) → II 523. Baradas: Persischer Kämpfer → V 268. Baucis: In der antiken Mythologie die Gattin des → Philemon aus → Frigia (Phrygien), die wegen ihrer Gastfreundschaft gegenüber den als normale Wanderer auftretenden Göttern → Iupiter (Jupiter) und Merkur den Wunsch erfüllt bekamen, gemeinsam zur selben Stunde sterben zu dürfen → II 63. Belides → Darius: Enkel des → Belus → V 321; VI 302, 481. Bellona: Schwester des → Mars, römische Kriegsgöttin → III 134; IV 479; V 206, 235. Belus: Mythischer Gründer von Babylon und Urahn der persischen Könige → II 326. Beniamin: In der Bibel jüngster der zwölf Söhne (Benjamin) des → Iacob (Jakob) → IV 225.



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Bennun → Josue: Josue (Josua) führte nach dem Tod des Mose die Israeliten bei der Landnahme an → IV 213. Bessas → Bessus → V 495; VII 166. Bessus → Bessas: Als Satrap der Provinz Baktrien war Bessus maßgeblich an der Verschwörung gegen → Darius beteiligt und wird in der → Alexandreis als Mörder des persischen Königs → Darius angegeben → V 302; VI 384, 422, 431, 528, 539; VII 40, 129, 131, 156, 162, 170, 207, 342, 502, 516, 520; VIII C. 6, VIII 49, 337, 341, 344, 350, 354, 355. Boetes → Bootes: Als Ochsentreiber oder Bärenhüter ein Sternbild am nördlichen Himmel beim Großen Wagen bzw. beim Großen Bären → I 11. Boetia: Böotien, Landschaft in Mittelgriechenland mit der Hauptstadt Theben (Boeotia) → I 350. Bootes → Boetes → X 356. Boreas → Aquilo → I 400, 488; V 71; VIII 485, 491; IX 493. Brennius: Anführer der Gallier, die im Jahre 387 v. Chr. Rom eingenommen haben und nur durch die heiligen Gänse der Juno daran gehindert wurden, auch das Kapitol zu erstürmen (Brennus) → I 15. Britannia maior: Damit ist das aus England, Wales und Schottland bestehende größere Britannien angesprochen, das sich damit von der südwestlich davon liegenden Britannia minor – der heutigen Bretagne – abgrenzen lässt → I 12. Britones: Die Bewohner Britanniens im Sinne der → Britannia maior → VII 412. Brocubelus: Persischer Überläufer → VII 138. Bucifal: Das berühmte Pferd → Ale­xan­ders (Bucephalus), das ihn über die gesamte Zeit des Perserkriegs begleitet hatte und erst im Kampf gegen den Inderkönig → Porus zu Tode gekommen war → IV 90, 516; IX 266. Burkardus: Graf Burkard (Burchard) war im Jahre 1127 an der Ermordung des Grafen von Flandern beteiligt und wurde mit Zustimmung des französischen Königs Ludwig VI. zur Strafe auf dem Rad zu Tode gefoltert → VIII 168. Cain: Gemäß biblischer Überlieferung der erste Sohn Adams und Evas (Kain); er erschlug in einem Streit seinen jüngeren Bruder Abel → IV 194. Calcas: Griechischer Seher (Calchas) → III 426. Campania: Kampanien, Landschaft in Mittelitalien mit der Hauptstadt Capua → VII 411. Cancer: Als viertes Zeichen des Zodiaks das Sternbild des Krebses; zur Zeit → Ale­ xan­ders erreichte die Sonne den höchsten Punkt ihrer Bahn (21. Juni) im Sternbild des Krebses (aufgrund des astronomischen Phänomens der Präzession erreicht die Sonne heutzutage ihren Höchststand an der Grenze der Sternbilder Zwillinge und Stier) → I 243.

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Candaceus: Persischer Kämpfer (Candaces) → IX 212. Capadoces: Die Bewohner von Kappadokien (Cappadoces), einer Landschaft Kleinasiens → II 92; VII 477; VIII 423. Caribdis: Ein gefährlicher Meeresstrudel (Charybdis) in der Straße von Messina, der in unmittelbarer Nähe der → Scilla (Scylla) mehrmals täglich die Flut einsaugte und wieder abgab; zumeist als alles verschlingendes Ungeheuer personifiziert → III 380; V 301. Caucasus: Hochgebirge Eurasiens zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer → I 411; VIII 11; IX 14. Caynan: Persischer Kämpfer → V 36, 37. Cebalinus: Griechischer Kämpfer, der die Verschwörung des → Phylotas (Philotas) aufgedeckt hat → VIII 83, 111,117, 219, 245, 256. Cenos: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders (Coenos) → II 428; III 55, 59; V 270. Cerealis: Adj. zu → Ceres, der Göttin des Ackerbaus, meton. für Getreide → I 436. Ceres → Cerealis → III 448. Cesar: Gaius Julius Caesar → V 493. Cesareus: Adj. zu → Cesar (Caesareus) → I 7; V 508. Chaldeus: Chaldäisch, babylonisch (Chaldaeus); die Chaldäer waren insbesondere wegen ihrer astronomischen Kenntnisse berühmt; ihr bedeutendster König war Nebukadnezar II. (605–562 v. Chr.) → I 414; II 388, 505; III 16. Chaos: Ungeordneter Zustand des Kosmos vor der Scheidung der Elemente → IV 591. Chaos: Bezeichnung für die Unterwelt → VII 295; X C. 2, X 99, 132,167. Cherippus: Ein persischer Kämpfer arabischer Herkunft → III 72. Chorintus: Bedeutende Handelsstadt am Isthmus von Korinth (Corinthus) → I 4, 203. Christianus: Adj. zu → Christus → prol. 25. Christus: Christus (der Gesalbte) → III 337; IV 266; V 516. Cicropidae: Die Einwohner von Athen (Cecropides) → I C. 3. Cignus: Fluss in Kleinasien (Cydnus), der bei → Tharsus (Tarsus) an der kilikischen Küste ins Mittelmeer mündet → II 149. Cilices: Die Einwohner von Kilikien → I 378, 447; II C. 5, II 97; IV 359, 550; VII 477. Cilicia: Kilikien, Landschaft im Süden Kleinasiens → II 141, 162; IV 346. Cinosura: Das Sternbild des Kleinen Bären (Cynosura) → X 336. Cinthia → Diana: Beiname der Mondgöttin → Diana (Cynthia), meton. auch für den Mond selbst → III 528. Cinthius: Beiname des → Apollo (Cynthius), meton. auch für die Sonne → IV 301.



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Cirus → Cyrus → II 343. Cithereius: Adj. (Cythereius) zu Citherea (Cythereia), die mit der Liebesgöttin → Venus identifiziert werden kann, die der Sage nach am Ufer der Insel Kythera aus dem Meer emporgestiegen sein soll → III 329. Claudius: Der spätantike Dichter Claudius Claudianus → V 505. Cleades: Ein Thebaner, der den makedonischen König erfolglos von der Zerstörung seiner Heimatstadt abzuhalten versuchte → I 326, 345. Clementia: Personifikation der Milde → IV 420. Cleopatra: Die letzte Königin von Ägypten konnte sie sich mit Hilfe → Cesars (Caesars), dem sie einen Sohn gebar (Caesarion), im Thronstreit gegen ihren Bruder Ptolemaios durchsetzen. Nach dem Tod des römischen Diktators heiratete sie → Antonius, der nach dem Sieg über die Caesarmörder in der Schlacht bei Philippi (42 v. Chr.) die östlichen Provinzen als sein Herrschaftsgebiet erhalten hatte. Nach dessen Niederlage gegen Octavian bei Actium (32. v. Chr.) tötete sich Cleopatra (Kleopatra) mit Schlangengift → V 495. Clotho: Neben → Atropos und → Lachesis eine der drei → Parcae (Parzen). Clo­ tho hatte die Aufgabe, die Lebensfäden zu spinnen. Gegen die Entscheidung der Parzen konnten sogar die Götter keine längere Lebenszeit für die Menschen erwirken → VII 54; V 143. Clytus: Offizier (General der Kavallerie) → Ale­xan­ders, der bei einem Gelage von seinem König erschlagen wurde (Clitus) → II 428; III 28, 35, 45; V 77, 116, 117; IX 4. Concordia: Personifikation der Eintracht → IV 425. Copia: Personifikation des Überflusses → IV 426. Craterus: Ein Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders → II 431; III 60; V 265; IX 513. Cratherus → Craterus → III 55. Cresus: Der sagenhaft reiche König (Croesus) von → Lidia (Lydien), der in der Schlacht am Halys gegen die Perser im Jahre 547 v. Chr. Leben und Reich verlor → II 344, 529; V 389. Critobolus: Griechischer Arzt → Ale­xan­ders → IX 456. Cybele: Als Fruchtbarkeitsgöttin und Große Mutter verehrte phrygische Göttin → II 317; V 34. Cyclopes: Die als Zyklopen bekannten einäugigen Riesen, die den Gott → Vulcanus auf Sizilien bei dessen Arbeit unterstützt haben → X 273. Cyrus: Begründer des persischen Reichs → II 142, 527, 535: III 80; IV 268; V 191. Dalila: Nach dem Alten Testament verriet Dalila den als unbezwingbar geltenden israelitischen Richter → Samson → IV 220. Damascenus: Adj. zu → Damascus → V 81.

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Damascus: Nachdem die bedeutende syrische Stadt unter Nebukadnezar II. (605– 562 v. Chr.) für kurze Zeit unter babylonischer Herrschaft gestanden hatte, fiel Damaskus nur wenig später an das Perserreich → II 303; III 258. Danai: Andere Bezeichnung für die Griechen → I 274, 321; II 124, 217, 396. Daniel: Der biblische Prophet des Alten Testaments, der insbesondere durch die Vision der vier Weltreiche Berühmtheit erlangt hat → IV 265; V 8; VII 421. Darius → Belides: Der persische König und wichtigste Widersacher → Ale­xan­ders → I 3, 30, 79, 352; II C. 1, C. 2, II 4, 15, 18, 20, 42, 45, 64, 98, 115, 122, 226, 270, 274, 306, 320, 414, 481, 494, 498; III C. 2, C. 7, III 10, 129, 130, 189, 198, 2325, 238, 266, 272, 345, 413, 440, 454, 459; IV C. 1, C. 2, C. 4, IV 14, 24, 56, 58, 74, 86, 91, 93, 104, 109, 143, 156, 171, 174, 177, 282, 344, 359, 374, 384, 493, 528, 534; V 124, 192, 223, 227, 244, 247, 252, 273, 281, 286, 297, 308, 327, 422; VI C. 7, C. 9, VI 70, 116, 120, 142, 146, 299, 340, 346, 355, 386, 390, 463, 470, 476, 491, 515, 531, 539; VII 12, 26, 48, 92, 97, 102, 108, 138, 182, 190, 234, 239, 248, 251, 256, 267, 276, 344, 348, 360, 516; VIII 348; X 91, 289, 309. Delios → Apollo → Delius → Phebus (Phoebus) → VII 127. Delius → Apollo → Delios → Phebus (Phoebus) → VII 136. Demetrius: Ein Offizier und Leibwächter Ale­xan­ders, Beteiligter an der Verschwörung des → Phylotas → VIII 107. Demostenes: Athenischer Staatsmann und Redner (Demosthenes) und wichtigster Vertreter einer antimakedonischen Politik in Athen (384–322 v. Chr.) → I 271, 277. Detractio: Personifikation des Gelästers → X 45. Diana → Cinthia (Cynthia) → III 519. Dimus → Dinus → Dymus: Persischer Kämpfer → VIII 87, 97, 108, 117, 129, 224, 253, 262. Dinus → Dimus → Dymus → III, 65, 70. Diomedes: Sohn des Tydeus und der Deipyle, gehörte im Trojanischen Krieg zu den wichtigsten Kämpfern auf griechischer Seite → VIII 232. Dirce: Gattin des thebanischen Königs Lykos, meton. auch für das Volk der Thebaner → I 349. Dis: Pluto, Gott der Unterwelt → V 141. Dodon: Persischer Kämpfer parthischer Herkunft → III 33. Dolus: Personifikation der Heimtücke → X 45. Doricus: Adj. für griechisch → III 237. Dorilos: Griechischer Kämpfer → III 96. Dyaspes: Persischer Kämpfer (Diaspes) → III 74. Dymus → Dimus → Dinus → VIII C. 4, VIII 227. Dyonisius: Die französische Stadt Saint Denis → V 440.



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Eacides → Achilles (Aeacides): Aeacus war in der antiken Mythologie als Sohn des Jupiter und der Aegina der Stammvater der Aeaciden → I 473. Eacides → Ale­xan­der (Aeacides) → V C. 7; IX 545. Ebactana: Hauptstadt von Medien und auch Residenz der persischen Großkönige (Ecbatana) → VI 302; VII 93, 98. Ebrietas: Personifikation der Trunkenheit → X 41. Echo: Böotische Waldnymphe, die sich unsterblich in Narziss verliebt hatte und sich nach der Zurückweisung durch den Jüngling im Tode in einen Felsen verwandelte → II 493; IV 296. Eclimus: Persischer Kämpfer → III 81. Effestio: Ein Offizier (Hauptgeneral) und guter Freund → Ale­xan­ders (Hephaestio) → II 438; V 197. Egeus: König von Athen, Vater des Theseus (Aegeus) → VI 379. Egeus: Adj. (Aegeus) zum gleichlautenden Substantiv → IX 493. Egyptius → Ein Ägypter (Aegyptius) → V 31. Egyptus: Ägypten (Aegyptus) → III 371; IV 208; VII 405; X 344, 452. Elas: Persischer Kämpfer (Hylas) → III 72. Elice: Das Sternbild des Großen Bären (Helice) → X 337. Eliphaz: Persischer Kämpfer, nach Walter der Abkömmling eines Pharaos → V 29, 30. Elis: Griechischer Kämpfer (Hilas) → III 95. Elisius: Adj. zu Elysium (Elysius): Sitz der Seligen im Totenreich → I 492; IX 147. Elycon: Gebirge in → Boetia (Böotien), bekannt als Sitz der Musen (Helicon) → I 20. Emathius: Adj. zu Emathia, bezeichnet Pharsalus als Ort der letzten Auseinandersetzung zwischen → Cesar (Caesar) und → Pompeius → V 496. Emilius: Die Person des römischen Konsuls geht auf die romanhafte Überliefe­ rungs­tradition zurück, nach der Aemilius das Bündnis der Römer mit → Ale­ xan­der aufgekündigt haben soll, obwohl er zuvor als Zeichen der Freundschaft eine goldene Krone nach → Babilon (Babylon) geschickt hatte. Der Bruch dieses Bündnisses soll die in der Sage wiedergegebene Unterwerfung Roms durch → Ale­xan­der zur Folge gehabt haben → X 323. Enacides: Hiulcon, des Enaches Sohn, ein persischer Kämpfer → IX 198. Enos: Persischer Kämpfer → V 36. Eous → Aurora: Göttin der Morgenröte, Morgen oder Osten (Eos) → II 98; V 425. Ermolaus: Königlicher Page → Alexanders, der noch vor dem Indienfeldzug hingerichtet wurde (Hermolaus) → IX 4. Esau: Sohn des Isaak und der Rebekka, Enkel Abrahams und Zwillingsbruder des → Iacob, Stammvater der Edomiter und Amalekiter → IV 205. Eschinus: Berühmter Redner in Athen (Aeschines) und in der Frage der Beziehun-

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gen zu Makedonien entschiedener Gegner des → Demostenes (Demosthenes) → I 277. Esdra: Schriftgelehrter im 5. Jh. v. Chr. (Esra), der in Jerusalem nicht nur für Recht und Ordnung in der neu formierten Jerusalemer Gemeinde gesorgt, sondern auch den dortigen Neubau des Tempels in Angriff genommen hat → IV 274. Ethiops: Ein Äthiopier (Aethiops) → III 406; V 42, 353. Ethneus: Adj. zu dem auf Sizilien liegenden Vulkan Aetna (Aetnaeus) → X 411. Euctemon: Verstümmelter griechischer Kriegsgefangener in Persepolis → VI 218, 263. Eudochius: Persischer Kämpfer → III 75. Eufrates: Der an der persischen Hauptstadt → Babilon (Babylon) vorbeifließende größte Fluss Vorderasiens (Euphrates) → I 418; II 49, 100; III 202, 436; IV 125, 163, 166. Eumenidus: Ein Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders (Eumenes) → III 73; V 270. Euphrates → Eufrates → IV 95. Europa: Der bekannte Heimatkontinent → Ale­xan­ders → I 307, 374, 401, 441; II 454, 480; VI 188, 211, 288, 501; VIII 362. Eurus → Aquilo: Der Ostwind → VIII 444, 484. Ezechias: Nachfolger seines Vaters Ahas als König von Juda (Hiskia) → IV 250. Ezechiel: Einer der großen Schriftpropheten (Hesekiel) → IV 262. Falernus: Ein Wein aus der Gegend zwischen Latium und Kampanien → X 148. Fatum: Das durch Götterspruch zum Ausdruck gebrachte Schicksal → I 6; VI 272. Faunus: Gott der Natur und des Waldes, der Beschützer von Bauern und Hirten, ihres Viehs und ihrer Äcker, dessen Hauptfest die Lupercalien waren, die am 15. Februar eines jeden Jahres stattfanden. In der griechischen Mythologie entspricht dem Faunus der Hirtengott Pan → II 63. Favor: Personifikation der launenhaften Gunst → IV 429. Fidias: Persischer Kämpfer (Phidias) → V 189, 203. Flandria: Die Grafschaft Flandern ist ein historisches Territorium auf dem Gebiet der heutigen Länder Belgien, Frankreich und den Niederlanden → VIII 168. Flora: In der römischen Mythologie die Göttin der Blüte, die gewöhnlich als eine mit Blumen geschmückte junge Frau dargestellt wurde → II 317. Fortuna: Die Schicksalsgöttin der römischen Mythologie → I 494; II 175, 187, 198, 419, 453; III 270, 528; IV 552, 553, 560; V 25, 39, 130, 255, 396; VI 142, 521; VII 192, 280; VIII 99, 453, 456; IX 272, 329, 375, 380, 561, 577; X 205, 390. Franci: Das Volk der Franken → V 512. Francia: Franzien als das Land um die Ile de France und die Champagne im Nordosten Frankreichs → VII 345, 411. Frigia: Landschaft in Kleinasien (Phrygia) → I 452.



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Frixeus: Adj. (Phrixeus) zu Phrixus, der in der griechischen Mythologie als Sohn des Königs Athamas von → Boetia (Böotien) und seiner ersten Frau Nephele aufgrund einer Intrige von Athamas’ zweiter Frau Ino beinahe als Opfergabe sein Leben verloren hätte, wenn er nicht zusammen mit seiner Schwester Helle von einem fliegenden Widder gerettet worden wäre. Nachdem seine Schwester Helle auf der Flucht abgestürzt war – daher der Name Hellespont als das Meer der Helle –, kam Phrixus nach Kolchis, wo er dem Zeus den Widder opferte und dessen Fell – das berühmte Goldene Vlies – in einem dem Kriegsgott Ares heiligen Hain aufbewahrte → IV 94. Furiae: Rachegöttinnen (Furien), die mit den Erinnyen gleichgesetzt werden können (Allecto, → Megera (Megaera) und → Thesiphone (Tisiphone) → VI 58; VII 40. Furor: Personifikation der Raserei → V 211, 212. Gades: Tyrische Kolonie im südwestlichen Spanien → V 354; VII 410. Galerus: Bezeichnet eine Fellkappe, mit der an dieser Stelle auf den Götterboten Merkur (Hermes), den Gott der Händler und Diebe, verwiesen wird → III 513. Galli: Das Volk der Gallier → X 180. Gallia: Landschaft zwischen Pyrenäen und Rhein → X 233, 267. Gallicus: Adj. zu → Gallia → III 457; VI 509; VII 376. Galterus → Guillermus: Walter von Châtillon → X 463. Ganges: Bedeutender Fluss Indiens → I 487; IX 17, 23. Gaza: Stadt in → Palestina (Palästina) → III C. 5. Genesis: Das erste Buch der Bibel → IV 181. Geon: Riesenhafter persischer Kämpfer → V 39, 72. Glaucus: Griechischer Kämpfer → IX 212. Gloria: Personifizierung des Ruhms → IV 415. Golias: Biblischer Riese, der David unterlag (Goliath) → IV 228. Gordias: Bedeutende Stadt (Gordium) in → Frigia (Phrygien) → II 70. Gorgo: Die schlangenhaarige Medusa, die mit ihrem Blick jeden in Stein verwandeln konnte. Perseus schlug ihr mit Athenes Hilfe das Haupt ab, das die Göttin in der Folge auf ihrem Schild trug → V 238. Grai: Bezeichnung für die Griechen → II 172; III 290, 320, 443, 525; IV 172, 304, 349, 538; V 22, 46; VI 72, 104, 516, 549; VII 151, 172, 217, 234; IX C. 8, IX 120, 233. Graiugena: Ein Grieche von Geburt → IV 396; IX 125. Granicus: Fluss im Norden Kleinasiens und Schauplatz der ersten großen Schlacht zwischen Griechen und Persern → II 338; IV 549. Greci: Die Griechen (Graeci) → I 299; II 272, 289, 373; III 27, 49, 466, 523; IV 121, 445; VI 490, 526; VII 153, 301, 376; IX 62, 443; X 184.

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Grecia: Griechenland (Graecia) → I 3, 502; IV 556; VII 408; IX 123. Grecus: Sg. zu → Greci (Graeci) → VII 301. Guillermus → Galterus → X 469. Gula: Personifikation der Gefräßigkeit → X 41. Gygantes: Schlangenfüßige Riesen, Söhne der Gaia (Erde), die von den Göttern unter tätiger Mithilfe des → Hercules (Herkules) besiegt wurden, als sie den Olymp stürmen wollten (Gigantes) → II 349; IV 295, 339; V 40; VII 122; X 311. Gyganteus: Adj. zu → Gygantes (Giganteus) → II 499; V 41, 59. Gygas: Sg. zu → Gygantes (Gigas) → I 197. Hamon: Ägyptischer Orakelgott, von den Griechen als Zeus Ammon und von den Römern als → Iupiter (Jupiter) Hammon verehrt (Hammon) → I 488; III C. 6, III 372, 389; VII 404. Hebrei: Das Volk der Hebräer (Hebraei) → I 551; II 506; IV 179, 209, 222, 226; VII, 425. Hector: Ältester Sohn des trojanischen Königs Priamus und dessen Frau Hekabe, wichtigster Heerführer im Trojanischen Krieg, wurde von → Achilles besiegt und um die Mauern seiner Heimatstadt geschleift (Hektor) → I 473, 480. Heli: Heli (Eli) diente als Priester der Israeliten in der Stiftshütte in Silo → IV 224. Helie: Der biblische Prophet Elija → IV 247. Hercules → Alcides → X 174. Herculeus: Adj. zu → Hercules (Herkules) → V 354; VII 410. Herebus: Gott der Finsternis (Erebus), meton. für die Unterwelt → X 31. Herinis: Allgemein für eine Rachegöttin oder Furie (Erinys) → VIII 344. Hermogenes: Griechischer Kämpfer → III 97. Hesifilus: Griechischer Kämpfer → V 37. Hesperius: Adj. zu → Hesperus → III 394; VII 1, 374. Hesperus: Der Abendstern, meton. auch für Westen → II 55; III 394, 467. Hester: Jüdische Waise mit dem hebräischen Namen Hadassa, Adoptivtochter ihres Cousins Mordechai, lebte im 5. Jh. v. Chr. in der persischen Diaspora und wurde Frau des persischen Königs → Xerxes I. (Esther) → IV 270. Hispania: Spanien → V 317; VII 410; X 231, 270. Hispanus: Adj. zu → Hispania → V 504; X 174. Holophernes: Im Alten Testament ein assyrischer Feldherr (Holofernes), der von → Iudith (Judith) getötet wurde → IV 273. Homerus → Meonius (Maeonius): Der älteste griechische Dichter (8. Jh. v. Chr.) und als Autor der Ilias und der Odyssee Vater der epischen Dichtkunst. Möglicherweise stammte Homer aus Mäonien (Lydien), was die von Walter an anderer Stelle verwendete Bezeichnung als vates Maeonius verständlich macht → I 483.



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Honorius: Flavius Honorius, zwischen 395 und 423 n. Chr. weströmischer Kaiser → V 509. Horestes: Griechischer Kämpfer (Orestes) → III 66. Hydra: Die von → Hercules (Herkules) erlegte Hydra ist ein vielköpfiges schlangenähnliches Ungeheuer aus der antiken Mythologie, dem – sollte es einen seiner Köpfe verlieren – auf der Stelle zwei neue nachwuchsen → III 435. Hyperboreus: Adj. zur Bezeichnung des Nordens → IV 452. Hyrcani: Das Volk der Hyrkaner → VIII C. 1. Hyrcania: Landschaft am Südufer des Kaspischen Meeres und Heimat der → Hyrcani (Hyrkaner) → V 167. Hyrcanus: Adj. zu → Hyrcani → I 49; III 54; V 478; VII 207; VIII 5. Hyster: Die Donau (Hister) → IV 124. Hyspania → Hispania → V 517. Hyspanus → Hispanus → V 504. Iacob: Sohn des Isaak und der Rebekka, Enkel Abrahams und Zwillingsbruder des → Esau, Stammvater der Edomiter und Amalekiter → IV 206. Ianus: Gott des Eingangs und Ausgangs, des Tages- und Jahresbeginns, zumeist mit zwei in entgegengesetzter Richtung blickenden Gesichtern dargestellt (Janus) → V 2. Iehenna: Frühjüdisch-neutestamentliche Bezeichnung für die Hölle (Gehenna) → X C. 2, X 60, 64. Ieronimus: Der von Walter im Prolog der → Alexandreis angesprochene Gelehrte und Theologe gehört in der katholischen Kirche neben Ambrosius von Mailand, Augustinus von Hippo und Gregor dem Großen zu den vier großen Kirchenvätern der Spätantike (Hieronymus) → prol. 24. Iezabel: Die aus Phönizien stammende Ehefrau von König → Achab (Ahab) von Israel (Isebel), den sie dazu brachte, sich von Jahwe abzuwenden und ihre phönizischen Götter zu verehren → IV 244. Iheremias: Einer der großen Schriftpropheten (Jeremia) → IV 259. Ihericho: Jericho liegt östlich der judäischen Wüste im Jordangraben und war die erste Stadt, die von den Israeliten nach der Überquerung des Jordans eingenommen wurde → IV 215. Iherosolima → Iherusalem: Die Stadt Jerusalem (Hierosolyma) → I 421. Iherusalem → Iherosolima (Hierosolyma) → I 541. Ihesus: Jesus von Nazareth → V 519. Iliacus: Adj. zu → Ilion, trojanisch → I 464. Ilion → Troia → Pergama: Die berühmte Stadt im Nordwesten Kleinasiens (Troja) → I 453.

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Impetus: Personifikation des Ungestüms → V 216. Inachius: Adj. zu → Inachus, griechisch → I 377. Inachus: Der erste König von → Argos und Stammvater der Könige der Argolis. Er gilt als der Namensgeber des Flusses Inachos in der Argolis. Er ist der Sohn von Okeanos und der Tethys oder Iapetos und der Okeanide Klymene → V 275. Indi: Das Volk der Inder → IV 128, 338; VII 406; VIII 424; IX C. 1, IX 30, 37, 49, 61, 109, 119, 189, 215, 225, 270, 334, 434, 440, 508. India: Gemeint ist der von → Ale­xan­der erreichte, am → Indus gelegene Teil Vorderindiens → I 336, 409; VI 409, 501; IX 2, 9, 15. Indus: Adj. zu → India, indisch (persisch) → VII 253. Indus: Der im persischen Heer kämpfende Inder Aristomenes → V 12. Indus: Ein namentlich nicht näher bezeichneter indischer Kämpfer → IX 410. Indus: Der mit fast 3200 km längste Fluss auf dem indischen Subkontinent → X 16. Ioab: Mächtiger Heerführer König Davids → IV 237. Ioachim: König von Juda; seine Herrschaft währte jedoch nur drei Monate, da er sich Nebukadnezar II. (605–562 v. Chr.) ergab, um die Zerstörung Jerusalems zu verhindern. Aufgrund der Kapitulation wurde Ioachim (Jojachin) mit der judäischen Oberschicht nach → Babilon (Babylon) verschleppt → II 520; IV 259. Iollas: Mundschenk und Page → Ale­xan­ders → III 49, 115, 116. Iordanes: Der aus der Bibel bekannte Fluss Jordan in → Palestina (Palästina) → IV 214. Ioseph: Joseph, Sohn des → Iacob (Jakob) und der Rachel → IV 206. Iosia: Bedeutender König von Juda (Josia) → IV 253. Iosue → Bennun (Josua) → IV 216. Iovis → Iupiter: Höchster römischer Gott (Jupiter); entspricht im Griechischen dem Zeus → I 455; II 75, 106, 119; III 254, 398, 404, 431; IV 393, 514; V 59; VII 122; VIII 277; IX 35; X 408, 413, 416. Ira: Personifikation des Jähzorns → V 213; X 43. Italia: Italien → X 183, 236. Iudea: Zur Zeit Jesu der südliche Teil Palästinas (Iudaea) mit der Hauptstadt → Iherusalem (Jerusalem) → I 421. Iudith: Judith rettet ihre Stadt bei einer Belagerung durch die assyrische Armee, indem sie → Holophernes (Holofernes), den Feldherrn Nebukadnezars II. (605–562 v. Chr.), tötet. In der Kunst wird Judith zumeist als junge und schöne Frau mit einem Schwert und dem blutigen Haupt des Holofernes in der Hand dargestellt. In der mittelalterlichen Typologie stellt Judith die Präfiguration Marias als Überwinderin des Bösen dar → IV 273. Iulius: Der römische Feldherr Gaius Julius → Cesar (Caesar) → V 497. Iulius: Der siebte Monat Juli → II 161. Iupiter → Iovis (Jupiter) → VIII 136, 269.



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Iusticia: Göttin der Gerechtigkeit (Iustitia), meton. auch für den Gerechtigkeitssinn eines Menschen → I 176; IV 419. Karolus: Karl der Große, König des Fränkischen Reichs (768–814 n. Chr.), an Weihnachten 800 n. Chr. vom Papst als erster westeuropäischer Herrscher seit der Antike zum Kaiser gekrönt → V 517. Kartago: Antike Seemacht im Norden Afrikas (Karthago) und bis zu den Punischen Kriegen eine ernsthafte Konkurrenz für das expandierende Römische Reich → V 516; VII 407; X 227, 268. Lachesis: Neben → Clotho und → Atropos eine der drei → Parcae (Parzen). Lachesis hatte die Aufgabe, die Lebensfäden der Menschen abzumessen. Gegen die Entscheidung der Parzen konnten sogar die Götter keine längere Lebenszeit für die Menschen erwirken → III 355; V 143. Laerciades: Odysseus als Sohn des Laërtes (Laertiades) → VIII 233. Laomedon: Offizier und Gefährte → Ale­xan­ders → V 37. Latonia: Die Göttin → Diana als Tochter der Latona → VII 4. Lecolaus: Beteiligter an der Verschwörung des → Phylotas → VIII 107. Ledei fratres: Die von Leda (Gattin des spartanischen Königs Tyndareos) stammenden Dioskuren (Laedei fratres) → V 5. Leo: Das Sternzeichen Löwe → II 160. Leonnatus: Ein Offizier und Leibwächter Ale­xan­ders → IX 433, 438. Letheus: Adj. zum Unterweltsfluss Lethe (Lethaeus) → III 356; IV 443. Leucas: Vor der griechischen Westküste im Ionischen Meer liegende Insel und Stadt → V 493. Leviathan: Synonym für den Teufel, der gegen Gott rebellierte und als gefallener Engel in die Hölle verbannt wurde → X 75. Liber → Bachus (Bacchus) I 336; VII 316. Libido: Personifikation der Wollust → X 40. Licus: Fluss in Asien (Lycus) → V 320. Lidi: Die Einwohner Lydiens (Lydi) → VIII 422. Lidia: Lydien, eine Gegend im Westen Kleinasiens an der Mittelmeerküste und der Südküste des Schwarzen Meeres → II 344, 529; VII 477. Ligures: Die Ligurer, ein Volk im westlichen Norditalien → VII 378, 413. Lisimacus: Ein Offizier und Leibwächter → Ale­xan­ders, nach dessen Tod Herrscher über Thrakien und Pontus (Lysimachus) → V 373. Livor: Personifikation des Neids → X 46. Lucanus: Epischer Dichter im 1. Jh. n. Chr., Autor der Pharsalia (Epos über den Bürgerkrieg zwischen → Pompeius und → Cesar (Caesar) → V 507.

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Lucifer: Der auch als Morgenstern bezeichnete Planet Venus → I 11, 429; IV 3, 453; X 84, 363. Ludewicus: König Ludwig VI. von Frankreich (Ludovicus) → VIII 171. Lybanus: Der für seine Zedern bekannte Libanon (Libanus), ein Gebirge im antiken Syrien → X 187. Lybia → Lybie (Libye): Libyen in Nordafrika (Libya) → VII 404; X 306. Lybicus: Adj. zu → Lybia (Libya), libysch (Libycus) → III C. 6, III 372, 431; V 263. Lybie → Lybia (Libya) → IX 11. Lycaon: Der von Iupiter (Jupiter) in einen Wolf verwandelte König von Arkadien → II 398. Lydia → Lidia → V 389. Lysias: Persischer Tetrarch → V 263, 262, 265, 266. Macedo → Ale­xan­der → Peleus → Pelleus → Magnus → Philippis → Philippica proles → I 1, 82, 195, 209, 226, 244, 273, 295, 328, 351, 378, 468, 488, 532; II C. 3, II 93, 140, 159, 163, 173, 291, 342, 365, 406, 422, 436; III C. 9, III 6, 124, 127, 161, 183, 301, 335, 344, 367, 388, 428, 474, 483, 540; IV C. 6, IV 167, 176, 290, 299, 347, 439, 487, 556; V 35, 66, 183, 185, 222, 231, 241, 351, 364, 385, 411, 432, 502, 509; VI 45, 74, 83, 98, 150, 162, 199, 357, 366, 487, 542; VII C. 8, VII 106, 120, 132, 133, 162, 169, 175, 212, 219, 245, 260, 363, 365, 432; VIII C. 3, VIII 52, 78, 126, 150, 337, 358, 369, 371, 477, 481, 501, 505; IX 1, 36, 77, 120, 159, 169, 178, 189, 220, 239, 248, 263, 317, 326, 328, 341, 346, 350, 361, 377, 382, 413, 414, 430, 485, 529; X 90, 141, 150, 181, 208, 287, 307, 349, 374. Macedones → Die Makedonen bzw. die Griechen. Magnus → Ale­xan­der → Macedo → Peleus → Pelleus → Philippis → Philippica proles → II 1, 64, 153; IV C. 2, IV 131, 275, 433, 524; V 10, 15, 47, 59, 77, 193, 280, 307, 365, 443, 496; VI 28, 135, 193, 197, 293, 387; VII C. 3, VII 265, 285, 297, 348, 366, 428, 537; VIII 127, 165, 265, 494, 508; IX C. 1, C. 5, IX 154, 161, 238, 285, 299, 361, 397, 400, 489, 519; X C. 3, C. 7, X 191, 228, 239, 249, 448. Maiestas: Personifikation der Erhabenheit → IV 416. Mantuanus: Der aus dem oberitalienischen Mantua stammende Dichter Vergil → prol. 20. Marcius: Adj. zu → Mars → IV 483; VII 220 IX 115. Mars: Der römische Kriegsgott → I C. 6, I 118, 140, 270, 283, 450, 553; II 8, 91, 205, 282, 430, 434; III 77, 153, 206, 279, 289, 320, 348, 408; IV 436, 495, 522; V 168, 193, 205, 218, 278, 366, 371, 378; VI C. 7, VI 391, 406, ; VII C. 4, VII 125, 166, 245; VIII 148, 282, 469; IX 132, 222, 302, 343, 436; X 415. Martius: Adj. zu → Mars → II 450; III 362; V 55, 375; VI 297; VIII 61. Mavortius: Adj. zu → Mars → VI 33; VIII 113; IX 200.



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Maximianus: M. Aurelius Maximianus, zusammen mit Diokletian Kaiser des Römischen Reichs → II 318b; V 314. Mazeus: Ein tapferer persischer Kämpfer (Mazaeus) → III 49, 51, 204, 440; IV 169, 174, 280; V C. 10, V 230, 442; VI 347. Mecha: Persischer Kämpfer → V 95. Medates: Persischer Präfekt im Land der → Uxii (Uxier) → VI C. 5, VI 68, 116, 119, 134, 137. Medi: Das Volk der Meder → I 412; II 35, 127; IV 477, 533, 539; V C. 5, V 7, 405, 415, 430; VI 284, 298; VII 475; VIII 176, 423, 490. Medus: Adj. zu → Medi → IV 477, 533. Medus: Ein Meder → IV 539. Megera: Eine der Furien oder Erinnyen (Megaera) → II 342. Meleager: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders → II 428; III 185; V 271. Memnon → Mennon: Sohn des Tithonus und der → Aurora, mythischer König der Äthiopier, Neffe des Priamus, von → Achilles vor Troja getötet → VIII 1. Memphis: Stadt in Mittelägypten → III 405, 523. Memphites: Aus → Memphis stammend → III 141; V 490. Menidas: Offizier (General der Kavallerie) → Ale­xan­ders → IV 278. Mennon → Memnon: Sohn des Tithonus → III 387, 406. Mennon: Griechischer Söldner in Diensten des Darius (Memnon) → II 46, 65; X 310. Mennonides: Der persische Kämpfer → Fidias (Phidias), Mennons (Memnons) Sohn, nicht verwandt mit dem griechischen Söldner Mennon (Memnon) → V 189. Meonius → Homerus: Aus Mäonien stammend (Maeonius) → I 479. Meotis: Das Asowsche Meer (Maeotis) → I 400. Mesopotamia: Mesopotamien, das fruchtbare Land zwischen den beiden Flüssen → Eufrates (Euphrat) und → Tigris → I 413. Metron: Ein griechischer Kämpfer, der dem makedonischen König die Verschwörung des → Phylotas angezeigt hat → VIII 85, 111. Mida: Persischer Kämpfer → III 59. Midas: Sagenhaft reicher König von → Frigia (Phrygien); der Sage nach soll Midas von → Bachus (Bacchus) als Dank für die Befreiung des Silen aus der Gewalt von Bauern damit belohnt worden sein, dass alles, was er in die Hände nahm, zu Gold wurde. Um seine Eselsohren zu verstecken, soll Midas die Phrygische Mütze erfunden haben, die am Ende des 18. Jh.s dann zu einem Freiheitssymbol der Französischen Revolution wurde, da diese Mütze im antiken Rom von freigelassenen Sklaven getragen worden war → II 69, 75.

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Minerva: Römische Göttin der Weisheit, der Künste und der Wissenschaften; entspricht im Griechischen der → Pallas (Athene) → VIII 230. Moabitis → Ruth: Die Moabiterin Ruth → IV 221. Musa: Kalliope (Muse der epischen Dichtkunst), eine der neun Töchter des → Iupiter (Jupiter) und der Mnemosyne → I 5. Nabatheus: Adj. zu Nabataei (Nomaden im Nordwesten Arabiens), arabisch, morgenländisch (Nabataeus) IV 455; X 368. Narbazanes: Neben → Bessus einer der Anführer der Verschwörung gegen den persischen König → Darius → V 302; VI 385, 392, 495; VII 41, 56, 207, 503; VIII 7. Natura: Eine der Naturphilosophie der Schule von Chartres entstammende mittelalterliche Gottheit → VIII 410; IX 574; X C. 2, X 6, 21, 79. Nectanabus: Ägyptischer Pharao (Nectanabis) → I 47; III 167. Negusar: Persischer Kämpfer → III 91, 117. Nemeus: Adj. zu Nemea, einem Tal südwestlich von → Corinthus (Korinth), in welchem auch die berühmten Nemeischen Spiele stattfanden (Nemaeus) → V 48. Nemphrot: Nach jüdischer Überlieferung der Gründer des assyrischen und babylonischen Reichs (Nimrod), der den Bau des Turmes von Babel angeregt haben soll und damit als Sinnbild für die Selbstüberschätzung des Menschen gegenüber Gott diente. Die Frau des Nimrod ist in der rabbinischen Tradition → Semiramis → II 499. Neoptolemus: Sohn des Achilles und der Deidameia → I 199. Neptunus: Römischer Gott der Flüsse, Quellen und Seen, durch Gleichsetzung mit dem griechischen Meeresgott Poseidon auch der römische Gott des Meeres → III 383; VI 190. Nereides: Nymphen des Meeres, Begleiterinnen des Meeresgottes Poseidon, Beschützer von Schiffbrüchigen → IV 319. Nestor: Ratgeber der Griechen vor Troja → I 221. Nicanor: Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders, einer der drei Söhne des → Parmenio → II 426; III 77, 81, 84; V 126, 132, 147, 169; VIII 175. Nicanor: Freund des → Symachus (Symmachus), nicht identisch mit → Parmenios Sohn → IX 78, 100, 112. Nichanor → Nicanor → Freund des → Symachus (Symmachus) → IX 93. Nicomachus: Griechischer Kämpfer, entscheidend bei der Aufdeckung der Verschwörung des → Phylotas → VIII 219, 220. Nicomacus → Nicomachus → VIII 112. Nilus → Nylus: Mit 6650 km der längste Fluss der Erde, mündet in Ägypten ins Mittelmeer → VII 405; IX 507.



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Ninivita: Mesopotamische Stadt am linken Ufer des → Tigris (Ninive) → III 91. Ninus: Persischer Kämpfer → III 91. Niobe: Tochter des Tantalus und Gattin des → Amphion; wegen ihrer Arroganz gegenüber Latona von → Apollo und → Diana mit dem Tod ihrer zwölf Kinder bestraft und in Stein verwandelt → I 302. Normannia: Die Normandie, eine Landschaft im Norden Frankreichs → VII 412. Nothus → Auster (Notus) → VI 381; IX 334. Numa: Der zweite römische König (Numa Pompilius), dem eine lange Friedensherrschaft und die ältesten sakralen Gesetze zugeschrieben werden → V 1. Numidia: Numidien, Landschaft westlich und südlich von → Kartago (Karthago) → X 173. Nyliacus: Adj. zu → Nylus (Niliacus) → V 487. Nylus → Nilus → X 97. Nymphae: Weibliche Naturgottheiten der Quellen, Flüsse, Wälder oder Berge → II 312; V 349. Occeanus → Oceanus → X, C. 4. Oceanus → Occeanus: Meeresgott, aber auch das alles umfassende Weltmeer → I 399; VII 416; VIII 472; IX 333, 505; X C. 1, X 5, 95, 169, 170. Ochus: Persischer Kämpfer → III 51. Oenone: Nymphe des Berges Ida, mit der Weissagung und der Heilkunst vertraut; Ehefrau des → Paris, der sie wegen Helena verlassen hat. Als Paris später von Philoktetes schwer verwundet wurde, weigerte sie sich, diesen zu heilen. Als sie ihre Entscheidung später bereut hat, beging sie Selbstmord → I 459. Olimpus → Olympus → V 351; VI 101, 368. Olympus: Berg an der makedonisch-thessalischen Grenze, in der Mythologie Sitz der Götter, meton. für Himmel → VI 58; X 81, 341, 405. Orcanides: Der persische Kämpfer Pharos, Sohn des Orchanus → V 30. Oriens: Das Morgenland, meton. auch für Osten → IV 571; VII 373; IX C. 7, IX 18, 330; X 220. Oxathreus: Persischer Kämpfer (Oxathres) → III 130. Pacificus: Beiname für König Salomo, Herrscher des vereinigten Königreichs Israel, Erbauer des ersten jüdischen Tempels in Jerusalem und der dritte König in Israel nach Saul und seinem Vater David → IV 236. Palestina: Bezogen auf die Zeit Jesu bestand Palästina (Palaestina) aus drei Gebieten. Im Norden lag Galiläa, in der Mitte Samaria und im Süden Judaea mit der Hauptstadt Jerusalem → I 420. Pallantheus: Adj. zu → Pallas (Pallanteus) → VII 409.

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Pallas: Die griechische Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes, der Kunst, des Handwerks sowie die Schutzgöttin und Namensgeberin der griechischen Stadt Athen, entspricht im Lateinischen der Minerva (Athene) → I 276; IV 70; V 237; VII 126; VIII 229. Pamfilicus: Adj. zu Pamfilia (Pamphylia), einer Landschaft im Süden Kleinasiens. Das mare Pamphylicum entspricht dem heutigen Golf von Antalya und wird im übertragenen Sinn auch für das ganze östliche Mittelmeer benutzt. Paradysus: Nach jüdischer und christlicher Vorstellung derjenige Ort, an dem die Menschen zu Anfang ihrer Existenz gelebt haben, bis sie wegen ihres Sündenfalls daraus verstoßen wurden (Paradisus). Nach mittelalterlichen Vorstellungen befand sich das Paradies auf der Erde und wurde auf mittelalterlichen Radkarten – auch Mappae Mundi genannt – im Osten der bewohnten Welt als abgegrenzter und vom Menschen zu Lebzeiten nicht erreichbarer Ort ausgewiesen → I 411. Parcae: Die drei Schicksalsgöttinnen (Parzen): → Clotho, die auf ihrem Spinnrad den Lebensfaden herstellt, → Lachesis, die den Lebensfaden zuteilt und → Atropos, die den Lebensfaden abschneidet. Gegen die Entscheidung der Parzen können sogar die Götter keine längere Lebenszeit für die Menschen erwirken → V 113; VI 429; VIII 79. Paris: Priamus’ Sohn, der seine Ehefrau → Oenone wegen Helena verlassen hat, die ihm von → Venus als Belohnung für seine Wahl der Liebesgöttin zur Schönsten versprochen worden war; im trojanischen Krieg durch einen Giftpfeil des Philoktetes getötet → I 460, 474. Parmenides: Neben → Phylotas (Philotas) und → Hector (Hektor) einer der Söhne des → Parmenio → V 163; VIII 120, 309. Parmenio → Parmenius: Wichtigster Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders, der schon unter dessen Vater → Philipp eine Führungsposition innerhalb der makedonischen Führungselite innehatte → II 143, 260, 268, 427, 431; III 56, 64 258; IV 113, 331, 350, 376, 469; V 131, 206, 234, 358; VI 145; VIII 82, 104, 173, 328. Parmenius → Parmenio → IV 132. Parthi: Die Parther waren eine Völkerschaft in Vorder- und Zentralasien, die wegen ihrer berittenen Bogenschützen berühmt waren → V 76, 164; VII 477. Parthia → Partia, antike Landschaft im Norden des heutigen Iran und im Süden des heutigen Turkmenistan → V 514. Parthus: Sg. zu Parthi → III 33. Partia → Parthia → I 413. Patron: Anführer eines griechischen Kontingents im persischen Heer → VI C. 11, VI 490, 506, 508, 510, 525. Paulus: Der Apostel Paulus → I 208.



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Pausanias: Mörder → Philipps II. von Makedonien (336 v. Chr.) → I 503. Pax: Personifikation des Friedens → IV 426. Pecunia: Personifikation des Geldes und des Reichtums → IV 423; VII 33, 319; VIII 73. Pelasgi: Andere Bezeichnung für die Griechen → I 30; II 476; III 98, 215; IV 6, 456, 498; V 229; VI 528. Peleus → Pelleus → Macedo → Ale­xan­der → Magnus → Philippis → Philippica proles → I 388. Pelleus → Peleus → Macedo → Ale­xan­der → Magnus → Philippis → Philippica proles → I 324; III 18, 344; IV 285; V 323; VI 155, 487, 532; VII 169; IX 35, 268, 454, 501; X 168, 260. Pelorus: Einer der → Gygantes (Giganten) → X 412. Peni: Das Volk der Punier bzw. Karthager (Poeni) → X 173. Perdicas: Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders und nach dessen Tod einer der Diadochen (Perdiccas) → II 428; III 196; V 272; X 422, 424. Pergama → Troia (Troja) → Ilion → Pergama → I C. 10, I 464. Persae: Das Volk der Perser → I 4, 35, 200, 368; II C. 1, C. 7, II 2, 40, 104, 131, 144, 217, 287, 325, 363, 397, 425, 476, 487, 522; III C. 2, III 4, 63, 73, 133, 245, 265, 524, 525; IV 173, 279, 286, 291, 292, 374; V C. 2, V 7, 22, 35, 148, 180, 232, 246, 294, 325, 330, 361, 369, 377, 454; VI 192, 202, 284, 322, 326, 401, 455; VII 67, 70, 235, 474, 498, 501, 532. Persepolis: Die Hauptstadt von → Persis, Sommerresidenz der Perserkönige, von → Ale­xan­der in Brand gesteckt → VI C. 6, VI 163. Persicus: Adj. zu → Persae → IV 61. Persis: Landschaft am Persischen Golf um Persepolis, Kernland des Perserreichs → I 412; III 527; VI 149, 167, 326; VII 99, 360, 440, 475; VIII 423, 490. Pestis adulandi: Personifikation der Schmeichelei → X 51. Peucestes: Ein Offizier und Leibwächter → Ale­xan­ders → IX 427, 437. Pharao → Eliphaz → V 29. Pharos → Orcanides → V 30. Phasis: Fluss in Kolchis (der heutige Rioni in Georgien) → VIII 12. Phebe → Diana (Phoebe) → II 55; III 470. Phebeus: Adj. zu Phebus (Phoebus) → III 274, 403; V 352. Phebus (Phoebus) → Apollo → Delios → Delius → I 243; III 398, 400, 470; IV 384; V 4, 376; VII 1, 133; VIII 384, 400, 499; IX 9, 180, 506; X 329, 374, 456. Phenice: Phönizien (Phoenice) → VII 475. Phenices: Die Einwohner von Phönizien (Phoenices) → III 277. Philippica proles → Ale­xan­der → Magnus → Peleus → Pelleus → Macedo → Philippis → V 10.

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Philippis → Ale­xan­der → Philippica proles → Magnus → Peleus → Pelleus → Macedo → I 72. Philippus: Ale­xan­ders Arzt → II C. 4, II 220, 250. Philippus: Ale­xan­ders Vater Philipp II. von Makedonien → VI 45; X 242. Phylax: Persischer Kämpfer → III 59. Phylosophia: Die Philosophie (philosophia) → I 20. Phylotas: Offizier (General der Kavallerie), neben → Nicanor und → Hector (Hektor) einer der Söhne des → Parmenio (Philotas) → II 432; III 50, 53, 99, 107; V 35; VIII C. 5, VIII 81, 87, 105, 123, 125, 134, 159, 182, 185, 228, 264, 275, 312, 326, 335. Plaustrum: Das Sternbild des Großen Wagens → I 11; IV 452; X 337. Polidamas: Ein Offizier und Gefährte → Ale­xan­ders (Polydamas) → IX 209, 211. Polipercon: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders (Polypercon) → IV 348; V 273. Polistratus: Griechischer Kämpfer, der zufällig auf den sterbenden persischen König Darius traf und von diesem eine letzte Botschaft an → Ale­xan­der erhielt (Polystratus) → VII C. 6, VII 246. Pompeius: Römischer Feldherr und unterlegener Gegner im Bürgerkrieg gegen → Cesar (Caesar) → VII 345. Porus: Der mächtigste König Indiens und einer der gefährlichsten Gegner → Ale­ xan­ders → I 2; IX C. 3, C. 6, IX 41, 48, 51, 55, 148, 152, 157, 177, 182, 200, 207, 216, 226, 230, 255, 269, 273, 275, 291, 294, 298, 327, 508; X 92, 292, 310. Prodicio → Proditio: Eine Furie der Unterwelt (Proditio) → X 163. Proditio → Prodicio → X 144. Pyerides: Die Musen (Pierides) → X 458. Pyreneus: Das zwischen Spanien und Frankreich liegende Gebirge der Pyrenäen (Pyrenaeus) → X 179. Quies: Personifikation der Ruhe → Remensis: Adj. zu der in der Champagne im Nordosten Frankreichs, etwa 130 Kilometer von Paris entfernt liegenden Stadt Reims → I 17. Remi: Die Einwohner der Stadt Reims → V 520. Remnon: Ein persischer Kämpfer arabischer Herkunft (Rhemnon) → V 133, 148, 163. Renus: Der Rhein (Rhenus) → X 180, 234. Reverentia: Personifikation der Ehrfurcht → IV 417. Risus: Personifikation des höhnischen Gelächters → IV 430. Rodanus: Die Rhone (Rhodanus) → II 318b; V 314.



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Roma: Die Hauptstadt Italiens und Sitz des Papstes → I 14; V 491, 508; VII 409; X 183, 323, 327, 443. Romani: Die Römer → VII 378. Romuleus: Adj. zu Romulus, dem mythischen Gründer und ersten Königs von Rom → I 8; V 181; VI 56; X 443. Rubricus: Persischer Kämpfer → IX 210. Rubrum mare: Das Rote Meer → V 39; IX 19, 32–33. Ruth → Moabitis: Die Urgroßmutter König Davids → IV 221. Sabeus: Adj. zu Saba, einer Gegend der Arabia felix (Südarabien), arabisch → I 115, VII 410. Samaria: Antike Hauptstadt des Königreichs Israel → IV 243. Samson: Eine Gestalt aus dem Alten Testament und Held des israelitischen Stammes Dan im Kampf gegen die Philister. Samson war so lange unbesiegbar, wie sein Haupthaar ungeschoren blieb. Nachdem er jedoch das Geheimnis seiner Stärke seiner Frau Delila anvertraut hatte, wurde er durch ihren Verrat gefangen genommen, geblendet und geschoren → IV 219. Samuel: Biblischer Prophet → IV 224. Sanga: Persischer Kämpfer → V 81, 90. Sangarius: Fluss in Kleinasien (Sagaris) → II 73. Sardis: Hauptstadt von Lydien → II 70. Sarmacia: Gebiet zwischen der Ostsee und dem Schwarzem Meer und von der Wolga bis zum Kaspischen Meer (Sarmatia) → VIII 363. Satrapenus: Adj. zu Satrapes, persischer Statthalter, Satrap → VI 34. Saturnius → Iupiter (Jupiter) als Sohn des Saturn → V 61. Satyri: Satyrn sind mythologische Mischwesen im Gefolge des Bachus (Bacchus) → II 312. Scilla: Felsen in der sizilianischen Meerenge (Scylla) gegenüber dem Meeresstrudel → Caribdis (Charybdis); Schrecken der vorbeifahrenden Seefahrer → III 380; V 301. Scitae: Das Reitervolk der Skythen (Scythae) → IV 337; VIII C. 8, VIII 50, 407, 416, 417, 441, 445, 478, 495, 500, 504. Scitia: Das Land der Skythen (Scythia) → VIII 359, 361, 409, 436, 481. Sciticus: Adj. zu Scitae (Scythae), skythisch → V 264; VIII 370. Secanius: Adj. zu Secana (Sequana): Die durch Frankreich fließende Seine → V 440. Semei: Ein Benjaminiter aus dem Hause Sauls, der David verflucht hatte und von Salomo hingerichtet wurde, da er sich nicht an die Abmachung gehalten hatte, Jerusalem nicht zu verlassen → IV 237.

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Semele: In der Mythologie die Tochter der Göttin der Eintracht und des Königs Kadmus, des Gründers von Theben, Mutter des Weingottes → Bachus (Bacchus) → I 304. Semiramis: Sagenhafte assyrische Königin, Gründerin von → Babilon (Babylon), deren hängende Gärten als antikes Weltwunder galten → X 244. Semiramius: Adj. zu → Semiramis → V 439; VI 33; X 252. Sennachar: Beiname des → Nemphrot (Nimrod) → II 500. Senonensis: Adj. zu → Senones → I 14. Senones: Völkerschaft an der oberen Seine um die Stadt Sens herum → I 13. Septem Triones: Das Siebengestirn, das Sternbild des Großen Bären → VIII 471. Seres: Die durch die Herstellung von Seide bekannten Chinesen → VIII 59. Servius: Spätantiker römischer Grammatiker und Vergil-Kommentator → prol. 35. Sicambrus/Sicambri: Ein germanisches Volk (Sigambri), das ursprünglich zwischen den Flüssen Ruhr und Sieg gelebt hatte und von Kaiser Tiberius teilweise ins linksrheinische Gebiet umgesiedelt wurde → X 235. Siculus: Adj. zu Sicilia, die Insel Sizilien → X 164, 274. Silo: Eine in der hebräischen Bibel erwähnte Siedlung im Westjordanland, die in Israels vorstaatlicher Zeit ein Jahwe-Heiligtum besaß, in dem die Bundeslade aufbewahrt wurde → IV 225. Siria → Syria → I 418. Sompnus: Römischer Gott des Schlafes (Somnus), im Griechischen dem Hypnos entsprechend → IV 438. Stigius: Adj. (Stygius) zu → Stix (Styx) → VIII 352; IX 45; X 31. Stix: Fluss in der Unterwelt, meton. für die Unterwelt insgesamt (Styx) → III 179; X 15, 26, 121. Sudracae: Das Volk der Malli zwischen den beiden Flüssen Hydraotes (Ravi) und dem → Achesis (Akesines) → IX 342, 399. Superbia: Die Personifikation des Hochmuts → X 38. Susa: Die Hauptstadt der persischen Provinz Susiana, in der sich gemäß der biblischen Überlieferung der Prophet Daniel während des babylonischen Exils aufgehalten haben soll. Ebenso wurde die persische Stadt durch die von → Ale­xan­der dort im Frühjahr 324 veranstaltete Massenhochzeit bekannt, bei der er selbst und ein großer Teil seiner Führungsriege Ehen mit vornehmen Perserinnen schlossen, um den Frieden zwischen Persern und Griechen abzusichern → VI 64. Sydon: Die älteste Stadt Phöniziens (Sidon) → III C. 4, III 276. Symachus: Griechischer Kämpfer (Symmachus), Freund des → Nicanor → IX 79, 94, 111. Symon: In der Apostelgeschichte wird berichtet, dass ein Simon Magus den Aposteln Petrus und Johannes Geld für die Fähigkeit geboten hat, den Heiligen Geist auf



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andere Menschen herabzurufen. Die unter dem Begriff der Simonie bekannte Käuflichkeit kirchlicher Ämter geht auf diesen Simon Magus zurück → VII 318. Syria → Siria: Ein Gebiet, das im Süden von Arabien, im Osten von Mesopotamien, im Nordosten von Armenien und im Nordwesten von Kleinasien begrenzt wurde → III 12; V 434; VII 476; VIII 423; X 185. Syrius: Der im Sommer am Himmel erscheinende Hundsstern (Sirius) → X 72. Syrtis: Das Gebiet um die im Osten der heutigen libyschen Hauptstadt Tripolis liegende Große Syrte (Syrtis maior) und die östlich davon liegende Kleine Syrte (Syrtis minor) → III 379; V 263; VII 404. Syrus: Aus Syrien stammend → V 31. Sysenes: Persischer Söldner in Diensten → Ale­xan­ders (Sisines) → II C. 6, II 269. Sysigambis: Die Mutter des Perserkönigs Darius (Sisigambis) → VI C. 4, VI 132. Talestris: Königin (Thalestris) der → Amazones (Amazonen) → VIII 9, 25, 44. Tamiris: Königin der zwischen Kaspischem Meer und Aralsee lebenden Massageten, die den persischen König → Cyrus in einer Schlacht im Jahre 530 v. Chr. geschlagen und getötet haben soll (Tamyris/Tomyris) → II 530. Tanais: Der durch Sarmatien und Syrien fließende Don → I 400. Tanais: Der in den Aralsee mündenden und in der Antike als Silis Tanais, Jaxartes oder auch Syr-Darja bezeichnete Fluss → VIII 360, 368, 435. Tarpeia arx: Der tarpeische Felsen, das Kapitol → I 15; V 497. Tartara: Der Tartarus, die Unterwelt → VIII 354. Tartareus: Adj. zu → Tartara → X 30, 132. Tauron: Griechischer Kämpfer → VI 74, 103. Taxiles: Indischer König und Gefolgsmann → Ale­xan­ders → IX 270, 278, 509; X 310. Teutonicus: Adj. zu dem Germanenstamm der Teutonen → VII 414; X 235, 270. Termopilae: Der in der Antike strategisch überaus bedeutsame Engpass der Termopylen (Thermopylae) zwischen Kallidromo-Gebirge und dem Golf von Malia, der insbesondere durch den heldenhaften Abwehrkampf der 300 von Leonidas angeführten Spartaner und ihrer verbliebenen Bundesgenossen gegen die Übermacht der Perser und ihren König → Xerxes (480 v. Chr.) in Erinnerung geblieben ist → V 391. Tharsus: Die am Cignus (Cydnus) gelegene Hauptstadt (Tarsus) von Kilikien → II 144. Thebae: Böotiens Hauptstadt Theben → I 285, 325. Thebeus: Adj. (Thebaeus) zu → Thebae → II 318d; V 316. Theodosius: Kaiser im Osten des Römischen Reichs (379–394 n. Chr.). Nach einem Bürgerkrieg verwirklichte Theodosius für kurze Zeit ein letztes Mal die

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Einheit des römischen Imperiums. Theodosius erhob das Christentum zur Staatsreligion → VI 59. Thesiphone: Neben Allecto und Megera (Megaera) eine der drei Furien (Tisiphone) → II 177. Theteus: Verstümmelter griechischer Kriegsgefangener in Persepolis → VI 264, 290. Thetis: Eine Nereide, Tochter des Meeresgottes Nereus, Gemahlin des Peleus, Mutter des → Achilles; meton. auch für das Meer → III 395, 509; VII 9. Tholomeus: Ein Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders und nach dessen Tod einer der Diadochen (Ptolemaeus) → II 427; III 28, 33; V 269; IX 543; X 451. Thyros: Bedeutende Handelsstadt auf einer Insel vor der phönizischen Küste, Mutterstadt Karthagos, berühmt durch die wohl auch dort erfundene Purpurfärberei (Tyrus) → I 540. Tibris: Der durch Rom fließende Tiber (Tiberis) → IV 401. Tigris: Mächtiger Strom in Vorderasien → III 450, 451, 452. Timeus: Griechischer Kämpfer (Timaeus) → IX 432, 436. Tiphis: Name des Steuermanns des unter der Führung Jasons segelnden Argonautenschiffs (Argo); stellvertretend für jeden Steuermann eines Segelschiffs → IV 316. Tiriotes: Ein Eunuch im Gefolge des → Darius (Tyriotes) → IV 25. Tobias: Der alte Tobias bewahrte in der assyrischen Gefangenschaft zu Ninive seinem Gott die Treue und zeichnete sich auch in Prüfungen durch sein großes Gottvertrauen aus → IV 272. Tracae: Das Volk der Thraker (Thracae) → IX 240, 562. Trinacria: Alter Name für die Insel Sizilien → X 241. Troia → Ilion → Pergama (Troja) → I 467. Tymodes: Anführer der griechischen Söldner im Heer des → Darius → II C. 8, II 273. Typheus → Typhoeus: Einer der Giganten, hundertköpfiger Sohn des Tartarus und der Gaia, der → Iupiter (Jupiter) vom Himmelsthron stoßen wollte und erfolglos nach der Herrschaft im Himmel strebte (Typhoeus) → VII 124. Typhoeus → Typheus → X 412. Tyrinthius: Mit dem Tyrinthier ist → Hercules (Herkules) gemeint, der in der Stadt Tiryns von seiner dort geborenen Mutter Alkmene erzogen worden sein soll (Tirynthius) → III 435. Tyrius: Adj. zu → Tyrus → III 278. Tyrus → Thyros → III C. 4, III 331, 342. Tytan: Der Sonnengott Helius als Sohn des Titanen Hyperion (Titan) → II 307; III 393; IV 455; VI 469; X 368.



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Tytites: Diomedes ist in der griechischen Mythologie der Sohn des Tydeus und der Deipyle (Tytides), war König von → Argos und gehörte im Trojanischen Krieg zu den wichtigsten Kämpfern der Griechen; gemeinsam mit Odysseus drang Diomedes heimlich in Troja ein und entwendete das Palladium, das die Stadt vor der Eroberung bewahren sollte → VIII 231. Ulixeus: Adj. zu Ulixes (Odysseus) → zu Ulixes gehörig, schlau → IV 543. Urias: Ein hethitischer Söldner im Heer König Davids (Urija). Nachdem David dessen Frau Batseba geschwängert hatte, ließ er diesen durch brieflichen Befehl an die gefährlichste Stelle im Kampf gegen die Stadt Rabba stellen, wo ihn wie beabsichtigt der Tod ereilte → IV 231. Uxii: Das Bergvolk der Uxier im heutigen Iran → VI C. 4. Uxius: Adj. zu → Uxii → VI 66, 67. Vasti: Vasti war nach dem Alten Testament eine Frau des Perserkönigs → Xerxes, die sich geweigert hatte, bei einem Festmahl des Königs zu erscheinen und dort vor zumeist angetrunkenen Männern zu tanzen (Waschti). Diesen Akt der Rebellion gegen König und Ehemann büßte Vasti mit ihrer Verstoßung → IV 271. Venus: Göttin der Liebe (griech. Aphrodite), Tochter des → Iupiter (Jupiter) und der Dione, Gemahlin des → Vulcanus, Mutter des Amor und des trojanischen Helden Aeneas, Stammmutter des julischen Hauses → I 167, 169; VI 22, 251. Victoria: Die Göttin des Sieges (griech. Nike) → IV 405. Vulcanus: Gott des Feuers, der Schmiedekunst und des Handwerks (griech. Hephaistos), Sohn des → Iupiter (Jupiter) und der Juno, Gemahl der → Venus → I 348; III 486. Xerses → Xerxes: Persischer Großkönig und ägyptischer Pharao (486–465 v. Chr.) → II 481; III 423. Xerxes → Xerses → II 54; V 391. Ydalius: Adj. zu Ydalium (Idalium): Das Ida-Gebirge im Nordwesten der heutigen Türkei in der antiken Landschaft Troas in Kleinasien; nicht zu verwechseln mit dem bekannteren Ida-Gebirge auf Kreta → I 454. Ydaspes: Nebenfluss des Indus (Hydaspes), an dem → Alexander mit dem Inderkönig → Porus die entscheidende Schlacht schlug und Alexanders Pferd → Bucifal (Bucephalus) den Tod fand → IX 53, 65. Ysai: Isai ist eine aus Bethlehem stammende biblische Person aus dem Alten Testament, Vater von König David (Jesse) → IV 227. Ysannes: Persischer Kämpfer (Hysannes) → III 64, 68.

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Ysos → Yssos: Eine am Meer gelegene Stadt in Kilikien (Kleinasien), in deren Nähe die zweite große Schlacht (333. v. Chr.) zwischen Griechen und Persern stattgefunden hat (Issus) → II 259. Yssos → Ysos (Issus) → II 388. Ytacus: Einwohner der Insel Ithaka, im Besonderen Odysseus (Ithacus) → VIII 229. Yulcon: Persischer Kämpfer, des Enaches Sohn (Hiulcon) → IX 198. Zephirus: Der Westwind (Zephyrus), der neben dem → Aquilo (Nordwind), dem → Eurus (Ostwind), dem → Nothus (Südwind) einen der vier Hauptwinde darstellt → II 317; IV 317, VIII 484; X 2. Zoroas: Persischer Gelehrter und Kämpfer → III 141, 183, 186. Zorobabel: Enkel des 597 v. Chr. in babylonische Gefangenschaft geratenen Königs → Ioachim (Jojachin) von Juda (Serubbabel), Statthalter der Provinz Jehud zur Zeit des Perserkönigs Darius I. (6. Jh. v. Chr.) → IV 269.