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German Pages [217] Year 2009
Albert von Keller Salons, Seancen, Secession
Albert von Keller Salons, Seancen, Secession Gian Casper Bott
Mit einem Beitrag von Nico Kirchberger
Kunsthaus Zürich
Hirmer Verlag München
Leihgeber
Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek
Kunstmuseum Basel Katharina Büttiker
sowie private Leihgeber
Bei sämtlichen in diesem Buch publizierten Bildern und Zeichnungen Albert von Kellers ohne weitere Standortangaben handelt es sich um Werke der 2006 erfolgten Schenkung
aus dem Nachlass Dr. Oskar A. Müller an das Kunsthaus Zürich.
Besonderer Dank Hannelore Müller
Prof. Dr. Reinhold Baumstark, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen Daniel Boeckh, München Dr. Bernhard Mendes Bürgi, Kunstmuseum Basel
Katharina Büttiker, Zürich Prof. Dr. Albert Dietl, Regensburg Sacha Döbler, Zürich Dr. Michael Fuhr, Wien
Lutz Hartmann, Zürich Dr. Joachim Kaak, München, Neue Pinakothek
Jean-Pierre Kuhn, Zürich Prof. Dr. Klaus Schrenk, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Dr. Elisabeth Reissinger, München Dr. Thomas Weibel, Gossau Roland Wetzel, Basel
Dr. Nina Zimmer, Kunstmuseum Basel
und Andreas Fischer, Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg i.Br.
Inhalt
Christoph Becker 6
Passion, Ekstase, Vergnügen. Ein Dank
9
Salons, Seancen, Secession
Gian Casper Bott Albert von Keller zwischen Tradition und Aufbruch
9
Figurenkanon, Posen, Blicke
Neorokoko und Gegenwart Romantische Akte
10
32
»Moderne Dämchen«
33
Salons, Freunde, Fremde Intermezzi im Wald
40
41
Dolce Vita und Orakel im alten Rom
52
Hypnotische Energie, okkulte Malerei
Alltag, Staatsakt, vie moderne
58
75
Liebesfrühling, weisse Hüllen, schwarze Schatten
Schönheit in rauschenden Stoffen
89
Seancen, Apporte, allerlei Wunder
Im Mondschein
89
101
115
Lob des Urteils, Salonglück
124
Femmes fatales: Verführung, Chic und Schleierästhetik
Medien, Geister, Träume Kreuz und Stigmata
139
150
Gesteigerter Ausdruck, tragische Heroinen Tanz- und Bildvariationen
Altersstil und Jugend
156
168
178
Nico Kirchberger
189
»Wer wüsste nicht, wer Albert Keller in München ist...«
Albert von Keller im Münchner Künstlermilieu
Der »Maler-Diplomat« und die Kunstpolitik
Die Malerfürsten und der Maleraristokrat
Malerpsychologe und Metapsychiker
190
193
194
»Wenn irgend ein Maler deutschen Blutes, so ist Albert Keller Damenmaler gewesen.«
Der alte Moderne
199
202
Biographie Albert von Keller
207
Bibliographie
211
Register
215
Bildnachweis
196
131
Passion, Ekstase, Vergnügen. Ein Dank
Dieses Buch verdanken wir der Passion eines Sammlers. Dr. Oskar A. Müller hatte einen Beruf und eine Berufung, er war Chemiker und Kunstsammler. Während er in seinem Labor im Erdgeschoss seines Hauses mit Erlenmeyerkolben und Pe-
trischalen hantierte, füllten sich oben die Wände mit Gemälden. Wann alles anfing, liegt halb-
wegs im Dunklen, irgendwann um 1950 muss es gewesen sein, und beim Sammeln ging er mit berufsbedingter Akribie vor. Ein Künstler - und möglichst viele Werke. Oskar A. Müller arbei-
tete sich systematisch in sein Thema ein und voran; er ist einer der ganz wenigen Sammler, die ihre Energie einem einzelnen Künstler widmeten. Er entwickelte eine solche Leidenschaft und
Kenntnis, dass er in den 1980er Jahren gleich drei Bücher über Kellers Kunst veröffentlichte, und
längst nicht nur Bilder sammelte, sondern auch Skizzen, Bücher, Dokumente, ja das Mobiliar aus
dem Kellerschen Hause und Atelier erwarb, bis schliesslich auch das chemische Labor ganz mit Kunst gefüllt war. Hunderte von Bildern enthält sein Nachlass, ein fast vollständiges Panorama. Kellers Kunst - Interieurs, Gesellschaftsbilder, Portraits von einst berühmten Schauspielerinnen, Tänzerin-
nen, welkenden Prinzessinnen und schwer geschmückten Damen des Grossbürgertums, aber
auch religiöse Szenen oder spiritistische Phänomene, die manchmal ein wenig bigott, dann wieder von furchteinflössendem Ernst sein können. Kellers Ideal, das waren die Frauen: »Er sah sie
neu und wunderbar«, begeisterte sich ein zeitgenössischer Kritiker über die teils anmutige, teils laszive Physis der Modelle, deren Korsagen leicht gelockert scheinen. Man könnte sagen, ein Münchner Modemaler, und liegt damit richtig und falsch zugleich. Denn die Fülle der Werke lässt sich gleichsam destillieren; die gewonnene Substanz ist von eigentümlicher Viskosität mit
einer schillernden Oberfläche, die zwischen samtrot oder pechschwarz changiert und bei Genuss
zu rauschähnlichen, ja ekstatischen Zuständen führt - irgendwie neu und wunderbar.
Wie lässt sich dieses Destillat dem heutigen Betrachter in zeitgemässer Form verabreichen und wie kann man seine ursprüngliche Zusammensetzung erklären? Im Fall Albert von Kellers
ist das eine etwas komplizierte, aber reizvolle Aufgabe, die sich uns eines Tages ziemlich un-
vermittelt, aber ganz konkret stellte: Frau Hannelore Müller bewahrte das Erbe ihres 1994 verstorbenen Mannes mit bewundernswerter Umsicht für viele Jahre, bis sie 2005 an uns heran-
trat, um sich nach Möglichkeiten zu erkundigen, wie mit dem Konvolut zu verfahren sei. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass das Kunsthaus dieses Projekt in Angriff nehmen konnte. Mit der Katalogisierung von mehr als 350 Werken und der Sichtung einer grossen Menge von Doku-
menten zu Leben und Wirken Albert von Kellers war der erste Schritt getan, und wir sahen, dass
wir nicht nur einen bedeutenden Kernbestand für die Sammlung des Kunsthauses würden übernehmen können, sondern darüber hinaus mit der Sammlung als Ganzes ein hinreissendes
Sittengemälde über eine verschwundene Epoche überantwortet bekamen, das auszustellen sich lohnen würde. Mit Gian Casper Bott wurde ein erfahrener Kunsthistoriker gewonnen, der die Aufgabe mit Bravour gemeistert hat. Die Zusammenarbeit mit unserem Gastkurator, den
Franziska Lentzsch durch das ganze Projekt engagiert und effizient begleitete, war ein Vergnü-
gen. Und was wäre ein solches Vorhaben ohne die unerschöpflichen Kenntnisse von Christian Klemm, seine Anregungen und Hinweise und den fröhlichen Diskurs, den wir mit ihm über
Kellers Welt geführt haben. Es freut mich, dass unser Elan so ansteckend war, dass die
6
Vontobel-Stiftung uns mit einem willkommenen Beitrag unterstützt
hat, und ich bin dankbar für das Vertrauen (und die wachsende
Keller-Begeisterung) des Stiftungsrates. Herzlichen Dank insbesondere Dr. Hans Vontobel, dessen kulturelles und soziales Engagement und dessen freundschaftliche Verbundenheit mit dem Kunsthaus wir
sehr zu schätzen wissen. Mit diesem Buch ist Gian Casper Bott eine veritable Monografie und
eine Ausstellung gelungen, die zugleich, man glaubt es kaum, seit ein-
hundert Jahren die erste Retrospektive des Künstlers ist. Die Arbeit an diesem Projekt war geprägt von seiner erfrischenden Neugier und
dem Anspruch, neues Licht auf eine vergangene Epoche zu werfen:
Kellers Kunst gibt Zeugnis von einer schnellen und schnelllebigen Periode, die alles andere als die gute alte Zeit war. Fundamentale ge-
sellschaftliche Umwälzungen, technische Errungenschaften und künstlerische Neuerungen folgten rasch aufeinander, so dass aus der Distanz auch die Brüche in der Gesellschaft offen zu Tage treten. Viele Künstler haben diese Phänomene wahrgenommen und in ihren Wer-
ken verarbeitet, und manche von ihnen mögen zu einer höheren Intensität gefunden haben, aber als Ganzes betrachtet ist Albert von
Keller eine erstaunliche Figur, weil in ihm wie in einem Brennglas die
Haltungen und Phänomene dieser ganzen Epoche eingefangen sind. Aus heutiger Sicht spürt der Betrachter Neugier und Befremden an-
gesichts der Inszenierungen von körperlichem Glück und spiritueller
Sehnsucht, von Eleganz und Brüchigkeit, dieses gleichsam nach innen
gerichteten Exotismus’ und des merkwürdigen, sanften Gleitens aus der Realität in eine Traumwelt - und wieder zurück... Darin liegt die Modernität Albert von Kellers, der sich geschickt und erfolgreich
zwischen Tradition und Aufbruch bewegte. Und genau an dieser
Dr. oskar a. Malier
Schwelle können wir Leserinnen und Leser uns jetzt für eine Weile aufhalten, ganz ohne Ekstase,
(Chur 1899 - Zürich 1994)
aber mit wohligem Vergnügen.
Wir widmen dieses Buch dem passionierten Sammler von Kellers Kunst, Oskar A. Müller, mit Respekt und Dankbarkeit. Frau Hannelore Müller gilt mein aufrichtiger Dank für die zündende Idee, ihre Geduld, ihren Humor und ihre Grosszügigkeit.
Christoph Becker
Gian Casper Bott
Salons, Seancen, Secession Albert von Keller zwischen Tradition und Aufbruch
Figurenkanon, Posen, Blicke Erstmals an die Öffentlichkeit getreten ist Albert von Keller 1869 bei der Internationalen Kunst-
ausstellung in München mit dem im gleichen Jahr entstandenen Gemälde Faun und Nymphe.' Zur Komposition dieses sinnenfroh anakreontisch gestimmten, das Erwachen der Liebe thematisierenden Gemäldes mit deutlichen Reminiszenzen an die Malerei der venezianischen Renaissance, in erster Linie an Tizian2, ist eine Studie erhalten (Kat. 9). Eine 1868 datierte Detail-
skizze mit einem weiblichen Halbakt zur Figur der Nymphe (Kat. 8) dürfte nach der Natur
geschaffen sein. Im 30 Blätter umfassenden Konvolut von Kellers 1867 entstandenen akademisehen Zeichnungen finden sich - nebst zeichnerischen Aufnahmen nach Gipsen von antiken Statuen beiderlei Geschlechts (Kat. 1, 2, 4) - nur männliche Akte (Kat. 3). Kellers Kunst- und
Frauenbekanntschaften jener Jahre bezeugen mehrere frühe Bildnisse (Kat. 5, 6).
Das von Keller mehrmals aufgegriffene Sujet des Diners ist eine Hommage an den venezianischen Malerfürsten Paolo Veronese und dessen monumentale, koloristisch unübertroffene
Ausführungen von Gastmahlen. Die Nozze di Cana von 1562/63 im Pariser Louvre ist die berühmteste unter ihnen; einen Ausschnitt der nicht minder brillanten Cena in Casa di Levi von
1573 in den Gallerte dell’Accademia in Venedig hat Keller im Herbst 1869 in eine kleine Kopie in Öl auf Papier übertragen.3 Im gleichen Jahr malte er sein Diner im 17. Jahrhundert.1· The-
matisch und kompositionell beziehen sich die perspektivisch verkürzten Fussbodenfelder
ebenso auf den grossen Venezianer wie das Hundeduo im Vordergrund. Letzteres findet sich in der skizzenhaften Teilausführung wieder, die nicht zwingend eine vorbereitende Studie zum 1 Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturge-
ausgeführten Bild sein muss, sondern als nachträglich gemalte Paraphrase entstanden sein
schichte, Münster, Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland;
kann, als Variation in anderem Pinselduktus (Kat. 12). Als weitere stilistische und zeitliche Kom-
siehe Müller 1981, Abb. 22.
ponente schwingt noch Holländisches aus dem Goldenen Jahrhundert mit. Eine aktualisierende
- Der Tizian-Einfluss könnte auch durch Antonis van Dyck vermittelt worden sein, wie ein Blick auf dessen um 1625 in
Genua gemaltes Bild Vertumnus und Pomona (Musei di Strada Nuova, Galleria di Palazzo Bianco, Genua) zeigt, ein Gemälde,
dessen Stilllebenelemente von Jan Roos ausgeführt worden
Transposition des Themas in seine Gegenwart wird Keller später vornehmen, mit den Bildern Dejeuner von 1887 (Kat. 58) und den Fassungen von Diner 18905 und 1891 (Kat. 60).
Kellers Affinität zum Theater (Kat. 13,14), mehr noch zu Oper und Konzert, war früh sehr aus-
geprägt; er muss darin Analogien zur grossen Malerei gespürt haben. Es ist überliefert, dass
sind. 5 Müller 1981, Abb. 25.
der junge Keller mehrere Uraufführungen von Opern Richard Wagners in der vordersten Par-
* Ibid., Abb. 14,17 (Studie), hier Kat. 12.
kettreihe miterlebt hat. Das Festspielhaus in Bayreuth hat er bereits im Einweihungsjahr 1876
׳Rosenhagen 1912, Abb. 76.
besucht; 1892 war er bei Cosima Wagner zu Gast, anlässlich eines Soupers von Eingeweihten in
0 Angaben aus Müller 1981, S. 21, dort weitere Informationen zum Thema. - Ibid, S. 130 wird berichtet, dass der Pianist Wil-
der Eremitage. Er kannte den Intendanten der Münchner Hofbühne, Karl von Perfall, und des-
heim Backhaus 1919 mehrmals in Kellers Wohnung zu Gast
sen Nachfolger Ernst von Possart, ebenso die Dirigenten Hans von Bülow, Franz Wüllner, Hans
war.
Richter, Felix Mottl, Hermann Levi. Sängerinnen, Schauspielerinnen und in späteren Jahren
7 Antwortschreiben Albert von Kellers an Fritz von Ostini,
vermehrt Tänzerinnen zogen ihn in Bann.61902 schrieb Keller an Fritz von Ostini: »Ich bin auch
München 119021 (BSB München, Ostiniana IX, Keller, Albert V.), publiziert in: Fuhr 2004, S. 571-574, hier S. 572. Die Datie-
dem Theater gegenüber so nachsichtig wie möglich. Und gerne aus Egoismus. Ich glaube den
rung des Antwortschreibens ergibt sich aus der Bemerkung
Dichtern u. ihren Interpreten alles, wehre mich mit allen Kräften, mich durch die Mängel des
Kellers, im vorigen Jahr sei er in Paris gewesen, um die Bilder
Werkes oder der Vorstellung aus der Illusion reissen zu lassen, dass ich es mit der Wirklichkeit
für die Ausstellung in München auszuwählen. Keller war am
zu thun habe, ganz wie ich bei mediumistischen u. okkulten Dingen u. Darstellungen prinzi-
10. Mai 1901 für zwei Wochen nach Paris gefahren, um aus
8000 Bildern des Salons im Grand Palais 60 Bilder für Mün-
chen auszusuchen. Vgl. Müller 1981, S. 270.
piell alles glaube. Dadurch verlebe ich Stunden des gespanntesten Interesses u. fesselndster Sensation u. excitements.«7
Tizian, Veronese, Wagner 9
Im Herbst 1869 war Keller mit dem befreundeten Maler Arthur von Ramberg (1819-1875)8 für drei Wochen nach Venedig gereist. Mit von der Partie war der Architektur- und Landschafts-
maler Albert Emil Kirchner (1813-1885).9 Sonderbar modern in Blick und Auffassung muten die
wenigen Architekturbilder Kellers an, mit eigentümlich unspektakulären Sujets aus Venedig und Rom.10 Eine Art Gegenposition zu den grandiosen, im Settecento entstandenen Serenissima-
Veduten von Canaletto11 und Bernardo Beilotto, nimmt Keller in seinem um 1873 wohl in München gemalten Bild Dächer in Venedig (Kat. 15) ein. Es fällt auf, dass er nicht einen klassischen Ausschnitt wählte - Markusplatz, Canal Grande, San Giorgio Maggiore -, wie dies seine Zeitge-
nossen in aller Regel machten, sondern einen Blick auf anonyme Dächer, ein Sujet, wie es in der adriatischen Lagunenstadt alltäglicher nicht sein könnte. Wenn auch in seiner Negation des
Spektakulären kaum zu übertreffen, ist venezianisches Lokalkolorit eingefangen, in erster Linie in der feuerpolizeilich einwandfreien, Funkenwurf verhindernden Form der charakteristischen Kamine. »Modern« wirkt das Spiel mit geometrischen Flächen.
Seine Architekturmalerei hat Keller in der Folge nach diversen Richtungen hin ausgearbeitet, mit Blicken auf Veronese oder Tiepolo, primär als kongeniales Ambiente für seine Historienbilder. Säulen finden sich in zahlreichen Kellerschen Gemälden, stets von ionischer, in der Archi-
tekturtheorie das Weibliche repräsentierender Ordnung. Gut gebaute Innenräume interessierten ihn im Zusammenhang mit seiner Schilderung verschiedener Interieurs. Eine verschollene, um 1870 entstandene aquarellierte Zeichnung vom Residenzschloss in Berlin12, auf der die 1876
abgerissenen Werderschen Mühlen zu erkennen waren, scheint auch eine Art Hommage an die
grosse Tradition der holländischen Stadtveduten aus dem Goldenen Jahrhundert gewesen zu sein - der Hinweis auf Jan van der Heyden und seine um 1670 geschaffenen Ansichten des Amsterdamer Dams liegt auf der Hand.13 Wie die Vedutisten sich der Camera obscura bedienten,
dürfte Keller die Fotografie beigezogen haben.
Neorokoko und Gegenwart Frau und Salon verschmelzen in Kellers frühen Gemälden zu einem Bild gutbürgerlicher Weib-
M Arthur von Ramberg, geboren in Wien, zog 1849 nach Mün-
lichkeit. Um 1871 entstanden, zeigt Traurige Nachricht (Kat. 20) die zeitgenössische Dame in
chen und wirkte als vielbeachteter Genre- und Historienmaler.
der Gegenwart ihres Salons. Wie eine Odaliske auf den zahlreichen in jenen Tagen entstände-
Von 1860 bis 1866 war er Professor an der neu gegründeten
nen, sinnliche Genüsse umspielenden Orient-Evokationen liegt eine grossstädtisch-elegante
Kunstschule Weimar. 1866 kehrte Ramberg nach München zurück und übernahm dort die Professur an der Münchner
westliche Dame auf dem Sofa. Wohl kaum von einer Cousine verfasst, enthält ein Brief in der
Kunstakademie. Berühmt sind seine Illustrationen zu Goethes
Hand der Schönen die traurige Nachricht, von der im Bildtitel die Rede ist: Darin dürfte das
Hermann und Dorothea. Für den jungen Albert von Keller war
Ende einer realen oder erhofften Beziehung mitgeteilt sein. Von glücklicheren Tagen, vielleicht
er richtungsweisend und stand zu ihm in freundschaftlicher
von Liebesschwüren und ewiger Treue kündet ein Bündel Korrespondenz auf dem Teppich mit
Beziehung. In der Neuen Pinakothek hängt heule neben
Kellers Chopin ein Bild Rambergs.
reichem Blumendekor, der so wirkt, als hätte die Unglückliche tatsächlich Blüten auf den Boden
9 Fuhr 2004, S. 571 (Kellers Antwortschreiben von 1902 an
gestreut. Nicht zu entscheiden ist, ob der Brief gerade erst eingetroffen ist oder ob die Frau ihn
Ostini).
wieder hervorgeholt hat - aus einer Kassette, es sei denn, sie habe ihn an ihrem Busen getra-
10 Siehe auch Müller 1981, Abb. 72.
gen -, um im süssen Schmerz trauriger Erinnerungen zu schwelgen.14 Die Protagonistin dürfte
eine eifrige Leserin von Romanen sein; belletristisch Bewanderten fiel das Verfassen und Emp-
"Gian Casper Bott, Bilderwahl! Canaletto - Vedute und Zeremonie, in: Kunsthaus Zürich, Magazin, 4/2003, S. 26-27.
12 Siehe Müller 1981, Abb. 34.
fangen von Liebes- oder Abschiedsbriefen leicht, stand ihnen in der Literatur doch ein umfas-
15 Gian Casper Bolt, Jan van der Heyden, in: Die Sammlung
sendes Arsenal der Kommunikationskunst zur Verfügung. Ein breites Spektrum an Verhal-
Max Geldner im Kunstmuseum Basel, Basel 2000, S. 130-135.
’* Erinnerungen heisst ein 1876 entstandenes, heute ver-
tensmodellen war so jederzeit greifbar. Leise scheint ein Seufzer im Raum zu verhallen: »So ist das Leben.«15
Die Einsamkeit der Frau wird durch den leeren Sessel im Spiegelbild und mehr noch den grosszügig gepolsterten Zweisitzer betont, dessen roter Samtüberzug ans Theater erinnern mag
schollenes Hauptwerk Kellers aus der Periode der feinmalerisehen Salonbijoux, das einen Einblick in die Münchner Woh-
nung des Malers gewährt, mit einer Dame in Weiss beim Lesen von Liebesbriefen; vgl. Müller 1981, Abb. 45. Studie dazu hier Kat. 24.
und somit das Möbel mit einer Bühne von Lustspielen assoziiert, einem Ort potentieller Liebes-
15 So der Titel einer der Salonmalerei gewidmeten Ausgabe der
szenen und -tändeleien oder Beziehungstragödien. Das männliche Prinzip erhält durch die ein-
Zeitschrift Du, November 1970.
10
Gutbürgerliche Weiblichkeit
dringlich spürbare Abwesenheit und den Brief Gegenwart. Jegliche Handlung ist aus dem Genrebild verbannt, wodurch es sich in seiner Auffassung einem Stillleben annähert. Ein satter
Kontrast von Rot und Schwarz bestimmt den koloristischen Eindruck, virtuos ist Kellers differenzierter Umgang mit tiefen Schwarznuancen. Besonders bezirzt die räumliche Inszenierung:
das reiche Wechselspiel von draussen und drinnen, der Lichteinfall, das komplexe System von Spiegelungen. Mit der Konsole unter dem zweiten Spiegel findet sich ein Reflex damaliger Ak-
tualität, weist sie doch auf die Rokokomode hin, die hoch im Schwange war und von Keller in mehreren seiner Bildern thematisiert wurde.
Zum Rokoko dürfte sich Keller allein schon durch seine Affinität zu Paris und Venedig hingezogen gefühlt haben - neben München seine bevorzugten Orte, sind diese Städte ja die beiden unbestrittenen Brennpunkte von Rokokostil und -leben: Erstere war Entstehungsort und Aus-
Strahlungszentrum, Letztere in erster Linie Zentrum, was die Malerei betrifft, man denke etwa
an Tiepolo, Longhi oder Guardi. Kellers Neorokokophase dürfte indes auch auf den Einfluss zu-
rückgehen, den Ludwig von Hagn (1819-1898) zu Beginn seiner Malerkarriere auf ihn hatte.
Dieser war in Berlin - und das heisst: Sanssouci, wo er Architektur und Parkanlagen studierte und mit Adolph Menzels Werk in Berührung kam. Man schwärmte damals für das 18. Jahr-
hundert. Breite Wirkung entfaltete das zweibändige, 1873/74 erschienene Werk der Brüder Ed-
mond und Jules de Goncourt L'Art du dixhuitieme siede. Das Interesse an stilgeschichtlichen Fragen war allgemein gewachsen. Der Historismus der Gründerzeit griff auf frühere Stilrichtungen zurück, ahmte sie nach, setzte sie gleichwertig nebeneinander und kombinierte eklektizistisch ihre unterschiedlichen Formensprachen.
»Die Dubarry führt dem Könige ein junges Mädchen zu.« Dies, so schreibt Hans Rosenhagen 1912 in seiner Monographie über Albert von Keller, sei die Idee des 1872 entstandenen Bildes
Zur Audienz (Kat. 17), wo »der Künstler seine Vorstellung von der Grazie des Rokoko zum vollendeten Ausdruck gebracht« und »den Typus der Weltdame dem eines jungen unerfahrenen Mädchens« gegenübergestellt habe. Das Gemälde sei »durch die Schönheit eines Saales im
Schlosse Bruchsal« inspiriert worden.16 Der fingierte Ort der Handlung ist Versailles: Keller denkt
sich um gut ein Jahrhundert ins Ancien Regime zurück und führt malend ein höfisch-galantes Kammerspiel vor, in dem sich Komödie und Tragödie die Waage zu halten scheinen. Es mag um Intrige gehen, sicher jedoch um den märchenhaften Aufstieg einer bildhübschen Frau voller
Charme, die es von der unehelichen Tochter einer Näherin und eines Franziskaners - nach anderer Quelle eines Steuereintreibers - zur Nachfolgerin von Madame de Pompadour als Mätresse Ludwigs XV. gebracht hatte. Marie-Jeanne Comtesse du Barry wurde 1743 in Lothringen
geboren und 1793 in Paris auf Veranlassung von Robespierre hingerichtet - durch die Guillotine
auf der Place de la Concorde. »Gnade, Herr Scharfrichter, noch einen kleinen Moment!«, sollen ihre letzten Worte gewesen sein: »De grace, monsieur le bourreau, encore un petit moment!« His-
torische Wahrheit und Legende hatten sich zu Kellers Zeit so vermengt, dass die Dubarry zu einer Art Romanfigur wurde, zu einer verschwendungssüchtigen, operettenhaften Memoiren-
Schreiberin, die bald als boshafte, ihre eigenen Interessen stets im Auge behaltende Ränke16 Rosenhagen 1912, S. 56-57. Keller siedelt die Szene im Festsaal des Residenzschlosses von Bruchsal (Baden) an, erbaut
1742 bis 1749 von Balthasar Neumann (1687-1755). 17 Den Stand der Dubarryforschung im späten 19. Jahrhundert
schmiedin, bald als warmherzige, an erotischen Reizen reiche Geliebte erschien.17 Mit seinen ins Weisse gebrochenen Nuancen und den aufgeklärten, ins Silberne spielenden
Tönen weist das Bild eine ausgeprägte Rokokofarbigkeit auf. Von bestrickendem Reiz ist die ma-
lerische Imitation von Goldnuancen in den Türrahmungen und in den die Stileigenschaften der
gibt wieder: Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 5, Leipzig/
Wien 51895, S. 258. Dort auch Folgendes: »Die unter ihrem Namen erschienenen Mtmoires (Paris 1850,6. Bde; neue Aus-
gäbe Paris 1857) sind unecht. Vgl. J. und E. de Goncourt, La
Du Barry, Paris 1878; Ch. Vatel, Histoire de Madame Dubarry,
geschilderten Epoche auf den Punkt bringenden Konsolen. Die chinesischen Vasen, der Olean-
der, das Detail des zu Boden gefallenen Schnupftuchs, der rote Stoff in der Hand des die Tür öff-
nenden Kammerdieners - sie alle sind Details, die zur Bildstimmung beitragen. Keller erweist
sich als virtuoser Architekturmaler: Beachtlich ist die Wahl des Bildausschnitts und die schräge
Versailles 1882-1884, 5 Bde.« - Das Leben der Dubarry war auch Vorlage für viele romantische und erotische (teilweise
Linienführung der Bodenfliesen, mit denen das spiegelglatte Parkett evoziert wird, auf dem die
pornographische) Bücher.
Protagonisten wie Porzellanfiguren auf einem Spielbrett agieren. Charakteristisch für Kellers
Spiegelungen · Kammermalerei
11
1 Faunus Barberini, 1867 Bleistift auf Papier, 45,6 x 29,3 cm
2 Venus von Milo, 1867 Bleistift auf Papier, 46,5 x 29,5 cm
3 Männliche Aktstudie, 1867 Bleistift auf Papier, 40,5 x 28,5 cm
4 Der Borghesische Fechter, 1867 Bleistift auf Papier, 46,2 x 29,2 cm
5 Bildnis einer jungen Frau, 1868 Öl auf Leinwand, auf Karton aufgezogen, 45 x 33,5 cm
6 Bildnis einer jungen Frau mit rotem Tuch, 1867 Öl auf Leinwand, 43 x 32 cm
7 Zwei Damen im Park, um 1868 Öl auf Holz, 47,5 x 38,5 cm
8 Weiblicher Halbakt (Studie zu »Faun und Nymphe«), 1868 Öl auf Leinwand, 29,5 x 17,5 cm
9 Faun und Nymphe (Studie), um 1869 Öl auf Leinwand, 37 x 46,5 cm
10 Junge Dame mit Fächer, 1870 Öl auf Leinwand, 58 x 32,5 cm
11 Dame sitzend, nach links, um 1868 Öl auf Karton, 41 x 32 cm
12 Diner im 17. Jahrhundert (Variation), um 1869 Öl auf Leinwand, 64 x 48 cm
13 Theaterszene, um 1868 Öl auf Leinwand, auf Karton aufgezogen, 29 x 23 cm
14 Szene, um 1871 Öl auf Holz, 31X 40,5 cm
15 Dächer in Venedig, um 1873 Öl auf Leinwand, 54 x 44,5 cm
Poetik ist die räumliche und existentielle »Schwellensituation«. Für einen kurzen Augenblick scheint der Ablauf des Zeit- und Handlungsflusses suspendiert. Um Geschmack und Gefühl -
goüt et sentiment - geht es in diesem rhythmisch-dekorative Wirkung entfaltenden Formenensemble ά lafrancaise. Und um Ornament, Rhythmus und Rocaille.
Schon zu seiner Entstehungszeit habe das Bild sehr gefallen, sei »aber doch noch kein echter Keller«, hatte Fritz von Ostini 1905 geschrieben; Benno Rüttenauer schrieb 1913 hingegen, Kel-
ler sei auch in diesem Bild »viel mehr er selber als ein andrer« und befinde sich »damit ganz
innerhalb seiner spezifischen Stoffwelt, in der die elegante Dame die grosse Rolle spielt«; das Ro-
kokokostüm sei nur eine äusserliche Vermummung. Und Georg Fuchs bewunderte 1907 die »obere Türpartie« des Bildes als »ehrliche Leistung«.18 In der Tat fällt die malerische Impression vermittelnde Schilderung von Supraporte und Türlaibung in ihrem freien Charakter ins Auge.
Zu den Bijoux der deutschen Salonmalerei zählt zweifelsohne Albert von Kellers Chopin von 1873 in der Neuen Pinakothek in München, ein dem Repräsentationsbedürfnis der Gründerzeit
entgegenkommendes Sittenstück erster Güte, mit dem sich für Keller ein durchschlagender Erfolg verband.1’ Eine zur gleichen Zeit entstandene kleinere Variante gelangte in die Sammlung von Oskar A. Müller (Kat. 21). Es ist darauf hingewiesen worden, dass die »wechselseitige Bedingtheit von Weiblichkeit und Interieur« eine Vorstellung ist, die das gesamte 19. Jahrhundert
durchzieht.20 In der Musik erobern sich die beiden wohlgeratenen höheren Töchter Freiräume
und Erlebniswelten, die weit über die Geschlossenheit ihrer Wohnungen hinausgehen mögen.21 Träumerisch-schwärmerisch verweist die in sich versunkene Lauschende in transzendente
Räume. Kellers feinmalerische Finger- oder präziser: Pinselspitzenübung will freudiges Entzücken hervorrufen und zartbesaiteten Seelen Evokationsfelder erschliessen. Unmöglich sei es, an diesem Bild vorüberzugehen, »ohne eine Gebärde, ein Wort, einen Ruf
des Erstaunens und des Entzückens. Wie? - So ist einmal im modernen Deutschland gemalt worden?«, schreibt Georg Fuchs 1907, Harmonie und »malerische Flächenrhythmik« des Wer-
kes hervorhebend. Man sehe jedoch auch deutlich, dass ein »Umschwung« habe kommen müssen: »Keller zerschlug die allzu bequem erreichte Form seiner Frühreife - und fing von vorn an, vor der Natur - man vergleiche die zum Teil hervorragenden Porträte aus jenen Tagen -
und dann vor allem dadurch, dass er für die grossen psychischen, für die mystisch-religiösen
Evolutionen und Erschütterungen seiner Zeit eine malerische Formel suchte.«22 Die Chopin-Begeisterung war im 19. Jahrhundert grenzenlos. Robert Schumann definierte 1836 Chopins Werke als »unter Blumen eingesenkte Kanonen«. Heinrich Heine schrieb 1854, bei Chopin versinke er in die »süssen Abgründe seiner Musik, in die schmerzliche Lieblichkeit
seiner ebenso tiefen wie zarten Schöpfungen«. Und Friedrich Nietzsche vermerkte 1888 imEcce
18 Ostini 1905, S. 350; Fuchs 1907, S. 291; Rüttenauer 1913,
Homo: »Ich selbst bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzuge-
S.65.
ben.«23 Es hiess, in Chopins Kompositionen trete die eigentümliche Mischung des Naturells
,9Müller 1981, Abb.228.
20 Söntgen 1998, S. 204.
zweier Nationen zutage - »slavisches, bald melancholisches, bald leidenschaftliches Wesen und
21 Zum musik- und kulturgeschichtlich interessanten Gender-
die bestechende Lieblichkeit des französischen Temperaments, beides in der kranken Natur des
thema »Frau und Klavier« siehe: Freia Hoffmann, Instrument
Componisten noch höchst eigenartig verkörpert«. Diese Musik bereite »einen eigenartigen, un-
und Körper. Die musizierende Frau und ihre Wahrnehmung
aussprechlichen Genuss« und erfordere zum vollen Verständnis ein verwandtes Gemüt.2' ׳Andere
in der bürgerlichen Kultur 1750-1850, Frankfurt am Main/ Leipzig 1991; Eva Rieger und Monica Steegmann (Hrsg.),
wiederum sahen in Chopin den Kunstgeist gar dreier Nationen vereint: »Der ritterliche Sinn
Frauen mit Flügel, Frankfurt am Main 1996; Stefana Sabin,
und der geschichtliche Schmerz des Polen, die leichte Anmut und Grazie des Franzosen, der ro-
Frauen am Klavier. Skizze einer Kulturgeschichte, Frankfurt
mantische Tiefsinn des Deutschen...«25
am Main 1997; Nancy B. Reich, Clara Schumann. The artist and the woman, Ithaca 22OO1.
Kellers bravouröser Umgang mit Schwarz verdient besonders hervorgehoben zu werden, ebenso wie der komplementäre Kontrast von Grünton und Rotnuancen. Aufsehen und Wider-
Spruch habe die ungewohnte Farbskala des Werkes erregt, schreibt Josef Popp 1908. Keller habe »die überraschenden Übergänge, das schwermütig Berauschende, die Haschischstimmung in
22 Fuchs 1907, S. 289-290. 25 Zit. aus Camille Bourniquel, Frederic Chopin, Hamburg 1984 (1. Aufl. 1959), S. 171, 173. 2* Handlexikon der Musik. Eine Enyclopädie der ganzen Tonkunst, hrsg. von Friedrich Bremer, Leipzig [18821, S. 92.
Chopins Musik nachschaffen« wollen, »indem er bestimmte Farben auswählte und so zueinan-
25 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 4, Leipzig/Wien s1895,
der stellte, dass sie ähnliche physiologische und psychologische Resonanzen wecken mussten«.
S. 110.
24
Chopin · Eine Pinselspitzenübung
Das Sujet sei nicht geläufig gewesen, habe man doch damals eine Vorliebe gehabt für »Bauern, Landsknechte und die deutsche Spiessbürgerlichkeit in Renaissancetracht«. Und weiter: »Keller dagegen gab ein Stück lebendiger Gegenwartskultur und verwies damit auf die Reize eines ver-
feinerten Gesellschaftslebens, als deren Repräsentantin ihm die Frau erscheint.«26 An anderer Stelle bezeichnete Popp Chopin als »ein herrliches Stück reiner Malerei«.27 »Die Stimmung des Salons« sah Hans Rosenhagen 1912 hier vortrefflich zum Ausdruck ge-
bracht. Im »Kolorismus« des Bildes klinge »die reizende Melancholie, die schmerzliche Schwärmerei der Chopinschen Musik« wieder. Und: »Zu Beethoven würden diese Farben nicht pas-
sen.«28 Kellers Chopin gehört - wie bereits im Seicento die Gemälde des Bergamasken Evaristo
Baschenis29 - zu den vorbereitenden Schritten in Richtung der in Wassily Kandinskys abstrakten Bildern kristallisierten reinen Malerei, einer peinture pure, die wie keine andere Musik und
Malerei zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen sollte. “ Popp 1908b, S. 140-1«.
Dass die Synästhesie Keller zumindest intuitiv vertraut war und in besonderem Masse inter-
27Popp 1908a, S. 217. 28 Rosenhagen 1912, S. 38.
essierte, lässt sich nicht nur aus seiner Doppelbegabung für Malerei und Musik schliessen - in
29 Zu Baschenis (1617-1677) siehe Gian Casper Bott, Der Klang
seiner Wohnung wie im Atelier stand ein Flügel der Berliner Firma Bechstein -, sondern auch
im Bild. Evaristo Baschenis und die Erfindung des Musik-
aus seinem im Lauf der Jahre sich entwickelnden Hang zum Okkulten; Phänomene im Grenz-
Stillebens, Berlin 1997. Dort auch Überlegungen zum Paragone
bereich zwischen Leben und Tod, zwischen objektiver Wahrnehmung und suggestiver Täu-
Malerei und Musik. 50 Berlepsch 1897, S. 193. - Zu Berlepsch (1849-1921), dessen
schung zogen ihn an. Ein eigentümliches Charakteristikum Kellers ist ferner seine Vorliebe für
Hauptwerke die Innenausstattung der Villa Tobler in Zürich
Überblendungen jeder Art. In seinen besten Bildern war der Maler gleichsam auf der Suche
und die Ausstattung seiner eigenen Villa in München-Planegg
nach einer Einheit der Künste. »Musik ist für mich immer Anregung, denn unwillkürlich ent-
sind, siehe: Christina Melk-Haen, Hans Eduard von BerlepschValendas. Wegbereiter des Jugendstils in München und Zü-
springen der akustischen Empfindung optische Vorstellungen; ich sehe ganze grosse Gebilde
rieh, Egg 1993.
vor mich hingezaubert und gar viele meiner Arbeiten sind solchen Eindrücken entsprungen.«
5’ Zum beliebten Topos der Böcklin-Literatur, wonach seine
So soll sich Keller in den 1890er Jahren gegenüber Hans Eduard von Berlepsch-Valendas ge-
Gemälde musikalisch wirken und gleichsam aus Musik ge-
äussert haben.30 Eine Betrachtung unter dem Aspekt des Klanglichen ist demnach dem Be-
schaffen seien, siehe: Andrea Gottdang, ·Man muss sie singen hören·. Bemerkungen zur ·Musikalität· und ·Hörbarkeit· von Böcklins Bildern, in: Arnold Böcklin (Ausst.Kat. Basel/Paris/ München), Heidelberg 2001, S. 131-137.
52 Aus der Literatur zur holländischen Genremalerei des
trachter ans Herz gelegt.31 Kellers gemalte Reverie ist der zur Entstehungszeit bewunderte Versuch, eine musikalische
Stimmung einzufangen, modern und zugleich die Interieurmalerei des holländischen Goldenen Jahrhunderts aktualisierend: Maler wie Gerard Ter Borch, Jacob Ochtervelt oder Caspar Net-
17. Jahrhunderts sei hier auf einige Publikationen des Autors
verwiesen: Niederländische Gemälde, in: Die Sammlung Max
scher, ja selbst Jan Vermeer könnten einem in den Sinn kommen.32 Vasen und Nippes auf dem
Geldner im Kunstmuseum Basel, Basel 2000, S. 31-137; Die
Klavier komponiert Keller zu einem Stillleben Chardinscher Anmutung, das leises Bedauern
alten Meister, in: Stiftung Sammlung E. G. Bührle Zürich,
aufkommen lässt, dass er keine autonomen Proben dieses Genres geliefert hat.33 In Kellers
Bd. 1, hrsg. von Lukas Gloor und Marco Goldin, Conegliano
2005, S. 84-144,150-157; ·Pictor in tabula·. Jan Vermeer und
eine Ausstellung in Washington, in: ·Diletto e Maraviglia·.
Gegenwart verweist der fernöstliche - japanische oder chinesische - Lackschirm, ein damals gerade in Mode gekommenes Requisit gehobener Wohnkultur. Erstrangige orientalische Tradition
Ausdruck und Wirkung in der Kunst von der Renaissance bis
hingegen vermittelt der obligate Teppich. Bildwelten verschiedener Zeiten und Kulturräume
zum Barock, hrsg. von Christine Göttler u.a., Emsdetten 1998,
anklingen zu lassen, muss Keller ebenso gereizt haben wie das Kombinieren gänzlich dispara-
S. 290-305.
53 Vgl. Gian Casper Bott, Chardin in seiner Zeit. Stilleben und
ter ornamentaler Muster.
Genrebilder in der Kunsthalle Karlsruhe, in: Neue Zürcher
Gleichsam eine Herkules am Scheideweg-Situation setzt Keller in seiner bezaubernden Musi-
Zeitung, 9. August 1999, Nr. 182, S. 22; ders., Mit Cezanne im
kalischen Unterhaltung von 1871 (Kat. 19) in Szene: Der mit Keller eng befreundete Artillerie-
Malerhimmel. Zur Chardin-Ausstellung in Paris, in: Neue Zür-
Offizier Christian Keyl steht vor einer hohen Tür mit zurückgeschlagenen Vorhängen, die den
eher Zeitung, 23.Z24. Oktober 1999, Nr. 247, S. 65. Zum weiten Feld dieser Bildgattung siehe Gian Casper Bott, Stillleben, Köln
Blick auf eine Dame am Klavier offenbaren, derweil im Vordergrund eine zweite elegant ge-
2008.
kleidet im blauen Fauteuil sitzt, verträumt auf ihn blickt und den vergänglichen Klängen lauscht.
Kolorismus und Melancholie · Synästhesie, Überblendungen, Reverie
25
16 Rokoko-Dame im Park, um 1872 öl auf Leinwand, 56,5 x 47 cm
17 Zur Audienz, 1872 Öl auf Leinwand, 106 x 91,5 cm
18 Schloss Schleissheim, 1869 Öl auf Leinwand, 75,5 x 61,5 cm
19 Musikalische Unterhaltung, 1871 Öl auf Leinwand, auf Karton aufgezogen, 50 x 36,5 cm Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek
20 Traurige Nachricht, um 1871 Öl auf Leinwand, 62,5 x 53,5 cm
21 Chopin (Variante), um 1873 Öl auf Leinwand, 52 x 41,5 cm
Romantische Akte Kellers Akt am Strand von 1874 (Kat. 23) ist offensichtlich eine unmittelbare Reaktion auf Arnold Böcklins 1873/74 entstandenes Meisterwerk Triton und Nereide34 (Abb. 2), das Keller sehr beeindruckt
haben muss. Adolf Friedrich von Schack, für den Böcklin das Bild gemalt hat, beschrieb es 1881 im Katalog seiner Sammlung: »Ein Triton,
in der Mitte des sturmgepeitschten Oceans auf einer Felsklippe sitzend, stösst in sein Muschelhorn, um die anderen Meerbewohner heranzurufen. Neben ihm ruht eine Nereide rückwärts auf dem Fels-
gestein und liebkost eine mächtige Schlange, die wahrscheinlich ihre
I
Gespielin auf dem Meeresgründe ist. Es herrscht ein wilder Jubel in
dieser Scene; man glaubt, das Sausen und Wehen des Naturgeistes,
das Jauchzen der Elementargötter im Kampfe der entfesselten Mächte des Meeres und der Lüfte zu vernehmen.«35 Unter dem Eindruck dieses Gemäldes hat Max Jordan eine zweite, heute verschollene Fas-
sung für die Nationalgalerie in Berlin bestellt und 1875 erhalten.36 Das Bild in der Schack-Galerie hat seine Wirkung auch auf Franz Stuck
nicht verfehlt, der 1891 mit seinem berüchtigten Gemälde Die Sünde darauf reagierte, was nicht nur ein flüchtiger Blick auf die Schlange verrät.
Zu Gischt zerstiebende Meereswellen und wogende Leidenschaft vereint das Centaurenpaar am Meeresstrand (Abb. 4) im Kunsthaus
Zürich, ein um 1883 entstandenes Bild von Bruno Piglhein, dem nachmaligen ersten Präsidenten der Münchner Secession, der in seiner symbolistischen Tendenz einzelne Aspekte der Kunst von Gabriel von
Max, Albert von Keller und Franz von Stuck vorwegnimmt. Das Gemälde ist vermutlich mit dem Werk Einsam zu identifizieren, das
1883 bei der Internationalen Kunstausstellung in München gezeigt wurde.37 Der Kentaur ist ein Pferdemensch der griechischen Mythologie: Sein animalisches Begehren ist unbeherrscht und
lüstern. »Ein Centaurenpaar hält sich am Meeresstrand innig umschlungen und sieht der untergehenden Sonne nach, den herandrängenden Wogen entgegen. Das Bild ist düster bis zum Un-
heimlichen und dabei merkwürdig gross erfasst. Wie da die eine Naturkraft im Ansehen der anderen erschauert, wie da alles Leben der Erde in einem gewaltigen Accord zusammentönt!«,
Abb. 2 Arnold Böcklin (1827-1901) Triton und Nereide, 1873/74 öl auf Leinwand, 105 x 194 cm Schack-Galerie, Bayerische Staatsgemäldesammlungen München Abb. 3 Franz von Stuck (1863-1928) Syrinx blasender Faun am Meer, um 1914 öl auf Holz, 57 x63 cm Galerie Katharina Büttiker Art Nouveau - Art Deco, Zürich
so wird das Bild 1897 beschrieben.38 Und William Ritter hatte bereits 1894 von »zwei prächtigeln)
Kentauren« berichtet, »am Strand eines grauen und stürmischen Meeres, umschlungen, sie und er, im Begriffe, sich zum Wellenritt in die steigende Flut zu stürzen«.39 Dass dieser Szene ein
»Kampf ums Weib«40 vorausgegangen ist, bleibt im Bereich des Möglichen.
»Einsamkeit behagt denen vom Stamme der Zentauren weniger. Da braust einer aus dem Walde heraus mit donnerndem Galopp, schlägt die Erde mit den Hufen und die eigene Brust
mit den Fäusten, wirft den Schweif und brüllt in die leere Luft. Ihn reitet die Sehnsucht, ihn rei-
M Siehe Rolf Andree, Arnold Böcklin. Die Gemälde, Basel/ Mün-
tet Eros«, notiert Otto Julius Bierbaum zu Franz von Stucks Nach Sonnenuntergang von 1891.41
chen’1998, Nr. 284.
Eine prominente Rolle spielen Kentauren bereits in Kunst und Literatur der klassischen Antike,
55 Adolf Friedrich von Schack, Meine Gemäldegalerie, Stullgart 1881, S. 150-151.
später dann bei Botticelli oder Michelangelo. Die Kentauromanie der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts wurde von Arnold Böcklin ausgelöst, mit mehreren Werken, in denen Pferdemensehen allein am Wasser oder am Waldrand mit einer Nymphe gezeigt werden, beim Besuch in der Dorfschmiede, im Zusammenhang mit Nessus und Deianeira oder in wüste Kampftumulte
56 Andree ’1998, wie Anm. 34, Nr. 294.
57 Boellicher 1898, Nr. 10. M Heinrich Rillberg, Bruno Piglhein, in: Velhagen und Klasings
Monatshefte 12, 1897/98, Nr. 1, zit. aus Kunsthaus Zürich,
Gesamtkatalog der Gemälde und Skulpturen, bearb. von
verwickelt.42 Faune und Kentauren bevölkern auch Franz von Stucks Bildwelten.43 In der Ge-
Christian Klemm, Franziska Lenlzsch, Gian Casper Boll u.a.,
staltung des auf dem Rücken liegenden Fauns nimmt Stucks Syrinx blasender Faun am Meer
Ostfildern 2007, S. 265.
32
Am Strand · Wogen der Leidenschaft
Abb. 4 Bruno Piglhein (1848-1894) Centaurenpaar am Meeresstrand, um 1883 öl auf Leinwand, 132 x 180 cm Kunsthaus Zürich
von 1914 (Abb. 3) ein Böcklinsches Motiv auf und kombiniert es mit einer Reminiszenz an Lenbachs Der Hirtenknabe von 1860, dem berühmten Bild in der Schack-Galerie in München. Bezug
nehmend auf unverwechselbar münchnerische Bildwelten schafft er durch Stil und Stimmung ein neues Werk von unverkennbar Stuckschem Reiz. Mit Arthur Schnitzlers Traumnovelle von 1926 hat Kellers Weiblicher Akt mit Maske von
1877 (Kat. 22)44 schon aus chronologischen Gründen nichts zu tun; thematische Analogien fin-
den sich jedoch, wenngleich in gänzlich anderem Zusammenhang, im Aspekt der Maskenero” Ritter 11867-19551 1894, S. 15-16.
40 So der Titel eines 1905 entstandenen Gemäldes von Franz von Stuck, siehe: Otto Julius Bierbaum, Stuck, Bielefeld/ Leip-
tik. Wie schon für Akt am Strand von 1874 und für Andromeda von 187645 stand auch hier das
junge Modell Bonicella Berteneder aus Landshut (1858-1901) zur Verfügung, die nachmalige
zig *1924, Abb. 122. Das Werk ist auch illustriert in Die Kunst
Gattin des Malers Hans Thoma.46 Wie aus dem mit feiner Malerei nachgeschöpften Inkarnat
für Alle, Jg. 23, 1908, S. 527, im gleichen Jahrgang, in dem
und aus den Rosen zu Füssen des maskierten Akts ersichtlich, muss Keller eine starke Zuneigung
auch Kellers Werk Die Liebe abgebildet ist.
zu dem jungen Modell und ihrem wohlgeformten Körper gehegt haben, einen Leib, den er als
** Bierbaum *1924, wie Anm. 40, S. 41, Abb. 43.
42 Siehe Andree ’1998, wie Anm. 34, Nr. 97, 266, 319/320, 323,
geschickter Stratege der Blicklenkung da ins Licht rückt und dort in den Schatten gleiten lässt.
368, 408, 465. - Zur Kentaurenthematik sei zum Vergleich
Von der Frau teilweise verdeckt, erscheint hinten ein Bild mit Adam und Eva unter dem Apfel-
noch verwiesen auf Otto Greiner, Kentaurenpaar über eine
bäum, das in seiner Andeutung von Versuchung und Sündenfall wie eine thematische Vorweg-
Hecke springend, 1891, Radierung, abgebildet in: Julius Vogel,
nähme späterer symbolistischer Werke anmutet.
Otto Greiner, Bielefeld/Leipzig 1925, S. 11, Abb. 17.
43 Siehe etwa Bierbaum *1924, wie Anm. 40, Abb. 39: /Auf
Bauml Schlafender Faun, 1891. ** Eine Studie dazu befindet sich in der Sammlung Dr. Oskar A.
»Moderne Dämchen«
Müller: Albert von Keller, Studie zu Weiblicher Akt mit Maske,
um 1877, Öl auf Holz, 30 x 13 cm. 45 Neue Pinakothek, Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Eine Reihe meist kleinformatiger Gemälde aus den 1870er Jahren bezeugt Kellers intensive Be-
München, Inv.-Nr. 8751, siehe Ludwig 1977, S. 117.
schäftigung mit der holländischen Malerei des Goldenen Jahrhunderts. Bilder wie Schloss
46 Rosenhagen 1912, S. 42; Müller 1981, S. 20. - Bonicella Ber-
Schleissheim, Erinnerungen, Dame mit Fächer, Die Näherin, Die Spieler oder Abschied der
teneder findet sich auch auf Gemälden von Victor Müller
(1830-1871), z. B. in Blumenmädchen von 1871, Slädel Mu-
Reiter (Kat. 18, 24, 25, 27, 28, 37) nehmen deutlich darauf Bezug. Es fällt auf, dass ihr Verhält-
seum, Frankfurt am Main, sowie bis in ihre letzten Lebens-
nis dazu nicht nachahmender, sondern aktualisierender Art ist; so erstaunt es kaum, dass Bild-
jahre auf mehreren Bildern von Hans Torna.
täfelchen aus dieser Zeit, oft zusätzlich noch mit Watteauschem Esprit angereichert, von der
47 Friedrich Pecht, Aus dem Münchener Glaspalast. Studien
damaligen Kritik als »moderne Dämchen« bezeichnet werden konnten. Der Begriff stammt von
zur Orientierung in und äusser demselben während der
Kunst- und Kunstindustrie-Ausstellung des Jahres 1876,
Friedrich Pecht, dem damaligen Kritikerpapst in München.47 Das Diminutiv bezieht sich auf das
Stuttgart 1876, S. 63.
Bildformat. Gemeint sind kleine, bei Sammlern begehrte Gemälde in flockigem Stil, oft mit weiss
Münchnerische Bildwelten · Das Goldene Jahrhundert · Watteau
33
22 Weiblicher Akt mit Maske, 1877 öl auf Eiche, 50 x 22 cm Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek
23 Akt am Strand / Abend, 1874 Öl auf Holz, 22,5 x 49,5 cm
24 Erinnerungen (Studie), um 1876 Öl auf Leinwand, 18 x 16 cm
25 Dame mit Fächer, um 1874 Öl auf Leinwand, auf Karton aufgezogen, 21 x 20 cm
26 Dame im Cape, um 1877 Öl auf Holz, 22 x 13 cm
1·
II
ן
28 Die Spieler, um 1875 Öl auf Karton, 43 x 32 cm
29 Verwundeter Ritter / Der tote Ritter im Wald (Schnee), 1878 Öl auf Leinwand, 29 x 39 cm
gekleideten Damen mit Anklängen an Ter Borch und Watteau (siehe Kat. 7,11, 24, 25 oder 30).'·8
In den frühen 1870er Jahren schuf Albert von Keller vier Kopien - präziser: verkleinerte Um-
Setzungen nach Frauenbildern alter Meister: eine Königsgattin von Holbein, eine Infantin von
Velazquez, eine Gräfin von van Dyck, eine Lautenspielerin von Ter Borch.'·’ In den 1910er Jahren aktualisierte Keller den Stil seiner »modernen Dämchen« abermals, so in Bildern mit Frauen
im Rüschenkleid (wie Kat. 135). Schon um 1900 wurde er gerühmt als der Maler moderner
Damen »mit feinen, blassen Gesichtern, lockenden, traumverlorenen Augen, voll Elegance und
Caprice«.50 Das Bild Die Spieler (Kat. 28) fesselt den Blick durch ein flatterndes Rot in Van Dyckscher Manier. Die um 1876 entstandene Studie zu Erinnerungen dokumentiert die verschollene Haupt-
fassung.51 Kellers Näherin von 1877 (Kat. 27) ist im Zusammenhang zu sehen mit der Tafel Die
letzten Stiche von 1879.52 Bei dem Verwundeten Ritter von 1878 (Kat. 29) dürfte es sich um das
Bild handeln, das Albert von Keller in einer 1902 für Fritz von Ostini verfassten Liste seiner
Hauptbilder55 wie folgt benennt: »Der todte Ritter im Walde (Schnee)«. Der Sammler Oskar A. Müller nannte es Der Duellant·'‘ ;׳als weiterer Titel sei Die gebrochene Lanze ins Spiel gebracht.
Salons, Freunde, Fremde 1882/83 wohnten Irene und Albert von Keller zum Teil in Paris, in der Rue de Chäteaudun Nr. 30,
unweit der 1875 eröffneten Oper, dem legendären Palais Garnier. Freundschaftliche Kontakte zu
Mihäly Munkäcsy (1844-1900) sind bezeugt.55 Der berühmte ungarische Maler, der lange Zeit in der französischen Metropole lebte und sich nach einem sozial und politisch engagierten Frühwerk mit Erfolg der Salonmalerei zuwandte, führte dort ein fürstengleiches Leben, ermöglicht
durch seine Ehe mit der vermögenden Baronin de Marches. Die beiden Maler, deren Kunst in diesen Jahren eine beachtliche Wesensverwandtschaft aufweist, mögen sich noch von früher gekannt haben, hatte sich Munkäcsy doch von 1866 bis 1868 in München aufgehalten, um seine
in Budapest und Wien begonnenen Studien fortzusetzen. Es ist für Keller charakteristisch, dass er in seine Genrebilder Portraits einbaute; andererseits
Weitere Bilder dieser Art sind abgebildet in Müller 1981, Abb. 39 (Dame in Weiss, um 1874, Sammlung Georg Schäfer,
Schweinfurt), 40 (Dame in Sessel, 1874), 47 (Dame in Lehn-
Stuhl, 1876, Kunsthistorisches Museum, Wien), 52 (Der Por-
eignet gerade seinen Genrebildern eine eigentümliche Stilllebenästhetik. In mehreren Werk-
trätmaler, 1878, ehemals Nationalgalerie, Berlin), 68 (Die
gruppen huldigt Keller seiner Liebe zur Mannigfaltigkeit. So sind die beiden 1883 in Paris ge-
kleine Pariserin, um 1882, Sz£pmüv£szeti Muzeum, Buda-
malten Bilder mit Milli Beckmann (Kat. 32,33) leicht orientalisierende Variationen des Themas
pest). - Zu den Bildern Albert von Kellers in der National-
galerie in Berlin siehe: Staatliche Museen zu Berlin, National-
»Frau auf türkischem Sofa«: Jedes der Bilder ist Träger einer anderen farbigen, formalen und
galerie. Gesamtverzeichnis der Gemälde und Skulpturen,
dekorativen Idee. Milli Beckmann mit Tochter reflektiert, in erster Linie auch farblich, die vor-
CD-Rom, Berlin 1999. Von den ehemals fünf Bildern sind drei
gefundene Situation, die mit Pariserin auf Ottomane in ein anderes Format überführt und vom
ab 1945 verschollen: Der Bildnismaler, Damenbildnis, Gar-
Abbild zum Bild wird. Maurice Denis’ 1890 formulierter Spruch fällt ein, wonach ein Bild in
tenterrasse vor der Villa Albani; noch vorhanden sind Über-
führung der Leiche des französischen Generals Latour d'Au-
erster Linie eine Oberfläche ist, bedeckt mit Farben, die in einer bestimmten Ordnung gruppiert
vergne (Skizze) und Mädchenbildnis.
sind. Wie bereits in dem Gemälde Mirni von Ramberg (Kat. 31) von 1881 wird die Bildfläche
49 Müller 1981, S. 17. Diese Kopien gelangten über Kellers
gleichsam zum ornamentalen Muster, hier noch betont durch die Vorführung von partienweise
Erben nach Schweden und sind heute Teil der in das Kunst-
impressionistisch inspirierter peinture pure. Die Protagonistin als deutsche Bekannte wird in die Rolle einer fiktiven französischen Romanfigur versetzt; die blaugrünliche Wand wird zum
fond rouge, der virtuos in Szene gesetzte Schirm zum rosa Parapluie. Wäre das Bild von Ca-
mille Corot gemalt - was es freilich nicht ist -, würde man von einer »Existenzfigur« sprechen.
haus Zürich gelangten Sammlung Dr. Oskar A. Müller. ׳° Josef Popp in: Bayerischer Courier, 12. Dezember 1899, in:
Urteile 1900, S. 32-33.
51 Müller 1981, Abb. 45. Siehe auch hier Anm. 14.
52 Ibid., Abb. 48. Siehe auch Rosenhagen 1912, S. 42-44, Abb. 16.
Den Salon als private Stätte freundschaftlichen und kulturellen Austauschs inszeniert Keller
“ Antwortschreiben Albert von Kellers an Fritz von Oslini,
1884 in Eine Tasse Tee (Kat. 30). Den beiden Freundinnen wird der Status von Typen ohne aus-
München 119021 (BSB München, Ostiniana IX, Keller, Albert
geprägte Individualität verliehen: Sie geben sich genüsslich dem bürgerlichen Ritual von Be-
V.), publiziert in: Fuhr 2004, S. 571-574; Aufzählung der Haupt-
such und Gegenbesuch hin und sind in der intimen Ambiance des geschilderten Interieurs
werke S. 572-573.
*׳׳Müller 1981, Abb. 51.
bestens aufgehoben, zu deren Beseelung sie ebenso beitragen wie Bild und Spiegel, eine japa-
»Ibid., S. 49.
nische Puppe56 oder Kissen und orientalischer Beistelltisch. Durch sensible Pinselführung und
56 Siehe ibid., Abb. 237: Die japanische Puppe, um 1882.
40
Pariserin, alia turca
koloristische Brillanz wird das Werk zu einem Stück Malerei verwoben, das durch seinen Stirnmungsimpressionismus Seelisches anklingen lässt.
Von Experimentierfreude und Freundschaften zeugen die damals entstandenen Portraits. Kellers Deutsche Frau mit weissem Kopftuch von 1884 (Abb. 31) ist eine Hommage an Wilhelm
Leibi, den der Maler persönlich kannte, hatte er doch 1869 mit ihm und Gustave Courbet in
München zusammen, wenn auch nicht gemalt, so doch Bier getrunken. Das 1888 entstandene Bildnis einer Jungen Frau mit Hut (Kat. 36) hingegen wirkt, trotz der deutschen Physiognomie
der Dargestellten, fast ein wenig - un tout petit peu - ä la Manet. Die Freundschaft zu Hugo von Habermann (Kat. 34) dauerte ein Leben lang, und Kellers Jugendfreund Christian Keyl (Kat. 35)
findet sich in Bildern wie Musikalische Unterhaltung oder Diner verewigt (Kat. 19, 60).
Intermezzi im Wald Die frühen Landschaftselemente bei Keller sind auch von Böcklin beeinflusst (Kat. 38). In schattig-entlegenem Waldwinkel stösst Aktäon in Ovids Metamorphosen bei einer Jagdpartie arglos
auf Diana und ihre Nymphen, die ihre ermatteten, entblössten Glieder in lauterem Gewässer erfrischen. Grausam ist die Rache der erschrockenen Mond- und Jagdgöttin; sie verwandelt den
unglücklichen Augenzeugen in einen Hirsch, der alsbald von seinen eigenen Hunden gehetzt und schliesslich zerfleischt wird.57 Das Thema wurde von zahlreichen alten Meistern - von Al-
bani58 bis Tiepolo59 - bildlich umgesetzt: Die Pointe liegt in der Regel in der naheliegenden Vor-
Stellung, dass der mit vielfach variiertem femininen Liebreiz und Malerei umgarnte kunstsin-
nige Betrachter unweigerlich als nächstes Opfer Dianas in höchster Gefahr schwebt. Keller erinnert sich um 1874 in Landschaftsmaler60 an das grosse Sujet, reichert es mit einem Hauch
Salonästhetik, frivolem Neorokoko und deutscher Waldromantik an und aktualisiert das Geschehen durch eine »Dejeuner sur l’herbe-Optik«. Der Maler, ein ahnungsloser Bürger beim
Sonntagsspaziergang in Begleitung seines übermütigen Hundes, schlüpft gleichsam in die Rolle 57 Ovid, Metamorphosen III, 155-252.
Aktäons. Die mehr oder minder nackten, in jedem Fall modernen Frauen reagieren in ver-
58 Vgl. Gian Casper Bolt, Ideal, Idyll und Erotenspiel. Ausstel-
schiedenen Graden von Aufgeregtheit und neckisch-scheuem Verbergen. Die Kombination von
lung Francesco Albani im Louvre, in: Neue Zürcher Zeitung,
weiblichem Inkarnat und fliessendem Wasser findet sich in Kellers (Euvre noch Jahrzehnte spä-
5. Dezember 2000, Nr. 284, S. 66.
59 Giovanni Battista Tiepolo, Das Bad der Diana, um 1743 (sic),
ter, um 1910 in Kaskade (Kat. 104) oder um 1918 in Dame am Brunnen, eine Statue bekränzend
Öl auf Leinwand, 79 x 90 cm, Stiftung Sammlung E. G. Bührle,
(Kat. 128). In der Vielansichtigkeit des Diana und Aktäon-Sujets liegt - wie bei dem von Keller
Zürich. Siehe dazu Gian Casper Bott, Die alten Meister, in:
später mehrmals aufgegriffenen Parisurteil - ein Paragonemotiv mit der bekanntlich »von allen
Lukas Gloor und Marco Goldin (Hrsg.), Stiftung Sammlung
Seiten gleich schönen« Skulptur.
E. G. Bührle Zürich, Kat. I, Conegliano 2005, S. 133-136, 142
und 156, Nr. 28.
»Wie zuckende Nervenverästelungen« wirkten die Bäume auf einer der wenigen reinen Land-
60 Landschaftsmaler, um 1874, Öl auf Holz, 48 x 72,5 cm,
schäften des Malers, bemerkte Josef Popp 1908 nicht zu einem frühen Bild eines Avantgarde-
Kunstmuseum Düsseldorf, Leihgabe der Sammlung Benlinck-
Expressionisten vom Schlage eines Brücke-Malers, sondern zu Albert von Kellers Herbst in Har-
Thyssen; siehe Müller 1981, Abb. 230. Eine Variante des Bildes findet sich in der ans Kunsthaus Zürich gelangten Samm-
laching von 1883 (Kat. 39).61 Er dürfte dabei die in Kellers Frauenbildern beobachteten nervösen
lung Dr. Oskar A. Müller.
Züge ins Landschaftliche projiziert gesehen haben. Ein leises Bedauern könnte in der Tat auf-
61 Popp 1908b, S. 154.
kommen, dass es nicht mehr Proben solcher Seelenschilderungen von Kellers Hand gibt.
Freundschaften · Zuckende Nervenverästelungen
41
i
30 Eine Tasse Tee, 1884 Öl auf Holz, 23,5 x 39 cm
31 Mimi von Ramberg, 1881 Öl auf Leinwand, 35 x 26,5 cm
32 Milli Beckmann mit Tochter, Paris, 1883 Öl auf Holz, 23,5 x 37,5 cm
33 Milli Beckmann, Paris (Pariserin auf Ottomane), 1883 öl auf Holz, 32,5 x 27,5 cm
34 Bildnis Hugo von Habermann, 1882 Öl auf Leinwand, 49 x 39 cm
35 Bildnis Christian Keyl, 1885 Öl auf Karton, 21 x 17,5 cm
36 )unge Frau mit Hut, 1888 Öl auf Karton, 24,5 x 21 cm
37 Abschied der Reiter, 1880 Öl auf Leinwand, 49 x 39,5 cm
38 Waldlandschaft mit Kentaur und Figuren, 1873 Öl auf Leinwand, 27 x 34 cm
39 Herbst in Harlaching, 1883 Öl auf Leinwand, 73,5 x 100 cm
Dolce Vita und Orakel im alten Rom Kaiserin Faustina im Junotempel zu Praeneste, ein erstes grosses, 1882 gemaltes Hauptwerk Kellers (Abb. 5), ist verschollen. Eine von der Neuen Pinakothek 1908 auf der Keller-Ausstel-
lung der Münchner Secession erworbene, fein ausgeführte Vorstudie (Kat. 40)62 gibt die Bildidee auf das Vorzüglichste wieder. Zögernd im Vorraum des Tempels verharrend, steht die in Schwermut verfallene Kaiserin Faustina rechts im Bild. Sie hatte sich in einen virilen, jungen Gladiator verliebt, den ihr Gatte, Kaiser Marc Aurel, aus Rom wegschaffen liess, wie es heisst,
um einen Skandal zu vermeiden. Nicht ahnend, dass Marc Aurel sich mit den Priestern in Praeneste abgesprochen hatte, dem heutigen Palestrina in Latium, wird sie in Bälde das Orakel ver-
nehmen: Sie werde nur Genesung finden, wenn sie sich mit dem Blut des von ihr am meisten geliebten Wesens wasche. Der Blick fällt links im Hintergrund auf das Kultbild der thronenden Göttin Juno. Davor hat sich die Priesterschaft versammelt. Umgeben vom Hofstaat der Kaise-
rin sitzt das weibliche Orakel mit in gestischem Pathos erhobenen Händen. Das Orakel ist Vor-
bote weiterer Figuren im CEuvre Kellers, die sich daraus entwickelten, von wundertätigen Heiligenbildern über diverse - stets weibliche - Medien bis hin zur visionären Kassandra. Faustina ihrerseits wird eine facettenreiche Metamorphose von der imperialen Gefangenen der Liebe hin zur bürgerlichen Femme fatale erfahren und endlich, mit dem Schwert in der Hand, zur blutigen Tat schreiten.
Die ehebrecherische Episode soll im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung erfolgt sein und ist von der im 4. Jahrhundert verfassten Historia Augusta inspiriert.65 Heutige Historiker gehen
davon aus, dass diese Geschichte auf Gerüchten basiert und letztlich wohl von politischen Gegnern frei erfunden ist, zwecks postumer Verleumdung der Kaiserin. Bereits das Brockhaus Con-
versations-Lexikon von 1809 spricht von »ärgerlichen Anekdoten«: Dinge seien der schönen Faustina nachgesagt worden, »deren sich eine freche Messalina nicht hätte schämen dürfen«.64
Ihre Bildnisse, wovon sich eines in der Münchner Glyptothek befindet, zeichnen sich durch
ebenmässige Schönheit aus. Das durch die Antike nobilitierte, dekadente Sujet muss Keller in gleichem Masse angesprochen haben wie die Möglichkeit, die es bot, seine Fähigkeit als Inszenierer eines grossartigen,
52
Säulen, Kränze, Kultbild
Abb. 5 Albert von Keller Kaiserin Faustina im Junotempel zu Praeneste, 1882 Technik und Masse unbekannt, verschollen
gleichsam archäologisch rekonstruierten Bauwerks und dessen Farbigkeit zu beweisen. Keller liefert denn auch eine vorbildliche Bühne - eine scena tragica im Sinne der italienischen Architekturtheorie65 - für die Tragödie, die sich in Faustinas Psyche abspielt. Das innere Drama fin-
det seinen Widerhall in den »heiligen Hallen« des Tempels. Suggestiv und aus chronologischen
Gründen kaum wahrscheinlich ist die Vermutung, die legendäre Eleonora Duse (1858-1924), berühmt für ihre Verkörperung von zumeist leidenden, jedoch Willensstärken Frauencharak-
teren, sei das Modell für die Faustina gewesen. Oskar A. Müller vertrat die wohl korrekte Ansicht, die Schauspielerin Franziska Elmenreich (1847-1931) habe diese Funktion erfüllt.66 Die beiden Annahmen schliessen sich nicht a priori aus, könnte die Düse doch ideal und die El-
menreich real gemeint sein; heutigen Betrachtern schliesslich steht es frei, noch Maria Callas (1923-1977) ins Spiel zu bringen, die Primadonna assoluta des letzten Jahrhunderts. In der Einzelstudie zur Gestalt der Kaiserin Faustina (Kat. 41) - über dem bodenlangen roten Kleid rafft die Frau fest den gleichfarbigen Mantel - legt Keller den Hauptakzent auf die Farbe,
der er die Zeichnung nonchalant unterordnet. Aspekte von Farbensymbolik sind evident. Die Figur erinnert an die einsame Frau im schwarzen Mantel in Arnold Böcklins zwei für den Münchner Grafen Schack gemalten Fassungen von Villa am Meer von 1864 bzw. 1865.67 Das Sta-
tuenhafte ihrer Erscheinung gemahnt an die stelenartige Rückenfigur des Odysseus in Böcklins Meisterwerk Odysseus und Kalypso von 188268, ein Motiv von grösster Suggestionskraft, das wie ein Offenbarungsschock auf Giorgio de Chirico und Alberto Giacometti gewirkt hat: Eingehüllt
in dunkles, fernes Blau sehnt sich der homerische Held über das Meer hinweg nach dem hei-
matlichen Ithaka.69 Antikisierende Gewänder dieser Art haben ihren Ursprung in der pompe-
janischen Malerei.
Das Bestreben, Aspekte von Stil und malerischer Poetik in einer Figur konzentrieren zu wollen, lässt sich bei Keller mehrmals beobachten, nicht nur in seinen »Auferweckungsbildern«. Es sind Kunstfiguren, wie es sie auch in der Literatur gibt. Ein Hinweis auf Alessandro Manzonis
Figur einer Mutter mit ihrer toten Tochter im Arm, auf der Schwelle ihres Mailänder Hauses, in der Scendeva dalla soglia-Passage im »Pestkapitel« des berühmtesten italienischen Romans, 62 Annegret Kotzurek, Pinsel, Stift und Mauerwerk, Architektur der Jahrhunderte in Grafik und Malerei, Tübingen 2003,
S. 62—63.
65 Ludwig 1977, S. 122-123, Inv.-Nr. 8496.
Ipromessi sposi, soll genügen. Von Generationen auswendig gelernt, gehörte sie zu deren kol-
lektivem Gedächtnis.™
Wie das Faustina-Bild zeugen Kellers weitere Evokationen der Antike, die römischen
',',Brockhaus Conversations-Lexikon, Bd. 2, Amsterdam 1809,
Badeszenen (Kat. 42, 43), in denen der Maler das organische mit dem kristallinen Prinzip zu
S.12.
verbinden trachtete, von mehr als einem flüchtigen Blick auf die Malerei von Lawrence Alma-
65 Siehe die scena tragica in einer der Ausgaben von Sebastia-
no Serlios (1475-1554) Architekturtraktat.
Tadema (1836-1912).71 Bereits die damalige Kritik hat dies bemerkt und sich bemüht, die Un-
66 Ludwig 1977, S. 122. Vgl. Franziska Elmenreich, 1886,
terschiede zu definieren. So schrieb Aemil Fendler 1908, das Ziel von Kellers Kunst sei »nicht die
hier Kat. 70.
objektive Wiedergabe dieser oder jener Wirklichkeit«, die den Maler von aussen her anrege,
67 Schack-Galerie, München (Andree 21998, wie Anm.34,
»sondern der Ausdruck subjektiver, zu malerischer Verkörperung hindrängender Stimmungen«.
Nr. 173,174). 68 Kunstmuseum Basel (Andree 21998, wie Anm.34, Nr.372);
Italienischen Eindrücken und »Erinnerungen an die prangende Landschaft des Südens und den
siehe Gian Casper Bott, Kunstmuseum Basel, Zürich/Genf
noch aus den Ruinen schimmernden Glanz des Altertums« sei eine Anzahl seiner schönsten
2004, S. 46-47.
Bilder erwachsen. Weit davon entfernt, »die geschaute Natur abzuschreiben oder die Antike
69 Eine ähnliche hieratisch-stehende Figur in antikisierendem
Gewand findet sich in Böcklins Herbstgedanken von 1886, Pri-
etwa in der Art eines Alma-Tadema rekonstruieren zu wollen«, stellten sie sich »in Formen und
vatbesitz (Andree 21998, wie Anm.34, Nr.402).
Farben als Träume einer frei schaffenden, durch und durch modern gestimmten Phantasie« dar,
70 Alessandro Manzoni, / promessi sposi (1825-1827/18401,
die aus der »Ahnung versunkener Pracht sich eine eigene neue Schönheit« aufbaue, »durch
Kap. XXXIV.
deren freudigen Jubel gelegentlich wohl auch ein leiser Ton melancholischer Wehmut« zittere.72
71 Siehe etwa Rosemary Barrow, Lawrence Alma-Tadema, London 2001.
Fritz von Ostini bemerkte 1914 zu Faustina, »mit der liebenswürdig-kühlen Schilderung der
72 Fendler 1908, S. 514, 516.
Antike, wie sie etwa Alma-Tadema pflegte«, habe das nichts gemein.73 Nicht an Alma-Tadema
75 Ostini 1914a, S. 362.
muss Josep Popp gedacht haben, als er 1908 zur Faustina bemerkte, das Ganze sei »die geniale
7* Popp 1908b, S. 153.
Rekonstruktion eines Künstlers, die sich zu jener der Wissenschaft wie getrocknete Blumen
75 Domenico Morelli, Bagno pompejano, 1861. Siehe Giovanna Ginex, The History of an Art Collection. 19th-20th Century
gegen lebendige verhält«.74 Erotischer als von Keller und gleichsam mit orientalistischem Zauber
Paintings collected by Eugenio Balzan, Lugano 2006, Kat. 26.
angereichert, hat Domenico Morelli (1826-1901) schon früher altrömisches Badeleben gemalt.75
Kunstfiguren · Ahnung versunkener Pracht
53
40 Kaiserin Faustina im Junotempel zu Praeneste, 1881 Öl auf Leinwand, 41 x 81 cm Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek
41 Kaiserin Faustina (Figurenstudie), um 1881 Öl auf Leinwand, 61,5 x 28 cm
42 Römerin mit Kind / Altrömische Phantasie, um 1882 Öl auf Holz, 26 x 36 cm
43 Römisches Bad (Studie), um 1884 Öl auf Leinwand, 42 x 52 cm
Hypnotische Energie, okkulte Malerei Im Neuen Testament wird berichtet, wie Christus die verstorbene Tochter von Jairus - des Synagogenvorstehers von Kapharnaum - ins Leben zurückholt.76 Flötenbläser und lärmendes Volk
waren in dessen Haus, als Jesus es betrat. Er sprach die berühmten Worte: »Gehet hinweg; denn das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft.«77 Kellers Interesse für Menschenansammlungen und »Massenszenen« fällt auf. Er versteht es, sie mit wenig dem geschilderten Ereignis
zuschauenden Bildpersonal in eine visuelle Formel zu fassen: im Auferweckungsbild (Kat. 44) ebenso wie in Hexenschlaf (Abb. 10) oder im La Tour-Bild (Kat. 55). Indem er ein Geschehen
schildert, von dem Jesus wünschte, es möge niemand erfahren,78 dessen Gerücht sich jedoch »in jener ganzen Gegend« verbreitete,79 bringt er das Unerhörte und Unmalbare ins Bild.
Aus dem biblischen Sujet macht Keller das zentrale »moderne« Historienthema seines (Euv-
res. Weit ausführlicher als die drei synoptischen Evangelien berichten Clemens Brentano und
Katharina Emmerick vom Auferweckungswunder.80 Nach den Visionen der populärsten Stigmatisierten des 19. Jahrhunderts wurde die Tochter von Jairus, die hier »Salome«8' heisst, rück-
fällig: »Es war in dem Hause eine eitle Weiberwirtschaft, sie schmückten sich mit dem neues-
ten heidnischen Putz. Als das Mädchen wieder gesund war, lachten und spöttelten die Weiber
über Jesus mit ihr selbst und sie stimmte mit ein. Das Mädchen aber war etwa im elften Jahr und auf dem Punkte ihrer Mannbarkeit. Neulich war sie noch ganz in der Unschuld gewesen,
aber der Leichtsinn der Eltern in ihrer Gegenwart, allerlei Schmausereien und Geschenke und Putz nach ihrer Genesung, und der Besuch und das Getändel mit einigen jungen Freiern, bei wel-
chen sie von unreinen Begierden und Küssen und Augenlust nicht rein blieb, hatte ihre Un-
schuld befleckt.«82 Christus holt sie schliesslich ein zweites Mal zurück ins Leben, das sie von nun
an auf dem Weg der Tugend führt. Den Eindruck der Wahrscheinlichkeit ruft Keller weniger durch die sorgfältig studierte, gleichsam archäologisch rekonstruierte Szene hervor, als durch die Handlung als solche. Er malt
»Wunder« zu einer Zeit, als diese bereits in einen bis heute andauernden Entzauberungspro-
zess geraten sind. Er ist an »Wundern« mannigfacher Ausprägung interessiert, lässt ihnen das Rätselhaft-Numinose und versucht gleichzeitig, sie »wissenschaftlich« zu erklären. Wie er im
Bereich des Gesellschaftlichen auf der Suche nach Exklusivität ist, reizt ihn hier das Exzeptionelle. Er schildert mirakulöse Ereignisse im Spannungsfeld von überliefertem religiösen Ge-
dankengut und säkularisiertem Wissensdrang. Der Ausblick in einen böcklinesken Hintergrund, eine Art Seelenlandschaft, trifft Ton und
Stimmung der ernsten und feierlichen Szene. »Herrlich ist der farbige Gesamteindruck des Wer-
76 Matthäus 9,18-26; Markus 5,22-43; Lukas 8,40-56.
kes, und doch behält man von diesem leuchtenden Reichtum eigentlich nur zwei Farben im Ge-
77 Matthäus 9,23-24. Der zweite Teil dieses Zitats war im
dächtnis: das unbeschreiblich schöne Weiss der Hüllen und Leinentücher, die zu dem erwa-
19. Jahrhundert ein beliebter Grabspruch.
78 Markus 5,43; Lukas 8,56.
chenden Mädchen gehören, und das ganz eigentümliche scharlachne Rot im Gewände des
79 Matthäus 9,26.
Heilands. Wie das Weiss dann im Gelb des Marmors und in grauen Tönen ausklingt, das Rot mit
80 Das Leben unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Nach
Grün und Blau in Kontrast gebracht ist - das zeugt von einem unglaublich feinen, jeder Steige-
rung fähigen Farbensinn«, schreibt Hans Rosenhagen 1912 zur kompositionell bedeutsamen
Farbigkeit der Erweckung.
Ein anderes Rot wird Lovis Corinth ähnlich gekonnt in einem seiner letzten Gemälde in Szene setzen, dem grossen Ecce Homo von 1925, das sich ehemals in Berlin und seit 1939 im Kunst-
den Gesichten der gottseligen Anna Katharina Emmerich aufgeschrieben von Clemens Brentano, Bd. 1-2; Regensburg 1858,
Bd.3, Regensburg 1860.
81 Ibid., Bd.2, S.185.
82 Ibid., S. 182. 85 Rosenhagen 1912, S. 60. 84 Siehe Gian Casper Bott, Kunstmuseum Basel. Zürich/Genf
museum Basel befindet; das prächtige Purpurrot, in das Christus gehüllt ist, reflektiert die Farbe einer Schlafwagendecke, die Corinth bei einer Zugfahrt fasziniert hatte. »Ein Neues habe ich ge-
funden: die wahre Kunst ist UnWirklichkeit üben. Das Höchste!«, notierte der Maler 1925 in sein Tagebuch.84 Mit Anklängen an Rembrandtsches Clair-obscur und Rubensschen Farbenschmelz
2004, S. 86-87, Nr. 115.
85 Rosenhagen 1912, S. 60. 86 Keller 1899. 87 Ludwig 1977, S. 129. 88 Zu Carl du Prel siehe Pytlik 2006, S. 664-665, mit Bibi. - 1889
appelliert Keller in der Erweckung an Geschmack und Bildung des Publikums; ein Mittel mehr,
hat Keller du Prel portraitiert; siehe Müller 1981, Abb. 98 (im
das Bild sozusagen salonfähig zu machen.
Besitz der Bundesrepublik Deutschland).
58
Das Unmalbare · Leuchtender Reichtum
״Die Auferweckung einer Toten«85 heisst das Bild 1912 in Rosenhagens Keller-Monographie, im Bruckmann-Prachtalbum von 189986 nur »Auferweckung«. Diese Titel sind mehr im Sinne Kellers als die heute
gängigeren Bezeichnungen, von denen sich Die Erweckung der Tochter des Jairus" eingebürgert hat, denn sie sind moderner, lenken sie
doch vom biblischen Ereignis und dem feinen Heiligenschein um Christi Haupt weg und richten das Augenmerk auf ein Phänomen von allgemein menschlichem und nicht ausschliesslich religiös inspirier-
tem Interesse. Keller ging es kaum darum, die Illustration zu einer Episode aus den Evangelien zu liefern: Er versuchte im Geiste seiner
eigenen Zeit Fragen nach dem Wesen des Lebens oder dem Rätsel des Menschen ins Zentrum zu stellen. Mit den Worten seines Freundes,
des Philosophen und Nestors der deutschen Parapsychologie Carl du Abb. 6 Maximilian Höhn »Suggestion durch ein vorgehaltenes Bild«, München, 1887 (rechts Albert von Schrenck-Notzing) Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg i.Br.
Prel (1839-1899)88 formuliert, hiesse das: »Woher kommen wir? Wozu leben wir? Wohin gehen wir?«8’
Christus erscheint gleichsam als Magnetiseur, der sein Medium aus der Hypnose holt - und
nicht etwa im Begriff ist, sie in einen somnambulen Zustand zu versetzen. Ein Vergleich mit
dem Bild Hypnose bei Schrenck-Notzing (Kat. 73) drängt sich auf: Das Gebärdenspiel der beiden Protagonisten in dieser spiritistischen Seance weist ebenso analoge Züge auf wie die Aufteilung
der Rollen nach traditionellem Geschlechterverständnis, wonach der Mann der aktiv Handelnde
ist, während die Frau sich führen lässt und seiner Kraft hingibt. Die durch die Malerei Kellers bewirkte Suggestion wurde in einer Fotografie von 1887 »dokumentiert« (Abb. 6). Diese wurde 89 Du Prel 1892, S. 43.
von Leutnant Maximilian Höhn während eines »photographischen Experiments« mit dem
90 Zu Albert von Schrenck-Notzing siehe Pytlik 2006, S. 669-
Medium Lina im Atelier Kellers, mit dessen »künstlerischer Beihilfe« und in Anwesenheit von
670, und Andreas Fischer, In der Dunkelkammer eines Medienforschers: Albert von Schrenck-Notzing, in: The Message.
Albert von Schrenck-Notzing (1862-1929)’° aufgenommen. Sie zeigt, wie durch das Vorhalten
Kunst und Okkultismus - Art and Occultism. Mit einem Essay
einer Reproduktion von Kellers Erweckung ein hypnotisiertes Medium »die Stellung und Ge-
von Andrö Breton, hrsg. von Claudia Dichter u.a. (Ausst.Kat.
bärde der Auferweckten« nachahmt.’1
Kunstmuseum Bochum), Köln 2007, S. 137-142. - Berühmt
Der Glaube an die Kraft nicht allein der Malerei, sondern auch der Fotografie, ist frappierend.
wurde Schrenck-Notzing durch seine Forschungen über Hypnose und Parapsychologie. Das Vorbild der englischen Society
Josef Popp schreibt 1899 in anderem Zusammenhang, Kellers »farbige Darstellung« gebe sich »in
for Psychical Research vor Augen, gründete er 1886 gemein-
funkelnder, geistreicher Mache, welche oft prickelt, ja nicht selten förmlich hypnotisiert«.’2 Wie
sam mit Carl du Prel in München die »Psychologische Gesell-
schon andere vor ihm setzt Keller das etwa zwölf Jahre alte’5 biblische Kind in einen spät-
schäft«, wo parapsychologische Versuche durchgeführt wur-
pubertären Zustand, an der Schwelle zum Frausein: Aus dem »Töchterlein« ist eine junge Frau
den.
91 Siehe Schrenck-Notzing 1887, passim.
geworden. Dadurch erhält das Bild erotische Brisanz.94 Die Person, die das Wunder körperlich
92 Josef Popp, in: Bayerischer Courier, 12. Dezember 1899, in:
erfährt, ist eine Frau: Auch im okkulten Bereich galt Albert von Kellers Interesse ausschliess-
Urteile 1900, S. 32-33, hier S. 33.
lieh den Medien weiblichen Geschlechts. In einigen kleinen Fassungen und Skizzen zur Er-
95 Laut Markus 5,42 und Lukas 8,42 war die Tochter etwa zwölf Jahre alt. 94 Man erinnert sich daran, dass die Hysterie, wie sie im
19. Jahrhundert verstanden und gleichsam erfunden wurde, eng mit der Fruchtbarkeitsperiode der Frau zusammenhing;
ebenso ist von Medien bekannt, dass ihre spiritistischen Kräfte im Zusammenhang mit der Periode ihrer Fruchtbarkeit stan-
weckung schwingt in Kellers Schilderung einer Neueinführung ins Leben quasi die Idee einer
Einführung ins Frausein mit.
Das Bild’5 ist auch im Zusammenhang zu sehen mit der damals virulenten Frage nach der Möglichkeit der Kommunikation mit Verstorbenen. Der Tod ist in der Kunst des 19. Jahrhunderts ein grosses Thema: in erster Linie als Denkkonzept, als verklärte Idee einer Grenzerfahrung
den.
oder als Erzählung eines historischen Ereignisses. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges
95 Ein Einfluss dieses Kellerschen Hauptwerks - wie auch des
sollte die Realität die Fiktion dann jäh einholen und das Sterben zum entsetzlichen Massen-
frühen Salonstücks Chopin - lässt sich im in Privatbesitz be-
ereignis werden. Die Disziplinen, die sich mit Grenzphänomenen beschäftigten, müssen Albert
findlichen Portrait einer Malerin von 1893/94 des Schweizer Malers Max Buri (1868-1915) beobachten, der von 1893 bis
von Keller als Werkzeug zur Weitung der Sinne erschienen sein.
Mitte der 1890er Jahre Privatschüler bei Keller in München
Als hätte er versucht, der Kunst neue Zeiträume zu erschliessen, erweist sich Keller in der
war. Zu Buris Sympathie für die Kunst Leibis und seiner Lehr-
Erweckung als Ergründer tieferliegender seelischer Schichten. In jenen Tagen »vibrierte die Be-
zeit bei Albert von Keller vgl. Ulrich Gerster, Max Buri und
seine Zeitgenossen Amiet, G. Giacometti, Hodler, Vallet
Strebung«, der Menschheit ein Mittel dienstbar zu machen, um »im allgemeinen Verkehre die be-
(Ausst.Kat. Fondation Saner Studen, Stiftung für Schweizer
stehenden engen Schranken in Raum und Zeit« zu beseitigen; die Lokomotive wurde als »Cul-
Kunst), Bern 2002, S. 16-20, mit Abb.
turpflug« erkannt und ein Netzwerk von Kabeln umspannte bereits die Welt. Selbst »in der Tiefe
Suggestion und Hingabe
59
der Oceane, wo ewige Nacht, ewige Todtenstille, ewige Starre; wo kein Wellenschlag, keine Bewegung ist», verbreiteten die Leitungsdrähte der Telegraphie »die Gedanken der Menschen blitz-
schnell von Continent zu Continent«.96 1882 hatte »das Wunder der Elektrizität« im Münchner
Glaspalast grosses Aufsehen erregt, nachdem im Jahr zuvor in Paris die breite Öffentlichkeit
auf der Exposition Internationale de l'Electricite mit der neuen Erfindung vertraut gemacht worden war.97 Emile Berliner erfand 1887 das Grammophon, das ihm selbst wie eine »Verbin-
dung mit der Unsterblichkeit« vorkam, konnte man damit ja die Stimme eines Menschen über
dessen Tod hinaus konservieren. Die 1845 publizierte Kurzgeschichte The Facts in the Case of Μ. Valdemar von Edgar Allan Poe, dessen Einfluss auf den Symbolismus beträchtlich war, handelt in der Fiktion eines wis-
senschaftlich fundierten Tatsachenberichts von einem Mesmeristen98, der einen unrettbar schwindsüchtigen, in Agonie liegenden - gewissermassen nicht mehr lebendigen und noch nicht
toten - Mann in einen gleichsam schwebenden, sieben Monate andauernden hypnotischen Zustand versetzt.99 Darin ist die Grenze zwischen Schlafen und Sterben ausgelotet und der Versuch geschildert, den Tod »oder was man gewöhnlich Tod nennt« durch das mesmeristische Verfahren aufzuhalten.100 An einem gewissen Punkt der schauerlichen Erzählung sagt der Mann in
96 Amand Schweiger-Lerchenfeld, ·Das eiserne Gespinnsl der
Trance: »Ja - nein - ich habe geschlafen - und jetzt - jetzt bin ich tot.«101 Der makabre Schluss
Erde«, in: Das Eiserne Jahrhundert, Wien/Pest/Leipzig 1884,
liegt darin, dass die Gestalt des nunmehr Verstorbenen innerhalb einer einzigen Minute zu einem Häufchen toter Materie zerfällt.102
Die Erweckung besticht durch differenzierte Menschenschilderung. Mit fesselnder Mannigfaltigkeit hat Keller sowohl die Gestalten als auch die Gefühle der umstehenden Augenzeugen
Kap. IV, S. 589-640, hier S. 591-592.
97 Vgl. Brigitte Gedon und Lorenz Gedon, Die Kunst des Schönen, München 1994, S. 171-175. 98 Franz Anton Mesmer (1734-1815) hat um 1770 die Hypnose wissenschaftlich wiederentdeckt.
99 Edgar Allan Poe (1809-1849), Die Tatsachen im Falle Wal-
des wunderbaren Ereignisses geschildert und darin sein Bestes überhaupt geleistet. Er folgt der
demar/The Facts in the Case of Μ. Valdemar 118451.
Tradition der grossen Historienmalerei, in deren Theorie die Affektenlehre stets eine zentrale
100 Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen
Rolle eingenommen hat. Leon Battista Alberti103 lobt 1436 in seinem für die Kunsttheorie gründ-
und Erzählungen, Bd. 2: Geschichten von Schönheit, Liebe und
legenden Malereitraktat Giottos Navicella in der Vorhalle von Alt St. Peter in Rom, wo der Maler
elf Apostel gezeigt hat, jeden in einer anderen Regung von Angst oder ungläubigem Erstaunen
Wiederkunft, hrsg. von Theodor Etztel, Berlin 119221, S. 283-
296, hier S. 294.
101 Ibid., S. 292-293.
beim Anblick eines Mitbruders, der auf dem Wasser wandelt.104 Und selbst die ikonographische
102 Auch in E.T.A. Hoffmanns (1776-1822) Erzählungen spielt
Grundkonstellation in Kellers diversen Auferweckungsbildern geht zurück bis in die Gründer-
der Magnetismus eine grosse Rolle. In Jacques Offenbachs
jahre der abendländischen Malerei, auf Giottos um 1318 freskierte Resurrezione di Drusiana in der Cappella Peruzzi in Santa Croce in Florenz.105 Dass Keller auch Giottos um 1304/06 fres-
1881 in Paris postum uraufgeführter Oper Les contes d'Hoff-
mann, die phantastische und sentimentale Elemente mit Satire und Überwirklichkeit verwebt, verdient die Figur der Auto-
kierte Auferweckung des Lazarus in der Cappella degli Scrovegni in Padua106 kannte, vermut-
matenfrau Olympia an dieser Stelle erwähnt zu werden. So ist
lieh im Original oder zumindest von einer Reproduktion, ist - im Vergleich von Giottos wun-
der Okkultismus zu einem konstituierenden Element der Romantik zu zählen.
dertätigem Christus und Kellers aktualisiertem Christus in der einen oder anderen Skizze zum
105 Zu diesem bedeutenden italienischen Kunsttheoretiker
Auferweckungsbild - sehr wahrscheinlich; ebenso weist die mumienhafte Bandagierung der
siehe u.a. Gian Casper Bott, Leon Battista Alberti, in: MGG. Die
beiden ins Leben Zurückgeholten Ähnlichkeiten auf.
Musik in Geschichte und Gegenwart, Kassel u.a. 1999, Perso-
Entgegen der zuweilen zu lesenden Vermutung, das Thema sei besonders selten dargestellt
nenteil 1, Sp. 355-358 (mit ausführl. Lil.).
,0* Leon Battista Alberti, De Pictura 114361, II, 42: ·Lodasi la
worden, lässt sich auf eine ganze Reihe von Fällen hinweisen, in denen es ins Bild fand. So
nave dipinta a Roma, in quale el nostro dipintore Giotto pose
kommt es in der mittelalterlichen Glasmalerei vor.107 Rembrandt hat sich des Themas ange-
undici discepoli tutti commossi da paura vedendo uno de' suoi
nommen, mindestens in drei teils lavierten Federzeichnungen,108 und Charles de La Fosse hat
ihm um 1680 eine rund zwölf Quadratmeter grosse Leinwand gewidmet. Wie zu erwarten, haben
compagni passeggiare sopra l’acqua, ehe ivi espresse ciascuno con suo viso e gesto porger suo certo indizio d'animo turbato,
tale ehe in ciascuno erano diversi movimenli e stali.«
sich im 19. Jahrhundert die beiden wichtigsten Bibelillustratoren mit dem Auferweckungsthema
105 Siehe etwa Giancarlo Vigorelli und Edi Baccheschi, Lopera
beschäftigt, Julius Schnorr von Carolsfeld und Gustave Dore. Im Bereich der Malerei sind wei-
completa di Giotto, Mailand 1966, S. 114, Nr. 121.
ter zu nennen Friedrich Overbeck, Ludwig Thiersch (1825-1909)109 oder Georg Cornicelius
106 Ibid., Taf. XXVII, S. 102, Nr. 75. 107 Siehe Eva Fitz, Die mittelalterlichen Glasmalereien im Hal-
(1825-1898)"°. In den Arkaden des südlichen Münchner Friedhofs führte Adolf Christian Bau-
berstädter Dom, Berlin 2003 (Chorumgang Nord V 5c).
mann (1829-1865) ein grosses Fresko mit der Erweckung von Jairi Töchterlein aus; Peter Cor-
108 Rembrandt Harmensz. van Rijn, Auferweckung der Tochter
nelius hat für den Berliner Campo Santo einen pathetischen Karton zu diesem Thema entwor-
des Jairus, um 1630/33, Federzeichnung, Privatsammlung;
fen. Eduard von Gebhardt schuf 1864 Die Auferweckung von Jairi Tochter; ein weiterer Maler
ders., um 1655/56, lavierte Federzeichnung, Den Kongeiige Kobberstiksamling, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen;
des »Jairi«-Themas ist Albert Ritzberger. Ilja Repin (1844-1930) malte 1871 ein grosses Bild zum
ders., um 1660/62, lavierte Federzeichnung, Kupferstichkabi-
Thema"1; auch soll Max Klinger genannt werden.112
nett, Staatliche Museen zu Berlin.
60
Fesselnde Mannigfaltigkeit · Differenzierte Menschenschilderung
Das populärste Werk von Gustav Richter (1823-1884), durch Reproduktionen in Stich und Öldruck propagiert, war die 1876 von Kaiser Wilhelm 1. der Nationalgalerie in Berlin überwie-
sene, 1856 gemalte Auferweckung von Jairi Töchterlein."5 Ohne dem einst begeistert gefeierten Werk ganz gerecht zu werden, sah Ludwig Justi 1932 nur noch das Theatralische der Szene: »Jesus als Tenor, das Mädchen als Hysterica«.114 Cornelius Gurlitt115 hingegen erachtete 1900
das Bild noch als so wichtig, dass er dessen Vollendung im Jahr 1856 in seinen Annalen, einer knappen Chronologie im Anhang seiner Publikation Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahr-
hunderts. Ihre Ziele und Thaten"6 als eines der herausragenden Ereignisse erwähnt. Kellers Fas-
sung des Themas wirkt wie die Anwort auf Richters Bild, als hätte er demonstrieren wollen,
wie man es »richtig« mache und vor allem »modern« und salonfähig.
Friedrich Pecht bezeichnet 1888 Gabriel von Max’ Christus erweckt eine Tote (Die Erweckung von Jairi Töchterlein)"1 als »eines der schönsten wie ergreifendsten« Bilder des Malers und
rechnet es »unbedingt zum künstlerisch Vollendetsten und Eigenartigsten«, das die »moderne
Kunst überhaupt hervorgebracht hat«. Auf der Pariser Weltausstellung von 1878 habe es im deutschen Saal vor allen anderen die Blicke auf sich gezogen.118 Der gleiche Kritiker betrachtete
das Bild bereits 1881 als »Inspiration, denn dergleichen komponiert man nicht, man findet es,
wenn auch nicht ohne erst gesucht zu haben«.119 Diese »schlichte Wahrheit« wirke »überaus Wohlthuend neben dem parfümierten Christenthum eines Bouguereau oder Cabanel«.120 An einer Wand mit Kellers Auferweckungsbild hängt heute in der Münchner Neuen Pinakothek
Gabriel von Max’ Anatom, der, gleichsam um das morbid-erotische Element zu bannen, einen Ehering trägt.
In Musik und Dichtung hat das Thema ebenfalls seinen Niederschlag gefunden. In Giovanni
Francesco Auerios 1619 in Rom ediertem Teatro armonico spirituale findet sich ein Oratorium zur Tochter Jairi, mit den Versen: »II Salvatore la figlia prende / e viva al padre tosto la rende« 109 Ausgebildet in München und tätig unter anderem in Athen,
sowie »finisce il pianto, / comincia il canto«;121 der Komponist Philipp Friedrich Boeddecker
wo er Lehrer von Nikolaus Gyzis war, in Wien und Sankt Pe-
wiederum setzte 1661 in Stuttgart das Werk Jairi Todten-Post'22 in Musik um. Auch existiert
tersburg, malte um 1866 eine Auferweckung der Tochter des
ein Gedicht Jairi Töchterlein von Felix Dahn (1834-1912), worin sich Verse finden wie »Jede
Jairus für die Stiftskirche in Kempten; Meyers !Conversations-
Spur war mir vergangen / von des Daseins lichten Höh’n, / und in Todesnacht gefangen / lag
Lexikon, Bd. 16, Leipzig/Wien '1897׳, S. 850.
n0 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 4, Leipzig/Wien 51895,
S.537. 111 Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg.
m Jairi Töchterlein, Abb. in: Der Protestantismus in Wort und
mein Leben jung und schön« oder »Neues Leben fühlt’ ich glimmen / in des Blutes heissem Lauf,/
und die lieblichste der Stimmen / rief mir leise: >Kind, steh auf!Poet unter den Freilichtmalerm - Die Re-
hauptung kommt.«167 Von Werner erwiderte, es habe sich um eine von München ausgehende
zeption Fritz von Uhdes bei Kritikern, Sammlern und Museen,
Gründung für Berlin gehandelt.168
in: Fritz von Uhde. Vom Realismus zum Impressionismus, hrsg. von Dorothee Hansen (Ausst.Kat. Kunsthalle Bremen),
Ostfildern-Ruit 1998, S. 32-37, hier S. 32.
Künstlerisch 1st Kellers Gemälde eine Antwort auf Fritz von Uhdes Bayerische Trommler von 1883,169 ein stummes Bild mit akustischer Dimension, das der Maler in München gemalt hatte,
Ein Bett aus Eichen- und Lorbeerzweigen
75
nachdem er kurz zuvor - in Holland - für seine Malerei das Licht entdeckt hatte. Von Uhdes »famosen Trommlerin]« spricht Fritz von Ostini 1907 und klassifiziert das Gemälde als »das Meis-
terwerk Uhdescher Frühzeit«.170 Mit diesem Bild sei Uhdes Malerei »in die sonnige Freiheit des
natürlichen Lebens« getreten.171 Als es noch im Entstehungsjahr bei der Internationalen Kunst-
ausstellung in München ausgestellt war, wurde es als Programmwerk der »neuen Richtung« erkannt: Adolf Rosenberg hat das Bild nicht in der deutschen Abteilung besprochen, da Uhde, wie
Max Liebermann, »mit ihren neuesten Bestrebungen zu den Franzosen« gehörten.172 Dies war im nach Nationalität und Identität strebenden jungen Deutschen Reich nicht als Kompliment gemeint. »Hellmalerei« und »Pleinairismus« waren ebenso suspekt wie thematische »Trivialität«.
Cornelius Gurlitt schreibt 1900, als er 1883 in Dresden Uhdes Bild gesehen habe, hätten weder
er noch die Dresdner »je ein so helles, blaues Ding gesehen«.173 Allem Anschein nach wollte Keller mit seiner gemalten Antwort zeigen, wie Lichtmalerei auch verstanden werden könne. In der Tat ist sein Bild vom Gesichtspunkt gemalter Lichteffekte her das interessantere; als »moderner«
jedoch kann Uhdes Werk gelten, dank seines andersgearteten Realismus, der nicht das Erhabene, sondern das Gewöhnliche eines beliebigen Alltags ins Zentrum des Interesses stellt.
In Kellers Bild - namentlich mit der Gruppe links - schwingt eine vage Erinnerung an die
Übergabe von Breda mit, die Diego Velazquez um 1635 gemalt hat.174 Die Lanzen - Las Lanzas, denen dieses Meisterwerk der spanischen Malerei seinen Nebentitel verdankt - werden bei Keller zu Fackeln. Seine Begeisterung für die Kunst des andalusischen Apelles175 ist durch eine
frühe Kopie in verkleinertem Format von dessen Infantin Margarita von Spanien'lb bezeugt, die
er zeitlebens in seiner Wohnung hängen hatte. Kellers künstlerisches Prinzip, sozusagen Remakes von berühmten Gemälden alter Meister (und von eigenen Bildern) zu malen, um mit diesen in einen aktualisierenden, künstlerisch-formalen Dialog zu treten, ist auch hier zur An-
Wendung gekommen. Eine meisterhafte Charakterisierung von Kellers 1891 gemaltem Bilderbuch (Kat. 57) lieferte
Ludwig Hevesi 1894, als das Bild im Wiener Künstlerhaus ausgestellt war: Es sei »eine Beleuchtungsstudie auf Grund von Tierfellen und Blondhaar. Das hinten einfallende Licht stol-
pert, schlüpft und gleitet über allerlei exotische Hindernisse nach vorne, nicht ohne rechts und links feine tote Winkel zu lassen.«177 Vielleicht ohne an Gustave Caillebottes Parkettschleifer von 1875178 zu denken, schrieb Maurice Montandon 1908, das Sujet von Kellers Bilderbuch sei
weniger das Kind auf dem Diwan als der bläuliche Reflex auf dem Parkett, der vom Licht her-
rühre, das durch ein offenes Fenster hereinfliesse.17’ Die grosse leere Fläche ist eine Hauptqualität dieses zu den schönsten Werken Kellers zählenden Gemäldes, das Irene von Keller mit dem Sohn Balthasar im Atelier an der Kaulbachstrasse zeigt. Berührungspunkte zur Malerei von Al-
fred Stevens sind, wie in anderen Werken Kellers, zu erkennen. Ein Hauptthema des Bildes ist
das Sehen, das vom liebevollen mütterlichen Blick bis hin zum Betrachten von Bildern in einem
170 Fritz von Ostini, Fritz von Uhde, in: Die Kunst für Alle.
Jg. 23, Nr. 1,1. Oktober 1907, S. 1-15, hier S. 13.
Buch mannigfach reflektiert wird. Das sonnige Fenster im Hintergrund könnte als »Auge« des
171 Uhde-Bernays 1927, S. 246-248.
Bildes bezeichnet werden, das den Ausblick auf die Welt freigibt. Von einem Innenraum als Ort
172 Adolf Rosenberg, Die internationale Kunstausstellung in
der weltaneignenden Reflexion könnte hier gesprochen werden. Es wird Einblick gewährt in
München, III. Die Malerei in München. Düsseldorf. Karlsruhe
eine Szene behaglichen privaten Glücks, die, indem sie auf Ausstellungen gezeigt wird, als
Wunsch- oder Vorbild öffentliche Bedeutung erlangt. Als Atelierrequisit und Hintergrundfolie zu einem Akt, der wie ein weibliches Pendant zum
Faunus Barberini (Kat. 1) wirkt, findet sich das Eisbärenfell - ein Requisit der gehobenen Wohn-
und Weimar, in: Zeitschrift für bildende Kunst, Jg. 19, 1884, S. 129-136, 157-161, hier S. 158. 173Gurlitt 1900, S. 533.
174 Museo del Prado, Madrid. 175 Gian Casper Bott, Der andalusische Apelles. Vor vierhunden Jahren wurde Velazquez geboren, in: Neue Zürcher
kultur des europäischen Bürgertums - schon auf der Einladung von 1885 (Kat. 56) und später
Zeitung, Nr. 127, 5.16. Juni 1999, S. 77.
auf weiteren Gemälden. Noch auf einer 1905 publizierten Fotografie (Abb. 45) ist es zu sehen,
176 Kunsthistorisches Museum, Wien.
die Albert von Keller in seinem Atelier zeigt. Ein veritables Tigerfellstillleben ist um 1881 wohl
177 Hevesi 1894, S. 537.
im Zusammenhang mit Kaiserin Faustina (Abb. 5) entstanden.180 Das Motiv des gegen den Be-
178 Les raboteurs de parquet. Mus£e d’Orsay, Paris. 179 Montandon 1908, S. 465.
trachter gerichteten Eisbärenkopfes mit weit aufgesperrtem Rachen wurde in anderem Zu-
180 Müller 1981, Abb. 60: Tigerfell. Studie zu ·Kaiserin Faus-
sammenhang im 20. Jahrhundert als Symbol für die Domestifizierung der vagina dentata ge-
tina·, um 1881.
76
Lichtmalerei und bläuliche Reflexe
deutet.181 Heutigen Exegeten dürften die im 19. Jahrhundert regelmässig wiederkehrenden exo-
tischen Felle als Sinnbild des im bürgerlichen Gefängnis streichelzahm gebändigten Raubtiers erscheinen. Aus dieser Perspektive wäre die Frau ein potentielles Raubtier im goldenen Käfig des
bürgerlichen Interieurs.182
Die behagliche Gemütlichkeit scheint ins Bedrohende zu kippen. Wohl ungewollt wird das Unheimliche häuslicher Gemütlichkeit thematisiert und die potentiellen Abgründe, die im Schönen liegen können, werden, wenn nicht enthüllt, so doch angedeutet. Carl Spitteier hat 1906 in
seinem Roman Imago diese Atmosphäre einer vermeintlich weltoffenen, tatsächlich aber selbstgenügsamen und förmlichen Gesellschaft als »Hölle der Gemütlichkeit« beschrieben.183
Spielformen zeitgenössischen Lebensgefühls verleiht Keller in seinem Diner (Kat. 60) Gegen-
wart. Mit dem oblongen, dem Gastmahlthema kongenial angepassten Abendmahlformat wird selbstbewusst eine illustre Bildtradition beansprucht: Der Maler strebt eine Modernisierung sei-
nes früheren Diners (Kat. 12) an, das sich seinerseits auf Veronese184 bezieht. Die Welt des grossen Venezianers wird somit in die vie moderne der wilhelminischen Ära übersetzt. Übersehen
wurde bisher allem Anschein nach, dass sich Keller in diesem Bild deutlich auf Adolf Menzel bezieht. Dessen Neorokoko-Meisterwerk Flötenkonzert Friedrichs des Grossen in Sansoucci
(1850/52) wurde 1875 für die Nationalgalerie angekauft. Lichtspiegelungen, diffuse Konturen, Vereinheitlichung von Färb- und Lichtwert finden sich dort ebenso wie in Menzels Ballsouper
von 1878, das 1885 in Berlin ausgestellt war185 und 1891 erneut, an ebenjener vom Verein Berliner Künstler veranstalteten Internationalen Kunstausstellung, auf der die erste Fassung von
Kellers Diner gezeigt wurde. Mit Blick auf eine interessante Gruppenkonstellation spielt die Szene in Kellers Wohnung in
der Münchner Maximilianstrasse186: »Man erkennt darauf die Gastgeberin, Albert von Keller
neben Mimi von Ramberg, den Jugendfreund Christian Keyl [siehe Kat. 35[ im Gespräch mit
Frau von Kühlmann und andere Gäste, bedient wurde von den Kellnern aus dem Hotel »Vier Jahreszeiten« nebenan.«187 Der berühmteste Trinkspruch der Operngeschichte könnte einem ins
Ohr klingen, der des Alfredo im ersten Akt der Traviata von Giuseppe Verdi, ein Brindisi, in dem 1,1 Vgl. Bram Dijkstra, Evil Sisters. The Threat of Female Se■
xuality and the Cult of Manhood, New York 1996. Dort Ilius-
tration des Titelblatts der Zeitschrift Puck vom 27. März 1915 mit dem Bild Some Bears von Rolf Armstrong.
182 Anderen wiederum wird der legendäre Fernsehsketch Dinner for one von 1963 in den Sinn kommen, mit dem Tigerkopf
die Freude am Zusammensein von amourösen Andeutungen durchzogen wird: »Laben wir uns
aus Bechern der Freude ...«
In Diner variiert der Maler ein Thema, das er bereits mit Dejeuner von 1887 (Kat. 58) realis-
tischer vorgeführt hatte. Die dortige analytische Detailtreue im Stil virtuoser Salonmalerei ist nun einem synthetischen Zusammenfassen gewichen. Aus einem grünlichen Tagesbild ist ein
als Slolperfalle.
18J Die Neue Pinakothek in München hat von November
Abendbild mit Kunstlicht geworden, in dem rote Farbtöne vorherrschen. Offensichtlich ging es
2007 bis September 2008 eine von Joachim Kaak kuratierte
dem Maler darum, ein Bild zu gestalten, und nicht das treue Abbild einer vorgefundenen Situa-
Ausstellung mit Bildern aus den eigenen Beständen gezeigt
tion zu liefern. Nach dem gleichen Prinzip war er bereits 1883 mit den beiden Milli Beckmann-
unter dem Titel In der Hölle der Gemütlichkeit - Deutsche
Genre- und Salonmalerei im ausgehenden 19. Jahrhundert (kein Katalog).
18* Der Hinweis auf Veronese stammt von Rosenhagen 1912, S. 82. der sich auf eine Aussage Kellers beziehen dürfte.
185 Ausstellung von Werken Adolph Menzels in der Kgl. Akademie der Künste zur Feier seines siebzigsten Geburtstags
Bildern (Kat. 32,33) vorgegangen, wo das Resultat der modernisierenden Transposition in einen anderen Stil- und Stimmungsmodus schliesslich zu einem seiner rotflächigsten Bilder führte. Zum Phänomen der verschiedenen Grade von Fokussierung, das bei Keller in diversen Bildern
zu beobachten ist, hat Max Georg Zimmermann 1893 Folgendes bemerkt: »Mit der unserm Zeit-
alter eignen Spezialisierung stellte sich die neue Kunst auf den Standpunkt des reinen Sehens
am 8. Dez. 1885, Dezember 1885-1886.
und erklärte nicht darüber hinausgehen zu wollen. Dieser Ausgangspunkt muss im Auge be-
186 Keller wohnte von 1870 bis 1920 in der ersten Etage des
halten werden, und er ist noch bei der grössten Mehrzahl der Secessionisten der herrschende.
Hauses Nr. 8 !heute Nr. 27| in der Maximilianstrasse, erbaut
Während bei der älteren Kunst das Sehen immer ein gewisses geistiges gewesen ist und das
1861 von Friedrich von Bürklein (1813-1872). In unmittelbarer
Nähe befinden sich das Hotel ·Vier Jahreszeiten« und die
Bild, das auf die Leinwand kam, nie ohne idealisierende Gehirnarbeit war, ist das Sehen der Se-
Münchner Kammerspiele. Zu den Wohnorten Kellers siehe
cessionisten ein zunächst rein körperliches. Das Auge kann, wenn es den Vordergrund deutlich
Müller 1981, S. 260-265, zu den Ateliers ibid., S. 266-267.
erkennt, nicht gleichzeitig den Hintergrund deutlich sehen, genau so wie der gleich konstru-
187 Ibid., S. 55, 224.
ierte photographische Apparat, darum sind auf den Secessionistenbildern die Hintergründe
188 Max Georg Zimmermann (München), Kritische Gänge, in: Die Kunst für Alle, Jg.8, Nr. 24, 15. September 1893, S. 374-
immer ganz allgemein und nicht ausgeführt deutlich angegeben, überhaupt immer nur ein Teil
378, hier S. 375.
des Bildes bis zu vollständiger Gegenständlichkeit durchgearbeitet.«188
Die Hölle der Gemütlichkeit · Secessionistisches Sehen
77
55 Die Überführung der Gebeine La Tours d'Auvergne, 1889 Öl auf Leinwand, 83,5 x 163 cm
56 Einladung, 1885 Öl auf Leinwand, 72,5 x 48,5 cm
57 Das Bilderbuch, 1891 Öl auf Lindenholz, 69,5 x 87 cm Kunstmuseum Basel
58 Dejeuner, 1887 Öl auf Holz, 48 x 72 cm Privatbesitz
59 Mädchen auf Sessel, um 1892 Öl auf Holz, 48,5 x 38,5 cm
60 Diner, 1891 Öl auf Holz, 42,5 x 82 cm
61 Auf dem Balkon, um 1890 Öl auf Karton, 20 x 16,5 cm
62 Beim Photographen, um 1890 Öl auf Holz, 12 x 16 cm
Kellers Diner wurde allgemein als eines seiner besten Werke gewertet. Zur ersten Fassung18’ bemerkte Friedrich Pecht 1890, das Bildgeschehen, »wo man eine moderne elegante Gesellschaft
zu einem interessanten koloristischen Problem geschickt verwendet findet», sei »ganz offenbar
erlebt».190 Ludwig Hevesi sprach 1894 von den »elektrischen Flammen«, die das Diner beleuchten, das er als »modern» oder »modisch« charakterisiert. Die Lichtwirkung sei »auf ein mattes Elfenbeinweiss gestellt«, es finde sich »viel Silhouette und Reflex«. Die Härte sei durch Verwaschung beseitigt, so dass man an Passinis191 Aquarelle denke.192 Hans Eduard von BerlepschValendas brachte den französischen Romancier Edmond de Goncourt ins Spiel und sprach von Nuancen, Halbtönen, unfassbaren Nichtigkeiten.193 Fritz von Ostini erschien das Diner 1899 als
ein raffiniertes Beleuchtungsstück, 1905 als »superbes Lichtstück«.194 In der Basler Nationalzeitung war 1899 zu lesen, das Bild besitze »neben allem Reiz der Wahrheit, Intimität und Mo-
dernität noch denjenigen einer ganz exquisiten Lichtbehandlung«; anlässlich der zweiten Bas-
ler Secessionsausstellung sei das Bild in der Stadt am Rheinknie ausgestellt gewesen: «... es hatte damals durch seinen malerischen Esprit die Bewunderung aller Kenner erregt, und es waren 189 Fassung von 1890 in: Rosenhagen 1912, Abb. 76: Diner,
Schritte getan worden, das Museum dafür zu interessieren.«195 Joseph Viktor Widmann cha-
1890, im Besitz des Herrn W. Ende in Berlin, heute Museum
rakterisierte das Diner 1899 als »ein eigentlich grosses Genrebild«, das den Moment zeige, »da
der bildenden Künste, Leipzig, Inv. 2435. Der Autor dankt Dr.
auch Damen zur Cigarette greifen«.196 Das figurenreiche Bild sei »scharf pointiert, in Beobach-
Dietulf Sander, Leipzig, für die telefonische Auskunft. - Unklar
tung und Malerei geistsprühend«, beobachtete Aemil Fendler im gleichen Jahr.197 Keller habe
ist, ob es ursprünglich noch eine nunmehr nicht mehr be-
kannte Hauptfassung weit grösseren Formats gab.
»vielleicht als Erster in Deutschland den Geist modernen Geschmacks erfasst«, gab Karl Voll in
190 Friedrich Pecht, Die zweite Münchener Jahres-Ausstellung,
den letzten Tagen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu bedenken; er habe vor einem Viertel-
IV. Die Sittenbilder, in: Die Kunstfür Alle, Jg. 5, Nr. 22,15. Au-
jahrhundert »die Kenntnis des eleganten Pariser Tones« nach Deutschland gebracht. Das Diner
gust 1890, S. 337-343, hier S. 339.
bezeichnet er als »epochenmachend«.198 Für Maurice Montandon zeigt es »une societe ä la vien-
noise«.199 Laut der Encyclopedia Britannica von 1911 ist es gänzlich mit »Parisian esprit« gemalt.200
Mädchen auf Sessel, um 1892 (Kat. 59), könnte auch »Die Horchende« heissen. Es ist eine
191 Ludwig Passini (1832-1903).
192 Hevesi 1894, S. 536-537. 195 Berlepsch 1897, S. 200. 19* Fritz von Ostini, in: Münchener Neuste Nachrichten, Dezember 1899, in: Urteile 1900, S. 3; Ostini 1905, S. 351. 195 H. 0. Gessler, in: Basler Nationalzeitung, 25. November
Detailstudie mit eigentümlichem Bildcharakter zu Der Kavierlehrer10', einem weiteren Werk Kellers, dessen Thema um Hausmusik, Lichterzauber und Rollenzuweisung kreist.
Die in wenigen Partien mit zartem Blau feingewürzte Grisaille Auf dem Balkon, um 1890 (Kat.
61), ist eine Fingerübung im Stil einer gemalten Holzstichvorlage, die wie die Illustration einer
1899, in: Urteile 1900, S. 22.
196 Joseph Viktor Widmann, in: Der Bund, 26. November 1899, in: Urteile 1900, S. 26-28, hier S. 27. 1971Aemill Fendler, in: Leipziger Illustrierte Zeitung, 14. De-
zember 1899, in: Urteile 1900, S. 29-31, hier S. 30.
Romanszene wirkt. So erhält der kleine Karton mit der rauchenden Dame und dem huttragen-
198 Karl Voll, in: Allgemeine Zeitung, München, 20. Dezember
den Herrn, der in einem Journal liest - vielleicht im Figaro Illustre, mit einem Blumenmäd-
1899, in: Urteile 1900, S. 35-36.
chen auf dem Titelblatt, wie auf der frühen Fotografie von Keller in seinem Atelier zu sehen (Abb. 39)202 -, eine literarische Komponente und die Andeutung einer nach vielen Seiten offenen
Geschichte. Beim Photographen, um 1890 (Kat. 62), ist ein petit rien, ein Capriccio über Dagnan Bou-
verets berühmtes, 1879 im Pariser Salon ausgestelltes Bild Une noce chez le photographe10'.
199 Montandon 1908, S. 465. 200 Encyclopedia Britannica, Bd. 15.1911, S. 718.
201 Müller 1981, Abb. 276. 202 Der künftigen Keller-Forschung sei ans Herz gelegt, Jahr-
gang und Nummer dieser Zeitschrift zu identifizieren. Dies
böte einen terminus post quem für die Datierung der Foto-
grafie. Auch dürfte das vergnügliche Studium dieser und an-
Das Bildchen bezeugt Kellers reich facettiertes Interesse für das Medium der Fotografie; ein
derer französischer Illustrierten wertvolle Beiträge zum Ver-
Interesse, das er mit vielen Malern seiner Zeit teilte. Auch er benutzte zu einem Teil seiner Bil-
ständnis Kellerscher Bildwelten liefern.
der fotografische Vorlagen.204 1914 veröffentlichte er ein »künstlerisches Gutachten« über die
20J Heute im Musöe des Beaux-Arts, Lyon.
von Schrenck-Notzing publizierten Fotos von Materialisationsphänomenen.205 Ein Hochzeits-
20* Vgl. z. B. Franz von Stuck und die Photographie. Inszenierung und Dokumentation, hrsg. von Jo-Anne Birnie Danzker
foto soll hier aufgenommen werden, in Schwarzweiss, was der Nachwelt die Farbe des roten
u. a., Kat. von Birgit Jooss, München 1996.
Farbfleckens nicht überliefern wird, den der Brautstrauss ins Bild schafft.
205 Publiziert in: Schrenck-Notzing 1914, S. 489-492.
88
Die Kenntnis des eleganten Pariser Tones
Liebesfrühling, weisse Hüllen, schwarze Schatten »TOUT CE QU’IL NOUS FAUT« steht als Motto auf Albert von Kellers 1878 kurz nach der Hoch-
zeit mit Irene von Eichthal (1858-1907) entstandenem ersten kleinen Gemälde seiner Gattin.206 Es zeigt die junge Frau mit zwei West Highland White Terriern und einem weiteren, nur sehemenhaft gemalten Streichelhündchen.207
Mit Bildern wie Frühling (Kat. 64), gemalt 1882 in Paris, zeigt sich Keller von seiner poetischsten Seite. In der Blüte ihrer Jugend erscheint darauf seine Frau Irene als lebensglückliche
Botin des Liebesfrühlings, als sei sie einem der Mädchenreigen entsprungen, wie sie etwa Friedrieh August von Kaulbach gemalt hat,208 ausgewählt mit den Augen von Kellers Alter Ego, dem
mythischen Frauenkritiker Paris.209 Die Kränze als formales Kellersches Leitmotiv symbolisie-
ren auf romantische Art des Gatten und des Malers Lohn. Es scheint, dass die zarte »Pariserin«
den Einfluss der Liebe spürt, die sie inspiriert. Kein Gedanke ist an die Vergänglichkeit des Glücks verschwendet. Die Frische, die das kleine Bild atmet, lässt vergessen, dass Keller kein Pleinairmaler war,
seine Bilder spielen kaum je unter freiem Himmel; und wenn doch, so sind sie in aller Regel im Atelier entstanden. Im oberen und unteren Bereich weist das Gemälde linear angeordnete kleine
Löcher auf. Dies dürften die Spuren eines Pausverfahrens sein.210 Eine etwas grössere zweite Fassung des Bildes ist ebenfalls in der Sammlung Dr. Oskar A. Müller erhalten.211 Aus stilisti-
sehen Gründen ist sie einige Jahre später zu datieren. Ob Keller mit diesem Remake einen vergangenen Glücksmoment Wiederaufleben lassen wollte, kann hier nicht entschieden werden.
Eine spielerische Travestie Irenes als Kameliendame inszeniert Keller um 1888 (Kat. 63): die blauäugige Ehefrau in einer Demimonde-Phantasie, als »Lorette« aus der Pariser Halbwelt. Auf der Rückseite des Kartons finden sich zwei Skizzen zur Auferweckung. Auch Im griechischen 206 Ausführlicher zu Kellers Bildern seiner Ehefrau Irene von
Eichlhal bei Nico Kirchberger im vorliegenden Katalog. 207 Müller 1981, Abb. 160.
208 Siehe z. B. Abb. 25 (Spaziergang im Frühling, 1883), 59
(Flora). 71 (Mädchenreigen. 1897) in: Adolf Rosenberg, Fried-
rieh August von Kaulbach, Bielefeld/Leipzig 1900.
Kostüm2'2, womit Irene auf einem Münchner Künstlerfest in die Rolle einer bewunderten antiken Schönheit geschlüpft war, hat Keller seine Frau im Bild verewigt.
Wenngleich wahrscheinlich, ist es nicht zu beweisen, dass er Irene auf dem Totenbett von 1907 (Kat. 67) im geschilderten Moment gemalt hat. Die leicht grössere Fassung desselben The-
mas in der Neuen Pinakothek in München213 ist bezeichnet mit der Beschriftung »6. JAN.«, Ire-
209 Dem Thema des Parisurteils hat Keller um 1891 mehrere
nes Todestag. Wenige Jahre später, 1914/15, wird Ferdinand Hodler seiner kranken, sterben-
Gemälde gewidmet, siehe Kat. 85-87.
den und schliesslich toten Partnerin Valentine Gode-Darel eine ganze Reihe eindrucksvoller
210 Der Autor dankt der Restauratorin Kerstin Mürer für den
Bilder und Zeichnungen widmen.214
Hinweis. In der Sammlung Müller sind zudem einige Pausen auf transparentem Pergamentpapier nach Details anderer Bil-
der von Keller erhalten. Dies gibt Einblick in Kellers Vorgehen
bei der Anfertigung von Repliken und Variationen eigener Bil-
Schönheit in rauschenden Stoffen
der. Ein übliches zeitsparendes Werkstattverfahren, das den
Entstehungsprozess eines Bildes in einem für schöpferische Belange unerheblichen Bereich etwas vereinfacht.
Dominante im Bildfeld und Hauptattraktion mehrerer Gemälde nicht nur Albert von Kellers ist
211 Öl auf Holz, 42 x 23 cm.
das Gewand der konterfeiten Dame. Mit exzessiver Insistenz umspielt das Licht die kleinsten Fal-
2,2Müller 1981, Abb. 167.
ten in der knisternd opalisierenden Seide mit ihrem kühlen, zuweilen metallisch wirkenden
2,5 Öl auf Laubholz, 49 x 35,7 cm. Inv.-Nr. 10774; siehe Ludwig
1977, S. 144-145. Sowohl die Münchner als auch die Zürcher
Glanz. Diesen Stoffen kann ein gewisser Fetischcharakter eignen. Ein maltechnisches Problem
Fassung werden traditionell als Hochformat abgebildet. Für
findet in solchen Bildern eine gültige ästhetische Lösung. Es sei daran erinnert, dass es oft ge-
die Richtigkeit spricht bei beiden die Position der Signatur.
rade derartige malerische Qualitäten waren, für die Kenner bereit waren, hohe Geldsummen
Allerdings ist nicht auszuschliessen, dass sie als Querformat
auszugeben. Als Kolorist mit Blick auf Corot erweist sich Keller in seinem Bildnis der Adele von
gemalt wurden, etwa so wie Jairi Tochter, vom Tode erwa-
chend, um 1882 (Kat. 49).
2M Siehe Katharina Schmidt, Ferdinand Hodlers Serie der kranken, sterbenden und toten Valentine Godt-Darel, in: dies., in Zusammenarbeit mit Läszlö Baän und Matthias Freh-
ner (Hrsg.), Ferdinand Holder. Eine symbolistische Vision
Le-Suire (Kat. 68). Wie sich in anderen Bereichen der Malerei einzelne Sachverhalte vom Thema lösen, so ver-
selbständigen sich da und dort Faltenwurf und Draperie (Kat. 69,70) und werden - wie die pie-
gatura und der panneggiamento im italienischen Barock - zum mit Eigenleben versehenen
(Ausst.Kat. Kunstmuseum Bern/Szöpmüv0szeti Muzeum, Bu-
Gegenstand einer glänzend gemeisterten malerischen Schwierigkeit. Keller erweist sich in vie-
dapest), Ostfildern 2008, S. 275-296.
len Frauenbildern als Könner im Fach der Stoffmalerei. Die Wiedergabe schimmernder Gewebe
Des Malers Lohn
89
63 Irene von Keller, um 1888 Öl auf Karton, 26,5 x 20,5 cm
64 Frühling (in Paris), 1882 Öl auf Leinwand, 32 x 22,5 cm
65 Bildnis der Frau des Künstlers (Irene in Weiss), 1888 öl auf Leinwand, 152 x 100,5 cm Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek
66 Die Frau des Künstlers vor rotem Grund, 1890 Öl auf Karton, 114 x 84 cm Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek
67 Irene von Keller auf dem Totenbett, 1907 Öl auf Holz, 33 x24 cm
68 Adele von Le-Suire, stehend, um 1887 Öl auf Leinwand, 111 x 49 cm
69 Else Fleischer / Blondine, um 1888 Öl auf Leinwand, 81 x 42 cm
70 Franziska Elmenreich, 1886 Öl auf Holz, 25 x 18,5 cm
71 Zarin Alexandra Feodorowna, um 1896 Öl auf Leinwand, 121,5 x 86,5 cm
72 Bildnis Brünette Klopfer, 1900 Öl auf Leinwand, 190,5 x 103,5 cm
beherrschte er souverän. Die holländische Kunst des 17. Jahrhunderts bietet in Werken von
Malern wie Vermeer, Ter Borch, Maes, van Mieris, Metsu erstrangige Proben virtuoser Seiden-
malerei, die letztlich auf van Dyck zurückreicht und - über Rubens’ Vermittlung - zur erhabenen Tradition des venezianischen Cinquecento führt, zu Savoldo, Veronese und natürlich
Tizian.215 Wie begehrt und international verbreitet blendende Seidenmalerei im 19. Jahrhundert war, bezeugt der Schweizer Maler Antonio Barzaghi-Cattaneo mit seiner wohl um 1880 auf Ma-
hagoni gemalten Lesenden Dame am Fenster (Abb. 7). Als Bravourstück zwischen Tradition und Aufbruch kann das um 1896 in dem offensichtliehen Bestreben, ein repräsentatives Meisterwerk zu kreieren, gemalte Bildnis der letzten Zarin
Alexandra Feodorowna (Kat. 71) gelten: Es dürfte sich um ihr schönstes Portrait handeln. Ein
Werk, wie geschaffen zur Imagepflege sowohl der Dargestellten als auch des Malers, der sich
damit der Münchner Damenwelt empfohlen haben dürfte. Unter den Malern, die die Zarin portraitiert haben, finden sich Friedrich August von Kaulbach216 und Arpad Koppay (1859-1927)217. Keller dürfte das Gemälde nach mehreren fotografischen Vorlagen geschaffen haben.218 Dabei
ist zu bemerken, dass es doch erst durch seine Leistung zum Kunstwerk wird. Es galt sozusagen »nach der Phantasie« zu arbeiten und nicht wie ein akademischer Künstler nach dem Modell. Im Vergleich mit in Frage kommenden Fotografien fällt auf, wie Keller das Bild nach den Regeln seiner Malerei aufbaute. Wenn auch nicht von diesem Portrait, so hiess es von ver-
schiedenen Bildern, Keller habe sie in einer Art Hypnose gemalt, sie seien ihm eingegeben worden.219 Wer dieser Legende Glauben schenken wollte, könnte argumentieren, er habe durch in-
tensive Betrachtung ihm vorliegender Fotografien die nicht in natura gesehene Zarin zwar nicht
materialisiert, jedoch vor sein inneres Auge herbeigeholt und derart verinnerlicht, dass er sie aus sich heraus malen konnte. Aus dieser Sicht hätte es sogar genügt, in einer Zeitschrift ein Bild der Regentin gesehen und dann vergessen zu haben. Die geheimen Zusammenhänge von Gedächtniskraft und schöpferischer Energie sind längst nicht ausgelotet.
Zu mannigfachen Spekulationen Anlass gab im frühen 20. Jahrhundert die Beobachtung, dass
Abb. 7 Antonio Barzaghi-Cattaneo (1834-1922) Lesende Dame am Fenster, urn 1880 öl auf Mahagoni, 55 x 27 cm Privatbesitz
mehrere der von Albert von Schrenck-Notzing 1914 publizierten, 1912 in München aufgenom-
menen Fotografien der von dem Medium Eva C. materialisierten Gesichter frappierende Ahnlichkeiten mit Titelblättern französischer Zeitschriften wie Miroir aufweisen.220 Für die einen
war dies eine Entlarvung betrügerischer Machenschaften, für andere wiederum ein Beweis
mehr für Wahrscheinlichkeit und Authentizität. Zur Verteidigung des Sachverhalts berichtete Schrenck-Notzing 1923, Maler wie Vernet, Dore oder Makart hätten »aus dem Gedächtnis ein-
mal gesehene Gegenstände und Personen getreu« zu malen vermocht. »Die Schärfe des Erinnerungsvermögens« werde durch solche Beispiele hinreichend illustriert und lasse sich »mit der
215 Zur Seidenmalerei im Goldenen Jahrhundert siehe Gian Casper Bott, in: Die Sammlung Max Geldner im Kunstmu-
Schärfe einer photographischen Platte vergleichen«.221 Und weiter: »Sowohl bei dem akustisch
seum Basel, Basel 2000, S. 93-94.
motorischen wie bei dem visuellen Auffassungstypus können kryptomnestische Erinnerungs-
2,6 Siehe Adolf Rosenberg, Friedrich August von Kaulbach,
ketten mit absoluter Genauigkeit sich dem Bewusstsein als eigene psychische Leistung auf-
drängen.«222 Wie das 1900 entstandene, repräsentativ ganzfigurige Bildnis von Brünette Klopfer (Kat. 72)
Bielefeld/Leipzig 1900, Abb. 67. 217 Siehe Rudolf Lothar, Koppay, Berlin/Leipzig |1919|, Abb.
S. 52, Taf. XXIV, XXIVa. 218 Siehe auch Aufsatz von Nico Kirchberger im vorliegenden
zeigt, Nachbarin Kellers in der Maximilianstrasse und Inhaberin eines Tabakgeschäfts, brillierte
Katalog.
der Maler nicht nur mit seiner differenzierten Weissmalerei223, sondern er verstand es ebenso,
219 Vgl. Anm. 363. 220 Siehe Schrenck-Notzing 1923, S. 500.
souverän mit Schwarz umzugehen. Keller scheint ein passionierter Zigarrenraucher gewesen zu
221 Ibid., S. 496, nimmt Bezug auf: Offner, Gedächtnis, Hand-
sein, wenn man einem Witz Glauben schenken kann, der 1904 in der Zeitschrift Simplicissimus
buch der Naturwissenschaften, Bd. 4.
stand: »Der Maler Professor Albert von Keller liess eines Tages seinen Korridor frisch tünchen:
222 Ibid., S. 497.
>Gut gemacht*, sagte er, als der Anstreicher fertig war, und bot ihm eine Zigarre an. ׳Sie sind ein
223 Siehe etwa Kat. 65, 69.
221, Simplicissimus. Jg. 9, Nr. 2, 5. April 1904, S. 15 (Rubrik ״Lie-
tüchtiger Mann.« Am gleichen Abend erzählte der Tüncher am Stammtisch, man wolle ihn zum
ber Simplicissimus«), - Vgl. dazu in diesem Katalog S. 75 und
Präsidenten der Sezession machen.«226
Anm. 167.
100
Die letzte Zarin · Die Schärfe der Erinnerung
Seancen, Apporte, allerlei Wunder Darstellungen, die eine Seance mit Hypnotisierten (Kat. 73) zeigen, sind sowohl in Kellers CEuvre selten als auch innerhalb der Malerei überhaupt.225 Häufiger sind fotografische Dokumente dieser Art. »Neben der Malerei beschäftigt der Künstler sich immer wieder mit Spiritismus und Hypnose. In seinem Hause finden Seancen mit allen möglichen Medien statt. Bei einer davon im
Jahre 1887 wird durch einen Zufall eine Lampe umgeworfen und die Wohnung in Brand gesetzt, ein Ereignis, das in zwei Bildern festzuhalten, Keller nicht versäumte.« Diese Passage aus der Keller-Literatur226 gibt Anlass, ein merkwürdiges, eine Art Untergangsund Schiffbruchstimmung in Szene setzendes Werk genauer unter die Lupe zu nehmen. Es ist
1880 datiert und mit dem Titel Der brennende Weihnachtsbaum publiziert.227 Wenngleich die
Jahreszahl eindeutig zu entziffern ist, dürfte sie später auf das Bild gekommen sein. So wird hier
vorgeschlagen, das Gemälde mit dem geschilderten Vorfall in Verbindung zu setzen, mit einem der erwähnten Werke zu identifizieren, auf 1887 umzudatieren und ihm den neuen Titel
Zwischenfall bei einer Seance (Kat. 74) zu verleihen. In auffälligem Gegensatz zur allgemeinen Aufregung sitzt eine Frau teilnahms- und reglos auf einem Sessel: Allem Anschein nach ist sie
ein Medium in hypnotischem Tiefschlaf. Das Bild vermittelt den Schauer von Poltergeist- und
Spukphänomenen. Thomas Mann bietet - im Abschnitt »Fragwürdigstes« - eine ebenso informative wie brillant verfasste Schilderung einer Seance in dem Roman Der Zauberberg, an dem der Dichter von 1919 bis 1924 schrieb. Etwas später als Albert von Keller hatte Thomas Mann in München zu
dem gleichen spiritistischen Kreis Kontakt. Seine Besuche bei Schrenck-Notzing schilderte er packend 1924 in drei Berichten über Okkulte Erlebnisse mit dem Medium Willi Schneider (1903-
1971).22 ״In welch bedeutendem Mass okkulte Strömungen durch die Literatur der klassischen Moderne ziehen, wird noch in Manns 1929 entstandener Novelle Mario und der Zauberer deutlich.
Einen Spiritistischen Apport eines Bracelets (Kat. 75) während einer Seance malte Keller
1887 unter Betrachtung einer Fotografie von Maximilian Höhn (Abb. 8), bei deren Aufnahme im Atelier Kellers der Maler beratend mitwirkte. »Apporte« - das Herbeiholen von Gegenständen
selbst von weither oder das Verschwindenlassen ins Nichts - scheinen erstmals in Frankreich
um 1820 bezeugt zu sein: In einer Seance soll plötzlich eine Pappschachtel aufgetaucht sein; bei 225 Es sei hier auf das 1887 im Pariser Salon ausgestellte Bild
einer weiteren Sitzung wurden Blumenapporte beobachtet. Die einen glaubten an ein Eingrei-
Une Ιβςοη clinique ά la Salpetritre (1887) von Andre Brouillet
(1857-1914) hingewiesen. Es zeigt den lehrenden Jean Mar-
fen von Geistern, andere tendierten zu einer magnetischen Erklärung. Um 1900 sollen sich
tin Charcot während einer seiner berühmten Dienstagslektio-
Apporte bei spiritistischen oder parapsychologischen Sitzungen besonders gehäuft haben. Ein-
nen (stances du mardi), wie er einem Interessierten Publikum
geleitet wurden sie durch ein charakteristisches Geräusch des Aufschlagens, zuweilen auch
von Studenten und Mitarbeitern, darunter Thöodule Ribot und
durch besondere Lichteffekte. Man glaubte an eine Entmaterialisierung des apportierten Gegen-
Joseph Babinski, seine Lieblingspatientin ·Blanche« (Marie
Wittmann) während einer hysterischen Krise vorführt. Ein
Standes an seinem Ursprungsort und an die Wiederverstofflichung am Ort der Seance. Es han-
Stich von Abel Lurat (1829-1890) nach diesem Bild ist publi-
delt sich um ein Phänomen der Tele- oder Psychokinese: In der Parapsychologie wird so die
ziert in: L’Art, 1, 1888, Taf. 1; siehe auch: J. L Signoret, Une
physikalisch nicht erklärbare Bewegung oder Ortsveränderung von Dingen bezeichnet, die
lecon clinique ά la Salpetritre (1887) par Andrt Brouillet, in:
Revue Neurologique, 159, 1983, S. 687-701. - Brouillets Ge-
durch geistige Einwirkung hervorgerufen sein soll.
mälde ist abgebildet in: Georges Didi-Huberman, Erfindung
Keller ging es weniger darum, spiritistische Phänomene darzustellen oder ein malerisches
der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin
Äquivalent dafür zu finden, als um den dabei gewonnenen Erfahrungswert, die gebotene Gele-
Charcot, übers, und mit einem Nachwort versehen von Silvia
genheit zur Steigerung seiner Sensibilität in Belangen der Seele. Zu den tieferen Beweggründen
Heuke u.a., München 1997, S. 266, Abb. 102. 226 Rosenhagen 1912, S. 92-94. 227 Müller 1981, Abb. 55.
228 Thomas Mann, Okkulte Erlebnisse, in: Essays II, 1914-1926, grosse kommentierte Frankfurter Ausgabe, Frankfurt 2002.
für sein Interesse am Okkulten lassen sich nur Mutmassungen anstellen. Josef Popp hat 1908
dazu interessante Überlegungen angestellt: »So hat Keller nach allen erdenklichen Seiten dieses
Nachtgebiet durchforscht und immer neue Anregungen für sein künstlerisches Schaffen daraus gewonnen. Bald wurde es ihm ein Mittel, um das übernatürlich Sinnliche anzudeuten, bald be-
Zu Thomas Mann und Albert von Schrenck-Notzing, dessen 2. Aufl. der Materialisations-Phaenomene der Dichter 1923
nützte er es für psychologische Studien und die Steigerung seelischer Darstellung; dann wieder
intensiv studierte, siehe Pytlik 2006, S. 659.
wurde es für seine Phantasie nur das Schwingen und Klingen und Weben traumhafter Gesichte,
Fragwürdigstes
101
die er in Farbe übersetzt. Bei alle dem hat man das Gefühl, dass der Künstler noch seine per-
sönlichen Hintergründe hat, die er nur ahnen oder erraten lässt. Es fällt einem das Wort des Bild-
hauers Rubek in Ibsens Epilog »Wenn wir Toten erwachen» [1908] ein: »Es liegt etwas Verdächtiges, etwas Verstecktes hinter meinen Büsten, etwas Heimliches, was die Leute nicht sehen
können; nur ich kann es sehen, und das macht mir innerlich solch ein Vergnügen.«« Schon allein die Verbindung von Kellers Namen mit jenem des norwegischen Dramatikers, der teilweise
in München gelebt hat, lässt aufhorchen: Ibsens Werk, das um Themen wie Lebenslüge, das Verhältnis von Liebe und Ehe oder die Bewertung der Frau als selbständiger Persönlichkeit
kreist, könnte einen weiteren Schlüssel zum Verständnis Kellerscher Bildwelten liefern.229 In der okkulten Terminologie des 19. Jahrhunderts bedeutet »somnambul« nicht primär »schlafwandlerisch«, sondern »hypnotisiert«. Kellers um 1886/87 entstandene, 1932 als Ge-
schenk Schrenck-Notzings in die Neue Pinakothek gelangte traumhafte Somnambule (Kat. 76) ist ebenfalls im Zusammenhang zu sehen mit einer Fotografie von Maximilian Höhn, bei deren
Aufnahme Albert von Keller anwesend war (Abb. 9). Mit den Themen der mystischen Krankenheilung und der Wallfahrt nach Kevelaer hat sich
Keller um 1887 beschäftigt (Kat. 77,78).23° In der katholischen Kirche des Rheinlandes und weit darüber hinaus ist Kevelaer durch seine Marienwallfahrt und die sich dort ereignenden Wunder bekannt geworden. Ein von Witz durchzogenes Gedicht hat Heinrich Heine 1822 der Ge-
sundbeterstation gewidmet und im Buch der Lieder publiziert. Dort heisst es: »Nach Kevlaar ging mancher auf Krücken, / Der jetzo tanzt auf dem Seil, / Gar mancher spielt jetzt die Bratsche, /
Abb. 8 Maximilian Höhn Lina im somnambulen Zustand mit einer suggerierten Pose (»Apport« zweier Armbänder), um 1887 Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg i. Br.
Dem dort kein Finger war heil.«231 Anwandlungen, Habitus und Gebärden der beiden weiblichen Figuren in Kellers meisterlich skizzierter Mystischer Krankenheilung252 (Kat. 77) sind inspiriert von zwei Tafeln im zweiten Band der 1878 publizierten Iconographiephotographique de la Salpetriere von Desire Μ. Bour-
neville und Paul Regnard, die anhand der alle Stadien der »grossen Hysterie« zeigenden Pa-
tientin Augustine sogenannte attitudes passionnelles illustrieren.233 Die vorn auf einer katafalkähnlichen Bettstatt liegende Kranke mit weit von sich gestreckten Armen entspricht der
229 Popp 1908b, hier S. 165.
Kreuzigungshaltung; die Figur im Hintergrund - wohl das Medium, durch das die Heilung zu-
230 Müller 1981, S. 54. - Arthur Kampf malte 1896 Vor dem
stande gebracht wird - der mit dem Begriff »erotisme« umschriebenen Leidenschaftsattitüde.234 Die »höllische« Gegenwelt zum »paradiesischen« Salon war im Paris des Dixneufieme die Sal-
petriere235: Mit Hilfe von Hypnotismus und dem fotografischen Bild inszenierte und führte dort der Pathologe Jean Martin Charcot (1825-1893) hysterische Anfälle vor; Charcot erfand sozu-
Gnadenbilde von Kevelaer (Gemäldegalerie, Staatliche KunstSammlungen Dresden); siehe Hans Rosenhagen, Arthur
Kampf, Bielefeld/Leipzig 1922, S. 42, Abb. 25.
231 Heinrich Heine, Die Wallfahrt nach Kevlaar, 2. Teil. 232 Kellers 1887 ausgeführte Hauptversion der Mystischen
Krankenheilung ist verschollen; siehe Müller 1981, Abb. 100.
sagen die Hysterie, perfektionierte sie und arbeitete gleichsam wie ein Bühnenregisseur ihre
Darauf erscheint auch der gekreuzigte Christus. Die Frau am
Choreographie aus. Seine Patientinnen produzierten jene Phänomene, die sein Wissenschaft-
Boden in Kreuzigungsstellung ist die Kranke; jene in aufrech-
liches Auge zu sehen wünschte.236 Es galt, die Zeichensprache der Hysterie zu entziffern, ein
ter Position, von mehreren Personen gehalten, ist das Medium,
System analog zu jenem mysteriöser Hieroglyphen oder prähistorischer Felszeichnungen. Char-
durch das die Heilung dank Christi wundertätiger Kraft be-
werkstelligt wird.
cot zeigte, dass es sich bei der Hysterie »keineswegs immer, wie man wohl früher annahm, um
233 Däsire Μ. Bourneville/Paul Rögnard, Iconographie photo-
ein wirres Durcheinander von Symptomen handelt, und wies nach, dass man hier ebenso wie
graphique de la Salpetriere, Bd. 1, Paris 1876/77; Bd. 2, 1878;
bei organischen Krankheiten oft ganz festgeschlossene Krankheitsbilder antrifft«.237 Charcot,
Bd. 5, 1880. Nouvelle Iconographie de la Salpetriere, Bd. 4,
der zu seiner Zeit alles andere als das Kuriosum war, als das er heute erscheinen mag, sondern
geradezu als die Seele der modernen Medizin galt, hatte auf den jungen Sigmund Freud, der
Paris 1891.
23* Taf. XXV, Crucißemenf, Taf. XXI, Erotisme, Abb. in Didi-Huberman 1997, wie Anm. 225, S. 161, 298. Die Aufnahmen stam-
1885 während vier Monaten an der Salpetriere war, entscheidenden Einfluss: Die Belle Epoque
men von Albert Londe (1858-1917), einem Pionier der medi-
der Hysterie ging dann zum Glück allmählich zu Ende und in die Ära der Psychoanalyse über.
zinischen Fotografie.
Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 15, Leipzig/Wien 51897,
Als Maler interessierte sich Albert von Keller gewiss in erster Linie für die visuellen Aspekte
S. 166: »Salpetriere (franz., soviel wie Salpetersiederei), ein
dieser Phänomene; er betrachtete sie als ästhetisches Objekt. Weniger dürfte ihn die ethische
unter Ludwig XIII. zum Zweck eines Arsenals errichtetes Ge-
Frage und die psychoanalytische Problemstellung berührt haben. Mehr das Sehen als das Wis-
bäude in Paris, das später beträchtlich erweitert und zum Hos-
sen hat ihn interessiert. Mit der merkwürdigen Krankenheilung dürfte Keller unmittelbar auf
pital für alte Frauen eingerichtet wurde. Es liegt im 13. Arron-
dissement (Gobelins) und beherbergt jetzt in 45 Gebäuden
das 1887 in Paris publizierte Buch Les demoniques dans l'art von Jean Martin Charcot und
über 3200 unbemittelte alte Frauen (darunter über 700 Geis-
Paul Richer reagiert haben.238
teskranke).«
102
Etwas Heimliches, was die Leute nicht sehen können
Das Testen eines weiblichen Körpers durch einen männlichen Fachmann weist Analogien auf, ob nun die Frauen Hysterikerinnen, Stigmatisierte oder Medien und die Männer Ärzte, Theologen oder Neurologen sind. So gesehen führt ein roter Faden von Charcot direkt zu Schrenck-
Notzing. Wie andere unterwarf Charcot seine Versuchspersonen dem eigenen Willen; diese wiederum waren durchaus nicht willenlos: Eine Art Komplizentum zwischen Arzt und Patien-
tin, Hypnotiseur und Medium scheint sich eingespielt zu haben. Wer im Spiel der Verführung
den aktiveren Part einnahm, bleibt offen. Das Verhältnis zwischen beiden ist mit einer Artfolie ä deux zu vergleichen, die Aspekte eines Liebesakts auf übersinnlicher Ebene andeutet. Auf der 111. Internationalen Kunstausstellung, die 1888 im Münchner Glaspalast stattfand,
war Keller mit dem gerade vollendeten, heute verschollenen239, jedoch durch mehrere kleinere Fassungen und Studien (Kat. 79, 80) überlieferten Bild Hexenschlaf (Abb. 10) vertreten, in das der Maler auch seine Erfahrungen mit dem Medium Lina einfliessen liess (Abb. 8, 9). Im offi-
ziehen Katalog wurde der Bildinhalt wie folgt umschrieben: »Wie die alten Protokolle erzählen,
verfielen die Hexen während der Torturen und der Hinrichtung häufig in einen schlafähnlichen
Zustand der Empfindungslosigkeit. Man nahm an, der Teufel schicke diesen Schlaf, weil er denen, die es mit ihm hielten, Schutz gegen irdische Gerechtigkeit zugesichert habe. HeutzuAbb. 9 Maximilian Höhn Lina im somnambulen Zustand mit einer suggerierten Pose (»verm. Darstellung einer Prophetin«), um 1887 Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg i.Br.
tage wissen wir, dass dieser >Hexenschlaf< nichts anderes als Hypnose oder Somnambulismus
war.«240
Hexen sind mindestens seit Hans Baldung Grien ein Thema in der deutschen Kunst.241 In Shakespeares Tragödie Macbeth von 1606 spielt Hexerei bekanntlich ebenso eine prominente
Rolle wie in einem Hauptwerk der deutschen Dichtung, Johann Wolfgang von Goethes 1808 in ihrer endgültigen Fassung veröffentlichter Tragödie Faust. Die Handlung spielt unter anderem
in einer Hexenküche und am Brocken, wo Faust und Mephisto in der Walpurgisnacht von einer
Windsbraut - einem Hexengewimmel - erfasst werden und an einer Hexenfeier teilnehmen. Keller situiert das Ereignis in ein architektonisch gestaltetes Ambiente, das an mittelalter-
liehe italienische Stadtpaläste mahnt, die er auf einer seiner zahlreichen Reisen in sein Skizzenbuch aufgenommen haben mag, oder das er von - mit Holzstichen oder Fotografien - illus236 Georges Didi-Huberman, Invention de l'hysttrie: Charcot
et l'iconographiephotographique de la Salp^friere, Paris 1994
(Erstausgabe 19821; Didi-Huberman 1997, wie Anm. 225. Siehe
trierten Büchern her kannte. Die Bildkomposition hat etwas Denkmalhaftes, als sei sie auf der
Folie eines Monuments entstanden. Der Maler lehnt sich auch an die Jeanne d’Arc-Ikonographie
auch Elisabeth Bronfen, Das verknotete Subjekt. Hysterie in
an. Die Jungfrau von Orleans, geboren 1412, wurde 1431 in Rouen der Zauberei und Ketzerei
der Moderne, Berlin 1998.
angeklagt und verbrannt. Auf dem Weg zum Scheiterhaufen habe sie gesagt, sie werde noch
m Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 3, Leipzig/Wien ‘1895,
am selben Abend im Paradies sein; in den Flammen stehend habe sie gebetet, und als sie ver-
S.1010. 258 Jean Martin Charcot und Paul Richer, Les dtmoniaques
schied, habe sie den Namen Jesu ausgesprochen. Die Inquisitoren führen Jan Hus und seine
dans l'art, Paris 1887 (Die Besessenen in der Kunst, hrsg. und
Mitkämpfer zur Hinrichtung ist ein Werk Kellers, das sich in Sibirien, im Sukachev-Museum
mit einem Nachwort versehen von Manfred Schneider, Göt-
von Irkutsk befindet: Darin vermengen sich Elemente des Hexenschlafs mit solchen seiner Kreu-
tingen 1988). 239 Früher: Sammlung Henning, Berlin-Charlottenburg. Ab
zigungsbilder.242
1942 in der Linzer Sammlung (Nr. 2229). Am 21. Mai 1947
Wenngleich nicht in erster Linie, so ging es Keller in Hexenschlaf wie in Auferweckung auch
von der Roten Armee aus Thürntal abtransportiert. Siehe
um den Versuch, eine historische Szene gleichsam wissenschaftlich rekonstruiert vor Augen zu
www.dhm.de/gos-cgi-bin/linz (Zugriff vom 10.8.2008).
führen, dem Publikum ein Kapitel finsterer Geschichte zurückzugeben. Hier findet sich der Re-
240 Zit. nach Julie Kennedy, Franz von Stuck und die Karikatur
in der Allotria (Ausst.Kat. Franz von Stuck Geburtshaus, Tet-
flex der bildungsbürgerlichen Wissenslust, die sich ja in verschiedenen vielbändigen Nach-
tenweis), Altenburg 2006, S. 51-52, Anm. 151.
schlagewerken niederschlug, mit dem bezeichnenden Titel »Konversations-Lexikon«. Gern wur-
241 Siehe Bodo Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall. Die seit-
den sie in Gesprächen zu Rate gezogen, die in den privaten Salons geführt wurden - eine in der
samen Phantasien des Hans Baldung Grien (Ausst.Kat. Städel
Tradition der »Akademien« früherer Jahrhunderte wurzelnde Institution, deren Mitglieder sich
Museum, Frankfurt am Main), Petersberg 2007.
242 Siehe www.museum.baikal.ru. - Der tschechische Theologe und Reformator Jan Hus (geb. um 1372) wurde am 6. Juli 1415
in Konstanz als »Häretiker« verbrannt. 243 Siehe etwa die Bilder von Giambattista Pittoni (1687-1767),
um 1721, Museo Civico, Pinacoteca, Vicenza, oder Eugene
im Freundeskreis trafen, um über historische, kulturelle, künstlerische Themen zu diskutieren,
weltanschauliche Theorien zu entwickeln und mit ihrem Wissen facettenreich zu glänzen. Motivische Verwandtschaft liegt mit weiteren Scheiterhaufenszenen vor, wie in der Illustra-
tion des zweiten Gesangs von Torquato Tassos christlichem Epos Das befreite Jerusalem (been-
Delacroix (1798-1863), 1856, Neue Pinakothek, Bayerische
det 1575), das von Olindo und Sophronia handelt und von deren Befreiung vom brennenden
Staatsgemäldesammlungen München.
Scheiterhaufen durch Clorinde.243 Gemeinsam sollten die erst am Marterpfahl vereinten Lie-
Windsbraut und Hexenschlaf
103
Abb. io Albert von Keller Hexenschlaf, 1888 öl auf Leinwand, 242 x 190 cm Heutiger Standort unbekannt
benden in den Flammen umkommen; unvergesslich sind Olindos Liebesfeuer und Martyrium verknüpfende Verse: »Sind dies die Bande denn, die ich, im Leben / Mit dir mich zu vereinen, mir M Torquato Tasso, Das Befreite Jerusalem. II, 33,53, zit. nach
gedacht? / Ist dieses denn die Glut, die uns zusammen / Das Herz entzünden sollt’ in gleichen
der Ausgabe Berlin 1855, S. 53, 59.
Flammen?« Nach der Befreiung in extremis steht beiden der Himmel irdischer Liebe offen: »Vom
245 Unter Analgesie versieht man in der Medizin das Aus-
Pfahl zur Hochzeit geht der schon Verdammte, / Wird Gatte jetzt und nicht Geliebter bloss. / Er
schalten von Schmerzen.
wollte Tod mit ihr; jetzt ist ihr Streben, / Dass, der mit ihr nicht stirbt, mir ihr soll leben.«24' ׳Im
24׳,Müller 1981, S. 50, verweist auf die Schriften von Oskar Wächter, Femgerichte und Hexenprozesse in Deutschland.
Zusammenhang mit Schmerzlosigkeit gegenüber Glut fühlt man sich an jene Episode der römi-
Stuttgart 1882; Siegmund Riezler, Geschichte der Hexenpro-
sehen Geschichte erinnert, in der Mucius Scaevola, um dem Feind den Mut der Römer zu be-
zesse in Bayern. Stuttgart 1886; Paul Schweizer, Der Hexen-
weisen und so seine Stadt zu retten, seine rechte Hand im Feuer verbrannte. Heute versucht
prozess und seine Anwendung in Zürich. Zürich 1902. Einen
weiteren Hinweis verdient der Bundesrichter Gaudenzio Olgia-
man diese beeindruckende Heldentat mit der Vermutung zu erklären, Scaevola sei Analgetiker245 gewesen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Hexenprozesse systematisch erforscht.246
»Aus welcher Zeit datiert die Hexe? Ich sage es ohne Zögern: aus der Zeit der Verzweiflung. Aus
li, der von 1880 bis 1890 ausführliche Studien zu Hexenprozessen unternommen hatte, die 1955 auszugsweise unter dem
Titel Lo sterminio delle streghe nella Valle Poschiavina in
Poschiavo publiziert wurden. - Anna Göldi, 1782 als letzte »Hexe« der Schweiz im Kanton Glarus durch das Schwert hin-
der tiefen Verzweiflung, deren Ursache die Kirche war, und ich sage ohne Scheu: die Hexe ist ein
gerichtet, ist 2008 rehabilitiert und das ihr geschehene Unrecht
Verbrechen der Kirche.« Diese berühmten Sätze stammen aus dem Vorwort von Jules Michelets
als Justizmord qualifiziert worden.
104
Liebesfeuer und Martyrium
(1798-1874) im Jahr 1862 publiziertem Buch Die Hexe.2'7 ׳Georges Bataille hat zu diesem Geschichte und Fiktion vermengenden Werke bemerkt, es mache aus seinem Verfasser einen »von
denen, die am menschlichsten vom >Bösen< gesprochen haben«.248 Kellers Hexenschlaf erregte Aufsehen; noch gut ein Jahrzehnt später wird berichtet, das Werk
habe »eine gewaltige Wirkung« ausgeübt.249 Adolf Bayersdorfer, mit Keller befreundeter Konservator an der Alten Pinakothek, auf dessen Urteil der Maler sehr viel hielt, gefiel das Bild
nicht.250 1902 schreibt Keller an Fritz von Ostini, seine grössten Auszeichnungen verdanke er
Bayersdorfer: »Wenn ihm ein Bild von mir gefiel, war mir die übrige Welt gleichgültig, wenn es ihm missfiel, war ich verzweifelt. Am Eröffnungstage der Ausstellung 1888 traf ich ihn vor meinem Hexenschlaf. Das Bild missfiel ihm. Ich stürzte in mein Atelier, präparierte eine Leinwand
u. malte in 14 Tagen das Porträt mit meiner Frau in weiss u. brachte es noch in die Ausstellung.
Das hat mich bei Bayersdorfer rehabilitiert. Jetzt hängt es in der Pinakothek [Kat. 65] .«251 Ludwig Pietsch252 widmete dem Hexenschlaf noch im Entstehungsjahr eine Beschreibung, in
der er mitteilt, Keller habe eingehende Studien über die Hexenprozesse und den Hypnotismus gemacht und sei zu der Überzeugung gelangt, dass der sogenannte Hexenschlaf, der die »Gefolterten fühllos selbst gegen die entsetzlichsten Martern machte« und noch auf dem Scheiter-
häufen »in Bewusstlosigkeit gefangen« gehalten habe, »nichts anders als der Zustand der kräftig Hypnotisierten gewesen sein könne«. Diesen von ihm oft beobachteten hypnotischen Schlaf
habe Keller im Gesicht der Frau »zur ergreifenden Anschauung gebracht«. Die umgebenden Per247 Jules Michelet (1798-1874), Die Hexe 11862, erste dt. Aus-
gäbe Leipzig 18631, hrsg. und mit einem Nachwort versehen
sonen habe er nicht alle zu Repräsentanten des »fürchterlichen Fanatismus«, von »Geistesver-
wirrung« und »Bosheit« gemacht, welche die Hexenprozesse gemeinhin ins Leben riefen: »Neben
von Günther Emig, Berlin 21977, S. 8. Eine Grundthese von Michelet ist die Geschichte der Hexenverfolgung als Geschichte
Denen, welche sich an dem Anblick der brennenden vermeintlichen Satansbuhle weiden, und
der Unterdrückung der Frau. In der Schrift Le Peuple von 1846
Denen, welche noch Verwünschungen gegen die Unglückliche ausstossen, fehlen nicht gänzlich
führte er erstmals den Begriff der ·Masse« als Kategorie der
auch Solche, welche, von Mitgefühl und Jammer durch das Entsetzliche, was sich vor ihren
Politik und Geschichte ein. Auch soll er als erster den in der
Folge durch Jacob Burckhardl bekanntgemachten Terminus
·Renaissance« verwendet haben.
Augen begibt, im Tiefsten erschüttert, zu ihr aufblicken und Abschied nehmen von ihr, deren Seele bereits allem Gefühl und Bewusstsein irdischer Qual und Noth entrückt ist.« Gemalt sei das
248 Georges Bataille, Michelet, in: Jules Michelet, Die Hexe. Mit
Bild mit der den Maler jederzeit auszeichnenden »koloristischen Kunst« sowie »Breite und Kraft
einem Vorwort von Roland Barthes und einem Essay von
der Technik«.253
Georges Bataille, S. 257-265, hier S. 257; zit. nach Michelet 21977, wie Anm.247, S. 204.
Selbst die populäre Gartenlaube bespricht 1889 den Hexenschlaf. Die Entwicklungsgeschichte
249 Georg Fuchs, in: Darmstädter Zeitung, 13. Dezember 1899,
der Menschheit weise »Zeiträume auf, in welchen nicht durch einzelne Länder oder Völker bloss,
in: Urteile 1900, S. 25.
sondern durch ganze Welttheile ein fremdartiger Zug hindurchweht, wie ein Rausch oder ein
250 Zu Adolf Bayersdorfer (1842-1901) siehe Peter Belthausen,
Wahnsinn, der die Massen erfasst hat«. Dann greife »etwas Unmenschliches oder Übermensch-
sub voce, in: Metzler Kunsthistoriker Lexikon, Stuttgart/Weimar 1999, S. 16-18, sowie Siegfried Käss, Der heimliche Kaiser
liches mit unwiderstehlicher Macht in den geregelten Gang der Dinge«, verwirre und betäube
der Kunst: Adolph Bayersdorfer, seine Freunde und seine
»die klare Einsicht, die vernünftigen, einfach menschlichen Triebe und Ziele der Gesamtheit« und
Zeit, München 1987.
spiele mit den Geschicken einzelner grausam und herzlos. Man wisse wahrhaftig nicht, worü-
251 Antwortschreiben Albert von Kellers an Fritz von Ostini, München 119021 (BSB München, Ostiniana IX, Keller, Albert
ber man sich »heutzutage« mehr verwundern solle, »über die Gesetzgeber, welche es möglich
V.), publiziert in: Fuhr 2004, S. 571-574, hier S. 573.
machten, solche Verfolgungen einzuleiten, über die Richter, welche es übers Herz brachten,
252 Ludwig Pietsch (1824-1911), deutscher Maler, Kunst-
mittels der Folter aus ihren armen zitternden Opfern Geständnisse herauszulocken, oder über
schriftsteller und Feuilletonist in Berlin. Er war befreundet mit
die Völker, welche die Urtheile und ihre grausame Vollstreckung als gerecht und vernünftig er-
Theodor Fontane und stand im Briefwechsel mit Fritz Reuter, Theodor Storm und Iwan Turgenjew. 255 Ludwig Pietsch, Die Malerei auf der Münchener Jubiläums-
duldeten.«254 Doch auch die spiritistische Fachpresse beschäftigte sich mit Kellers Bild. Sphinx, die Mo-
Kunst-Ausstellung 1888, München 1888, S. 60-61.
natsschrift für die geschichtliche und experimentale Begründung der übersinnlichen Welt-
254 Μ. H., Hexenschlaf, in: Die Gartenlaube. Nr. 12,1889, S. 200
anschauung auf monistischer Grundlage widmete 1889 dem Hexenschlaf einen Aufsatz von
(Rubrik ·Blätter und Blüthen·!, Abb. auf S. 184-185. 255 Von Kiesewetters (1854-1895) zahlreichen historisch orien-
Carl Kiesewetter255. Der Okkultist, Theosoph und Autor esoterischer Werke weist darauf hin,
lierten Werken seien hier erwähnt Geschichte des neueren
dass der »somnambule Wonneschlaf« bei den Hexen nicht vorkomme und auch nicht »ihrem
Occultismus, Leipzig 1891; Faust in der Geschichte und Tra-
moralischen Zustande« entspreche. So sehr man daher »die künstlerische Schönheit des Kel-
dition. Mit besonderer Berücksichtigung des occulten Phänomenalismus und des mittelalterlichen Zauberwesens, ibid.
lerschen Bildes schätzen« müsse, so sei »vom kulturgeschichtlichen Standpunkte diese Ein-
1893.
Wendung gegen dasselbe zu erheben«. Dass bei einer Hexenverbrennung teilnehmende Ange-
256 Kiesewetter 1889, S. 325.
hörige dabei gewesen sein sollen, wird als historisch nicht wahrscheinlich kritisiert.256 In den
Der Lauf der Dinge
105
73 Hypnose bei Schrenck-Notzing, um 1885 Öl auf Leinwand, 38 x 45,5 cm
74 Zwischenfall bei einer Seance, 1887 öl auf Karton, 112,5 x 83 cm
75 Spiritistischer Apport eines Bracelets, 1887 Öl auf Karton, 84 x 76 cm
76 Somnambule, um 1886/87 Öl auf Leinwand, 54 x 44 cm Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek
77 Mystische Krankenheilung, um 1887 Öl auf Karton, 32,5 x 42 cm
78 Wallfahrt nach Kevelaer, um 1887 Öl auf Karton, 73 x 49 cm
79 Hexenschlaf, um 1888 öl auf Karton, 58,5 x 45,5 cm
80 Hexenschlaf (Studie), um 1888 Öl auf Leinwand, 53 x 35 cm
81 Die glückliche Schwester, um 1893 Öl auf Leinwand, 44,5 x 54 cm
einführenden Bemerkungen zu Kiesewetters Besprechung schreibt der Herausgeber Wilhelm Hübbe-Schleiden257, sie sei durch den Wunsch veranlasst worden, die Leser »auf die feinsinnige
Art aufmerksam zu machen, in welcher dieser unserer Bewegung persönlich nahestehende Künstler« es verstehe, »seine allgemein anerkannte hohe Begabung unserer Geistesrichtung
dienstbar zu machen, indem er uns doch die Widerwärtigkeiten der oft für uns unerträglichen Wahrheit erspart«.258 Ludwig Delius hatte wiederum in Sphinx darauf hingewiesen, der Titel Hexenschlaf sei von Carl du Prel vorgeschlagen worden.259
Richard Muther bildet den Hexenschlaf in seiner Geschichte der Malerei im XIX. Jahrhun-
dert von 1894 ab: Kellers »coloristische Sensibilität« habe sich darin mit seinem »Interesse für Hypnose und Spiritismus« vereint. Das Thema habe es erlaubt, »bunte farbendurchsättigte Kos-
tüme des Mittelalters zu einem schönen Bouquet zusammenzustellen und daraus den schillernden Perlmutterton eines nackten Weiberkörpers herauswachsen zu lassen«. Mit dem Färb-
gedanken verbunden sei aber »ein modernes psychologisches Problem«. Wie die Auferweckung, so sei auch Hexenschlaf nicht gemalt worden, »hätten nicht Charcot und Richer260 damals das
Interesse auf hypnotische Forschungen gelenkt«.261
»Durch die Macht des somnambulen Zustandes« werde das Opfer »über die Schrecken des Todes hinübergeleitet«, schreibt Hans Eduard von Berlepsch-Valendas 1897. Die Art, wie das
Thema aufgefasst sei, nehme ihm das Grausame der Wirklichkeit vollständig. Koloristisch trete »der Gegensatz zwischen dem nackten Leibe und den starkfarbigen Gewändern der Zuschauer
in ein äusserst glückliches Verhältnis«.262 Für Cornelius Gurlitt ist der Hexenschlaf »empfunden
und vielleicht auch gemalt vor dem hypnotisierten Modell«.263 »Quel contraste seduisantl«, bemerkte Maurice Montadon 1908 zum Hexenschlaf. welch rei-
zender Kontrast im Bild doch zwischen Flammen und Schmerzlosigkeit bestehe.266 Im selben Jahr bemerkte Josef Popp, Keller fasse die Sache wie unter dem Gesichtspunkt der Hypnose.
»Was die Wissenschaft vorläufig nur als Frage oder Vermutung hinstellen darf, das kann der Künstler als Wirklichkeit geben, wenn er in sich die Kraft trägt, es überzeugend zum Ausdruck
zu bringen.«265 »Im Antlitz der jungen Hexe am Brandpfahl hat er vielleicht sein höchstes - ein
Höchstes! - an Ausdruck geschaffen«, schreibt Fritz von Ostini 1914.266 Als »ein Historienbild von 257 Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846-1916), deutscher For-
Bedeutung«267 hatte er den Hexenschlaf bereits 1901 tituliert und 1905 bemerkt: »Im Ausdruck
schungsreisender, Kolonialpolitiker, volkswirtschaftlicher
des Gesichtes ist der Zustand von Überreizung und lethargischem Halbschlaf meisterlich aus-
Schriftsteller und Theosoph; Herausgeber der Zeitschrift
gedrückt: auch an etlichen Bildern gekreuzigter Märtyrerinnen beobachtet man verwandte Zu-
Sphinx. Er hat es auf den Rücken von Bd. 9 der 5. Aufl. von
stände.«268
Meyers Konversations-Lexikon 1896 gebracht: »Hübbe-Schleiden bis Kausler«.
Dass die sterbende oder soeben hingeschiedene Nonne in der um 1893 entstandenen mysti-
258 Wilhelm Hübbe-Schleiden, einführende Bemerkungen zu
sehen Impression Die glückliche Schwester (Kat. 81) jung und schön war, darüber kann aus der
Kiesewetter 1889, S. 321.
Sicht von Kellers Poetik eigentlich kein Zweifel bestehen: Der ersehnte Weg zu den ewigen Höhen
259 Delius 1888, S. 58.
steht nunmehr offen. Musischen Betrachtern dürften die 1825 von Franz Schubert genial ver-
260 Charcot/Richer 1887, wie Anm. 238.
261 Muther 1894, S. 435-436.
tonten, empfindsamen Verse des Gedichts Die junge Nonne von Jakob Nikolus Cralgher de Ja-
262 Berlepsch 1897, S. 196-197.
chelutta (1797-1855) ins Ohr klingen: »Des Bräutigams harret die liebende Braut, / Gereinigt in
265Gurlitt 1900, S.681.
prüfender Glut, / Der ewigen Liebe getraut. II Ich harre, mein Heiland! Mit sehnendem Blick! /
26* Montandon 1908, S. 466. 265 Popp 1908b, S.163.
Komm, himmlischer Bräutigam, hole die Braut, / Erlöse die Seele von irdischer Haft!«269 Aus
266 Ostini 1914a, S. 364.
thematischer Sicht ein analoges, vom Christlichen ins Altrömische transponiertes Pendant hat
267 Ostini 1901, S. 51.
in einer Zeichnung Kellers seinen Niederschlag gefunden: Ein neues Leben.270 Dort verlässt eine
268 Ostini 1905, S.352.
Vestalin den Tempel; mit dem Schritt über die Schwelle ist sie nicht mehr an ihr Keuschheits-
269 Deutsch-Verzeichnis 828.
270 Müller 1988, Abb. 180. Die Zeichnung dokumentiert
gelübde gebunden. Und in Wagners 1845 uraufgeführter romantischer Oper Tannhäuser betet
vermutlich ein heute verschollenes Gemälde.
Elisabeth um Erlösung: »Mach, dass ich rein und engelgleich / Eingehe in dein selig Reich!«271
271 3. Aufzug, 1. Auftritt.
Im Mondschein Ein symbolistisches Gemälde ersten Ranges und zugleich ein Hauptwerk Albert von Kellers ist Im Mondschein von 1894 (Kat. 84). Der Hinweis, dass der Symbolismus Inhalte auf einer meta-
phorischen Ebene treffend vermitteln will und nicht reale Geschehnisse ins Bild bannt, soll
gleichsam zur Klärung am Rand notiert sein. Der literarisch-ästhetische Charakter dieser wichtigen, die bildenden Künste ebenso wie die Musik, die Dichtung oder das gehobene Handwerk erfassenden Strömung des späten 19. Jahrhunderts ist hervorzuheben. Eine Grundkomponente des Jugendstils ist symbolistischen Charakters. Wie Kellers Erweckung (Kat. 44), Hexenschlaf
(Abb. 10) oder Höllenfahrt (Kat. 118) hat auch diese gemalte Phantasie ausgeprägten Art pour /’arf-Charakter. Das Bild ist symbolistisch zu deuten, gleichzeitig jedoch appelliert es mittels
seines realistischen Stils an die sinnliche Wahrnehmung des Betrachters. Auf die gegenwärtige Betrachterin, den Betrachter unserer Zeit, wirkt es voraussichtlich unmittelbarer. Das Sehen
dürfte naiver geworden sein, das Motiv als solches könnte als Skandalon aufgefasst werden; die spätromantisch-ästhetischen Fin de Siecle-Wonneschauer sind heute verebbt.
Vom Licht und Dunkel des Begehrens handelt das Bild. Die Frau wird zu einem ästhetischen
Wesen erhöht - aus anderer Sicht: reduziert - und dem Betrachter zur Adoration empfohlen. Weniger um die Dämonisierung der Frau geht es als um deren erotische Auratisierung, als wolle
sie, frei nach Baudelaire, dem Beschauer, der sie »nackt und ohne Hüllen sieht [...] den Mond, die Sonne, den Himmel samt all seinen Sternen« ersetzen.272 Vielleicht wollte Keller dem männ-
liehen Auge das vermitteln, was zu spüren das weibliche Publikum beim Betrachten von
Kruzifixen oder Heiligen wie Sebastian lange bereits das Privileg hatte. Einen schwer einzuschätzenden Grad an Popularität erlangte Im Mondschein durch druckgraphische Reproduk-
tionen; das entsprechende Blatt fehlt zuweilen in frühen Publikationen zu Keller. Keller hat die Frau ans Kreuz gemalt, weil er sie so vergötterte und das Augenmerk auf ihren Status in der Gesellschaft richten wollte. Er prangerte damit etwa ihre Stellung als junges un-
schuldiges Opfer männlicher Verführung an; in diesem Zusammenhang ist darauf hingewiesen worden, dass in Bayern um 1870 die Hälfte aller Erstgeborenen vor der Eheschliessung gezeugt wurden.273 Es geht bei Keller nicht primär um eine Infragestellung religiöser Konventionen, weit
eher schon um eine Anprangerung der Jahrhunderte währenden Unterdrückung der Frau durch die Kirche. Was den einen als »Idol der Perversität«274 vorkommt, kann anderen als Symbol der
Leidenschaft für die Frau gelten. Das Standardwerk zum Thema »Frau am Kreuz« wurde 1998
von Jürgen Zänker publiziert.275 Mit Im Mondschein hat Keller ein Werk geschaffen, das manch anderes Kreuzesbild in den
Schatten stellt. Es kann als Spiel mit Zeichen gedeutet werden, das in verschiedene Richtungen
Signale sendet, als eine komplexe Kombination von Verweissystemen. In der gegenwärtigen Kunsttheorie fiele in einem solchen Fall der Begriff »Diskursmaschinerie«. Eigentliches Thema 272 Camille Paglia, Die Masken der Sexualität, aus dem Arne-
sind letztendlich jedoch die Malerei selbst sowie die Zurschaustellung ihrer Mittel. Das Motiv
rikanischen von Margit Bergner u.a., München 1995, S. 519.
von Akt und Fesselung oder Ankettung findet sich in der Mythologie: Als Strafe dafür, dass er
273 Müller 1981, S. 53. 274 Dijkstra 1986.
gegen den Willen von Göttervater Zeus für die Menschen das Feuer wiedererlangt hatte, wurde
275 Zänker 1998.
der Titan Prometheus in den Einöden des Kaukasus nackt an einen Felsen über einem Abgrund
276 Rubens, Der gefesselte Prometheus, 1611/12, Philadelphia
gekettet; täglich frass der Adler Ethon von seiner Leber, die sich immer wieder erneuerte, um
Museum of Art; Salvator Rosa, Prometheus, um 1650, Palazzo
die Qual zu steigern. Bildlich umgesetzt wurde dies grausige Sujet von Rubens, Salvator Rosa
Barberini, Galleria Nazionale d’Arte Antica di Palazzo Barbe-
rini, Rom; Johann Heinrich Füssli, Herakles erlegt den Adler
des Prometheus, 1781/ 85, Kunsthaus Zürich. Vgl. dazu: Franziska Lentzsch u.a., Füssli-The Wild Swiss (Ausst.Kat. Kunst-
haus Zürich), Zürich 2005, Kat. 104.
oder Johann Heinrich Füssli.276 1885 wurden in der Londoner Royal Academy mehrere Bilder ausgestellt, deren Thema
frühchristlichem Frauenmartyrium gewidmet war, so Frederick Hamilton Jacksons (1848-1923) Hl. Dorothea und Alfred Walter Bayes’ (1832-1909) Traum einer christlichen Märtyrerin. Das
271 Prüderie und Leidenschaft. Der Akt in viktorianischer Zeit,
hrsg. von Alison Smith (Ausst.Kat. Täte Gallery, London/Haus
berühmteste dort gezeigte Werk dürfte die heute in der Täte Gallery in London hängende Hei-
der Kunst München u.a.), Ostfildern-Ruit 2001, Kat. 149.
lige Eulalia von John William Waterhouse (1849-1917) sein.277 Eulalia wurde 313 hingerichtet,
Diskursmaschinerie · Auratisierung · Fin de Sidcle-Wonneschauer
115
82 Heilige Julia (Studie), um 1891 öl auf Karton, 37,5 x 31 cm
83 Mondnacht / Versuchung, um 1893 Öl auf Holz, 43 x 65 cm
8ή Im Mondschein, 1894 Öl auf Leinwand, 150 x 100,5 cm
weil sie ein Edikt Diokletians missachtet hatte, wonach alle römischen Untertanen den Göttern des Reiches opfern mussten; im Augenblick
ihres Märtyrertodes begann es wunderbar zu schneien und Tauben flo-
gen aus ihrem Mund. In Waterhouses Gemälde ist das Mädchen der Hei-
ligenlegende zur Frau geworden, an deren bildperspektivisch in Szene gesetztem nackten Körper keine Spuren des Martyriums zu erkennen sind. Elemente wie »weiblicher Akt« und (leeres) »Kreuz« sowie »Seile«
finden sich in Kellers Im Mondschein wieder. Im Zusammenhang mit dem in Kunst und Literatur des 19. Jahr-
hunderts ebenso beliebten wie bis ins Wollust- und Grauenerregende strapazierten, »dekadenten« Thema der Christenverfolgung unter Nero ist etwa das Hauptwerk des polnischen Malers Henryk Siemiradzki (1843-1902) zu nennen. Im 9. Kapitel von Theodor Fontanes 1891 bis
1894 entstandenem Roman Die Poggenpuhls wird dessen Bild Die lebenden Fackeln des Nero2™
von 1876 erwähnt, »so gross wie die Segelleinwand von einem Spreekahn oder wohl eigentlich
Abb. 11 Ernst von Wildenbruch, »Claudias Garten. Eine Legende«, Berlin 1896 Mit einer Heliogravüre von Albert von Keller
noch grösser«. Es habe gezeigt, was die Gelehrten die »Fackeln des Nero« nannten, von denen einige bereits brannten. Menschen seien es gewesen, »Christenmenschen, in Pechlappen ein-
bandagiert«, die ausgesehen hätten wie Mumien oder grosse Wickelkinder. Die Mähne eines
Löwen kraulend, als sei es ein Pudel, habe Kaiser Nero, »der Veranstalter von all dieser Gräss-
lichkeit«, dabei gemütlich auf einem goldenen Wagen gelegen. Mit dem gleichen Thema setzte sich 1888 der viktorianische Maler Herbert Schmalz (1857-
1935), Schüler von Frederic Leighton und Lawrence Alma-Tadema, in seinem Bild Treu bis in den Tod, »Christianos ad leones!« auseinander, das er noch im Entstehungsjahr in der Royal Aca-
demy in London ausstellte.27’ Zu Ehren von Bacchus hat Nero junge Märtyrerinnen aus ver-
schiedenen Völkern an Hermen fesseln lassen; nur ein Gitter schützt sie noch vor den Löwen.
278 Bevor Siemiradski sich 1872 in Rom niederliess, hielt er sich
1871 als Schüler von Karl Theodor von Piloty in München auf.
Das Werk, dessen Spuren bis in die Filmkunst des 20. Jahrhunderts reichten,280 zeugt vom Ein-
Das erwähnte Bild befindet sich im Krakauer Nationalmu-
fluss Jean-Leon Gerömes (1824-1904) - zu dem Albert von Keller zeitweise in persönlichem
seum. Siehe Thieme-Becker, Bd. 31,1937, S. 1-2.
Kontakt stand281 -, namentlich von dessen berüchtigten Sklavenmarktbildern und seinem 1883 entstandenen, auch durch Fotogravüren berühmt gewordenen Gemälde Das letzte Gebet des
christlichen Märtyrers.
279 Sammlung Horst Μ. Rechelbacher; vgl. Prüderie und Lei-
denschaft, wie Anm. 277, Kal. 150. 280 Siehe den Film Cecil B. De Milles Im Zeichen des Kreuzes
von 1932. Zum Bondage-Motiv der gefesselten Frau im Kino
Für Kellers Zeitgenossen müssen solche Bilder der perfekte Ausdruck römischer Dekadenz ge-
sei auf den 1967 gedrehten Kultfilm von Luis Bunuel Belle de
wesen sein; seine antiken Bildwelten kreisen eher um idyllische Badeszenen, später um Episo-
Jour mit Catherine Deneuve in der Hauptrolle verwiesen, in der zeitgenössischen Kunst auf Fotokünstler wie Pierre et Gil-
den aus der Welt der griechischen Tragödie und Komödie. Im Vergleich zu Siemiradzki, Schmalz
les oder David LaChapelle. Die japanische Shiban-Fesselkunst
und weiteren Malern seiner Generation fällt bei Keller auf, dass er es verstand, Mass zu halten,
wiederum soll aus der mönchischen Tradition heraus ent-
sich auf Wesentliches zu konzentrieren und die Sache auf den Punkt zu bringen. Er verzichtete
standen sein und eine ästhetische Form der Meditation dar-
auf Beiwerk, wo er gleichsam besonders dick hätte auftragen können. Modern und bemer-
stellen. Apropos Japan: Kenji Mizoguchi (1898-1956) schuf 1954 den im folgenden Jahr beim Filmfestival von Cannes prä-
kenswert sind bei Keller Ästhetisierung und Isolation des Motivs aus (s)einem weiteren Zu-
sentierten japanischen Filmklassiker Chikamatsu Monogatari
sammenhang. Mit Sensibilität und Gespür ist es ihm gelungen, diesen brisanten Stoff zum Zeit-
(Die Legende vom Meister der Rollbilder), in dem ein Liebes-
punkt seiner höchsten Virulenz zu einer ikonenhaften Formel zu verdichten.
paar gekreuzigt wird.
Das reichlich ausgeschmückte Thema der Christenverfolgung zur Zeit Kaiser Neros hat in der
281 Siehe Kellers Antwortschreiben an Ostini von 1902 in: Fuhr 2004, S. 573. Dort nennt Keller neun Maler, mit denen er in
Mitte der 1890er Jahre in der Literatur sowie in der Malerei ihren Höhepunkt gefunden; Es
Paris Kontakt pflegte: Jacques-fcmile Blanche (1861-1942),
scheint einem in ganz Europa weit verbreiteten Zeitgeist zu entsprechen. 1895 veröffentlichte
Jean Böraud (1849-1935), Jean-Löon Göröme (1824-1904),
der polnische Schriftsteller Henryk Sienkiewicz (1846-1916) seinen vielgelesenen, in katho-
Jules-Joseph Lefebvre (1836-1911), Pascal Adolphe Dagnan-
Bouveret (1852-1929), Eduard Delaille (1848-1912), Benjamin
lischer Weitsicht verfassten Bestseller Quo Vadis, der ihm 1905 den Nobelpreis für Literatur
Constant (1845-1902), Bernard (vermutlich Armand Bernard,
einbrachte. Quo Vadis steht im Zeichen des Kreuzes, ja dekadenter Kreuzessucht; die weitge-
1829-1894), Smile Renö Menard (1862-1930). Diese Aufzäh-
fächerte Kreuzessymbolik reicht von Kreuzeszeichen bis zum singenden Christen am Kreuz oder
lung - ein Eldorado für die künftige Keller-Forschung -, die
einer Zurschaustellung Gekreuzigter. Weitere Grausamkeiten wie die Verwendung als lebende
sich wie ein Who's who der französischen Salonmalerei liest, ist von erheblichem Interesse, dokumentiert sie doch Kellers
Fackeln oder als Frass für wilde Tiere ertragen die Märtyrer gelassen, eingedenk des »selbst
Leistung im Kulturtransfer. Heutigen Lesern wird auffallen,
unter Qualen sanften« Todes des Erlösers.
dass sich unter diesen Namen keine Impressionisten befinden.
118
Quo Vadis
Nach dem knappen Überblick zu dieser Tradition dürfte es kaum mehr überraschen, dass Albert
von Keller das heliogravierte Frontispiz zu der 1896 erschienenen Erstausgabe einer unmittelbar auf Quo Vadis reagierenden Legende beigesteuert hat, abermals mit einer Frau, die mit ver-
schleiertem Blick nackt am Kreuz hängt. Die Rede ist von Ernst von Wildenbruchs (1845-1909) Claudias Garten (Abb. 11), einem literarischen Produkt, das ein kongeniales Deutungsambiente zu Kellers Im Mondschein bietet. Während Sienkiewiczs Quo Vadis die Liebesgeschichte zwi-
sehen dem jungen römischen Patrizier Marcus Vinicius und der Christin Lygia erzählt, berichtet Wildenbruch vom Glaubenstod der »Christianerin« Claudia und der Bekehrung jenes germanischen Soldaten von Neros Leibwache, der den Auftrag hatte, das Feuer unter ihrem Kreuz
zu entfachen. Obgleich er sie nicht retten konnte, ihr jedoch den grausamen Flammentod er-
sparen wollte, tötete er sie mit einem Dolchstich ins Herz. Eine eigentümliche Liaison gehen die Macht des christlichen Glaubens und Verbalerotik in mehreren Passagen von Wildenbruchs
Text ein. Die Schilderung glückseliger Glaubensekstase und körperlich durchbebter Glückselig-
keitsversprechen kippt hin und wieder ins wollüstig Morbide, zeittypisch Dekadente. Um Claudia den Tod zu verschaffen, nach dem sie sich sehnt, da er ihr den Weg zum ewigen Leben im
paradiesischen Garten öffnen wird, zieht der sie umarmende Soldat, ein blonder Hüne, das
Schwert hervor: «... und wie ihr Haupt an meiner Schulter lag und ihr Gesicht an meinem Gesicht, habe ich mit meinem Munde ihren Mund geküsst und zu ihr gesprochen: «Fahre wohl, Abb. 12 Carl Röhling (1849-1922) Illustration zu »Claudias Garten« von Ernst von Wildenbruch, 1906
Claudia, bis wir uns Wiedersehen; wirst Du warten, dass ich komme?« Und da hat sie mich noch
einmal angesehen - mit den Augen hat sie mich angesehen - mit den Augen - und hat gesagt:
«Claudia wird warten.« Und darauf habe ich die Spitze meines Schwertes wider ihre Brust erhoben, gerade dahin, wo ich wusste, dass ihr Herz in der Brust war, und weil keine Hülle darüber war und nichts, was dem Schwerte widerstand, so drang es mit einem Stosse mitten in ihr
Herz, und sie hat noch einmal in meinem Arme gezuckt - und dann - mit einem Seufzer - war
sie dahin.« (Abb. 12)282 Fern eines jeden Kitschverdachts findet sich das Motiv des ekstatisch-
freudigen Blickes und des viril mit dem Schwert zustossenden Henkers bereits in der Kunst des Cinquecento bei Correggio. Barocke Bildstrategien und dramaturgisch-rhetorische Formeln vor-
wegnehmend, ist das Geschehen dort in nicht zu überbietender Sinnlichkeit gemalt.283
Wenngleich mit dem Kreuz das zentrale Symbol der abendländischen Christenheit mitsamt seinem reichen Evokationsspektrum lapidar ins Bild gestellt ist, wird die Frage nach »katho-
lisch« oder »evangelisch« bei Keller, der reformiert getauft war, aus den Angeln gehoben; sie
spielt keine Rolle, seine Bilder wenden sich nicht an den frommen Betrachter. Sie sind nicht zur geistigen Erbauung gemalt, sondern richten sich an Kunstliebhaber, Kenner und schielen gleich-
zeitig nach dem grossen Publikum, wollen »Kunst für alle« sein.
Gekreuzigte haben in der Münchner Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tradi-
tion. Nicht ohne einen gehörigen Schuss Ironie berichtet Friedrich Pecht 1881 von Gabriel von 282 Wildenbruch 1896, S. 97-98; Ernst von Wildenbruch, Clau-
Max’ Heiliger Julia'1''' (Abb. 13): »Es war im Frühjahr 1867, als eines Sonntags das ganze gebil-
dia's Garten. Eine Legende. Neue Ausgabe, mit Zeichnungen
dete München in nicht geringe Aufregung gerieth, alle Damen mit nassen Augen aus dem Kunst-
von Carl Röhling, Berlin 1906, S. 100-101.
verein kamen, und «wo ein Bär den andern sah« denselben mit der Frage empfieng: «Haben sie
285 Antonio Allegri, genannt Correggio (1489(?)-1534), Marty-
rium vierer Heiligen, um 1524, Galleria Nazionale, Parma, ehe-
die Märthyrerin schon gesehen?« Die Menge drängte sich derart vor der armen Gekreuzigten St.
mals in der durch Correggios Kuppelfresko berühmten Kirche
Julia, dass die meisten sie gar nicht ordentlich zu Gesicht bekamen und nur um so gerührter
San Giovanni Evangelista in Parma. Der Einfluss des Malers
weggingen. Sie fand gleich in den ersten Tagen ihres Auftauchens einen spekulativen Liebhaber,
auf Gian Lorenzo Bernini (1598-1680) war bedeutend; man
der ganz Deutschland mit ihr unter Wasser setzte I... ] und dann auf der Ausstellung in Paris die
vergleiche an erster Stelle dessen an lebensgross-skulpturaler Erotik nicht zu übertreffende, pathetisch-grandiose Mystische
Union der Heiligen Theresa von Avila. 1647-1651, Cappella Cornaro in Santa Maria della Vittoria, Rom.
28* Von der Heiligen Julia von Gabriel von Max sind von vier
halbe zivilisierte Welt wie die ganze Halbwelt mit ihr fascinierte. [...] Wird man im Grunde über
nichts so sehr gerührt als über sich selber, so traf das jetzt bei den liebenswürdigen Münchnerinnen buchstäblich zu, denn jede fühlte sich als Märtyrerin, - besonders die Vermählten. Oder wünschte es doch zu werden, wenn sie die Gemalte ansah, welche solche Seligkeit im Gesichte
Varianten drei Fassungen in St. Petersburg, Prag und Seattle erhalten. Zu Letzterer (1867, 120 x 92 cm, Frye Art Museum)
trug und überdies in Thränen zu ihren Füssen einen so hübschen jungen Menschen hatte, dass
siehe Buhrs 2008, Kat. 65.
man schon um seinetwegen allenfalls einige Qualen hätte ausstehen mögen. Um so mehr, als sie
Reiches Evokationsspektrum
119
allem Anscheine nach nicht allzu schwer gewesen
sein konnten. Alles Neue und Bedeutende ruft zunächst nicht nur Beifall, sondern auch Wider-
spruch hervor. Die heilige Julia scheine eigentlich eine Märtyrerin der Liebe zu sein, sagten daher die Spötter, denen die unmännliche Rolle des zu ihren
Füssen seine Kränze niederlegenden jungen Römers nicht behagen wollte.«285
Ein Hauptwerk von Bruno Piglhein und der Münchner Malerei um 1880 ist das heute verschol-
lene Bild Moritur in Deo von 1879 (Abb. 14), das
Christus am Kreuz zeigt, »von einem Engel im Tode getröstet«.286 Der Künstler als Messias spielt bei Dürer eine
Rolle, etwa in seinem Selbstbildnis von 1500 in der Alten Pinakothek in München. Um 1900 war die
Identifikation mit dem heiligen Sebastian en vogue. Das Thema des Künstlers als Märtyrer, der für sein künstlerisches Credo einsteht, entsprach dem damaligen Zeitgeist: Mit mehr oder we-
niger Pathos identifizierten sich viele Maler mit den Gezeichneten am Rand der bürgerlichen GeSeilschaft. Der wohlgestalte Jüngling wurde somit Symbol für das Leiden an der Welt und zu-
Abb. 13 Gabriel von Max (1840-1915) Heilige Julia, 1867 Fotografie, um 1880 Friedr. Bruckmann’s Verlag in München & Berlin Abb. 14 Bruno Piglhein (1848-1894) Moritur in Deo, 1879
gleich für Hoffnung und Erlösung. Das Thema des Kreuzweges liegt vielen Künstlerbiographien
zugrunde. Die Generation der Symbolisten erkannte in Beethoven das Märtyrergenie par ex-
285 Friedrich Pecht, Gabriel Max, in: Deutsche Künstler des
cellence. Mit Beethoven ά la Croix hat der Rodin-Schüler Emile-Antoine Bourdelle in einem
neunzehnten Jahrhunderts. Studien und Erinnerungen.
noch 1929, seinem Todesjahr, geschaffenen Weihebild eine einprägsame Formel dafür gefun-
Dritte Reihe, Nördlingen 1881, S. 229-260, hier S. 229-230. -
den.287 Berühmt sind die Werke zweier Fotografen, die sich am Kreuz hängend ins Bild gesetzt haben.
Eine ähnliche Situation wie Max, wenn auch gänzlich anders umgesetzt, schildert Louis Joseph Raphael Collin (1850-1916)
in seiner Gekreuzigten Frau von 1890 (Kunsthandel Peter
In seiner Fotoserie von 1898 The last seven days of Christ hat sich Fred Holland Day (1864-
Nahum, The Leicester Galleries).
1933) mit der Person Christi identifiziert. Um sich dem Aussehen von Jesus anzunähern, fastete
286 Uhde-Bernays 1927, S. 244, Abb.S. 237.
der amerikanische Anhänger der malerischen Fotografie und liess sich über ein Jahr lang Haare
287 Philippe Junod, Das (Selbst)portrait des Künstlers als
Christus, in: Erika Billeter (Hrsg.), Das Selbstportrait im Zeit-
und Bart wachsen.288 Der auch in München ausgebildete tschechische Fotograf Frantisek Drti-
alter der Photographie. Maler und Photographen im Dialog
kol (1883-1961), der in den 1910er Jahren eine Reihe von zur Entstehungszeit nicht publizier-
mit sich selbst (Ausst.Kat. Lausanne/Stuttgart), Bern 1985,
ten - mit grosser Wahrscheinlichkeit von Kellers Im Mondschein angeregten - Bildern mit ge-
S. 59-79, dort S. 73: Emile-Antoine Bourdelle, Beethoven ά la
Croix, 1929.
kreuzigten nackten Frauen schuf, posierte 1913 selbst in der Rolle Christi für Bilder mit Motiven
288 Zu Holland Day siehe z.B. Billeter 1985, wie Anm.287,
der Kreuzigung.28’ Fotos von ans Kreuz gefesselten Frauen zirkulierten in Frankreich spätes-
Kat. 415: The last seven days of Christ, 1898, Fotoserie, Inter-
tens ab den 1880er Jahren.290
national Museum of Photography at George Estman House,
Kein Nimbus ist in Kellers Im Mondschein gemalt, der die verletzliche, jedoch nicht leidende
Rochester. Vgl. auch: Kreuzigung, 1898, Royal photographic
society, Bath.
Frau als christliche Märtyrerin ausweisen würde, und, wäre da nicht das Kreuz, läge der Ge-
289 Vladimir Birgus, Fotograf Frantisek Drtikol, Prag 1994.
danke an die Mondgöttin Selene nahe. Dies wiederum erlaubt es, auf ein wahrscheinliches Vor-
Darin ein Resume in deutscher Sprache, S. 196-200, Abb.
bild Kellers hinzuweisen, auf Anne-Louis Girodet-Triosons (1767-1824) berühmtes Bild von 1791
S. 22: Frantisek Drtikol als Jesus am Kreuz, 1913; weitere Bil-
im Musee du Louvre in Paris: Endymion. Effet de hme, bekannt auch unter dem Titel Le Som-
der zum Thema ibid., S. 22-24, 29. 290 Siehe etwa ibid., S. 23: Abb. einer anonymen französischen
meil d’Endymion. Wie Mondlicht auf einem nackten Körper zu malen ist, wird in diesem er-
Fotografie um 1885. - Erinnert sei hier am Rande an das Bild
staunlichen Bild meisterhaft vorgeführt.
einer gekreuzigten Frau unserer Zeit, das Kurt Fahrner (1932-
Wenig und Widersprüchliches ist über das Leben der heiligen Julia von Karthago, Patronin
1977) 1959 auf dem Basler Barfüsserplatz öffentlich präsentierte, womit er einen Skandal und eine Debatte über Reli-
von Brescia, Bergamo, Livorno und Korsika, bekannt. Der Legende nach soll sie gekreuzigt wor-
gions- und Pressefreiheit verursachte. Das Werk wurde von
den sein, so wird sie in der Volksdevotion bei Hand- oder Fussverletzungen angerufen. In der
der Polizei beschlagnahmt und Fahrner zu einer Busse verur-
Julia-Ikonographie sticht ein um 1505 entstandenes, im Dogenpalast von Venedig aufbewahr-
teilt. Erst 1980 wurde die Konfiskation aufgehoben. Siehe
tes Triptychon von Hieronymus Bosch ins Auge, Das Martyrium der heiligen Julia von Kor-
Hans-Peter Wittwer, sub vocem, in: Biografisches Lexikon der
Schweizer Kunst, hrsg. vom Schweizerischen Institut für
sika. Kellers undatierte Studie Heilige Julia (Kat. 82) dürfte mit dem querformatigen Hauptbild
Kunstwissenschaft, Zürich/Lausanne, unter Leitung von Karl
Zusammenhängen, das 1917 bei Cassirer in Berlin auf einer Versteigerung angeboten wurde.291
Jost, Zürich 1998, Bd. 1, S. 309-310; Zänker 1998, S. 38-39,
120
Mondlicht und Akt
Abb. 15 Franz von Stuck (1863-1928) Die Sinnlichkeit, 1889 Radierung
Abb. 16 Edvard Munch (1863-1944) Madonna, 1895 Lithographie
Hier wie dort ist das Haupt der Frau von einer grossen Aureole hinterfangen. Bis auf einen Len-
denschurz mit modischer Schnalle ist die ans Kreuz Gefesselte in dieser Hauptfassung nackt.
Zum weiteren Motivkreis von Bildern wie Kellers Im Mondschein zählen die in den 1890er Jahren entstandenen, um das Thema der »bösen Mütter« und die »Strafe der Wollüstigen« krei-
senden Bilder von Giovanni Segantini.292 Eine zeittypische Affinität zu Kellers Bild lässt sich in Abb. 24. - In Spuren des Geistigen / Traces du Sacre (Ausst.־
der Sammlung des Kunsthaus Zürich bei mehreren Werken beobachten - bei Raimondo Pere-
Kat. Centre Pompidou, Paris/Haus der Kunst, München), Mün-
das La prisonniere d’amour (Abb. 17) oder Franz von Stucks Der Wein (Abb. 18), die beide um
chen 2008, finden sich mehrere Beispiele für die nicht in jedem
Pall unumstrittene Kreuzikonoiogie der Gegenwartskunst in
1889 entstanden sind.
Werken von Künstlern wie Andres Serrano, Marlin Kippen-
Eine direktere Line führt jedoch zu zwei der berühmtesten erotischen Leitbilder des Symbo-
berger, Maurizio Cattelan. Die Frau am Kreuz ikonoiogie findet
lismus, Franz von Stucks Sünde293 von 1891 und Edvard Munchs Madonna von 1893, beides
sich auch in den Selbstinszenierungen des Popstars Madonna
Bildfindungen, die ihre Autoren mehrmals aufgegriffen und die in verschiedene Sammlungen
(*1958); so in Heilige von 2006, wo sie von einem Kreuz herab
sang.
Einlass gefunden haben. Das Motiv von Stucks kapitaler Sünde kündet sich 1889 in der Radie-
291 Moderne Gemälde aus dem Nachlass A. W. von Heymel,
rung Die Sinnlichkeit (Abb. 15) an.294 Franz von Lenbach hat 1894 eine Schlangenkönigin gemalt,
Sammlung Μ. Pickenpack u.a., 8. März 1917, in den Verstei-
die wie eine Antwort auf Stucks Sünde wirkt.295 Munchs Madonna hing ursprünglich vermut-
gerungsräumen Berlin W 15, Kurfürstendamm 208/09 unter
lieh in einem Rahmen mit Spermien- und Embryomuster, wie die 1895 entstandene Lithogra-
der Leitung von Paul Cassirer, Berlin, und Hugo Helbing, Mün-
chen, Nr. 54: Julia, bez. oben am Bildrand: Albert Keller, Öl auf
phie mit gleichem Titel nahelegt (Abb. 16). Einige seiner Madonna-Variationen nannte Munch
Leinwand, 100 x 150 cm. Gemäss handschriftlichem Eintrag
Liebende. Während einige Kritiker das orgiastische Element unterstrichen, ging es anderen um
in ein Exemplar des Auktionskatalogs, in dem das Bild ganzseitig abgebildet ist, halte es einen Schätzwert von 10 000
Reichsmark und fand keinen Käufer.
das Mysterium der Menschwerdung. Munch selbst verwies auf den Todesaspekt. In Der Baum
der Erkenntnis von Gut und Böse, einem Album, in dem er einige seiner Hauptmotive zu-
292 Vgl. Kunsthaus Zürich. Gesamtkatalog der Gemälde und
sammenfasste, stellte er der Madonna einen Text zur Seite, worin vom »Lächeln einer Leiche«
Skulpturen, bearb. von Christian Klemm, Franziska Lentzsch,
die Rede ist und davon, dass »das Leben dem Tod die Hand« reicht, und von der Kette, »die tau-
Gian Casper Bolt u.a., Ostfildern 2007, S. 217-218.
send Geschlechter / der Toten verbindet mit den tausend Geschlechtern, die kommen«.296
295 Zu den verschiedenen Fassungen von Slucks Sünde siehe
Thomas Raff, Franz von Stuck - der Maler und seine
Munchs Madonna fand auch Eingang in die Literatur: In ironischem Ton schildert Thomas
·SündefnJ·, mit einem Beitrag von Sylvia Eisenberger, Tetten-
Mann 1902 in der Novelle Gladius Dei, wie der Jüngling Hieronymus die Kunsthandlung Blü-
weis 2003.
thenzweig am Münchner Odeonsplatz aufsucht, um ein anstössiges Bild aus der Auslage ent-
29* Zu Stucks »Schlangenerotik« siehe etwa folgende Abb. in
fernen zu lassen, ein Bild, das zuvor zwei Passanten mit dem Kommentar bedachten: »Ein Weib
Bierbaum *1924, wie Anm. 40: Abb. 58, Versuchung, 1891; 88, Das Laster, 1894; 96, Die Sinnlichkeit, 1897.
zum Rasendwerden! Man wird ein wenig irre am Dogma von der unbefleckten Empfängnis.«
295 Abb. in: Die Kunst für Alle, Jg. 21,1905/06.
Dichterische Inspiration boten Mann die Galerie Thannhauser und Munchs Madonna, die als In-
296 Arne F.ggum und Guido Magnaguagno, Edvard Munch
begriff des »Sündigen« schlechthin galt. Aus Gladius Dei stammt im Übrigen das geflügelte Wort
(Ausst.Kat. Museum Folkwang Essen/Kunsthaus Zürich), Bern
1987, Kal. 41. Dort u.a. Verweis auf Stanislaw Przybyszewski, Das Werk des Edvard Munch, Berlin 1894.
297 Wenn 2006, S. 140.
»München leuchtete«.
Kellers Bild wurde in der Forschung297 mehrmals mit einer Zeichnung in Verbindung gesetzt, die Felicien Rops 1878 mit Farbstift und Gouache grossformatig auf Papier gebracht hat:
München leuchtete · Ein Weib zum Rasendwerden
121
Die Versuchung des heiligen Antonius™, in der dem heiligen Mann eine gekreuzigte Nackte als
»satanische Travestie des Christlichen«2” erscheint. Sigmund Freud hat dieses Werk von Rops
kommentiert. Er lobte die psychoanalytische Betrachtungsweise des Künstlers, der die Verkörperung der Sünde auf dem Kreuz des Erlösers darstellte, somit dem durch die Versuchung auf die Probe gestellten heiligen Antonius seine letzte Hoffnung nehmend.300
Zum Verständnis von Kellers Im Mondschein ist vielleicht nicht ohne Belang, in Erinnerung
zu rufen, dass früher in jedem katholischen Schlafzimmer ein Kruzifix hing, zuweilen an der Kopfwand über dem Ehebett. Und was in der Bibel »einem Weib beiwohnen« bedeutet, findet
im vulgärerotischen Vokabular ja sein Äquivalent mit Begriffen, die um »Kreuz« und »Nagel« kreisen. Bis auf die Andeutung eines Nagels im Bereich der linken Hand ist die Frau in Kellers
Bild jedoch an das Kreuz gefesselt. Die Psychologie spricht heute in diesem Zusammenhang von Fesselungsfetischismus. Es wäre indes falsch, voreilig Ähnliches bei Keller diagnostizieren zu
wollen, da es hier um Kunst und kaum um Sex geht. Das Bildthema ist ein symbolistisches. Termini wie Sadismus301 beziehungsweise Masochismus, Voyeurismus oder Frauenfeindlichkeit greifen ins Leere.
Kellers Akt weist zwar keine Spuren von Leid auf, sehr wohl aber eine vom modischen Korsett geformte Taille: Dieser Körper ist offensichtlich mit kulturellen Fesseln vertraut. Auch die
Medien wurden später bei Seancen, deren Ziel es war, in einem »geburtsähnlichen« Verfahren sogenanntes Ektoplasma, das heisst Materialisationen, hervorzubringen, zuweilen in ein
»schwarzes Trikot für den ganzen Körper« eingebunden, um Betrug zu unterbinden.502 Wie zu erwarten, findet sich das Motiv der Frau am Kreuz auch im antiklerikalen, Sitten-
geschichtlich-pornografischen Kontext. Ein um 1880 entstandener Buchtitel La double pucelle mit einer Graphik des auf erotische Illustrationen spezialisierten Zeichners Fredillo zeigt eine
Abb. 17 Raimondo Pereda (1840-1915) La prisonni^re d’amour, urn 1889 Marmor, 138 x 45 x 43 cm Kunsthaus Zürich
Scheidewegsituation des Lasters: Ein Gendarm und ein diesem die Hand in die hintere Gesässtasche steckender Priester gehen auf einer Landstrasse des Weges, an deren einen Seite ein 298 La Tentation de Saint Antoine, 75,8 x 54,3 cm, Bibliolhöque
weiblicher Rückenakt an ein hohes Kreuz gefesselt ist, während auf der anderen ein Schild nach
Royale Albert Ier, Cabinet des estampes, Brüssel, Inv. SI 23043.
Sodom beziehungsweise Gomorrha zeigt.303 In Karikatur, Literatur und Witz des Dixneufieme
Rops hat das Sujet auch radiert und dadurch popularisiert;
wiederum spielt das Kreuz eine Rolle im Zusammenhang mit der Ehe, die gern mit einem
siehe Eduard Fuchs und Alfred Kind, Die Weiberherrschaft in
Kalvarienberg verglichen wird.
der Geschichte der Menscheit, Ergänzungsband, München
1914, Abb. 253.
Bei Kellers Im Mondschein könnte es sich zudem um den malerischen Versuch handeln,
299 Peter Klaus Schuster (Hrsg.), in: ·München leuchtete·. Karl
l’heure bleue, die »blaue Stunde«, zu malen. Im Französischen, insbesondere in der Pariser
Caspar und die Erneuerung christlicher Kunst in München
Künstlersprache, werden damit jene magischen Minuten zwischen Abenddämmerung und gänz-
um 1900 (Ausst.Kat. Haus der Kunst, München), München
1984, S. 165.
lichem Einbruch der Dunkelheit bezeichnet, wie sie an Sommerabenden am schönsten zu be-
obachten sind; die Blumen entfalten in jenen bläulichen Augenblicken ihre intensivsten Färbund Geruchsnoten. Max Klinger schuf 1890 seine berühmte Hommage an diese Zeit des Über-
gangs (Abb. 19), in der die Stimmung von betörend wegdämmerndem Zwielicht bestimmt ist
500 Siehe Le sphinx de Vienne. Sigmund Freud, l’art et l'ar-
chtologie, sous la direction d’Eric Gubel, Liege 1993, S. 31, mit Abb.
501 Dijkstra 1986, S. 34. 502 Siehe Schrenck-Notzing 1914, S. 454-456, Abb. 147: »Trikot-
und Wirklichkeit und Traum ebenso ineinandergreifen wie Sichtbares und Erahntes.304 Kaum in
Verschnürung am Rücken des Mediums Stanislawa P. in den
dieser Blaubildtradition stehen Oskar Schlemmers Blaues Bild von 1925305 oder gar Yves Kleins
Sitzungen am 23. Juni und 1. Juli 1913«.
monochrom ultramarine Werke. Klingers Blaue Stunde muss Keller bekannt gewesen sein, war
sie doch 1891 in der Jahresausstellung der Münchner Künstlergenossenschaft im Glaspalast
Vgl. Fuchs/Kind 1914, wie Anm. 298, S. 61, Abb. 72.
™ יZu Max Klinger, Die Blaue Stunde von 1890 siehe z.B. KarlHeinz Mehnert in: Edgard Peters Bowron (Hrsg.), Romantiker,
ausgestellt,506 jener Ausstellung, in der er seine Bilder Urteil des Paris, Somnambule und Das
Realisten, Revolutionäre. Meisterwerke des 19. Jahrhunderts
Bilderbuch (Kat. 57) zeigte. Zu Klinger gibt es noch weitere Bezüge im Werk Kellers, der dem
aus dem Museum der bildenden Künste Leipzig, München
Leipziger Maler auch persönlich begegnet sein dürfte. In diesem Zusammenhang liegt der Hin-
2000, Nr. 70. S. 170-171. 505 Depositum im Kunstmuseum Basel.
weis auf Klingers ebenfalls 1891 in München zu sehende Kreuzigung Christi nahe sowie auf
506 Zur grossen Klinger-Ausstellung 1891 in München und zu
dessen Radierungsfolge Ein Leben von 1884, deren Blatt 14 den Titel Leide! trägt und eine Pro-
Klingers Ausstellungsbeteiligungen in Glaspalast und Seces-
stltuierte am Kreuz zeigt.307 Dort opfert sich die Frau für die Menschheit auf. Es wurde auf die
sion von 1891 bis 1904 vgl. Gisela Scheffler, Max Klinger in
theologische, auch bei Charles Baudelaire präsente Tradition der Analogie von Christus und der
München, in: Max Klinger. Zeichnungen, Zustandsdrucke,
Zyklen, hrsg. von Jo-Anne Birnie Danzker und Tilman Falk,
Hure hingewiesen, die auf der Vorstellung basiert, dass die Liebe und Opferbereitschaft Christi
bearb. von Gisela Scheffler (Ausst.Kat. Museum Villa Stuck,
allen Menschen gilt, so wie die Prostituierte sich jedem hingibt, der sie begehrt.308
München), München 1996, S. 9-14, hier S. 9-11.
122
Die Blaue Stunde
Die Blautonigkeit von Kellers Im Mondschein lässt zudem Gedanken an zeitgleiche Cyanotypien
aufkommen, fotografische Eisenblaudrucke mit typisch cyanblauen Farbtönen, nicht selten mit erotischem Sujet,309 die als Postkarten, in Alben oder Zeitschriften Verbreitung fanden. Blau
wird als die Farbe des Traums sowie der Sehnsucht definiert, ebenso ruft Blau die Assoziation von Verehrung, Vergeistigung oder erotischer Hingabe hervor. Als ein zentrales Symbol der Ro-
mantik steht die »blaue Blume« für Sehnsucht, Liebe und für das metaphysische Streben nach
dem Unendlichen. »Die Strahlen des Mondes singen ihr das Requiem.« Georg Voss legte 1894 das Augenmerk auf »das Mystische der Beleuchtung« und bezeichnete das Bild als »eine fein empfundene Mond-
scheinsymphonie«. Dasselbe künstlerische Problem, dem sich Ribera so oft bei der Darstellung
seiner Märtyrer in dem scharfen und grell einfallenden Seitenlicht der alten Schule gestellt
habe, löse Keller hier in der Weise der neuen Schule.310 »Der Künstler, der so den Mond schei-
nen lassen kann, sollte einmal sein weiches, schmeichlerisches Licht einer genussfrohen Olympierin oder einer schönen Erdenfrohen gönnen.« A. Spier rubriziert 1894 das Gemälde »zu den poetischen Bildern auf dem Gebiete der Legende«.3" Anlässlich einer Ausstellung der Münchner Secession in Wien berichtet Ludwig Hevesi ebenfalls noch im Entstehungsjahr des Bildes,
dieses sei »ein arger Missgriff«. Von Märtyrerstimmung sei keine Rede, man sehe nur ein wohl-
genährtes Modell, das bequem auf dem Kanapee liegend gemalt wurde; dann habe man die Figur senkrecht aufgestellt und ein Kreuz dahinter gemalt: »Man müsste sagen: Mondschein, oder: die Ruhe auf dem senkrechten Kanapee.« Die Mondwirkung sei keineswegs überzeugend,
obgleich viel Beobachtetes herausklinge, »so das Hinwegstieben des auffallenden Scheins von dem einen Schenkel«.312 Keller trete als ein bedeutender Künstler hervor, er könne viel, aber er wolle noch mehr.313 Als »Märtyrin am Kreuze von magischem Eindruck« erwähnt Fritz von Ostini 1899 das Gemälde314; 1901 bezeichnet er es als »ein viel bestauntes Stück virtuoser Licht-
malerei« und betont dessen »phosphorischen Schimmer des Mondlichts«315; 1914 schliesslich zählt er es zu Kellers »transzendentalen Kunstwerken«.316
Protest gegen die »Keller-Ekstase«, die »in diesen Tagen« zu konstatierende »Begeisterung«, die Kellers Malerei »in der Kritik und im Publikum [...] ziemlich unisono« erregt habe, meldet 1914 Wilhelm Hausenstein an: »Und wo man eine auswärtige Zeitung oder eine Zeitschrift aufschlug,
fand man Ähnliches: von bedingter Bewunderung bis zu den Ausbrüchen des reinsten Entzückens.« Hausenstein schreibt, um die wenigen Dinge, »an die man glauben könnte und die ein
reines künstlerisches Gefühl, eine ursprüngliche Anschauung, und eine unpreziöse Malerei«
enthielten, häufe sich »erstickend eine Menge von Dingen, für die man beim besten Willen kein besseres Wort finden kann als das glatte Wort Kitsch«. Gar nicht zu beschreiben sei, »was da an
Damenbildnissen, Akten, Kreuzigungs-Visionen, überhaupt an galantem Spiritismus verbro-
chen« werde.317 In seinem 1925 erschienenen Band über Die deutsche Malerei vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bildete Richard Hamann das hier betrachtete Bild als Heilige am Kreuz ab. Im Kapitel Salon-Idealismus des »Vom Impressionismus zum Expressionismus« ge-
nannten Buchteils spielt Albert von Keller die Hauptrolle.318 Das Kreuz wird zum Symbol der Passion, von Leid ebenso wie von Leidenschaft. Bei Kellers zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Kreuzigungsvisionen3'9 (Kat. 108,109) handelt es sich auch um »Frauen am Kreuz«, nicht Gekreuzigte zwar, jedoch sich in religiöser Ekstase ans Kreuz Sehnende. Der Grundcharakter von Kellers Im Mondschein - ein Werk sozusagen zwi-
sehen Säkularisierung und Sakralisierung - kann als »lyrisch« bezeichnet werden. Einen be-
sonderen Hinweis verdient noch die für Keller charakteristische Diskrepanz zwischen Bild und Abb. 18 Franz von Stuck (18631928)־ Der Wein, um 1889 öl auf Leinwand, 228 x 60 cm Kunsthaus Zürich
Werktitel.320 In Mondnacht/Versuchung, um 1893 (Kat. 83), leistet Keller einen weiteren Beitrag zur Gat-
tung des Mondscheinbildes, die sich in der Geschichte der Malerei weit zurückverfolgen lässt. Inspiration zu diesem Scherzo dürfte Heinrich Heines Ballade Die Lorelei von 1822 geliefert
Keller-Ekstase und galanter Spiritismus
123
haben - »Ich glaube, die Wellen verschlingen / Am Ende Schiffer und Kahn, / Und das hat mit ihrem Singen, / Die Loreley getan« - und mehr
noch Goethes Ballade Der Fischer von 1778, vielleicht in Franz Schu-
berts Vertonung von 1815. Dort heisst es: »Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, / Netzt’ ihm den nackten Fuss; / Sein Herz wuchs ihm
so sehnsuchtsvoll, / Wie bei der Liebsten Gruss. / Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm; / Da war’s um ihn geschehn: / Halb zog sie ihn, halb sank
er hin, / Und ward nicht mehr gesehn.«321
Lob des Urteils, Salonglück Entschleiert-vielansichtige, von allen Seiten gleich schöne Weiblich-
keit inszeniert der Maler in seinem Urteil des Paris (Kat. 85), kokett bis
in die Haltung des kleinen Fingers von Aphrodites linker Hand. Ein
böcklinesker Lichtstreifen am Horizont wirkt wie ein wagnerianischspätromantischer Klang. Die ebenmässigen Gesichtszüge der drei Göt-
tinnen und auch Paris’, als schönstem Mann auf Erden, verlorenes Profil kontrastieren eigentümlich mit der Fratze auf dem Schild der
Athene, das maskenhaft das gefürchtete Haupt der Medusa zeigt. Be-
kanntlich lässt dessen Anblick den Betrachter vor Schreck zu Stein
erstarren. Das Bild variiert ein mehrdeutiges Spiel verschiedener Blicke; mit dem schauderhaften Wegschau-Motiv erhält es zudem eine Pointe von visueller Ironie. In der Komposition des
Bildes, das als eines der »kellerischsten« überhaupt gelten kann, schimmert eine verblüffende,
Abb. 19 Max Klinger (1857-1920) Die Blaue Stunde, 1890 öl auf Leinwand, 191,5 x 176 cm Museum der bildenden Künste, Leipzig
aktualisierende Bezugnahme auf Antoine Watteaus Parisurteil im Louvre durch: Der französi-
sehe Maler beschäftigte Keller schon im Rahmen seiner Neorokoko-Phase in den 1870er Jahren.
507 Zu Max Klingers Ein Leben, Opus VIII, Folge von 15 Radie-
Mit der Figur des Paris übernimmt Keller zudem noch die Körperhaltung einer in seiner Aus-
rungen, Berlin 1884, siehe Danzker/Falk 1996. wie Anm. 306,
bildungszeit gezeichneten Aktstudie (vgl. Kat. 3). Die Beliebtheit des Parisurteils322 als Thema in
S. 108-111 (Text: Susanne Petri), 190-194. Zum Blatt 14, Leide!,
der deutschen Malerei jener Tage bezeugt ein Blick auf das CEuvre etwa von Max Klinger oder
Hans von Marees.
ibid.,S. 111,193, Abb. S. 109. ** Max Klinger. ·Alle Register des Lebens·. Graphische Zyklen
und Zeichnungen (Ausst.Kat. Käthe Kollwitz Museum, Köln/
Zur Hochzeit von Peleus und Thetis waren alle olympischen Götter geladen bis auf Eris, die
Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen), Berlin 2007, S. 175. -
Göttin der Zwietracht und des Streits. Aus Zorn darüber warf diese einen goldenen Apfel unter
Ein Hinweis auf Alfred Kubins um 1900 entstandene Tuschfederzeichnung Eine für alle (Oberösterreichisches Landes-
die Gäste, den legendären Zankapfel, mit der Aufschrift »Der Schönsten«. Hera, Athene und
museum, Linz. Kubin-Stiftung) soll in diesem Zusammenhang
Aphrodite, die sich den Preis streitig machten, wurden vom Göttervater Zeus zu Paris geschickt.
nicht fehlen; siehe Wolfgang K. Müller-Thalheim, Erotik und
Erstmals in seinem Leben Menschen weiblichen Geschlechts erblickend, entschied sich der
Dämonie im Werk Alfred Kubins. Eine psychopathologische
schöne Hirte für die Liebesgöttin Aphrodite, die ihm die schönste Frau der Welt versprochen
Studie, Wiesbaden 1970, Abb. 1 (dort auch Abb. 52. Hexe am Pfahl, um 1935 - eine Tuschfederzeichnung, die ein Keller-
hatte, was ihn mehr reizte als Herrschaft und Reichtum, die von Hera in Aussicht gestellt wor-
sches Thema aufzugreifen scheint).
den waren, oder Ruhm und Weisheit, womit Athene lockte. Die Fortsetzung der Geschichte hatte
509 Eine erotische Cyanotypie findet sich abgebildet in: Prüde-
bekanntlich fatale Folgen: Kurz darauf brachte Paris einen Opferstier zu einem Fest nach Troja,
rie und Leidenschaft, wie Anm. 277, Kat. 97. Ibid., Kat. 99, das
wo er durch seine seherische Schwester Kassandra erkannt und von König Priamos als Sohn an-
genommen wurde. Auf einer Griechenlandreise war er in Sparta bei König Menelaos zu Gast und
Werk Swedish, der um 1890 entstandene Albuminabzug eines unbekannten (französischen?) Fotografen, zeigt eine stehend
an eine Säule gefesselte nackte Frau.
entführte mit Hilfe von Aphrodite dessen Frau, die schöne Helena, nach Troja, was den Troja-
510 Georg Voss, Die Ausstellung der Münchener Secession im
nischen Krieg auslöste. In einer Variante der mythischen Sage hat Paris allerdings nicht Helena
Sommer 1894, 1, in: Die Kunst für Alle, Jg.9, 1. Juli 1894,
S. 289-294, hier S. 292.
nach Hause geführt, sondern eine sie abbildende Statue.323
Kaum von der Hand zu weisen ist, dass es von der Antike an beim gemalten Parisurteil immer auch um die Darstellung des Nackten ging. Lucas Cranach d.Ä. war das Thema im 16. Jahr-
hundert Vorwand zu erotischen Schaustücken mit fein gemaltem SinneskitzeL3 ״Und Albert
511 A. Spier, Die Ausstellung der Münchener Secession 1894, in: Die Kunst unserer Zeit. Eine Chronik des modernen Kunstlebens, Jg. 5, Nr. 11, 1894, S. 91-104, hier S. 96. 1,2 Hevesi 1894, S. 524, 537. 315 Ibid , S. 536.
von Keller fiel zu seiner Zeit durch Hautmalerei auf: Es hat Ausstellungen gegeben, bei denen
J1* Fritz von Oslini, in: Münchener Neuste Nachrichten,
allein er nackte Figuren zeigte. In seiner Besprechung der 1894 in Berlin präsentierten Aus-
Dezember 1899, in: Urteile 1900, S. 3.
124
Von allen Seiten gleich schön
Stellung der »24« schreibt Dr. Relling325 über ein Bild Kellers326, es zeige als einziges den weibliehen Körper nackt »und mit einer Absichtlichkeit, die nicht ganz zweifelsohne und nicht ohne
Lüsternheit« sei.327
Von der bedeutungsmassstäblich vergrösserten Siegerin des Wettstreits strömt helles Licht aus - ein lichtes Strahlen, nicht lux, sondern lumen, das in der christlichen Malerei dem Göttliehen vorenthalten war - und erfasst gleichsam mit magnetisch-erotischer Energie den jungen
Mann, der davon durchbebt mit seiner Linken den handschmeichlerischen Preisapfel umfasst. Dass Keller bestrebt war, Okkultes ins Bild zu bringen, geht aus seiner Wahl für das Modell zur Liebesgöttin hervor: Lily disgeistes, ein Medium, dessen somnambules Wesen ihn besonders J,s Ostini 1901, S. 50.
angezogen hat (vgl. Kat. 100).328
»“ Ostini 1914a, S. 364. » ״Hausenstein 1914/15, S. 181-182.
Albert von Keller muss in Paris ein eigentliches Alter Ego gesehen haben; es liegt wohl ein Fall
518 Hamann 1925, S. 384-386 (zu Albert von Keller).
von spielerischer Selbstidentifikation vor. Homer rühmt die Wohlgestalt des Paris und schildert
519 Vgl. auch Müller 1981, Abb. 259-263.
ihn als einen Freund des Saitenspiels und der Frauen. Kellers Lebensinhalt wiederum waren die
520 Siehe etwa auch das Bild Die Liebe, hier Abb. 29. 521 Schlussstrophe, 25-32; Deutsch-Verzeichnis 225. - Auch
Frauenmalerei und das Klavierspiel. Als Maler von Frauenakten wird er sich mit Kennerblick
Ferdinand Schubert (1824-1853), ein Neffe des Komponisten,
für oder wider das eine oder andere Modell entschieden haben. Der berühmte antike Maler
hat sich um 1850 in dem Bild Der Fischer und die Nixe die-
Zeuxis ging bekanntlich noch differenzierter vor: Nach dem Prinzip der Elektion wählte er in
sem Thema gewidmet; siehe Kunsthaus Zürich, Gesamtkata-
Kroton aus fünf schönen Jungfrauen von jeder die schönste Partie und zeichnete sie, um sie
log der Gemälde und Skulpturen, bearb. von Christian Klemm, Franziska Lentzsch, Gian Casper Bott u.a., Ostfildern 2007,
dann zu einem Bild von Helena zusammenzufügen, dem Inbegriff perfekter weiblicher Schön-
S. 254. Zu diesem Thema siehe auch Frederic Leighton (1830-
heit.329 Im Übrigen findet sich in Kellers Lebensgeschichte eine Analogie zur Episode der He-
1896), The Fisherman and the Syren; from a ballad by Goethe,
lena-Entführung aus Sparta durch Paris: Seine Künstlerlegende will, dass er die auserwählte
urn 1855-1858, Bristol Museum and Art Gallery. Vgl. Prüderie
Irene von Eichthal aus dem Münchner Hause ihrer Verwandten entführt hat - je nach »Quelle«
und Leidenschaft, wie Anm. 277, Kat. 9. - Zu einer weiteren Variante von Kellers Mondnacht vgl. Horst Ludwig in: Buhrs
2008, Kat. 71. J22 Rosenhagen 1912, S. 102, spricht von sieben verschiedenen
Bildern, die Keller zum Thema des Parisurteils gemalt hat.
ג2 גZu Paris siehe Magdalene Stoevesandt, sub voce, in: Der Neue Pauly. Bd. 9, 2000, S. 334-336.
gar nach England330 -, um sie zu heiraten.331
Als Kolorist habe Keller »diesmal sein Bestes in der Darstellung der Waldnymphe« gegeben,
»welche sich fröstelnd mit den roten und gelben Farbenschleiern zu bedecken sucht«, schreibt Georg Voss 1894 zum Bild Herbst (Kat. 88), das er als »sehr poetische Schöpfung« einstuft.332 Als eine Art rotes Gegenstück zum blauen Mondschein muss den Zeitgenossen das Werk - es könnte
Vgl. Gian Casper Bott, Cranach-Ausstellung in Kronach und
auch »Erster Frost« heissen - wie ein Stück »wilder Malerei« vorgekommen sein: William Ritter
Leipzig, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Ge-
erwähnt im gleichen Jahr Kellers »blutfarbige Wilde«, die auf einen Baum gehisst sei,333 »um sie
schichte, 2. 1995, S. 345-347.
525 Pseudonym von Jaro Springer, Sohn von Anton Springer,
mit Gewalt gegen brutale Rot- und Blautöne abzuheben«.334 Ludwig Hevesi berichtet ebenfalls
siehe dazu: Philip Ursprung, Kritik und Secession, Basel 1996,
noch 1894 von »der energischen Farbenstudie »Herbst«, die ein Zimmer heizen kann«, aus wel-
S. 50-51.
eher der Maler ein »grosses, arg verhautes Augenblicksbild gezogen« habe.335 Er reiht das Werk
526 Nach Relling handelte es sich um Mönche, durch nackte
zu den »grossen Leinwänden ultramoderner Art« ein und sieht in ihnen »Versuchsgemälde« als
Mädchen erschreckt. 527 Dr. Relling (Berlin), Die Ausstellung der »24·, in: Die Kunst
»Reinkulturen von Stimmungsbazillen«. Die giftigsten davon habe er für Wien gedämpft: »Von
für Alle, Jg.9, 1894. S. 167-168, hier S. 168.
einem braun und blau durcheinanderknallenden »Herbst«, wo die Farbe als brutale Kraft auf-
528 Zu Lily disgeistes siehe Müller 1981, S. 52.
trat«, sei nur »ein handlicher Auszug, oder vielmehr die Skizze hierhergelangt«.336 Keller malt
529 Cicero, De Inventione II, 1.
iV> Du, November 1970, S. 848.
Rosenhagen 1912, S. 44.
2 ״Voss 1894, wie Anm. 310, S. 292. Zum symbolistischen Thema der Frau im Baum - etwa bei
Giovanni Segantini - siehe Vivien Greene, Der Aufstieg des Symbolismus im Divisionismus, in: Revolution des Lichts. Ita-
in Herbst eine wilde Frau, sozusagen im Naturzustand - eine femmina al naturale, wie sie, wenngleich in gänzlich anderer Qualität, in der venezianischen Renaissance bei Giorgione und
dem jungen Tizian begegnet -, die in ihrer geschliffenen Ästhetik freilich wirkt, als sei sie eben
dem Salon entlaufen und mit allen Mitteln der modernen Schönheitspflege bestens vertraut. Fesselnd sei der über die Komposition gebreitete »Ton ahnungsvoll dämmernden Träumens«,
lienische Moderne von Segantini bis Balla (Ausst.Kat. Kunst-
schreibt Aemil Fendler 1899 zu Kellers ein Lustrum zuvor entstandenem Bild Das Glück (Kat.
haus Zürich), Ostfildern 2008, S. 47-59. - Auch in Franz von
89).337 Ostini sieht 1905 das »sonnig-liebenswürdige« Werk im Gegensatz zu Kellers Schilderung
Stucks Der Wein (hier Abb. 18) findet sich eine Frau im Geäst.
aus der Welt des Leidens:«... ein paar arme Leute haben auf ein leises Pochen hin am Morgen
Ritter 1894, S. 31: »Μ. Albert Keller avec une sauvagesse sanglante, hiss0e dans un arbre pour la faire se detacher vio-
die Fensterladen aufgeschlagen und da steht nun das Glück vor ihnen, als ein liebliches, strah-
lemment de rouges et de bleus brutaux.«
lendes Persönchen, mit goldenem Kranze und bringt seinen Segen! Eine feindichterische von
JJS Hevesi 1894, S. 524.
allem Herkömmlichen weltweit entfernte Auffassung!«338 Rosenhagen zeigte sich 1912 weniger
6 גגIbid., S. 537.
begeistert von dem »sehr merkwürdigen« Bild: »Die Absicht Kellers, Märchenhaftes ins Moderne
“71Aemill Fendler, in: Leipziger Illustrierte Zeitung, 14. De-
zember 1899, in: Urteile 1900, S. 29-31, hier S. 31.
zu übersetzen«, habe in diesem Fall ein Fiasko erlitten. Keine der Gestalten sei »an und für sich«
JJ8 Ostini 1905, S. 352.
schlecht gewesen, das Ganze jedoch habe gewirkt »wie ein lebendes Bild, gestellt von Leuten,
Ultramoderne wilde Malerei
125
85 Urteil des Paris, um 1891 Öl auf Leinwand, 153 x 82,5 cm
86 Aphrodite (Studie zum »Parisurteil«), um 1891 Öl auf Holz, z!0 x 21,5 cm
88 Herbst, 1893 Öl auf Leinwand, 108,5 x 150 cm
89 Das Glück, um 1894 Öl auf Leinwand, 150 x 225,5 cm
die sich weder als arm noch als Fee zu verstellen vermögen. Salonparfüm und Märchenduft
gehen eben keine erfreuliche Verbindung ein.«33’ Von diesem Geist - zwischen Sozialkitsch und Salonkommunismus - zeugt ebenfalls An den
Abb. 20 Arthur Kampf (1864-1950) An den Hallen in Paris, 1903 öl auf Leinwand, 173 x 235 cm Kunstbaus Zürich
Hallen in Paris (Abb. 20), ein 1903 entstandenes Hauptwerk von Arthur Kampf: Eine flüchtige
Grossstadtepisode in der Morgendämmerung wird da gezeigt, mit modisch-eleganten NachtSchwärmern, zwei Herren und eine Dame in Blau, die sich in Wohltätigkeit üben und armen Marktarbeitern von einer Suppenköchin ein karges Mal reichen lassen.340 Ohne Zweifel besitze
Rosenhagen 1912, S. 91. M0 Die legendären zentralen »Halles«, die Markthallen für Vik-
die Leistung des Künstlers grosse Vorzüge, schreibt Rosenhagen 1922, »aber die Pointe der Erzählung« sei schliesslich doch nicht schlagend genug, um eine starke Wirkung hervorzurufen.
Die Wohltätigkeit erscheine mehr als »eine Art Einfall oder Laune denn als eine mit Bewusstsein ausgeübte Tugend«, sie mute als Kompromiss an und einem solchen fehle jederzeit das Hin-
tualien in Paris, wurden ab 1852 von Victor Baltard errichtet
und ab 1971 abgerissen. - Kampfs berühmtestes Werk ist das 1888 geschaffene Monumentalgemälde Aufbahrung der Leiehe Kaiser Wilhelms 1. Später sollte der Maler sein Können in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes setzen.
reissende. »Das ist eine Grossstadtepisode ohne Bedeutung, nicht wert, in Lebensgrösse ver-
541 Hans Rosenhagen, Arthur Kampf, Bielefeld/Leipzig 1922,
herrlicht zu werden.«3'1׳
S. 58-59, Farbabb. 25.
150
Salonparfüm und Märchenduft
Femmes fatales: Verführung, Chic und Schleierästhetik Den Typus der Femme fatale repräsentiert das um 1894 entstandene Damenportrait mit Hut (Kat.90). In Giacomo Puccinis berühmter Arie Quando me η' νό im zweiten Akt der Oper La Boheme von 1896342 - als »Musettas Walzer« bekannt - wird die Freude einer Frau an ihrer
sinnlichen Ausstrahlung wie folgt umschrieben: »Dann koste ich das heimliche / Verlangen, das aus den Augen ihnen leuchtet, / und die offenkundigen Reize / deuten verborgene Schönheiten
an. / So strömen die Wünsche / aller rund um mich - / und machen mich glücklich, / so glück-
lieh machen sie mich!«345 Apropos Boheme: wie eine Fotografie bezeugt, gefiel sich der junge Keller im Habitus des Bohemiens (Abb. 37). Dass die um 1895 gemalte Lesende auf Couch (Kat. 91) sich kaum dem Studium der Bibel hingibt, ist zu vermuten.
Kellers Trio (Kat. 92), dessen Heroine sich in die Pose des Keller wohlbekannten Faunus Barberini (Kat. 1) hineinzuträumen scheint, streife beinahe das Grisettengenre, berichtete 1899 die Augsburger Abendzeitung.344 Und im Berner Bund stand: »Vor allem geben wir den Preis dem
>Trio< benannten Bilde. Ein modern gekleidetes junges Mädchen, kaum übers Backfischalter hinaus, dehnt sich in anständiger aber wohliger Haltung auf dem Sofa, während die beiden Hunde, Pudel und Pinscher, zu harren scheinen, ob sie eingeladen werden, an der Siesta der jun-
gen Herrin teilzunehmen.«345 Wie dem auch sei: Der Schritt von Kellers Diwan zur Couch der Psychoanalyse ist nur noch ein kleiner. Im Fin de Siede konstatierten manche eine zeittypische Müdigkeit epochalen Ausmasses. Die vom ausbündigsten Luxus umgebenen Grossstädter seien fortwährend ungünstigen Einflüssen ausgesetzt, die ihre Lebenskraft weit über das unvermeidliche Mass hinaus vermindern würden,
schrieb Max Nordau 1892. Sie befänden sich »in einem Zustande beständiger Nervenerregung«. Die Folge dieser Lebensbedingungen seien Entartung und Hysterie sowie die »Ermüdung des
gegenwärtig lebenden Geschlechts«.346 »Der Typus des Aristokraten« sei Albert von Keller, »mit seiner Skepsis, Genussbegierde, Ver542 Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa, 1896 unter
feinerung, Müdigkeit, Überlegenheit und schwankenden Stimmung - kurz den Charakterzügen,
Arturo Toscanini in Turin uraufgeführt.
die die vornehme Lebewelt von des Jahrhunderts Ende kennzeichnen«, schreibt Theodor Goe-
545 Ouando me η' νό: Quando me η’ νό soletta per la via, / La
gente sosta e mira l E la bellezza mia tutta ricerca in me, / ri-
ring 1899. Dem entspreche seine im Boden des modernen Salons wurzelnde Kunst, die in ihrer
cerca in me / Da capo a pie’ I...I Ed assaporo allor la bramosia /
Art der Nervenreizung etwas Feminines habe. Die Frau bilde den Hauptgegenstand der Dar-
sottil ehe da gl’occhi traspira / e dai palesi vezzi intender sa /
Stellung, »das moderne Salonweib mit jenem Gemisch von Grazie und Nervosität, mit seinem
alie occulte beltä. I Cosi !’effluvio del desio tutta m’aggira, / fe-
Parfum und seiner Laune, mit seiner ganzen Atmosphäre von feiner Sinnlichkeit, Zigarettenduft
lice mi fa, felice mi fa! // E tu ehe sai, ehe memori e ti struggi I Da me tanto rifuggi? / So ben: I le angoscie tue non le vuoi dir,/
nebst einem Schuss Morphium und Spiritismus, und mit dem ganzen Luxus, mit dem es sich zu
non le vuoi dir so ben / Ma ti senti morir!
umgeben liebt«.347 Zum Drogenaspekt ist anzumerken, dass im 19. Jahrhundert Laudanum ein
5**Theodor Goering, in: Augsburger Abendzeitung, 14. Dezem-
weit verbreitetes, geradezu populäres Arzneimittel war. Es bestand aus in Alkohol gelöstem
ber 1899, in: Urteile 1900, S. 11-17, hier S. 16-17. Theodor Goe-
ring publizierte Der Messias von Bayreuth: feuilletonistische
Opium und wurde kurz nach dem Ersten Weltkrieg verboten, da es starke Abhängigkeit her-
Briefe an einen Freund in der Provinz, Stuttgart 1881, und
vorrief. In Künstler- und Schriftstellerkreisen war es zeitweise als vermeintliches Stimulans der
Dreissig Jahre München: Kultur- und Kunstgeschichtliche Be-
kreativen Fähigkeiten in Mode geraten.348 Im Übrigen betonten mehrere Autoren die maskuli-
trachtungen, München 1904.
nen Züge in Kellers Werk und Wesen: »Die männlich energische Art, die unseren Künstler nicht
545 Joseph Viktor Widmann, in: Der Bund, 26. November 1899,
in: Urteile 1900, S. 26-28, hier S. 28. 546 Max Nordau, Entartung, Berlin 1892, S. 56-59. Das Schlag-
wort der »Entartung«, das Nordau (1849-1923) aus dem Bereich der Psychiatrie in jenen der Kunst und Literatur über-
bloss in seiner Arbeit, sondern auch im Leben von jeher kennzeichnete«, schien Berlepsch 1897
erwähnenswert; Ostini sprach 1914 von »eminent männlicher Künstlerschaft«.34’ Die narzistische Dame mit Handspiegel, um 1905 (Kat. 95), wirkt wie eine Verkörperung 10-
ckender Eitelkeit, im Sinne von selbstverliebter Blasiertheit sowie Vergänglichkeit und Todes-
führte, sollte sich für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhun-
derts als verhängnisvoll erweisen.
nähe. Märchenfreunden, die vielleicht zu Unrecht bereits bei der einen oder anderen Variante
547 Theodor Goering, in: Augsburger Abendzeitung, 14. Dezem-
von Kellers Auferweckung an Schneewittchen der Brüder Grimm denken mögen, könnte hier
ber 1899, in: Urteile 1900, S. 11-17, hier S. 15.
die böse Königin derselben Geschichte ins visuelle Gedächtnis fallen. In mehreren Momenten
548 Zu den bekanntesten Laudanumkonsumenten gehören u.a. der englische Lyriker Samuel Taylor Coleridge (1772-1834)
von Kellers Entwickung lässt sich beobachten, wie in einem Werk eine einzelne Farbe als Grund-
und der Schriftsteller Thomas de Quincey (1785-1859).
ton dominiert und den Bildcharakter wesentlich bestimmt. Rauchende in Rot (Kat. 93) sowie
549 Berlepsch 1897, S. 197; Ostini 1914a, S. 362.
Sitzende in Grün (Kat. 94) sind gute Beispiele dafür. Wie zwei Bilder Albert von Kellers in der
Grazie, Nervosität, epochale Müdigkeit
131
90 Oamenportrait mit Hut, um 1894 Öl auf Leinwand, 59,5 x 44,5 cm
91 Lesende auf Couch, um 1895 Öl auf Leinwand, 42,5 x 61,5 cm
92 Trio (Lina Brakl), um 1899 Öl auf Leinwand, 82,5 x 161,5 cm
93 Rauchende in Rot, um 1910 Öl auf Holz, 33,5 x25 cm
94 Sitzende in Grün, 1909 Öl auf Holz, 33,5 x 26,5 cm
95 Dame mit Handspiegel, um 1905 Öl auf Holz, 41,5 x 60,5 cm
96 Der grüne Schleier, 1909 Öl auf Leinwand, 49,5 x 71,5 cm
97 Gisela von Wehner mit Tochter Ilka, um 1906 Öl auf Leinwand, 50 x 73 cm
98 Dichter und Muse, 1899 Öl auf Karton, 35 x 65,5 cm
Hamburger Kunsthalle bezeugen,350 hatte der Maler in seiner Wohnung ein rotes und ein grünes Zimmer. Diese bürgerliche Raumausstattung stand in der Tradition von Adel und Klerus
und lebt noch heute in Hotels, Bars, Lounges, Barbierstuben und ähnlichen Etablissements fort. In der französischen Romantik hatten Dichter wie Balzac, Gautier oder Musset die Zigarette fe-
minisiert, in Deutschland haftete ihr um 1900 noch der Chic des Anrüchigen an. Es hiess etwa,
in Frankreich würden bekanntlich auch anständige Damen rauchen.351 Ein Werk von möglicher Verfänglichkeit ist Kellers 1909 gemaltes Frauenbild Der grüne
Schleier (Kat. 96). Von Kellers »grünen, seltsam verschleierten Augen« berichtet Eduard Engels
1899.352 Es ist von Interesse zu bemerken, dass Keller ein ausgesprochener »Grünmaler« war und viele seiner Bilder über eine eigenartige Schleierästhetik verfügen. Als »zartbesaitetes Wesen«
wird der Schleier in Die elegante Frau, einem Damenbrevier von 1914, bezeichnet: »Geschickte,
graziöse Hände, die wissen zu liebkosen, leicht wie ein Hauch - die verstehen es auch mit den
fragilen, flüchtigen Fetzchen, genannt Schleier, fertig zu werden. [...] Ein Schleier soll ein Schleier sein, ein Hauch ...«353 Im Zusammenhang mit düsteren Vorahnungen ging es in Kellers familiä-
rem Umfeld um eigentümlich Diffuses: Ohne jeden äusseren Grund sei Irene, seine lebensfrohe Frau, 1905 in eine sonderbare melancholische Stimmung gefallen. Sie habe geklagt, »sie glaube unter schwarzen Schwingen und Schleiern zu wandeln, sie habe das Gefühl, dass etwas Ent-
setzliches geschehen werde«.354 Diese Ahnungen sollten sich allzu bald erfüllen - zunächst durch
des Sohnes und dann ihren eigenen Tod. Was andere Maler mit Wolken355 und Nebelschwaden, hat Albert von Keller mit Schleiern an-
gestrebt. In seiner das Sichtbare in Frage stellenden Schleierästhetik geht es um so etwas wie die Schärfe der Unschärfe zwischen romantischem Traumgewebe und wissenschaftlicher Er-
fahrung. Wer sich auf Aspekte von Kellers Kunst einlässt und der Schleierästhetik mancher sei-
ner Werke ins Netz geht, wird wider Erwarten die eigene Wahrnehmung schärfen können. Ein berühmtes Diktum des symbolistischen Dichters Stephane Mallarme könnte einem in den Sinn
kommen, wonach drei Viertel des Vergnügens an einem Gedicht verloren seien, wenn die Dinge benannt würden und das Gemeinte aus der Summe einzelner Andeutungen destilliert werden
müsse. Die Wahrheit kann ans Licht kommen, wenn der Vorhang gelüftet wird; allerdings ist es auch möglich, durch Schleier das Dahinter in gesteigertem Masse zu erkennen und das Ge-
heimnis auf diese Weise zu erahnen oder zu enthüllen. Nur am Rande notiert sei, dass im 19. Jahrhundert mit dem Schleier jeweils eine Orientkonnotation anklingt und in vielen der
Kellerschen Frauenbilder unterschwellig auch Begehren mitschwingt, des Malers zunächst und
550 Müller 1981, Abb. 56. 57.
351 Zum Motiv des (Pfeife-)Rauchens in der holländischen Ma-
des männlichen Betrachters.
Um die Jahrhundertwende liebten es die Damen der Gesellschaft, sich in der Rolle der Femme fatale portraitieren zu lassen. In seinem bedeutenden Familienbild von 1903356 hat Franz von
Lenbach nicht nur seine Frau und die beiden Töchter in dieser Rolle gemalt, sondern auch sich
lerei des 17. Jahrhunderts siehe Gian Casper Bott, Jan Olis, in: Die Sammlung Max Geldner im Kunstmuseum Basel. Basel 2000, S. 64-66.
552 Eduard Engels, Im Atelier Albert von Kellers, in: Münchener Zeitung. 8. Dezember 1899, in: Urteile 1900, S. 4-8, hier
selbst.357 In dem gleichsam mit träumendem Pinsel, in roten Tönen geschaffenen Bild der Gisela
S.4.
von Wehner mit Tochter Ilka, um 1906 (Kat. 97), verleiht Keller der Tochter, die er sich viel-
353 Margarete von Suttner, Die elegante Frau. Ein Damen-
leicht immer gewünscht hat, die »fatale« Position einer Sphinx.358 Im Motiv des sich an den müt-
Brevier, Berlin 1914, S. 84, 86.
terlichen Leib Anschmiegens schwingt so etwas wie ein Ersatzmoment mit. Sigmund Freud
hätte dazu möglicherweise eine Erklärung liefern können.
35* Rosenhagen 1912, S. 96. 355 Ein besonders qualitätsvolles Beispiel von Wolkenmalerei
im 17. Jahrhundert ziert die Sammlung im Kunsthaus Zürich;
Gisela von Wehners »Töchterchen wurde mehrmals mit der Mutter zusammen gemalt, in
siehe Gian Casper Bott, Jacob van Ruisdael. Die Bleichen bei
feinster psychologischer Nuance als staunendes Kind sich an die geistig abwesende Mutter klam-
Haarlem, um 1670, in: Kunsthaus Zürich. 57 Meisterwerke, Liber Amicorum für Felix Baumann, hrsg. von der Zürcher
mernd«, schrieb Oskar A. Müller 1981. In ihren alten Tagen habe sie ihm »ihre damalige eifer-
süchtige Besorgnis« bestätigt.359 In ihrem 1910 publizierten Aufsatz Erotik und Kunst hat Lou Andreas-Salome - sie pflegte
Kontakte zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud - auf die »tiefe Ver-
Kunstgesellschaft, Zürich 2000, S. 12-13. 356 Franz von Lenbach, Franz von Lenbach mit Frau und Töch-
tern, 1903, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. 357 Dijkstra 1986, S. 252-253. 358 Das Mutter und Tochter-Thema hat Keller bereits 1883 be-
wandtschaft« von erotischem und künstlerischem Verhalten hingewiesen, auf die »weitgehen-
schäftigt, vgl. Kat. 32.
den Analogien«, die Kunsttrieb und Geschlechtstrieb böten; es scheine ein »Zeichen geschwis-
359 Müller 1981, S.131.
138
Schleierästhetik
terlichen Wachstums aus der gleichen Wurzel« zu sein, »dass ästhetisches Entzücken so un-
merklich in erotisches« übergleite und die »erotische Sehnsucht so unwillkürlich nach dem Äs-
thetischen« greife.360 Der Dichter (vgl. Kat. 98) - oder allgemein: der Mann - als Schöpfer von Frauengestalten vie-
ler Arten hat Keller wiederholt beschäftigt.361 Die Frau als Quelle der Inspiration ist eine popu-
läre Phantasie,362 die es um 1900 bis zur Ikonographie von Boudoir-Accessoires gebracht hat, in
kleinen eleganten Limoges-Aschenbechern, auf denen sich ein hingebungsvoll liegender Frauenakt aus dem wolkenförmigen Qualm eines Rauchers materialisiert.
Medien, Geister, Träume Lily disgeistes, ein anonym gebliebenes Medium, ist die bis heute enigmatischste Figur in Kellers (Euvre (1895, Kat. lOO).363 Wenngleich stilistisch für Albert von Keller eher untypisch, verdichten sich in diesem Gesicht wesentliche Züge seiner Frauenfiguren: blass, nervös, sensibel, leicht erregt. Mit ihrem Anflug von Androgynität erscheint Lily disgeistes englisch - genauer: 560 Siehe Lou Andreas-Salomö (1861-1937), Die Erotik 119101, hrsg. von Ernst Pfeiffer, München 1979, S. 105.
361 Laut Müller 1981, S. 54. hat sich Keller in den Jahren 1895
viktorianisch - und als Hommage an die Gestalten von Dante Gabriel Rossetti, der treibenden
Kraft der Präraffaeliten, an Eward Burne-Jones, Simeon Solomon366, William Morris. Es ist denk-
bis 1899 mit dem Thema »Dichter und Muse« (Inspiration) be-
bar, dass der englische Stil mit der Identität der Dargestellten zu tun hat, deren Auge verschat-
schäftigt.
tet ist, als zeichnete sich eine Spur dekadent-todessüchtiger Müdigkeit ab. Kellers Sympathie für
362 Siehe etwa Fuchs/Kind 1914, wie Anm. 298, Farblaf. vor
das somnambule Wesen des Modells ist offensichtlich. Es dürfte eine jener Figuren aus seinem
S. 1: Tassaert, Die Qual des Abstinenten, um 1830, Pastell;
ibid., Abb. 128: Gavarni, Inspiration, Lithographie (Ein Mann
Repertoire sein, in der sich seine eigene Seele spiegeln mochte. Von Leonardo ist die Aussage
am Schreibtisch hat zur Feder gegriffen und ist im Begriff,
überliefert, wonach jeder Maler in all seinen Werken in einem Akt von Automimesis sich selbst
seine Gedanken zu Papier zu bringen, derweil sein Haupt im
male: »Ogni pittore dipinge se.«
Schoss seiner Liebsten ruht); ibid., Abb. 262: Μ. Fröhlich, Die
Vision des Antonius, Zeichnung (Dem lesenden Mönch rückt
Zu einer Art Künstlermedium hat sich Albert von Keller stilisiert und die Legende genährt, er
eine auf dem grossen Folianten, in dem er zu lesen sucht, sit-
habe einige seiner Gemälde im Zustand der Trance geschaffen.365 Albert von Schrenck-Notzing
zende nackte Frau zu Leibe).
erinnerte sich 1921, der Maler habe sich nach eigener Aussage »vielfach als passives Instru-
363 Laut Müller 1981, S. 52, hat Keller das Medium »in seiner
ment zur Vollziehung eines künstlerischen Schöpfungsaktes« betrachtet; die Kompositionsidee
grossen Inventarliste von über 600 numerierten Bildern vom
November 1901 insgesamt vierzigmal notiert und mit >Lily
d«. ׳disg.« oder ׳disgeistes« be-
offenbart worden.366 Die Problematik der Autorschaft wird hier tangiert und ihr traditionelles
zeichnet. Er wollte damit wohl andeuten, dass sie dem Geisti-
Konzept erweitert: In der Moderne wird dies schliesslich zur Forderung nach Entmachtung des
gen, Intellektuellen abgewendet war.«; Abb. S. 253-254.
Autors führen. Keller hat in der Kunst ein Medium entdeckt, sein Seelenbild nach aussen zu
364 Victoria Osborne, Offenbarung der Liebe. Simeon Solomon und die Präraffaeliten (Ausst.Kat. Museum Villa Sluck, Mün-
chen) München 2006. 365 Rosenhagen 1912, S. 104, 136; siehe auch Pytlik 2006,
S. 655.
366 Schrenck-Notzing 1921, S. 207-208.
vermitteln. In der Entstehung des Kunstwerks sehe Keller »ein ebenso grosses Wunder, wie in der des
Menschen, und in dem Wonnegefühl, das die künstlerische Produktion, die Vollziehung des
Schöpfungsaktes, die Fähigkeit, aus nichts etwas zu machen, begleitet, den stärksten Antrieb
367 Hierzu ist Kellers Antwortschreiben von 1902 an Fritz von
zum künstlerischen Schaffen«, berichtet Hans Rosenhagen 1912. »Oft, meint er, habe ihn das Ge-
Ostini von Interesse, worin der Maler bemerkt: »Unter ׳Tag«
fühl beschlichen, dass er selbst gar nicht der Schaffende, sondern nur ein Werkzeug gewesen
verstehe ich selbstverständlich die Schöpfungszeit eines Bildes. Ein solcher Tag kann mehr als ein Jahr dauern, wie bei
meiner Auferstehung lAuferweckungl.«; zit. nach Fuhr 2004,
sei, und er macht eine Reihe von Werken namhaft, die er ohne sein bewusstes Dazutun, in einer
Art autosuggestivem Zustande meistens in einer Sitzung oder doch in einem Tage367 gemalt hat.
S. 273. Bei dieser Kellerschen Definition von »Tag« kommt man
Mit Recht weist er darauf hin, dass gerade diese Werke in besonderem Masse den Charakter der
kaum umhin, an Begriffe wie »Weltenstunde« oder das »plato-
Geschlossenheit und Unantastbarkeit tragen.«368
nische Weltenjahr« zu denken: so verankert der Maler sein
Albert von Kellers Eusapia Palladino (1900, Kat. 99) sei eines der meistbesprochenen Bildnisse
schöpferisches Schaffen gleichsam in einem kosmischen Kontext.
der letzten Kunstausstellungen gewesen, schreibt Ferdinand Avenarius 1904 im Kunstwort.
368 Rosenhagen 1912, S. 104. Als Beispiele gelten »unter diesen
»Auch von uns werden sich wenige dieser ausserordentlich eindringlichen Seelenschilderung
Leistungen so vollendete Schöpfungen, wie das Bildnis der
entziehen können.«369 Die Süditalienerin Eusapia Palladino (1854-1918)370 war um die Jahr-
Frau von Le Suire (vgl. Kat. 68), die Übergabe der Leiche La■
hundertwende ohne Zweifel das meistdiskutierte physikalische Medium. »E una Eusapia!«, habe
tour d’Auvergnes (hier Kal. 55), Akt am Strande (hier Kat. 23)
und viele andere, deren intime Durchbildung ein so schnelles
sie einmal mit herausforderndem Stolz Max Dessoir (1867-1947) zugerufen, dem Urheber des
Entstehen fast unglaublich erscheinen lässt«.
Begriffs »Parapsychologie«. Das habe bedeutet, es gebe viele Doktoren und Professoren, aber
Ein Künstlermedium · Seelenschilderung ■ E una Eusapia!
139
nur eine Eusapia. »Und hat sie nicht Recht? Wer kann leugnen, dass dieses »spiritistische Medium« allgemach zu einer Weltberühmtheit ge-
worden ist?«5’1 in ihren bei schwachen Lichtverhältnissen stattfindenden Seancen
pflegte Eusapia Palladino in hypnotische Trance zu fallen (Abb. 21). Sie verfügte über ein erstaunlich breit gefächertes Repertoire an »Wundern«, zu dem Tischlevitation ebenso zählte wie Bewegung von Gegenständen, das Hervorbringen von Tonerde-Abdrücken ihrer
Hände oder ihres Gesichts und weitere Mirabilien. Äusser der Erzeu-
gung mannigfaltiger Klopf- und Kratzgeräusche sowie Lichterschei-
nungen gelang es ihr aus der Entfernung, Sitzungsteilnehmer zu berühren und sogar einem Akkordeon Klänge zu entlocken. Zuweilen soll sie ihre Statur um einige Zentimeter vergrössert haben. In nor-
malern Zustand habe sie »ihren neapolitanischen Dialekt« gesprochen, dagegen richtiges Italienisch, wenn sie in Trance war.572 Sie habe »von Natur ein heiteres Temperament« gehabt und sei
»oft sentimental« geworden.575 Im Lauf ihrer internationalen, von Berichten in Tageszeitungen
Abb. 21 Albert von Schrenck-Notzing (1862-1929) Das Medium Eusapia Palladino bei der Levitation eines Tischchens mit Ziehharmonika, München, 1903 Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg i. Br.
wie Corriere della Sera oder New York Times kommentierten Karriere, die sie bis nach Russ
land und Amerika führte - in Städte wie Cambridge, Genua, Mailand, München, Neapel, New York, Nizza, Paris, St. Petersburg, Rom, Warschau, Wien -, wurde die Probandin Palladino von brillanten Kapazitäten und gar von späteren Nobelpreisträgern aus verschiedenen Wissen-
schaftszweigen untersucht - von Henri Bergson, Filippo Bottazzi, Ernesto Bozzano, Ercole w Unsignierte Notiz zu Albert von Kellers »Eusapia Palladino«,
Chiaia, Richard Hodgson, Pierre und Marie Curie, Camille Flammarion, Cesare Lombroso, Arthur
Levy, Enrico Morselli, Julien Ochorowicz, Carl du Prel, Charles Richet, Giovanni Virginio Schia-
parelii, Albert von Schrenck-Notzing -, wobei es darum ging herauszufinden, ob ihre mediu-
mistischen Performances als genuin oder betrügerisch einzustufen seien. Eusapia war wie kein
in: Kunstwort, hrsg. von Ferdinand Avenarius, Jg. 17, Nr. 22,
August (Nr. 2) 1904, S. 451, Abb. vor S. 409 (Frontispiz). - Mau-
rice Montandon betont 1908 die ·face virile presque sinistre,
d’un dessin sobre et grave« des Gemäldes, in: Montandon 1908, S. 467.
anderes Medium jener Zeit erfolgreich und umstritten. Neben mehr oder minder offensicht-
570 Die Eusapia-Bibliographie ist sehr umfangreich. Siehe etwa:
lichem Schwindel scheint bei den Palladinoschen Phänomenen immer ein unerklärlicher, umso
Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissen-
mehr faszinierender Rest geblieben zu sein, dem nicht beizukommen war.574
schäften in kritischer Betrachtung, 4./5. Aufl., Stuttgart 1920
Carl du Prel war 1893 zu der Überzeugung gelangt, dass an der Echtheit von Eusapias Mediumität nicht zu zweifeln war.575 In seiner im Jahr zuvor publizierten Schrift Das Rätsel des
(1. Aufl. 1917), S. 153-170: Eusapia Palladino (Der erstmals in Die Gartenlaube, 1910, S. 571, 600-602, 621-622 publizierte
Text ist wiederabgedruckt in: Pytlik 2006, S. 49-64.); Lewis
Menschen betonte du Prel, dass die »Geheimwissenschaften in ihrer modernen Form« über-
Spence, An Encyclopaedia of Occultims. A Compendium of In-
haupt nicht »zu einem Glauben verleiten, sondern ein neues Wissen vorbereiten« sollen, und
formation on the Occult Sciences, Occult Personalities, Psychic Science, Magic. Demonology, Spriritism, Mysticism and
schon darum »nicht zurück in die Vergangenheit, sondern weit voraus in die Zukunft« wiesen.
Metaphysics 11920), New York 1974, sub voce, S. 314; Eber-
Es gehe um eine künftige Weltanschauung, um die »Synthese von Religion und Wissenschaft,
hard Bauer, Spiritismus und Okkultismus, in: Okkultismus
von Metaphysik und Naturforschung«. Die Pythia in Delphi habe im Altertum als inspiriert
und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian. 1900-1915, hrsg.
durch Apollo gegolten, im Mittelalter wäre sie als Besessene exorziert worden, heute würde sie
von Veit Loers unter Mitarbeit von Pia Witzmann (Ausst.Kat. Schirn Kunsthalle. Frankfurt), Ostfildern 1995, S. 60-80, 77-
als Somnambule definiert werden: »Die Tatsachen bleiben, und nur die Erklärungen wechsein.«576
Im Nachhinein könnte Eusapia als selbstbewusste und starke Repräsentantin eines neuen Künstlertypus mit internationaler Karriere betrachtet werden, als Spezialistin in Wahrneh-
79, Abschnitt Eusapia Palladino: »Die Königin des Kabinetts«; Fanny Moser, Der Okkultismus - Täuschungen und Tatsa-
chen, Bd. 2, München 1935, S. 692-693.
J7‘ Dessoir 1920, wie Anm. 370, hier S. 153. J72 Letzteres schreibt Carl du Prel, Der Spiritismus, Leipzig
mungs- und Aufmerksamkeitstechnik und Vorgängerin heutiger Performancekünstler. Physik
118931, Kap. Ill zu Eusapia: »Der Kampf um den Spiritismus in
und die Psychologie waren bei ihr in ein spannungsvolles Verhältnis getreten. Keller bietet mit
Mailand«, S. 72-97, hier S. 77.
seinem Werk so etwas wie »das wahre Abbild« Eusapias. Wie bereits im Bildnis des Philoso-
J7J Dessoir 1920, wie Anm. 370, hier S. 154.
phen Carl du Prel von 1889577 bemühte sich Keller auch hier, die Dargestellte mit einem beson-
deren Blick auszustatten, einem Blick, dessen bannende Intensität einen Hang ins Unheimliche hat. Es ist, als habe der Maler mit diesem Blick den Betrachter hypnotisieren wollen.
Die Ästhetik der Geisterfotografie578 hat Keller im Bildnis der Elisabeth von Wichmann im
i7* Zu Eusapia siehe auch Enrico Morselli, Psicologia e spiri-
tismo, Turin 1908 (ausführl. Bibi.); Albert von Schrenck-Not-
zing, Physikalische Phänomene des Mediumismus, München 1920; Nandor Fodor, An Encyclopaedia of Psychic Science,
London 1934; Occultism & Parapsycholgy Encyclopedia,
unter: www.answers.com/topic/eusapia-palladino und
Sessel, um 1910 (Kat. 101), ins Bild gebracht, das somit zu einer Art Geisterportrait wird. Was
zunächst wie ein grossflächiges Pentiment wirkt, eine zwielichtige Überblendung, entpuppt sich
140
Künftige Weltanschauung · Neuer Künstlertypus
www.sdv.fr/pages/adamantine/eusapiapalladino.htm (zahl-
reiche bibl. Hinweise).
als spektrales Morphem, ein Phantom, das die Aura oder gar den Astralleib von Elisabeth Wichmann mit malerischen Mitteln zu fassen sucht. Auch gibt es Aufschluss über eine der Arbeits-
weisen Kellers, der das Bild gleichsam aus einem skizzenhaften Gebilde herausholt bis zu jenem
Zeitpunkt, da es für ihn »stimmt«: Dies kann auch ein »unfertiger« Zustand sein. Vor dem Hintergrund von Kellers Faible für Schleier- und Materialisationsphänomene gewinnt ein Werk an Interesse, das bis anhin als unbefriedigend und schwierig hätte eingestuft
werden können. Wie anderswo versucht Keller, das Unsichtbare, das heisst das eigentlich Un-
malbare, ins Bild zu bannen. Früher bereits malte er die Aura als Schatten, am spektakulärsten im suggestiven Schwarz hinter seiner Frau Irene, in deren Bildnis vor rotem Grund (1890,
Kat. 66) in der Neuen Pinakothek, München. In Sphinx wird 1888 unter dem Titel Photographie des Unsichtbaren oder des Zukünftigen
berichtet, eine Dame habe sich fotografieren lassen: Die Aufnahme habe ihr tadellos reines Gesicht übersät mit kleinen Punkten gezeigt. Da man glaubte, eine fehlerhafte Negativplatte läge vor, habe man der Dame gesagt, sie solle in zwei Tagen wiederkehren. An ihrer Stelle sei dann
ein Brief angekommen mit der Mitteilung, sie sei schwer an den Blattern erkrankt. Die Notiz
endet mit dem Vermerk: »Beweis, wie mangelhaft die Sehkraft unseres Auges ist.«379 Überlegungen zur »Aura« einer Person oder eines Gegenstandes spielen in den Avantgarden der klassischen Moderne, etwa im Futurismus, eine wesentliche Rolle.380 Im Werk Umberto 575 Du Prel 118931, wie Anm. 372, hier S. 91. 376 Du Prel 1892, S. 40-41 (Vorwort).
Boccionis besticht der Versuch, Innen- und Aussenraum in gegenseitiger Durchdringung über
577 Müller 1981, Abb. 98.
die Grenzen eines Gegenstandes durch seine Einfachheit tastbar darzustellen. Eine Art Fluidum
578 Zur ab den 1860er Jahren kursierenden Geisterfotografie
wird namentlich in seinen Plastiken spürbar, als strahlten sie Kraftfelder aus.
siehe etwa: Psychische Studien. Jg. 13, Nr. 6, Juni 1886, S. 269; Sphinx, Jg. 3, Nr. 20,1887. Die Gebilde auf solchen Fotos wir-
»Und wo wir auch gehen und stehen, überall und immerdar 1st ein Singen und Klingen um
ken wie eine Vorwegnahme Schrenck-Notzingscher Materiali-
uns her, wie eine leise liebliche Musik«, heisst es 1896 in Ernst von Wildenbruchs Legende Clau-
sationsphänomene. Siehe auch Alessandra Violi, Proof po-
dias Garten, die im Zusammenhang mit Kellers Im Mondschein eine Rolle spielt. Die Luft rings
sitive: The photomatic body in ·fin de sitcle· science, unter:
um die Menschen sei nicht leer und tot, sondern erfüllt von Tausenden und Abertausenden Gei-
www.pd.org/Perforations/perf29/violi/violi_proof_positive.htm ™Sphinx, Jg. 3, Nr. 6, Oktober 1888, S.270.
stern, »die immerfort um uns sind und mit uns sind und leise zu uns sprechen, und die wir nur
580 Zu diesem Themenkreis siehe: Okkultismus und Avant-
nicht sehen können, solange wir noch diesen Leib an uns tragen. Und sobald wir aber diesen
garde 1995: Giovanni Lista, Futurismus und Okkultismus,
Leib von uns getan haben, dann mit einem Male sehen wir sie und fühlen sie und sehen und ge-
S. 431-458; Sergio Poggianella, Okkulte Elemente und das
wahren, wir reich die Welt Gottes eigentlich ist, wie wundervoll, wie herrlich!«381
Licht im Werk Ballas, S. 459-468; Katharina Harlow Tighe, Die Schriften von Umberto Boccioni. Schlüssel zum Verständnis
Der Klang, der aus Kellers Bildern schallt, basiert oft auf einer Hauptfarbe, die Rot, Blau oder
der Beziehung zwischen italienischem Futurismus und Ok-
Grün sein kann - wie in der Bildhauerin von 1913 (Kat. 102). Dieses Verfahren, in der klassi-
kultismus, S. 469-478; Andreas Fischer, Ein Nachtgebiet der
sehen Moderne mit Erfolg von Matisse angewendet, verleiht Keller unverwechselbaren Charak-
Fotografie. S. 503-552.
ter. Georg Jakob Wolf hat in diesem Werk, das im April 1914 übrigens auf der Titelseite der Zeit-
581 Wildenbruch 1906, wie Anm. 282, S. 89-90. - Am 19. August 1896 bringt der nachmalige Literaturnobelpreisträger Gio-
schrift Jugend prangte,382 den »sehr ausdrucksvoll behandelten Kopf und eine mysteriöse
sue Carducci auf Bernina-Hospiz, angeregt durch den »Chor
schwarze Übermalung eines feingliederigen, rassig durchschimmernden Aktes« bewundert. Das
der Wolken, die von den Gletschern aufsteigen und die luftigen Berghöhen umhüllen«, folgenden atomistischen Gedankenreigen zu Papier: ·Noi saliamo e trasmutiamo, voi discendete e dileguate, ma ci ritroviamo e ci rimescoliamo eternamente: noi
Bild habe sein Besonderes »in dem ganz neuartigen Zusammenklang des grünen Fonds, des ro-
sigen Inkarnats und des schwarzen Kleides«.383
Im Kauernden Akt (Kat. 103) von 1906/08 stehen Linienmodulation und Eleganz im Einklang
vi infondiamo atomi del presente, voi li tramandate alTawe-
mit sinnlichem Appeal. Kaskade und Im Morgenmantel (Kat. 104,105) erinnern in ihrer mal-
nire.«
technischen Experimentierfreude an die marmorierten Papiere der Buchbinderei, die Deckel,
™Jugend, Nr. 17, 1914, S. 507.
585 Georg Jakob Wolf, Die Sommerausstellung der Münchner
Spiegel, Vorsatzblatt und Schnitt damaliger Bücher ihr unverwechselbares Erscheinungsbild
Secession, in: Die Kunst für Alle, Jg. 29,1. August 1914, S. 481-
verliehen. Ein anderer Titel für Kaskade ist Die Quelle.384 Sinnlich Somnambules wird in zwei
491, hier S. 484, Abb. S. 487.
weiteren Bildern mit Gisela von Wehner als Modell evoziert: Im Traum von 1911 (Kat. 107) -
So in Jugend vom 17. Juni 1912, S. 747, wo das Bild ganz-
auch als Kassandra bekannt385 - und In Erwartung von 1912 (Kat. 106) bestechen durch un-
seitig in Farbe abgebildet ist. 585 So etwa in Der Welt Spiegel, lllustr Halbwochen-Chronik
konventionelle Farbgebung und Freiheit im Duktus, der sich partienweise von der Objekt-
des Berliner Tageblatts, Nr. 81. 10. Oktober 1912.
bezeichnung löst und reinmalerische Klänge hervorruft.
Spektrales Morphem · Sinnlich Somnambules
141
99 Bildnis des Mediums Eusapia Palladino, 1900 Öl auf Karton, 40 x 24 cm
100 Lily disgeistes, 1895 Öl auf Holz, 35 x 28 cm
101 Elisabeth von Wichmann im Sessel, um 1910 Öl auf Leinwand, 143,5 x 96,5 cm
102 Bildhauerin, 1913 Öl auf Leinwand, 90 x 71,5 cm
103 Kauernder Akt (Gisela von Wehner), um 1906/08 Öl auf Leinwand, 89,5 x 72,5 cm
104 Kaskade (Gisela von Wehner), um 1910 Öl auf Leinwand, 72,5 x 49,5 cm
105 Im Morgenmantel (Gisela von Wehner), 1912 Öl auf Holz, 61x31cm
107 Im Traum / Kassandra (Gisela von Wehner), 1911 Öl auf Leinwand, 85,5 x 71 cm
Kreuz und Stigmata Das universale Thema von Leid, Opfer und Erlösung tritt in Albert von Kellers um 1903386 entstandenen Kreuzigungsvisionen (Kat. 108,109)387 in Wettstreit mit Möglichkeiten und Grenzen seiner und der Kunst allgemein. In der Kreuzigung finden die Evangelien ihren tragischen Hö-
hepunkt. Als zentrales Ereignis des Christentums ist sie aus theologischer Sicht Gottes Opfer, um die Menschheit zu erlösen; aus menschlicher Sicht ist es die Tragödie und das evokative Sym-
bol für Leiden und menschliches Opfer. Als höchstes christliches Bild ist der gekreuzigte Heiland durch die Jahrhunderte hindurch dargestellt worden. Die Beschäftigung mit der Kreuzigung
Christi muss den Maler schon per se interessiert haben, als künstlerische Aufgabe erster Güte.
Weit mehr als um den religiösen Aspekt ging es Keller um die tiefe Erschütterung, die dem Erelgnis innewohnt. Das Kreuz ist in Kellers CEuvre ein Leitmotiv. Hatte Albert von Keller in früheren Bildern eher die Form der Kammersonate bevorzugt, so
entschied er sich bei seinen Kreuzigungsvisionen gleichsam für die symphonische Dimension.
1902 schrieb er, er könne sich selten ein Bild ausdenken, das nicht zugleich Musik in ihm erklingen lasse; er habe sich von Schumann, Liszt und Wagner zu Bach und Beethoven »als den höchsten Göttern durchgerungen«. Dass Mozart in seinem Herzen wohne, sei selbstverständ-
lieh.588 Und schon vor der Jahrhundertwende soll er darauf hingewiesen haben, dass Musik für ihn immer Anregung sei, »denn unwillkürlich entspringen der akustischen Empfindung optische Vorstellungen«; er sehe »ganze grosse Gebilde« vor sich hingezaubert und viele seiner Arbeiten
seien »solchen Eindrücken entsprungen«.589
Kellers spätromantisch-schöpferischen Prozess hat Fritz von Ostini 1905 in suggestive Worte gefasst: »Der Künstler, der in der Dämmerstunde so gern phantasierend am Flügel sitzt, findet seine Gestalten nun ganz ähnlich, wie dem präludierenden Musiker die Melodien zufliessen;
aus den in grossen Zügen bewegten, unbestimmten Massen wird nach und nach das Bestimmte in seiner schaffenden Phantasie, wie auf der Leinwand. Es ist höchst interessant, Keller skiz-
zieren zu sehen, wie er erst das Hauptsächliche so knapp und flüchtig andeutet als nur möglich,
für das Nebensächlichste nur allgemeine Färb- und Tonwerte hinsetzt, das Ganze zu einem har-
monischen Klang stimmt und dann sozusagen die Einzelheiten erst aus dem Entwürfe heraus liest. Es ist dann, als sähe er zuvor in einer Art von Unterbewusstsein, visionär, wie hinter
einem brauenden Farbennebel die Dinge, welche er darstellen will, und als lösten sie sich nach und nach erst los und gewännen die endgültige Form. So ist seine ganze Malerei aus dem Geis-
te der Farbe, wie die Dichtkunst aus dem Geiste der Musik geboren.«390
Keller hat mit diesen schwierigen Bildern das weite Spektrum von Kreuzigungsbildern um 1900 - etwa von Klinger, Stuck, Corinth - um die wesentliche Facette des Visionären und Mys-
tischen erweitert. In seinen kosmische Dichte und Klang anstrebenden Kreuzigungsvisionen sind Massstabssprünge zu beobachten und die Malerei befreit sich partienweise von der Ob-
586 Nicht auszuschliessen ist, dass die beiden grossen Bilder
jektbezeichnung, selbst zum Thema werdend: Überwirkliches will sichtbar und erfahrbar ge-
etwas später zu datieren sind.
macht werden. Die Gemälde liebäugeln mit dem Rang grosser Historienmalerei, deren Konzept
jedoch erweitert und modernisiert wird. Die Frage, ob der Versuch ästhetisch zu befriedigen
587 Zu weiteren Bildern dieser Thematik siehe Müller 1981, Abb. 259, 260, 262, 263. 588 Antwortschreiben Albert von Kellers an Fritz von Ostini,
vermag, ist das eine; weit interessanter ist die Tatsache, dass er überhaupt unternommen
München 119021 (BSB München, Ostiniana IX, Keller, Albert
wurde. Sollte Keller daran gescheitert sein, so läge es an der Kühnheit des Unterfangens, das sei-
V.), publiziert in: Fuhr 2004, S. 571-574, hier S. 571. Es sei hier
nen Hang zum Experiment unterstreicht. Dies wäre dann ja auch ein Indiz für seine Moder-
auf den grossen Klassiker der Mozartliteratur hingewiesen: Wolfgang Hildesheimer, Mozart, Frankfurt am Main 1977.
nität.
589 Berlepsch 1897, S. 193.
Als habe sich Keller von jeglicher Reminiszenz an Bildhaftigkeit entfernen wollen, irritiert ein schleierartiges Formgebilde, quasi ein undefinierbares Morphem, in Kreuzigungsvision I (Kat. 108) den Blick. Die als Fragment geschilderte Liegende wirkt wie ein Medium in somnam-
590 Ostini 1905, S. 348.
591 Etwas später werden derartige Materialisationen bei Schrenck-Notzing vielfach abgebildet und von Keller be-
schrieben und gewürdigt: Albert von Keller, Künstlerisches
bulem Tiefschlaf und das fetzenartige Gebilde wie eine gerade im Entstehen begriffene Materia-
Gutachten, in: Schrenck-Notzing 1914, S. 489-492; 1923,
lisation (Abb. 22). In Kellers Gutachten über Fotografien von Materialisationsphänomenen391
S. 470-473.
150
Dämmerstunde · Aus dem Geiste der Musik
wird das Ektoplasma beschrieben als phantastisches »elementares Zufallsgebilde«, entstanden
durch einen »formbildenden Prozess«; es ist die Rede vom »ständigen Kampf« des »irdischen
Künstlers« mit dem Material. So ist dieses Bild, dessen Lichtverhältnisse jenen bei einer Seance nicht unähnlich sind, Kellers Beitrag zum mediumistischen Verkörperungsproblem. In dem eigentümlich verschleierten Formgewirr rechts im Bild nehmen mehrere als Individuen kaum fassbare weibliche Figuren als eine Art Pars pro Toto für so etwas wie »Menschenmenge« Ge-
stalt an: In die Ecke gedrängt ist eine Kauernde zu erkennen; links im Bild jagen rote Färbspritzer über den grünen Grund. Aus dieser visionären Bildmasse, der eine Funktion zukommt, wie sie in Renaissance und Barock von Engelsaureolen erfüllt wurde, erhebt sich die von der tief
schlafenden Visionärin gesehene ekstatische, an die Traumtänzerin Madeleine (vgl. Abb. 27) erinnernde Traumfigur - ihr Alter Ego - zu Christus empor, in Gewissheit der süssen Vereinigung mit dem himmlischen Bräutigam. In vervielfachter Gestalt erscheint dieselbe Frauenfigur dreimal: ohne erkennbare Regung in hypnotischem Tiefschlaf, erschauernd vor dem Übernatür-
liehen als Kauernde in irdischer Befangenheit und sich zu Christus hinaufsehnend als visionäre
Gestalt voller erotisch konnotierter Glückseligkeit. Abb. 22 Albert von Schrenck-Notzing (1862-1929) Das Medium Stanislawa P. mit einem ektoplastischen Schleier, München, 23. Juni 1913 Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene. Freiburg i.Br.
Umgeben von diffusen Materialisationsandeutungen nimmt die Träumende in Kreuzigungs-
vision II (Kat. 109) eine Position ein, die in der Kreuzform ihre Bereitschaft zur Stigmatisation signalisiert. Rote Lichtschwaden erklingen grell und steigern den expressiven Charakter der
Komposition. Einzelne Bildpartien sind mit dem Spachtel abgekratzt. Das Gemälde dürfte auch mit den Visionen der Katharina Emmerich zu tun haben: Clemens Brentanos Aufzeichnungen der »Gesichte« dieser stigmatisierten ehemaligen Nonne waren in den 1890er Jahren neu aufgelegt worden und, den verschiedenen Auflagen nach zu beurteilen, auf grosses Interesse ge-
stossen.392
In Kellers Visionsbildern weht ein deutlicher Tintoretto-Wind, nicht im Duktus, jedoch in der
Stimmung. Die Ausmasse der Bildflächen evozieren Tintoretto-Formate. Es kann davon ausge-
gangen werden, dass Keller, der gern in Venedig weilte, die Scuola Grande di San Rocco mit Tintorettos grossen Leinwandzyklen393 gekannt hat und von dieser »Sixtina der venezianischen Malerei« tief beeindruckt gewesen ist. Die Betonung der Diagonale ist eine visuelle Strategie, die Tintoretto - einer der herausragenden Spezialisten in der Darstellung von Wundern - mit
besonderem Können und hinreissender Dynamik ins Bild gesetzt hat. »Ja, ich billige und teile Ihre Bewunderung für den stärksten unter den Venezianern; wir preisen Tintoretto«, schrieb Paul Cezanne 1904 an Emile Bernard.394 Und was der Künstler so zum Ausdruck brachte, das be-
stätigte wenig später der Kritiker Karl Scheffler, wenn er Tintoretto 1913 als grossen Vorläufer einordnete: »Mitten in der Renaissance stehend, ragt sein Talent in die neue Zeit hinein. Es weist 592 Das Leben unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Nach
den Gesichten der gottseligen Anna Katharina Emmerich aufgeschrieben von Clemens Brentano, Bd. 1-2, Regensburg
1858; Bd. 3. 1860. J9J Paola Rossi, / cicli pittorici del Tintoretto nella Scuola
Grande di San Rocco, in: Da Tiziano a El Greco. Per la storia del Manierismo a Venezia, 1540-1590 (Ausst.Kat. Palazzo Ducale, Venedig), Mailand 1981, S. 330-333.
seine Anschauung zu den spanischen Meistern hinüber, über diesen Umweg mündet seine Ma-
lerei im Impressionismus aus, um weiter darüber hinaus noch mit manchem Fingerzeig in die Zukunft zu weisen.«395 Mit Tintoretto im Blick wird der junge Oskar Kokoschka 1913 Die Windsbraut malen, sein
Meisterwerk, das ihn als Seismographen seiner Zeit ausweist. »Sausend elliptisches Barock« sei da versucht worden, schreibt Carl Einstein 1926 in seiner Kunst des 20. Jahrhunderts.5'16 Ein
J9* Künstlerbriefe über Kunst. Bekenntnisse von Malern,
Hinweis auf Max Beckmanns frei-expressive Beschäftigung mit dem Kreuzigungsthema soll an
Architekten und Bildhauern aus fünf Jahrhunderten,
dieser Stelle nicht fehlen: Das grossformatige Bild Drama von 1906, dessen ursprünglicher Titel
Hermann Uhde-Bernays (Hrsg.), Dresden '1957, S. 764.
Kreuzigung lautete, schuf der Maler unter dem Eindruck von Krankheit und Tod seiner Mutter.
595 Karl Scheffler, Italien. Tagebuch einer Reise. Leipzig 1913,
S.118.
Das Bild war 1907 in der Berliner Secession ausgestellt.397 1909 schliesslich malte Beckmann
596 Gian Casper Bott, Kunstmuseum Basel. Zürich/Genf 2004,
eine Kreuzigung Christi, die er im selben Jahr in Paris ausstellte und 1910 in Berlin, wiederum
S.79.
in der Secession.398
597 1943 bei einem Luftangriff in Köln verbrannt. Siehe Erhard
Mystische Vermählung und Stigmatisierung hängen eng zusammen. Toskanisches Quattro-
und Barbara Göpel, Max Beckmann. Katalog der Gemälde,
Bern 1976, Bd. 1, Kat. 57; Bd. 2. Taf. 33.
cento wird in Kellers um 1905 entstandener Stigmatisation (Kat. 110) angedeutet. Format,
598 Siehe ibid., Bd. 1, Kat. 119; Bd. 2. Taf. 50.
Figurendisposition, Erzählstil und Farbgebung sowie der zentralperspektivisch angeordnete
Das mediumistische Verkörperungsproblem ■ Materialisationsandeutungen
151
108 Kreuzigungsvision I, um 1903 Öl auf Leinwand, 192 x 242 cm
109 Kreuzigungsvision II, um 1903 Öl auf Leinwand, 190 x 241 cm
110 Stigmatisation, um 1905 Öl auf Leinwand, 42,5 x 81 cm
Ill Stigmatisation (Studie), um 1905 Öl auf Leinwand, 41,5 x 80,5 cm
Fliesenboden evozieren in unverwechselbar Kellerscher Manier die Ästhetik von Quattrocento-
Predellen; in einer mit Schwung gemalten Variante zum Thema (Kat. 111) schlägt Keller erneut vertraute okkultisch-visionäre Töne an.399
Als Apologet der Stigmatisation hat der renommierte französische Arzt Antoine Imbert-Gour-
beyre (1817-1912) einen wesentlichen Beitrag zu deren Geschichte geleistet. Wie bereits in sei-
ner Schrift Les stigmatisees von 1873 ging es ihm auch in seinem 1894 publizierten und 1908 neu aufgelegten Buch La stigmatisation darum, die rationalistischen Erklärungsversuche der Stigmatisation mit theologischem Elfer zu widerlegen und dieses Phänomen im Sinne der ka-
tholischen Kirche auf wissenschaftliche Art als Wunder zu verteidigen.400 Vom Übernatürlichen
und Wunderbaren fasziniert, war es sein Anliegen, Charcots positivistische Ansichten über die
mystischen Phänomene zu widerlegen. In den Stigmata sah er eine »Belohnung«. Keller nimmt in diesen Fragen die Rolle des Beobachters ein, ohne eigentlich Partei zu ergreifen; im gemalten Werk findet sich kaum ein Hinweis darauf, ob er an diese Erscheinungen »wirklich glaubt«, allerdings verleiht er ihnen schon dadurch, dass er sie malt, »Wirklichkeit« -
etwa nach dem Motto »Montrer, c'est demontrer«, wonach Zeigen mit Beweisen gleichgesetzt
wird.401 Das Unmalbare ins Bild zu bringen, war ja seit der Antike eine besondere Herausfor-
derung an die Künstler.
Gesteigerter Ausdruck, tragische Heroinen
Abb. 23 Fr6d6ric Boissonnas (1858-1944) »Les Femmes et le Secret - Gros comme quatre...« Die Traumtänzerin Madeleine G. bei Hypnoseexperimenten von Emile Magnin. urn 1903 Privatsammlung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erregte die Traumtänzerin Madeleine Guipet402 grosses Auf-
sehen; expressionistische Strömungen vorwegnehmend, malte sie Albert von Keller mehrmals
(Kat. 112-114,116).403 Arsene Alexandre404 widmete ihr in jenen Tagen einen Text: Diese charmante junge Frau sei in Paris Wissenschaftlern vorgeführt worden, die sie mit Interesse beob-
599 Stigmatisierte haben etwa gemalt: Gabriel Cornelius von Max, Die ekstatische Jungfrau Anna Katharina Emmerick, 1885, Neue Pinakothek, Bayerische Staatsgemäldesamm-
achtet hätten, und Künstler wie Rodin oder Besnard hätten sie bewundert. Nun werde sie in
lungen, München; Paul Hoecker (1854-1910), Gründungsmit-
München studiert, am Künstlerhaus, wo sie ebenso auf Erfolg und Interesse stosse. Die Frau,
glied der Münchner Secession; Georges Moreau de Tours
deren feine Silhouetten, rhythmisierte Bewegungen, subtile und rapide Ausdrücke die Augen-
blicksfotografien festgehalten hätten (Abb. 24), sei weder eine Tänzerin noch eine Mimin im
professionellen Sinn des Wortes. Trotz ihrer grossen Schleier, die sie harmonisch um sich be-
(1848-1901), Une Stigmatiste au Moyen-Age, Salon von 1885, Öl auf Leinwand, 500 x 260 cm, Musee des Beaux-Arts, Nantes.
Letzteres ist ein Bild, dessen sinistre Stimmung auch Vorahnungen zu Kellers Hexenschlaf von 1888 aulkommen lassen.
wege, eifere sie nicht Lote Fuller405 nach; trotz der tragischen Physiognomien sei sie nicht eine
In Moreau de Tours’ Gemälde (dessen erster Erfolg Une Exta-
vielversprechende Rivalin von Sarah. Diese seien grosse Künstlerinnen, jedoch seien sie sich des-
tique au XVIII stecle, 1879, war) betrachten reiche Bürger die
von Mönchen eines Bettelordens sozusagen zur Schau gestellte
sen bewusst. Ihre Kunst resultiere gänzlich aus Studium und Bewusstsein. Madeleines Traum-
tanz indes unterliege weder Willen noch Wissen. Die Schwierigkeiten, die sie im Bereich von Geste, Haltung, Änderung im Gesichtsausdruck und physischer Verausgabung löse, habe sie
nicht studiert. Was sie mache, sei anmutig und voller unbewusster Grazie; sei sie doch nichts
Stigmatisierte. Das Ganze erscheint als Attraktion und keiner
der ihre Augen- und Sensationslust befriedigenden Herren
scheint auf religiöse Gedanken zu kommen. 400 Antoine Imbert-Gourbeyre, La stigmatisation (Paris 18941,
hrsg. von Joachim Bouflet, Grenoble 1996, S. 442-445 (zu Ka-
als ein zugleich bewegtes und regloses Wesen, ein »Körper ohne Seele«. Oder vielmehr drücke
tharina Emmerick). - Die Emmerick wurde 2004 von Papst
sie doch all jene Seelen aus, die die Laune des Experimentators nacheinander an die Stelle ihrer
Johannes Paul II. seliggesprochen.
eigenen Seele setze. Im Traumtanz werde sie zum Instrument der Gestaltung im Raum - un
401 Ibid., S. 36.
instrument de plastique -, wie das Klavier oder die Geige akustische Instrumente seien
402 Gabriele Brandstetter, Psychologie des Ausdrucks und Aus-
druckstanz. Aspekte der Wechselwirkung am Beispiel der
- instruments d’acoustique -, unter deren Schwingungen sie selbst in Schwingung gerate. Die-
·Traumtänzerin· Madeleine, in: Ausdruckstanz. Eine mittel-
ses Ereignis sei zugleich pariserisch und wissenschaftlich.406
europäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-
Heinrich von Kleist schrieb in seinem meisterhaften Essay Über das Marionettentheater von
derts, hrsg. von Gunhild Oberzaucher-Schüller, unter Mitarbeit von Alfred Oberzaucher und Thomas Steinert, Wilhelmshaven
1810: »Wir sehen, dass in dem Masse, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und
’2004, S. 199-211.
schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt«. Die Grazie
405 Auch Hugo von Habermann und Friedrich August von Kaul-
erscheine »in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten, der entweder gar keins oder ein
bach haben Madeleine gemalt (Abb. 33).
unendliches Bewusstsein hat, d.h. in dem Gliedermann oder in dem Gott«.407
404 Der französische Kunstkritiker Arsöne Alexandre (1859-
1937) veröffentlichte im Figaro. 1886 hatte er zusammen mit
Auch Kellers Freund Albert von Schrenck-Notzing publizierte 1904 zu Madeleine. Die Hypnose
schaffe keine neuen Kräfte, sondern befreie vorhandene von gewissen psychischen Hemmun-
156
Madeleine · Ein Körper ohne Seele
Fölix Fänöon den Begriff »ηέο-impressionisme« in Umlauf gebracht.
MARCHE FUNEBRE OE CHOPIN
gen.408 Die Somnambule gewähre »Einblick in den instinktiven Ur-
gründ der Menschlichkeit«.409 »Da ertönt Musik hinter einem Vor-
hange«: In hypnotischem Tiefschlaf bewege sich die Traumtänzerin
zum Chopinschen Trauermarsch und ihr Körper erfasse augenblicklieh die gewaltige Tragik der grossen Akkorde dieses Musikstücks und
scheine ins Tiefste hinein erschüttert (Abb. 24).«... mehr und mehr
steigert sich die Pantomime des Schmerzes, laute, unartikulierte Kiagetöne, die indes die Noten Chopins völlig treffen, stösst die Somnambule aus. Sie wirft sich voll unsäglichen Leides, das sich auf ihre
Gesichtszüge malt, auf den Boden und erstarrt plötzlich, als die Musik
auf dem Piano abbricht, in der Pantomime wie leblos.«410 Georg Fuchs erinnert sich 1936, zur Ausführung ihrer Traumtänze habe Madeleine Abb. 24 Fr£d£ric Boissonnas (1858-1944) Madeleine Guipet tanzt zu Chopins »Marche Funebre«, um 1903
»der Versetzung in eine veränderte Bewusstseinslage und einer träum-
artigen Verschleierung ihres Empfindungslebens« bedurft.411 Keller ging es offensichtlich darum, die Faszination, die das Phänomen Traum- und Aus
druckstanz hervorrief, in seine Bilder zu übertragen und beim Betrachter eine Wiederholung derselben Begeisterung hervorzurufen. Bei jenen Betrachtern, die solche Phänomene aus eigener Anschauung kannten, lösten die Bilder wohl ein Echo der eigenen Erfahrung aus; bei den
übrigen den Kitzel des Unbekannten und die Begierde des Kennenlernens. Allein schon durch
ihr Defizit an Farbe muss Keller die Fotografie (Abb. 23-26, 28) als nicht gänzlich geeignetes
Medium empfunden haben, um Wesensart und Schönheit der Madeleine und ihrer - seelische
Regungen auslösenden - Bewegungen festzuhalten. Auch mit Worten konnte der eigentliche Kern des kataleptischen Affekts nicht beschrieben werden; diesen zu treffen, muss ihm als Auf-
gäbe und Vermögen seiner Malerei vorgekommen sein. Er dürfte daran interessiert gewesen sein, den Zusammenhang zwischen Hypnose, Hysterie, Physiognomik sowie musikalischer und bildlicher Affektenlehre - einem Stoffgebiet, das im 17. Jahrhundert den okkulten Wissen-
schäften zugeordnet wurde - zu ergründen und mit malerischen Mitteln auszudrücken.412
Das Gefühl von Dekadenz in der Gegenwart führte Keller wie andere Künstler der Zeit um die 405 Siehe Jo-Anne Birnie Danzker (Hrsg.), Loie Fuller. Getanz■
Jahrhundertwende von 1900 auf die Suche nach kulturellen Modellen der Vergangenheit, na-
ter Jugendstil, München 1995.
mentlich der klassischen Antike. In der Untergangsseherin Kassandra (Kat. 107,112,116) fand
406 Ein ״öv^nemenl ä la fois parisien et scientifique«. Alexan-
diese Generation eine Figur, in deren Gemütszustand sie sich widergespiegelt sah: Die diffuse Ah-
dres Text ist zitiert in: ·Magdeleine·. Etude sur le Geste au
nung einer sich anbahnenden Katastrophe lag in der Luft; 1914 sollte sie mit dem Ausbruch des
moyen de l’Hypnose, par Μ. Emile Magnin, Professeur ä
l'Ecole de Magnetisme de Paris. Photographies de Fred. Bois-
Ersten Weltkrieges zur tragischen, das Leben der Menschen und ihre Kultur grundlegend ver-
sonnas, ä Gen£ve, !Genf oder Paris, um 1903/041, 0. S.
ändernden Wirklichkeit werden. So genoss Kassandra - wie Antigone eine regelrechte Modell-
407 Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater 118101,
figur - besondere Fortune in der deutschen Kultur des 20. Jahrhunderts, insbesondere im Ge-
Berlin 1948, S. 24.
4° ״Schrenck-Notzing 1904, S. 6; zit. aus Pieterse 1986, S. 4. 409 Ibid., S. 93; zit. aus Pieterse 1986, S. 4.
410 Ibid., S. 13-14; zit. aus Pieterse 1986, S. 7. 4,1 Fuchs 1936, S. 233-246, hier S. 242: Von der Lola Montez zu
Saharet, Duncan und Madeleine. Die Wiedergeburt der Deut-
sehen Bühne aus dem Rhythmus.
biet der Literatur, als Unheils- und Heilsprophetin, Bacchantin und Intellektuelle, Pazifistin und Fatalistin, Femme fatale und sacrifiee, Kriegsgegnerin und vergewaltigte Frau.413 Kassandra war gleich berühmt durch Sehertum wie durch Schönheit. Gegen das Versprechen, seine Liebe zu erwidern, hatte ihr Apoll die Gabe der Prophetie verliehen. Weil sie schliess-
lieh ihr Wort nicht hielt, strafte sie der Gott dadurch, dass ihre Weissagungen keinen Glauben
412 Namen, die im Zusammenhang mit der Affektenlehre nicht
fanden. Als sie bei der Ankunft Helenas vor der Zerstörung Trojas warnte, wurde sie allgemein
fehlen dürfen, sind Platon, Aristoteles, Renö Descartes (Tratte
als Schwarzseherin verachtet; ihre Warnung vor dem hölzernen Pferd, das die Griechen auf Rat
des passions de l'äme, 1649) und Charles Le Brun (Trait? sur
des Odysseus vor den Stadtmauern zurückgelassen hatten, wurde in den Wind geschlagen. Nach
la physiognomie und Methode pour apprendre ά dessiner les
passions, 1668).
dem Fall der Stadt fiel sie Agamemnon als Beute zu und wurde nach dessen Heimkehr nach
413 Stephanie Jentgens, Kassandra. Spielarten einer literari-
Mykene zusammen mit ihm von seiner Frau Klytämnestra ermordet.414 Auf ihr tragisches Ende
sehen Figur, Hildesheim/Zürich/New York 1995; Matthias Falke
beziehen sich die Verse in Schillers Ballade Kassandra von 1802: »Und den Mordstahl seh ich
(Hrgs.), Mythos Kassandra. Texte von Aisehylos bis Christa
blinken, / Und das Mörderauge glühn, / Nicht zur Rechten, nicht zur Linken / Kann ich vor dem
Wolf, Leipzig 2006. 414 Eine andere Sage berichtet, dass sie im Heiligtum Athenes
Schrecknis fliehn, / Nicht die Blicke darf ich wenden, / Wissend, schauend, unverwandt / Muss
von Ajax dem Lokrer entehrt wurde.
ich mein Geschick vollenden / Fallend in dem fremden Land«.
Instinktiver Urgrund der Menschlichkeit · Kataleptischer Affekt
157
Abb. 2ς Unbekannter Fotograf Die Traumtänzerin Madeleine G., um 1904 Privatsammlung Abb. 26 Frederic Boissonnas (1858-1944) »Marche fundbre de Chopin« Die Traumtänzerin Madeleine G. bei Hypnoseexperimenten von fcmile Magnin, um 1903 Privatsammlung
Die Traumtänzerin Madeleine soll in hypnotischem Tiefschlaf auch Kassandra gemimt haben, »schaudernd, rasend, wimmernd, sich aufbäumend wider die Gesichte einer gräuelvollen Zu-
kunft«.415 In Kellers ihr gewidmeten Kassandra-Bildern (Kat. 112,116, eventuell 113,114) ver-
mischt sich Sehertum mit hypnostischer Trance. Zu ihrem Bild in der Münchner Neuen Pina-
kothek (Kat. 116)416, das sie in weissem, antikisierendem Gewand zeigt, lauschend beide Hände
an die Ohren haltend, schrieb Josef Popp 1908: «Kassandra nennt Keller das angstvolle Aufhorchen Madeleines. Wie flimmernde Irrlichter blitzen goldene Gespinste hinter ihr auf und erhöhen das Unheimliche der Situation; wie ein gellender Ruf tönt es ihr in den Ohren. In unmittelbarer Nähe scheint das Gesehene vor sich zu gehen. Sie scheut davor zurück und kann doch den Blick nicht wenden. Das geisterhaft Seherische ist wohl kaum einmal mit so schauer-
licher Plastik verkörpert worden.«417
Max Klingers Plastik Kassandra von 1895 sei an dieser Stelle erwähnt. Ihre Popularität ist durch die Tatsache bezeugt, dass eine Berliner Firma ab 1903 Bronze- und Marmorrepliken im Büstenausschnitt herstellte.418 Auch Leo Samberger, der mit Keller bekannt war und ihn mehr-
mals portraitierte419, malte 1901 eine Kassandra.‘‘20 Als Alter Ego von Paris ist Albert von Keller sozusagen mit Kassandra verschwistert.421 Wie
415 Fuchs 1936, S. 243.
416 Inv.-Nr. 8337. 1904 auf der Secessionsausstellung in Mün-
sie vom Untergang Trojas überzeugt war - und Recht bekommen sollte -, so zweifelte Keller in
chen erworben.
seinen späteren Jahren an einer Zukunft der Malerei. Von einer Art Projizierung seiner Identität
4,7 Man beachte die Medusenhaupt-Thematik. - Popp 1908b,
in Kassandra kann ausgegangen werden. 1902 schrieb er an Fritz von Ostini: »Man erfinde die
S. 164.
farbige Photographie - und die Maler sind gewesen.«422 Kellers Frau Irene wiederum scheint
418 Museum der bildenden Künste Leipzig. Katalog der Bild-
werke, hrsg. von Herwig Guratzsch, Köln 1999, Nr. 417-421.
prophetisch veranlagt gewesen zu sein, war sie doch Monate, bevor der einzige Sohn 1906 durch
419 Siehe Müller 1981, Abb. 225; Rosenhagen 1912, Abb. S. 3.
eine beim Hantieren mit dem Revolver zugezogene Schusswunde umkam, von düsteren Un-
420 Öl auf Leinwand, 98,3 x 85,4 cm, Neue Pinakothek, Bayeri-
glücksvorahnungen geplagt. Elf Monate nach dem Ableben des Sohnes war auch sie tot.423
sehe Staatsgemäldesammlungen München, Inv.-Nr. 10397; vgl.
Das Antigone-Thema hat Keller um 1907 beschäftigt (Kat. 115).424 Die Tragödie Antigone von
Buhrs 2008, Kat. 77.
421 Sowohl Paris’ als auch Kassandras Eltern waren Priamos
Sophokles wurde 442 v. Chr. uraufgeführt. Sie ist somit gleichsam so alt wie das Theater selbst.
und Hekabe.
Die Titelheldin war der inzestuösen Bindung des Vatermörders Ödipus und seiner Mutter lokaste
422 Antwortschreiben Albert von Kellers an Fritz von Ostini,
entsprossen; als Ödipus, der über Theben herrschte, seine nicht wissentlich begangenen Ver-
München 119021 (BSB München, Ostiniana IX, Keller, Albert
V.), publiziert in: Fuhr 2004, S. 571-574, hier S. 571.
gehen entdeckt hatte, blendete er sich. Antigone begleitete ihn in seine Verbannung, bis er bei
Theseus, König von Athen, in Kolonos Zuflucht fand, wo er starb. Nach Theben zurückgekehrt, wo der Bürgerkrieg tobte, gewann Antigone die Liebe Hämons, Sohn des neuen Königs Kreon.
Als ihre Brüder, die Zwillinge Eteokles und Polyneikes, im Zweikampf gegeneinander gefallen
425 Rosenhagen 1912, S. 96. 424 Werke zum Thema »Tod der Antigone« in Müller 1981, Abb.
132-134; Nr. 134 ist die Hauptfassung (Szäpmüv^szeti
Müzeum, Budapest). Hier erscheint Eurydike in der Gestalt der Traumtänzerin Madeleine Guipet, in ähnlich pathetischem
waren, verbot Kreon die Beerdigung des Letzteren bei Todesstrafe, weil er gegen ihn Partei ergriffen hatte. Das Gesetz der Götter höher stellend als das königliche Gebot der griechischen
158
Kassandra · Antigone · Schauerliche Plastik ■ Das Ende der Malerei
Habitus wie auf dem 1909 entstandenen, heute verschollenen Bild Mutter und Sohn (siehe Abb. 27).
Abb. 27 Albert von Keller Mutter und Sohn, 1909 Öl auf Karton [?J, ca. 150 x 100 cm Verschollen
Abb. 28 Unbekannter Fotograf Die Traumtänzerin Madeleine G., urn 1904 Privatsammlung
Polis, bedeckte Antigone dennoch den brüderlichen Leichnam mit Erde. Zur Strafe liess Kreon
sie in einer Felsengruft lebendig einmauern“5, wo sie sich erhängte. Aus Verzweiflung entleibte sich Hämon an ihrer Leiche mit dem Schwert, worauf sich auch seine Mutter Eurydike aus
Schrecken und Schmerz das Leben nahm. Angesichts dieses dreifachen Selbstmordes, der Kreon auch der Hoffnung auf Nachkommen beraubte, wünschte sich der Tyrann einen baldigen Tod,
zu spät zu der Einsicht gelangt, dass Staatsraison niemals über den Willen der Götter gestellt werden darf.“6
Der Konflikt zwischen Antigone und Kreon hatte sich an einem Leichnam entbrannt, an den unvereinbar entgegengesetzten Interessenspolen von privatem Gewissen, familiärer Pietät und
öffentlicher Machtpolitik, zugleich auch von Weiblichem und Männlichem. In der Antike war die Idee verbreitet, dass eine verstorbene Person ohne die Ehren der Bestattung zum ruhelosen
Herumirren verurteilt war, nicht mehr in der Welt der Lebenden und noch nicht im Reich der
Toten. So schwingt in diesem Bildthema abermals Kellers Interesse für Schwellensituationen zwischen Leben und Tod mit. Ob der Maler Bezug nimmt auf eine konkrete Aufführung, die er gesehen haben mag, konnte noch nicht geklärt werden. Mit der aschfahlen, hehre Gefühle erweckenden Farbigkeit passt Keller sich chromatisch dem funebren Charakter des Themas an.
Wie in anderen Bildern rezipiert er auch hier die Antike und bietet die moderne Bearbeitung eines mythischen Stoffes. Zu der von Keller bewunderten und ins Bild gebannten Traumtänze-
rin Madeleine Guipet berichtet Georg Fuchs 1936, zu ihrem Repertoire habe auch Antigone ge-
zählt, »stumm und ergeben, die Urne auf dienender Schulter, zu den modernden Gebeinen des 425 Ein analoges Motiv finde! sich auch in Aida von Giuseppe Verdi, 1871 in Kairo uraufgeführt.
teuren Bruders wandelnd«.“7
Als Albert von Keller 1907 sein Bild Die Liebe (Abb. 29, Kat. 117) malte, erinnerte er sich wo-
426 Friedrich Hölderlin hatte die Antigone übersetzt, Felix Men-
möglich auch an Judith im Zelt des Holofernes, das sein langjähriger Freund Hugo von Haber-
delssohn Bartholdy und Camille Saint-Saens haben sich mit
mann (1849-1929) im Jahr 1873 gemalt hatte.“8 Dort allerdings ist die alttestamentarische He-
dem Stoff musikalisch auseinandergesetzt. Zu den Autoren, die sich ab 1900 mit dem Antigone-Mythos beschäftigt und ihn
roine noch nicht zur Tat geschritten. Bei den alten Meistern - Veronese oder Rubens wie
zum Teil radikal neu interpretiert haben, zählen Hugo von Hof-
Caravaggio oder Rembrandt - war das Sujet beliebt, ebenso wie sein analoges Pendant, die Epi-
mannsthal, Houston Stewart Chamberlain, Waller Hasen-
sode Samson und Delila, gemalt beispielsweise wiederum von Rubens oder van Dyck, wo der
clever, Jean Anouilh, Bertolt Brecht.
Mann zwar nicht seinen Kopf, jedoch seine Haartracht als Sitz seiner Muskelkraft und Potenz
427 Fuchs 1936, S. 243. 428 Kat. Sotheby’s London, 28. November 1979, Lot 209 (mit
verliert. In Kellers Liebe ist eine für den Maler charakteristische Überblendung verschiedener
Abb.).
Heroinen zu beobachten: In Judith spiegeln sich auch Delila und Salome.
Magdalena zu Füssen des Kreuzes ■ Judith, Delila, Salome
159
112 Madeleine Guipet als Kassandra, um 1904 Öl auf Holz, 26,5 x 32 cm
113 Madeleine Guipet in Trance (Schmerz), 1904 Öl auf Leinwand, 60,5 x 50,5 cm
114 Die Traumtänzerin Madeleine, um 1904 Öl auf Holz, 41 x 32 cm
115 Tod der Antigone (Skizze), um 1907 Öl auf Karton, 18,5 x 26 cm
116 Die Traumtänzerin Madeleine, um 1904 Öl auf Eiche, 41 x 24 cm Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek
117 Weiblicher Akt (Studie zu »Die Liebe«), um 1907 Öl auf Leinwand, 100,5 x 42,5 cm
118 Höllenfahrt, 1912 Öl auf Leinwand, 66,5 x 44,5 cm
Judith wird in der Bibel und der früheren Bildtradition als Exemplum eines heroischen Glaubensaktes gefeiert, als Heldin, die ihr Leben aufs Spiel setzt, um das Volk der Gläubigen zu retten. So erscheint sie wie Esther, Rebecca oder andere Figuren aus dem Alten Testament in der barocken Ikonologie als typologische Vorgängerin von Maria.429 Im späten 19. Jahrhundert wird Judith bei Franz von Stuck oder Gustav Klimt und vielen anderen430 zur männerköpfenden
Femme fatale, zum Sinnbild der Begegnung von Mann und Frau in der Arena des Geschlechterkampfes.431 Ein traditioneller Renaissancestoff erfährt eine Umkehrung: Der Held ist nicht mehr der aktiv Handelnde, sondern der Enthauptete.
Ebenso präsent war das Thema in diesen Jahren in Dichtung und Musik. So wurde 1905 in Dresden die Oper Salome von Richard Strauss uraufgeführt, die auf Oscar Wildes gleichnamigern, französisch geschriebenem Schauspiel von 1893 basiert, das seinerseits auf Gustave Flau-
berts Novelle Herodias Bezug nimmt. Darin verliebt sich die Protagonistin in Jochanaan, der
nicht auf ihre Verführungsversuche reagiert. Nachdem sie für Herodes den Tanz der Sieben
Schleier getanzt hat, fordert sie zum Lohn den Kopf Jochanaans in einer Silberschüssel, was
ihr nicht ohne Widerstand gewährt wird; schliesslich küsst sie den abgetrennten Kopf leidenschaftlich auf den Mund, worauf Herodes sie töten lässt. Wildes Salome wurde 1904 in München aufgeführt. Der Komponist, Schriftsteller und Arzt Hugo Daffner (1882-1936) bemerkte 1912, es
habe nicht lange gedauert, »bis der Niederschlag der starken künstlerischen Anregungen, die
dem Werke innewohnen, in der lebhaften Kunststadt in die Erscheinung trat«.432 Fritz von Ostini reagierte mit einem ironischen Gedicht in der Jugend: »Ich habe jüngst im Münchner Schau-
spielhause / Die >Salome< gesehen von Oscar Wilde, / zu tieffst erschüttert, wie dies Weib, dies
grause, / Am Schlüsse jäh die Nemesis ereilt. - / Und lieb ich sonst auch minder in der Dichtung/ die psychopatisch-sexuelle Richtung, / Mein Beifall war doch stark und ungeteilt.»433 Unter den Themen mit einem »physisch sinnlichen Inhalt« sei die Salome gern und oft dar-
gestellt worden, schreibt Alfred Koeppen 1902 in Die moderne Malerei in Deutschland, »weil
hierbei der Künstler Gelegenheit hatte, einen malerischen Ausdruck für die sinnliche Wollust zu finden, die den Gegenstand ihrer Liebe und Zuneigung, koste auch was es wolle, für sich zu gewinnen trachtete und die, verschmäht, dann wenigstens in der Rache eine gewisse Befriedigung ihrer entflammten, verzehrenden Gluten findet«.434 Zu Max Klingers 1893 aus mehreren
Marmorsorten geschaffener Skulptur Die neue Salome^ heisst es um die Jahrhundertwende:
429 Siehe etwa: Gian Casper Bott, Santa Maria. Gli affreschi di
»... nicht genau im biblischen Sinne, sondern mehr allgemein als Verkörperung der dämoni-
Giuseppe Brina in Santa Maria Assunta a Poschiavo, Poschia-
sehen Macht des Weibes, als Teufelin aufgefasst, wie sie mit gekreuzten Armen nach neuen Op-
vo 1994, S. 9-13. 450 Gustave Moreau, Aubrey Beardsley, Franz von Bayros,
fern ausschaut, während zwei derselben (die im Tode erstarrten Köpfe eines jugendlichen und
Lovis Corinth sind hier zu nennen.
eines älteren Mannes) ihr zur Seite angebracht sind«.436 Max Beckmann schuf 1912 Judith und
431 Siehe Margarita Stocker, Judith. Sexual Warrior. Women
Holofernes, ein Bild, das er 1913 bei Paul Cassirer in Berlin ausstellte und dessen heutiger Ver-
and Power in Werstern Culture, New Haven 1998.
bleib unbekannt ist.437 Die Motive »Erotik« und »Schwert« finden sich in weiteren Bildern des Malers: Geschwister von 1933 und Messingstadt von 1944.438
In Kellers Liebe - worin auch Giorgiones hochberühmte venezianische Judith in der St. Pe-
tersburger Eremitage reflektiert wird - verschmelzen Eros und Thanatos in einer für die Poetik des Malers charakteristischen Weise; das Thema der Gottesanbeterin scheint sich anzubah-
432 Hugo Daffner, Salome. Ihre Gestalt in Geschichte und Kunst.
Dichtung - Bildende Kunst - Musik, München 1912, S. 320, 354: Albert von Keller wird hier unter den »zeitgenössischen
deutschen Salomemalerlnl« aufgeführt. 433 Zit. aus ibid., S. 323. 434 Koeppen 1902, S. 88. 435 Museum der bildenden Künste Leipzig. Katalog der Bild-
nen, das im Surrealismus eine zentrale Rolle spielen wird. Das Weibchen dieses Insekts tötet und
werke, hrsg. von Herwig Guratzsch, Köln 1999, Nr. 415.
verschlingt das Männchen nach der Paarung: Die Surrealisten sahen darin ein Symbol der se-
430 Verzeichnis der Kunstwerke im Museum der bildenden
xuell dominanten, in gleichem Masse gefürchteten wie angebeteten Femme fatale. Grösse und
Künste zu Leipzig, Leipzig 2019O3, S. 39, Nr. 272.
437 Göpel 1976, wie Anm. 397, Bd. 1, Kat. 152; Bd. 2, Taf. 60.
Pracht von Kellers Liebe betont 1908 Maurice Montandon: Selten habe ein Bild den Eindruck einer Wagneroper - l'impression d’un acte wagnerien - treffender gegeben als diese symbolische Szene, die durch Leidenschaftlichkeit und Disposition des Dekors an das unvergessliche
Abenteuer von Tristan und Isolde erinnere. Dank Montandon ist die Farbe des bildbeherr-
438 Ibid., Bd. 1, Kat. 381, 668; Bd. 2, Taf. 129, 243. 439 Montandon 1908, S. 468. Dort auch der Hinweis auf eine »seit 1898· bekannte Skizze zum Bild. - Von einem »ungeheuer
lauten Orange« spricht Georg Jakob Wolf 1914 im Zusammenhang mit einem anderen Bild Kellers, in: Die Sommer-
sehenden Zeltsegels im verschollenen Werk überliefert: Es muss sich um ein Orange gehandelt
ausstellung der Münchner Secession, in: Die Kunst für Alle,
haben, dessen expressiv farbklangliche Wirkung heute nur erahnt werden kann.439
Jg. 29, !.August 1914, S. 481-491, hier S. 484.
166
Die Arena des Geschlechterkampfes
Abb. 29 Albert von Keller Die Liebe, 1907 öl auf Leinwand, 190 x 240 cm Verschollen
Wie weitere Bilder Kellers zeugt Die Liebe nicht bloss von einem Phantasma des Frauenbildes
jener Tage, sondern auch, und in erster Linie, vom damaligen Kunst- und Kulturbild.440 Kennt
der Betrachter die biblische Geschichte mitsamt ihren symbolistischen Implikationen nicht und erfasst er das Gesehene als realistische Schilderung der Liebe, so mag bei ihm der dringende Ver-
dacht aufkommen, dass Weiblichkeit durchaus über verletzendes Potential verfügen kann und
er sei das nächste Opfer - der Frau, der Liebe oder von beiden. Morbid knisternde Erotik am Vorabend des Ersten Weltkrieges im Spannungsfeld zwischen Realismus, Symbolismus und Abstraktion inszeniert Albert von Keller 1912 in seiner fausti-
sehen Höllenfahrt (Kat. 118), der Blüte eines moribunden Zeitalters. Das Feuer wird zur Metapher für laszive Todessucht, verzehrende Leidenschaft und flammende Liebe: Im Gegensatz zu
Hexenschlaf (Abb. 10) ist die Protagonistin dieser malerischen Desintegrationsetüde eine Femme fatale. Die Farbe des Feuers erinnert an Glut, die alsbald zischend zu Asche verfallen wird; Glut-
asche, die in jedem Requiem evoziert wird. Sowohl im Dies Irae als auch im Lacrimosa 1st es die glühende Asche, die favilla, die alles Zeitliche zunichte macht und aus der die Welt dereinst
auferstehen wird, um gerichtet zu werden, was die Imagination des Rezipienten auf suggestive
Art berührt. »Niemand möchte glauben, dass die jüngsten Bilder Kellers« - Camilla Eibenschiltz (Kat. 124) oder Höllenfahrt (Kat. 118) - die Arbeiten eines im siebten Jahrzehnt seines Lebens **° Diesbezüglich sei hingewiesen auf Dijkstra 1986, S. 400-401.
Dort wird Kellers Bild besprochen und m. E. überinterpretiert.
stehenden Malers seien, schreibt Hans Rosenhagen 1912: »Wie modern muten sie an! Von wel-
♦*’ Rosenhagen 1912, S. 23.
eher lebendigen Sinnlichkeit, von welchem Reichtum an Kraft zeugen sie!«441
Vor lauter Liebe den Kopf verloren
167
Tanz- und Bildvariationen Tänzerin in Weiss, um 1897 (Kat. 119), zeigt entgegen der geläufigen Meinung nicht Madeleine
Guipet; die künftige Keller-Forschung wird die Schöne im Schleiergewand vielleicht mit einer
Tanzheroine im Umkreis von Lo'ie Fuller (1862-1928)4'·2, wenn nicht gar mit dieser selbst identifizieren können. Soweit heute in Erfahrung zu bringen ist, scheint sich die internationale Kar-
riere der von Keller um 1908 gemalten, um 1876/80 in Sevilla geborenen Tänzerin Rosario Guerrero'M (Kat. 120) auf die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts beschränkt zu haben. Aufsehen
erregte sie in einer von George W. Byng arrangierten Version von Bizets Femme fatale-Oper Carmen als Tanzpantomimin. Viele Bewunderer lagen ihr zu Füssen. Eine Affäre mit König Leopold von Belgien wurde ihr nachgesagt. Als sie Paris verlassen habe, sollen ihr drei junge Edel-
leute nach Wien gefolgt sein, von denen der eine dann Selbstmord beging und die beiden übri-
gen sich gegenseitig im Duell umbrachten. Im Gegensatz zu weiteren Tänzerinnen stand die Guerrero jedoch nicht im Ruf einer grand horizontale. Laut Mitteilung einer amerikanischen
Presseagentur von 1906444 hatte sich »die berühmte Guerrero« ins Irrenhaus getanzt. Durch exzessives Tanzen wahnsinnig geworden, habe sie in eine Wiener Nervenheilanstalt eingeliefert
werden müssen. Dort tanze sie unentwegt, stehe mitten in der Nacht von ihrem Bett auf um zu tanzen, bis sie vor Erschöpfung zu Boden falle. 1912 trat sie wiederum in Paris auf, danach ver-
lieren sich ihre Spuren.445 Friedrich August von Kaulbach malte von 1903 bis um 1908 sechs
Bildnisse der Guerrero.446 Otto Julius Bierbaum (1865-1910) sah die Tänzerin im Deutschen Theater in München. In seiner Kleinelnl Reise berichtete er: »Indessen vertrieb die himmlische Rosario Guerrero, die wirk-
lieh ein Rosenkranz von Schönheit, Grazie und Kunst genannt werden darf, alle schwarzblütigen Anwandlungen. Alle Gnaden, mit denen der Himmel die romanischen Völker ausgezeichnet hat, sind über sie ausgegossen. Alles an ihr ist lauterste Schönheit, und zwar, mit Feurbach zu
reden, »Schönheit mit lebendigem Inhalt». Es erscheint wie ein unbegreifliches Wunder, dass
derlei Offenbarungen sich in ihrer Reinheit erhalten können, obwohl sie täglich produziert, zur Schau gestellt werden. Es gibt in der Kunst eine unbefleckte Empfängnis.«447 Wie Albert von
Keller Kreuz und Frauenakt kombiniert, lässt sich Bierbaum zu einer Rosario-Wortspielerei um katholischen Rosenkranz und weibliche Schönheit hinreissen. Auch als Akt hat Keller Rosario Guerrero (1908) gemalt448 - im Format einer kleinen Pochade
und weit skizzenhafter, offen im Stil -, eine Variation zum exotisch-spanischen Thema: Man kommt nicht umhin, an Francisco de Goyas um 1801 entstandenes, in der europäischen Ge-
dächtnis- und Traumwelt verankertes berühmtes Bilderpaar im Madrider Prado zu denken, an
Die bekleidete Maja und Die nackte Maja. John Singer Sargent, einer der bedeutendsten Portraitisten seiner Zeit, war 1886 nach London gezogen, wo er das Atelier von James Abbott
**2 Siehe Birnie Danzker 1995, wie Anm. 405. Dori zahlreiche Abb. mit der charakteristischen, das grosse weisse Schleierge-
wand in Schwung versetzenden Armhaltung.
McNeill Whistler übernahm und 1890 eines seiner berühmtesten Bilder malte, La Carmencitaw>,
**J Der Name ·Rosita Romero«, der bis anhin als Bildtitel galt,
mit dem er das Tänzerinnengenre massgeblich bereicherte. Als das Bild der 1868 in Ameria ge-
scheint auf einem Irrtum zu basieren; mündlicher Hinweis von
borenen spanischen Tänzerin Carmen Dauset 1891 in der Royal Academy ausgestellt wurde, löste es eine Sensation aus. Ein Kritiker sprach von »einer Schöpfung aus dem künstlichen Boden
Nico Kirchberger, Regensburg. Dezember 2008. *** Associated Press, Mai 1906.
**5 Angaben aus: www.rosarioguerrerospanishdancer.com.
des zur Neige gehenden Jahrhunderts, ein veritables >Fleur du Mal·, das Baudelaire entzückt
** ״Siehe Klaus Zimmermanns. Friedrich August von Kaulbach.
hätte«; einem weiteren kam das Werk »intensely modern« vor.450 Im folgenden Jahr wurde
1850-1920. Monographie und Werkverzeichnis, München
La Carmencita mit ähnlichem Erfolg in Paris ausgestellt und vom französischen Staat für das
1980, Kat. 287-292. **7 Siehe http://gutenberg.spiegel.de.
Palais du Luxembourg erworben. Ob es Albert von Keller gesehen hat, ist nicht bekannt. Von den
**1׳Siehe Müller 1981, Abb. 285; Rosenhagen 1912. Abb. 115 als
berühmten Tänzerinnen jener Zeit zirkulierten Fotografien und Postkarten, die von den Malern
weiteres Bild der (bekleideten) Tänzerin.
zu ihren Bildschöpfungen gern beigezogen wurden, selbst wenn sie die Diven aus eigener An-
**’ Heute im Musöe d’Orsay, Paris. Vgl. Richard Ormond und
schauung kannten. Wie das Hemmungslose in ihrem Auftreten, das jegliche Konvention zu
Elaine Kilmurray, John Singer Sargent. Potraits of the 1890s. Complete paintigs, Bd. 2, New Haven/London 2002, Nr. 234,
sprengen schien, hatten es die wilden Blicke dieser »feurigen« Spanierinnen halb Europa an-
S. 19-23.
getan.
450 Beide Zitate ibid., S. 22.
168
Carmen · Ein Rosenkranz von Schönheit
Ein Reflex des sich im Umfeld von Lebensreform451 und Freikörperkultur452 verändernden Frauenbildes um 1900 findet sich in Kellers Freiluftbild In den Dünen von 1908 (Kat. 121). Als habe sie sich von Enge und Staub des Salons, von spiritistischen Seancen sowie vom Korsett endgültig befreit, hat sich eine Frau ins Freie begeben, um nackt am Strand zu turnen, sich tief at-
mend und lichtbadend der neu erlangten Freiheit erfreuend. In diesen Jahren des Aufbruchs zu neuen künstlerischen Ufern entstanden auch die von jugendlichem Elan durchbebten Natur-
bilder der expressionistischen Brücke-Maler. Es ging sozusagen um nichts weniger als um die
Erlösung von der Zivilisation und das Wiedererlangen einer durch die Entwicklung der Kultur
verschütteten gymnastisch-musischen Bildung; manche spürten ein innig sehnendes Verlangen nach Vereinigung mit dem Unendlichen. Ein harmonisches Gleichgewicht von Körper, Geist und Seele wurde angestrebt; in tänzerischem Gestus wurde die Gestaltung der Bewegung im
Raum thematisiert.
Im Vergleich zu dem frühen romantischen Akt am Strand (1874, Kat. 23) lässt sich die von Keller und seiner Generation durchlaufene Entwicklungsspanne ermessen; dass Keller von den Revolutionen im Menschenbild um 1900 Notiz nahm und sie in sein Werk aufnahm, spricht für
seine Flexibilität. Die weiblich-ekstatische Gebärdensprache, die ihn seit den 1880er Jahren fessehe, wird weiterentwickelt und modernisiert. Charakteristisch für ihn ist jedoch, dass er nicht
Pleinair malte, sondern im Atelier, und sich bei der ponderierten Pose der Protagonistin zu-
rückerinnerte an das wandlungsfähige Prinzip des Borghesischen Fechters (Kat. 4), den er 1867 in mehreren Ansichten gezeichnet hatte, und, auch hier variationsfreudig, an Fragonards La
Poursuite von 1773455, die ihm in seiner frühen Rokoko-Begeisterung kaum entgangen sein
dürfte. Allerdings wird deutlich, dass sich die Grazie des Rokoko nun endgültig verflüchtigt hat.
Dass Keller zudem noch einen kurzen Blick auf Ferdinand Hodlers Figurenmalerei geworfen hat, ist nicht nachzuweisen, doch wahrscheinlich. Immerhin war Hodler 1904 Mitglied der 451 Sehr umfangreiches Material bietet dazu: Die l.ebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900,
Münchner Secession geworden.454
hrsg. von Kai Buchholz u.a., (Ausst.Kat. Mathildenhöhe Darm-
Ob der bedeutende tschechische Fotograf Frantisek Drtikol, der von 1901 bis 1903 die Lehr-
Stadt), 2 Bde., Darmstadt 2001; siehe auch: Renate Foitzik
und Versuchsanstalt für Photographie in München besucht hat und als deren begabtester Schü-
Kirchgraber, l.ebensreform und Künstlergruppierungen um
ler gilt, mit Albert von Kellers Kunst in Kontakt gekommen ist, bleibt noch zu klären. Seine 1913
1900, Zürich 2005. 452 Dass gerade auch Maler an der Freikörperkultur Gefallen
in Prag entstandenen Zwei Akte in dynamischer Pose (Abb. 30) scheinen zumindest nicht da-
fanden, lässt sich auch mit ihrer Erfahrung mit dem nackten
gegen zu sprechen. Ein Wortspiel mit ma belle könnte der Name der Tänzerin in Mabel in Bar,
Körper ausserhalb des Bereichs der Erotik im Rahmen ihrer
um 1910 (Kat. 122), sein; mit dieser Tafel hat Keller die Möglichkeiten seiner Rotmalerei er-
akademischen Aktzeichnungen und, in künstlerischer Reife,
weitert.
als Aktmaler erklären. 4M Frick Collection, New York. Eine weitere Inspirationsquelle
könnte noch liegen in: Guido Reni, Atalanta und Hippomenes,
1618/19, Museo Nazionale di Capodimonle, Neapel.
454 Über die symbolistischen Wurzeln, die von der Lebensreform herrührenden Aspekte und das moderne Bewegungs-
Eine von Kellers hinreissendsten, gleichsam in einen Sog hymnischer Freude ziehenden Bilderfindungen ist das 1909 entstandene Gemälde Camilla Eibenschütz als Myrrhine in »Lysistrata« (Kat. 124).455 Dem Betrachter wird die Rolle eines sich in Liebe verzehrenden Mannes zu-
gewiesen. Es ist, als schwinge pure Lebensfreude mit - la joie de vivre. Im zwanzigsten Jahr des
Vokabular der Hodlerschen Figurenmalerei siehe: Verena
Peloponnesischen Krieges (411 v. Chr.) uraufgeführt, gehört Lysistrata zu den bekanntesten Ko-
Senti-Schmidlin, Der rhythmisch bewegte Körper. Die Figu-
mödlen des griechischen Dichters Aristophanes. Das pazifistische Stück thematisiert den Kampf
renmalerei von Ferdinand Hodler im Kontext der Tanz-
der Frauen gegen die Männer als Verursacher von Krieg. Unter Führung von Lysistrata beset-
erneuerung um 1900, in: Katharina Schmidt, in Zusammenarbeit mit Läszlö Baän und Matthias Frehner (Hrsg.),
zen die Frauen Athens die Akropolis. Dort wollen sie sich ihren Männern so lange verweigern,
Ferdinand Holder. Eine symbolistische Vision (Ausst.Kat.
bis diese endlich Frieden schliessen. Die Spartanerinnen gehen ähnlich vor. Der Streik droht
Kunstmuseum Bern/Szepmüvöszeti Muzeum, Budapest), Ost-
mehrmals gebrochen zu werden: Liebestolle Frauen versuchen, doch zu ihren Männern zu ge-
fildern 2008, S. 167-171, Anm. S. 385.
langen, und diese wiederum, die Burg zu erstürmen. Schliesslich führt der Liebesentzug zum Er-
'■ ״Im Zusammenhang von Dynamik und mitreissender Ener-
gie darf hier ein Hinweis nicht fehlen: 1905 fuhr Albert von Keller mit Albert von Schrenck-Notzing in dessen Automobil von Paris nach München. Zu dieser gleichsam präfuturistischen Reise bemerkte Rosenhagen 1912, S. 96: ·Diese 1000-
folg und es kommt zum Frieden.
Ihren Eid vergessend, eilt die friedensbewegte Myrrhine in Kellers Bild freudig ihrem Gatten Kinesias zu. Von ihr berichtet Lysistrata dem Kinesias, ob sie nun ein Ei oder einen Apfel esse,
stündlich führe sie ihn im Munde und wünsche sich ihn herbei. Dieser wiederum gibt seinem
Kilometerfahrt in zwei Tagen dünkt ihn eines der anregendsten Ereignisse seines Lebens, besonders wegen der dabei
Verlangen mit den Worten »welch ein Zucken, welch ein Spannen und Ziehn« Ausdruck, for-
empfangenen malerischen Eindrücke.«
dert Myrrhine zum Heimkommen auf und fragt sie: »Wie lang schon hast du Aphrodites Nacht-
Lebensreform und Freikörperkultur
169
119 Tänzerin in Weiss, um 1897 Öl auf Leinwand, 145 x 98 cm
120 Rosario Guerrero, um 1908 Öl auf Holz, 54 x 36 cm
121 In den Dünen, 1908 Öl auf Leinwand, 49,5 x 73 cm
122 Mabel in Bar, urn 1910 Öl auf Holz, so x 61,s cm
123 Im Ballsaal, um 1910 Öl auf Leinwand, 113 x 49,5 cm Privatbesitz
124 Camilla Eibenschütz als Myrrhine in »Lysistrata«, 1909 Öl auf Leinwand, 72,5 x 49 cm Privatbesitz
125 Im Schleiergewand (Anni Söldner), um 1910 Öl auf Holz, 43 x 22,5 cm
126 Tanzende im Grünen (Anni Söldner), um 1918 Öl auf Leinwand, 71,5 x 33,5 cm
fest nicht mitgemacht?«, worauf Myrrhine die Bedingung stellt: »Niemals, bei Zeus, wenn ihr den Krieg nicht endigt und Frieden macht!«456
»Mir hat besonders das Bildnis der Schauspielerin Eibenschütz als Lysistrata gefallen: es gibt nicht, wie es bei Schauspielerinnenporträts
sonst meist der Fall ist, eine Pose, sondern es ist bewegtes Leben«, schrieb Georg Jacob Wolf 1910 angesichts des in der Internationalen
Ausstellung der Münchner Secession ausgestellten Gemäldes. Über-
haupt beurteilte er Kellers elegante »Frauenbilder« sehr positiv. Sie seien »von blendendstem Charme und ohne eine Spur von Süsslich-
keit«.457 Hans Rosenhagen betonte 1912 die akustische Komponente des Bildes: In ihrer Farbe bringe die Malerei den Jubel, »die übermü
tigen Schreie, die tosende Freude, mit der auf Reinhardts Bühne die Ankunft von Myrrhinens Gatten [...] begrüsst wird«.458 Ein weiteres Eibenschütz-Bild gebe »in unübertrefflicher Weise die Schelmerei« Lysistratas wieder, »mit der sie die Liebesgier ihres Gat-
Abb. 30 FrantiSek Drtikol (1883-1961) Zwei Akte in dynamischer Pose, 1913 Fotografischer Öldruck, 14 x 24,4 cm Kunstgewerbemuseum Prag
ten« stachle und ihn zum Aufgeben seiner kriegerischen Pläne bringe.459 Bei der 1906 von Max Reinhardt inszenierten Uraufführung von Frank Wedekinds Frühlings
Erwachen an den Berliner Kammerspielen hat die Eibenschütz die Rolle der Wendla gespielt. In
seiner Rezension schrieb Siegfried Jacobsohn, man geniesse dankbarst die unendliche Feinheit,
mit der die Schauspielerin jedem Wort und jeder Situation, sei sie heiter, sei sie ernst, zu ihrem
Recht verhelfe, und sprach von »scheuen, herben, keuschen, sehnsüchtigen Bewegungen«.460 Kurt Martens zur gleichen Aufführung: »Camilla Eibenschütz sah als Wendla entzückend aus,
kokettierte in echter Kindlichkeit und sprach ihre flehenden Fragen nach dem Rätsel der Geburt nicht weniger zu Herzen als im Krankenbett die verzweifelten nach den Gründen ihrer ׳Bleich-
sucht«.«461 Ein leidenschaftlicher Tänzer muss Albert von Keller selbst gewesen sein. Eduard Engels schreibt 1899, des Malers Hand zittere nicht vor den eleganten Damen, »die sie Dutzend Male
zum Tanze geführt«.462 Dies vermeint man im Gemälde Im Ballsaal (Kat. 123) zu spüren, einem
mit jenem Brio vorgetragenen Tanzbild, das in seinem reichen Kolorismus für Kellers Stil um
1910 repräsentativ ist. Wie sehr Keller die Tanzgeste verinnerlicht hatte, zeigen Bilder, in denen er sie bei Modellen als Motiv einführte, die nicht Tänzerinnen waren, wie bei/m Schleiergewand oder der Tanzenden im Grünen (Kat. 125,126).
Altersstil und Jugend Der Maler ist älter geworden, die Modelle nicht. Nach dem Erfolg seiner grossen Einzelausstel-
456 Aristophanes, Lysistrata, 4. Szene. 457 Georg Jacob Wolf, Die internationale Ausstellung der
lung von 1908 in der Münchner Secession erlebte Albert von Kellers Malerei abermals eine auf
Münchner Secession 1910, in: Die Kunst für Alle, Jg. 25,1910,
ihre Art »hochaktuelle« Transformation. Das Spätwerk weist typische Züge eines in die Jahre ge-
S. 457-467, 460-461.
kommenen Meisters auf, dem die Freiheit viel bedeutet und der niemandem mehr etwas zu be-
458 Rosenhagen 1912, S. 102.
weisen braucht. Eines seiner letzten grossen Bilder ist Hermine Bosetti von 1913 (Kat. 129), ein Werk, in dem das Dekorative das gesamte Bildfeld erfasst und ein schönes Fliessen der Formen
zu beobachten ist. Die beiden in Erinnerung des 1874 zu Beginn seines Künstlerlebens entstandenen romantischen Aktes am Strand (Kat. 23) geschaffenen Akte von 1913 (Kat. 130,131) legen
459 Ibid. 460 Siegfried Jacobsohn, Von Brahm und Reinhardt, in: Die
Schaubühne, 2,1906, Bd. 2, S. 564-565; zit. nach: www.wedekind.fh-darmstadt.de.
46 יKurt Martens, Wedekind bei Reinhardt, in: Die Gegenwart, Jg. 55, Bd.70, 1906, S. 340-341; zit. nach: www.wedekind.fh-
noch einmal Pole der Kellerschen Poetik offen: die Frau und den Traum. Das eine Mal, wenn-
darmstadt.de.
gleich kaum auf Matisse, so doch selbstreflexiv auf neue Tendenzen in der Malerei reagierend,
462 Eduard Engels, im Atelier Albert von Kellers, in: Münche■
wie sie in München etwa der Scholle-Maler Leo Putz (1869-1940) vertrat, das andere Mal sei-
ner Zeitung, 8. Dezember 1899, in: Urteile 1900, S. 4-8, hier
ner okkult-visionären Materialisationsader entsprechend.
S. 5. - Zu Im Ballsaal (Kat. 123) existiert eine kleinere Vorstudie in Schweizer Privatbesitz.
Beim Modell der Javanerin in Takka (Kat. 136) von 1917 dürfte es sich, wie meist in Kellers
Alterswerk, ebenfalls um Anni Söldner463 handeln: Die Münchnerin schlüpfte in den Habitus
178
Bewegtes Leben
465 Zu Anni Söldner siehe Nico Kirchberger im vorliegenden
Katalog, S. 198-199.
einer Javanerin; immerhin hat Keller das junge Modell um 1918 auch Im ungarischen Kostüm gemalt.'·64 Ungeachtet der Unterschiede im Impetus gemahnen Südsee-Exotik, expressiver Mal-
duktus sowie die Tendenz, Bild- und Farbfläche zu verschmelzen, an Werke deutscher Expressionisten: Max Pechstein sei an dieser Stelle erwähnt. Angesichts des neuartig spontanen und experimentellen Umgangs mit Farbe - und abermals
mit Schwarz - in spät entstandenen Werken Kellers wie dem Takka-Bild oder In Gelb (Kat. 136,
137) wird verständlich, was die damalige Kritik meinte, als sie den Akzent auf Kellers Jugendlichkeit legte und betonte, er sei jung geblieben; der alte Maler sei jünger als manche der Jun-
gen. So bezeichnet Georg Jacob Wolf den Künstler noch 1918 als zu den »Kerntruppen der Se-
cession» gehörend.465 1915 hatte derselbe Autor konstatiert, man freue sich, »dass von Albert von Kellers Werken immer noch der Hauch einer jugendlichen Kühnheit«466 ausgehe, und 1916: «... im Verein mit der Jugend scheinen die Führer und Gründer der Secession selbst wieder jung
geworden zu sein, scheinen so etwas wie eine Nachblüte zu erleben!« und man habe bei Ha-
bermann und Keller »den Eindruck des Aufschwungs, einer Wiedergeburt, des Sich-Bewusstwerdens der künstlerischen Verpflichtung, die Name und Führerschaft auferlegen«.467
Das letzte bekannte Werk Albert von Kellers ist die 1920 datierte Zeichnung eines Aktes (Abb. 36) im Gästebuch von Habermann, ein Frauenakt, nach der Natur aufgenommen oder vielleicht aus dem Gedächtnis ans Licht geholt und zu Papier gebracht. Wenig später hielt Habermann 464 Verschollen; siehe Müller 1981, Abb. 220.
(siehe Kat. 34) die Trauerrede auf seinen langjährigen Freund und künstlerischen Weggefährten,
465 Georg Jacob Wolf, Die Münchner Sommerausstellungen
worin er Kellers Wesen wie folgt charakterisierte: »Dieser merkwürdige Mann mit dem gemes-
1918, in: Die Kunst für Alle, Jg. 23, 1918, S. 409-436, hier
senen Äussern des Weltmannes und der glühenden Seele des Künstlers, oft sprunghaft infolge
5.426. 466 Georg Jacob Wolf, Die Sommerausstellung der Münchner
der Kompliziertheit seines Wesens, für Fernerstehende unnahbar und unergründlich, vereinigte
Secession, in: Die Kunst für Alle. Jg. 30,1915, S. 417-432, hier
mit der Schärfe des Verstandes das Innenleben des Träumers, mit universeller Bildung den
5.427.
Hang zu mystischer Versenkung, mit einer übergrossen Empfindlichkeit für die Schönheit sei-
467 Georg Jacob Wolf, Münchner Sommerausstellungen. I. Aus-
ner Umgebung die Fähigkeit, materielle Freuden durch kritisches Geniessen zu vergeistigen und
Stellung der Secession, in: Die Kunst für Alle, Jg. 31, 1916, S. 405-426, hier S. 406, 409.
zugleich den Schmerz über herbe Schicksalsschläge hinter der glatten Maske des Lebemannes
468 Schrenck-Notzing 1921, S. 194.
zu verbergen.«468
Kritisches Geniessen und Freiheit
179
127 Clara von Soden / Dame im Park, stehend, 1911 Öl auf Leinwand, 81 x 42 cm
128 Dame am Brunnen, eine Statue bekränzend, um 1918 Öl auf Leinwand, 81,5 x 42,5 cm
129 Hermine Bosetti, 1913 Öl auf Leinwand, 150,5 x 100 cm
130 Liegender Akt / Traum am Strand, um 1913 Öl auf Leinwand, 50 x 72 cm
131 Liegender Akt, 1913 Öl auf Leinwand, 49,5 x 72,5 cm
132 Bildnis Marie Hertle, 1913 Öl auf Holz, 35 x 26,5 cm
133 Mit entblösster Brust (Anni Söldner), um 1914 Öl auf Holz, 32 x 24 cm
134 Eva (Anni Söldner), 1915 Öl auf Holz, 60 x 29 cm
135 In Weiss (Anni Söldner), um 1917 Öl auf Holz, 32 x 24 cm
136 Javanerin in Takka, 1917 Öl auf Holz, 36 x 25,5 cm
137 In Gelb (Anni Söldner), um 1918 Öl auf Holz, 36x26 cm
Nico Kirchberger
»Wer wüsste nicht, wer Albert Keller in München ist...« Albert von Keller im Münchner Künstlermilieu
Die Gründung der Akademie der bildenden Künste vor zweihundert Jahren, 1808, machte München im 19. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten Kunstmetropolen in Europa. Der Ruf von
glänzenden Lehrern wie Peter Cornelius (1783-1867), Wilhelm von Kaulbach (1805-1874) oder
Carl Theodor von Piloty (1826-1886) zog Schüler aus aller Welt an und machte die Münchner Schule zur ersten Adresse in Deutschland. Auch Albert von Keller war Mitglied der Akademie.
1866 war er bei Johann Georg Hiltensperger (1806-1890) in der Zeichenklasse eingeschrieben.1 Der üblichen Ausbildung entsprechend, zeichnete man nach Aktmodellen und nach Gips-
abgüssen antiker Statuen (Kat. 1-4), wodurch das Gefühl für die Proportionen des menschlichen
Körpers geschult und der Umgang mit diversen diffizilen Haltungsposen erprobt werden sollte. Entgegen Kellers eigener Behauptung, Autodidakt gewesen zu sein, ging seine Ausbildung
wohl gewöhnlicher vonstatten, als es der Selbstmythologisierung seiner künstlerischen An-
fange entsprach.2 So hat auch sein Biograph Hans Rosenhagen bereits darauf hingewiesen, dass kein Meister vom Himmel fällt.3 Schon früh erhielt Keller zusammen mit Adolf Oberländer (1845-1923) Unterricht im Zeichnen.4 Während Letzterer später zu einem der gefeiertsten Ka-
rikaturisten Münchens aufstieg, ist Keller durch sein graphisches Werk nicht hervorgetreten. Entgegen vieler seiner zeitgenössischen Künstlerkollegen hat er sich nicht der Karikatur zu-
gewendet, obwohl sich diese im 19. Jahrhundert als eigenständig etabliertes künstlerisches
Medium gerade in München besonderer Beliebtheit erfreute. In den satirischen Wochen-
Zeitschriften Simplicissimus oder Jugend fand sie ein vielbeachtetes Präsentationsforum. 1 Matrikelnummer 02225, Albert Keller, Matrikelbuch 1841-
1884, fotografische Aufnahme auf: http://matrikel.adbk.de/־ 05ordner/mb_1841-1884/jahr_1866/matrikel 02225 (Zugriff
1868 trat Keller in das Atelier Arthur von Rambergs (1819-1875) ein, das sich im Gebäude der
Akademie befand. Seine Beziehung zu Ramberg beschrieb Keller selbst als »nicht normales«
vom 9.12.2008). Zu Kellers Zeichnungen siehe Müller 1988,
Lehrer-Schüler-Verhältnis; generell erhält man den Eindruck, dass Ramberg für ihn eher einen
S. 78-85.
väterlichen Freund darstellte.5 Keller berichtet, dass er im Atelier beinahe täglich Kontakt zu an-
’ Albert von Keller in einem Brief an Fritz von Ostini, BSB Mün-
deren und vor allem älteren Professoren wie Moritz von Schwind, Wilhelm von Kaulbach und
chen, Ostiniana IX, Keller, Albert v., publiziert in: Fuhr 2004,
S.571.
Carl Theodor von Piloty hatte.6 Der berühmteste Ramberg-Schüler war sicherlich Wilhelm Leibi,
J Rosenhagen 1912, S. 16.
mit dem Keller zu dieser Zeit freundschaftlich verkehrte. Mit dem gleichaltrigen Künstlerkolle-
* BSB München, Ostiniana IX, Keller, Albert v., vgl. Fuhr 2004,
gen unternahm er häufig weite Spaziergänge über das Land, um nach geeigneten Motiven zu su-
S.571.
5 »Als ich später |...| zu Ramberg kam, war ich als Maler so-
chen, wobei Keller aber nie dem sogenannten Leibi-Kreis - der berühmtesten reinmalerischen
weit, dass ich zu letzterem |...| fast mehr in einem Freund-
Gruppierung dieser Zeit im deutschen Sprachraum - angehörte. Da jedoch gerade aus der Ram-
schafts- als Schulverhältnisse stand «, in: Berlepsch 1897.
berg-Schule der Kern des Leibi-Kreises stammte,7 konnte sich auch Keller dieser Kunstauffas-
Anm. S. 199. Siehe auch Rosenhagen 1912, S. 16. Nach dem
Tod Rambergs hielt Keller weiterhin eine freundschaftliche Beziehung zu Mathilde (Mimi) von Ramberg (1860-1919)
sung nicht gänzlich entziehen. Bildnisse wie Altdeutsche Frau8 oder Deutsche Frau mit weissem Kopftuch (Abb. 31) zeugen davon und lassen sich mit entsprechenden Werken Leibis
aufrecht, die er 1881 auch porträtierte, siehe Müller 1981,
vergleichen. Generell und auf Dauer konnte sich Keller aber nicht mit der Lebensweise und den
Abb. 238.
Kunstvorstellungen des rustikalen Realisten Leibi anfreunden. Landschaftsmalerei oder Bild-
6 BSB München, Ostiniana IX, Keller, Albert v., vgl. Fuhr 2004,
nisse der einfachen Leute aus dem Volk waren nicht seine Sache und spielen daher in seinem
S. 571.
7 Uhde-Bernays 1927, S. 134: »Der Schluss liegt nahe, die Ram-
bergschule mit dem kleineren Leibikreis zu identifizieren.« Ro
senhagen 1912, S. 25, berichtet von Kellers Bekanntschaft mit anderen Künstlern des Leibi-Kreises wie Rudolf Hirth du
CEuvre eine untergeordnete Rolle.
Auch das Zusammentreffen mit Gustave Courbet, dem international bedeutendsten Vertreter des Realismus, hatte auf Keller weniger inspirierend gewirkt, als man hätte annehmen können.
Courbet hielt sich während der I. Internationalen Kunstausstellung 1869 in München auf. Nicht
Frenes, Karl Haider und Theodor Alt.
8 1884, Öl auf Holz, verschollen, siehe Müller 1981, Abb. 71.
ohne einen gewissen Stolz schrieb Keller an Hans Rosenhagen in einem Brief: »Er arbeitet[e] bei
9 BSB München, Rosenhageniana III, 1,14v.
mir in Rambergs Atelier.«9 Des Weiteren bedauerte er jedoch, dass Courbet in dieser Zeit künst
Eine der bedeutendsten Kunstmetropolen in Europa
189
lerisch nur wenig gelang und er von ihm nichts lernen konnte, was angeblich vor allem daran
gelegen hat, dass der Franzose sich einem allzu vertieften Studium des bayerischen Bieres zugewandt hatte.10
Die I. Internationale Kunstausstellung in München war ein voller Erfolg. Hier wurden neben Combets Steineklopfer", das zum ersten Mal auf deutschem Boden gezeigt wurde, auch Werke
von Camille Corot und Edouard Manet ausgestellt.12 Überhaupt waren öffentliche Kunstaus-
Stellungen im 19. Jahrhundert von enormer Bedeutung, nicht nur für die ausstellenden Künst-
ler, die sich hier einen Namen machen, neue Käufer finden und somit auch die Preise für ihre Kunst erhöhen konnten. Sie stellten zudem gesellschaftliche Grossereignisse dar, die in der Publikumsgunst nur von den Weltausstellungen jener Zeit übertroffen wurden. Eben gegen die
akademisch geprägte Salonmalerei der schönen Oberflächen und der gefälligen Sujets, die auf diesen Ausstellungen die grössten Erfolge feierte, opponierten die Kunst Courbets und der Realisten, auch Manet und später die Impressionisten. Dass die Kunstgeschichte des 20. Jahr-
hunderts lange Zeit gerade diese beiden »Avantgarden» pries und die Salonmalerei als scheinbar rückständig und oberflächlich vernachlässigte, wird diesem Kunststil gewiss nicht gerecht.
Obwohl Keller also in den prägenden Jahren seiner Künstlerkarriere teilweise in engem Kon-
takt mit zwei der wichtigsten Vertreter des Realismus - Leibi und Courbet - stand, zeigte er sich
von diesem Stil recht unbeeinflusst. Im Gegenteil orientierte er sich zunächst an einer historisierenden Salonmalerei. Dazu animierten ihn sicherlich Studienreisen, die er zusammen mit
Ramberg unternahm und die ihn unter anderem nach Venedig führten, um vor Ort Tizian und
Veronese zu studieren.15 Von den Venezianern liess sich der junge Keller ebenso inspirieren wie von der altdeutschen Renaissancemalerei eines Dürer oder Holbein d. J. und von der holländi-
sehen Malerei des 17. Jahrhunderts, so dass die altmeisterlichen Töne in seinem Frühwerk nicht verwundern. In seinem ersten, eben auf jener I. Internationalen Kunstausstellung in München ausgestellten Werk Faun und Nymphe'1· lässt sich insbesondere die Wirkung der italienischen
Vorbilder erkennen. Allerdings zeigt gerade dieses Bild eine Nähe zu einer anderen zeitgenössischen Künstlergrösse, gegen dessen stilistischen Einfluss Keller bei Weitem nicht so unempfänglich war wie gegenüber den Realisten. Dabei handelt es sich um seinen Schweizer Lands-
mann Arnold Böcklin, mit dem er während dessen Münchner Zeit (1871-1874) auch in direktem
künstlerischen Austausch und in freundschaftlichem Kontakt stand.15 »Man spürt bei Böcklin
10 Rosenhagen 1912, S. 32.
den Deutschen, ich möchte sogar sagen, den Schweizer heraus«,16 schreibt Keller in einer Zeit,
111849, vormals in Dresden, Gemäldegalerie, 1945 zerstört.
in der das nationale Wesen der Kunst Debatte war. Er ergreift hier explizit Partei für »die deut-
12 Noch viel wichtiger - vor allem im Hinblick auf Kellers künstlerische Entwicklung - erscheint mir Courbets ebenfalls
sehe Kunst« und führt dafür Böcklin als Musterbeispiel an, vor allem dessen Landschaften, die
ausgestelltes Gemälde Die Somnambule (um 1855, Öl auf Lein-
von tiefgründigen Empfindungen hervorgerufen würden, »die mit den Rätseln der eigenen Seele
wand, 47 x 39 cm, Musöe des Beaux-arts et d’archöologie. Be-
in direktester Beziehung stehen«.17 Es ist also vor allem die Fähigkeit, das Sentimentale und das
sancon), dessen Wirkung auch den Frankfurter Maler Victor
Kontemplative darzustellen, was Keller hier nicht als romantisches Empfinden bezeichnet, son-
Müller (1829-1871) inspirierte. Corot stellte zwei Landschaften aus, während von Manet ein Bettler-Philosoph und der Spa-
dem als spezifisch deutsches. An der französischen Kunst lobt er zwar den Chic, der der deut-
nische Sänger (\860, heute Metropolitan Museum of Art, New
sehen abgehe, findet diesen aber grundsätzlich künstlich und konstruiert und daher oftmals zu
York) zu sehen war. Siehe Katalog /. internationale Kunstaus-
Recht dem Vorwurf der inhaltlichen Oberflächlichkeit ausgesetzt.18
Stellung im Königlichen Glaspalaste zu München, 20.7.-
31.10.1869, München 1869.
13 Rosenhagen 1912, S. 22. '* Siehe Müller 1981, Abb. 22.
Der »Maler-Diplomat«19 und die Kunstpolitik
15 Vgl. Wichmann 119871, S. 14. Häufig soll Böcklin in der Wohnung Kellers zu Gast gewesen sein. Wichmann vermutet
weiterhin, dass man sogar zusammen an dem Gemälde Sieg
Durch die künstlerischen Entwicklungen in Frankreich wie die Freilichtmalerei der »Schule von
und Kunst der Verführung gearbeitet hat (auch als Mädchen
Barbizon«, Courbets »Pavillon du Realisme« zur Pariser Weltausstellung von 1855 sowie später
mit Kelch, Schlange und Lorbeerkranz bezeichnet, um 1873,
den »Salon des Refuses« (1863/64 und 1873) und den »Salon des Independants« (1884) ange-
Privatbesitz).
stossen, begannen die Vorstellungen eines neuen Kunstverständnisses auch nach München vor-
16 Berlepsch 1897, S. 199. 17 Ibid.
zudringen. In der Konsequenz war die Künstlerschaft Münchens in den letzten drei Jahrzehn-
18 Ibid., S. 198-199.
ten des 19. Jahrhunderts gespalten. Zwischen Tradition und Fortschritt, zwischen arrivierten
19 Wichmann 11987], S.13.
190
öffentliche Kunstausstellungen
Künstlergrössen und avantgardistischen Talenten taten sich immer grössere Differenzen in den künstlerischen Ansichten auf. So führte die Frage nach der Ausstattung der Münchner Säle auf der Wiener Weltausstellung von 1873 zur Gründung der »Allotria«, einer locker organisierten Künstlergesellschaft, die fortan neben der offiziellen Künstlergenossenschaft bestand und vor
allem wegen ihrer rauschenden Feste für überregionales Aufsehen sorgte. Fritz von Ostini
(1861-1927) hebt den Stellenwert der Allotria ganz besonders hervor: »Der Verein ist wohl die
glänzendste Künstlergesellschaft Deutschlands, vielleicht der Welt geworden, wenigstens was die Geselligkeit anlangt.«20 Neben den einheimischen Münchner Künstlern verkehrten hier auch
Auswärtige wie Max Klinger, Wilhelm Busch, Karl Stauffer-Bern oder Arnold Böcklin. So war die
Allotria weit mehr als ein blosser Stammtischverein für Künstler, die sich gegenseitig in äusserster Herzlichkeit aufs Korn nahmen: hier wurden Kontakte geknüpft und betrieb man Kunst-
politik, manchmal sogar im Kreise so erlauchter Gäste wie Otto von Bismarck (1815-1898) oder
dem kunstsinnigen bayerischen Prinzregenten Luitpold (1821-1912). Die Mitgliedschaft Albert von Kellers in der Allotria ist nachgewiesen, aber nur wenig doku-
mentiert. Karikaturen oder andere Zeugnisse seines Aufenthalts in diesem Kreis sind relativ selten, was nicht heissen muss, dass er dort nicht häufig zu Gast war. Gerade in jungen Jahren scheint er solch bierlaunigen Gesellschaften durchaus zugetan gewesen zu sein, was auch seine
Zugehörigkeit zu einer Münchner Studentenverbindung unterstreicht.21 Vielleicht wollte er sich Abb. 31 Albert von Keller Deutsche Frau mit weissem Kopftuch, 1884 öl auf Holz, 39 x 24 cm Ehemals Sammlung Georg Schäfer, Schweinfurt
aber bewusst aus dem oft recht derben, gegenseitigen Übereinanderherziehen heraushalten
und trat deswegen nicht als Provokateur oder Zielscheibe des Spotts auf. Überhaupt gewinnt
man den Eindruck, dass Kellers Charakter von einer respektvollen, oftmals geradezu reservierten Natur war, die ihn nur selten ins Rampenlicht trieb, ganz im Gegensatz zu etlichen seiner Künstlergenossen.
Knapp zwanzig Jahre nach Gründung der Allotria kam es erneut zu einem Bruch, dessen Konsequenzen jedoch weitaus einschneidender waren. Einige fortschrittliche Künstler revol-
tierten gegen die Institution der Münchner Künstlergenossenschaft, die ihnen mit ihren 1020
Mitgliedern als überlaufen erschien.22 Besonders ins Visier nahm man die Tatsache, dass sich
nur zwei Fünftel davon als aktive Künstler an den jährlichen Ausstellungen beteiligten. Die Aus-
Stellungspraxis an sich stand dabei im Mittelpunkt der Streitigkeiten. Man plädierte dafür, unbedingt weiterhin den internationalen Charakter der Ausstellungen zu gewährleisten und zukünftig eine qualitativ bessere Auswahl der Exponate vorzunehmen. Diese Gründe formulierte der Aufruf zur Gründung der neuen Künstlervereinigung vom 11. März 1892. Trotz der an sich 20 Fritz von Ostini, Die Münchner Allotria, in: Ein halbes Jahr-
klaren Lage wird in der Forschung gelegentlich noch immer darauf hingewiesen, dass das »tra-
hundert Münchner Kulturgeschichte, erlebt mit der Künst-
ditionsgebundene Kunstverständnis des gründerzeitlichen Malerfürsten Franz von Lenbach«23
lergesellschaft Allotria, München 1959. S. 12-32, hier S. 12 (zu-
und dessen Einfluss als Vorsitzender der Allotria in nicht geringem Masse zur Trennung von der
erst veröffentlicht in: Velhagen und Klasings Monatshefte, 1892).
Münchner Künstlergenossenschaft beigetragen habe. Diese Vermutung passt in das negative
21 Keller war während seines Jurastudiums dem Corps »Isaria«
Klischee Franz von Lenbachs (1836-1904) als reaktionärem Münchner Kunsttyrann.24 In der
in München beigetreten und nahm sogar den Posten des
Tat war Lenbach zu dieser Zeit die dominierende Gestalt unter den Münchner Künstlern. Dass
Seniors ein; siehe Rosenhagen 1912, S. 24.
sein fortschrittsfeindliches Kunstverständnis als Auslöser für die Spaltung der Münchner Künst-
22 Die Gründe sind im Folgenden dem Memorandum des Ver■ eins bildender Künstler Münchens entnommen, veröffentlicht
am 21.6.1892 in den Münchner Neuesten Nachrichten; siehe
lergenossenschaft gilt, scheint vielmehr von seiner Reaktion auf die Gründung der Secession ab-
geleitet. Lovis Corinth, Gründungsmitglied der Secession, formulierte dies in seiner süffisant-
Buhrs 2008, S. 20-23; vgl. Aufruf zur Gründung der neuen
bildlichen Sprache: »Er ILenbach] hatte das unangenehme Gefühl, dass seine Mitglieder hier
Künstlervereinigung, in: Hummel 1989, S. 15-17.
gegen seinen Glaspalast bösartig vorgehen wollten und deshalb donnerte er wie ein Jupiter auf
25 Best 2007, S. 10, verweist auf Harzenetter 1992, S. 134-150, obwohl eben dieser deutlich die Position vertritt, dass Len-
alle seine Untergebenen .. .«25 Die Angst, die Secessionisten würden die VI. Internationale Kunst-
bachs Persönlichkeit nicht der Auslöser für die Gründung der
ausstellung im Glaspalast 1892 boykottieren, erwies sich letztlich als unbegründet. Unter den
Secession war, vgl. S. 30-36.
dort ausstellenden Secessionisten war auch Albert von Keller mit einem aufsehenerregenden,
24 Siehe hierzu beispielsweise Uhde-Bernays 1927, S. 234.
heute verschollenen Gemälde, dem Martyrium der Hl. Julia.26
25 Lovis Corinth, Selbstbiographie, Leipzig 1926, S. 108-109. 26Illustrierter Katalog der VI. Internationalen Kunst-Ausstel-
lung 1892 im Kgl. Glaspalaste, Abb. 919.
Tatsächlich bemühte man sich vonseiten der Secession schnell um eine Aussöhnung mit Lenbach. Eine Karikatur aus der Kneipenzeitung der Allotria (Abb. 32) zeigt den Balanceakt eines
Allotria · Secession
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Künstlers - gemeint war Benno Becker (1860-1936), der sowohl Mitglied der Secession als auch der Allotria war und als Vermittler Lenbach schon bald wieder besänftigen konnte:27 Als Seiltänzer balanciert
er eine Stange, die seine Mitgliedschaft in beiden Vereinen symbolisiert: Die Secession ist dabei mit ihrem von Franz von Stuck geschaffenen
Emblem - dem Haupt der Athena - vertreten, auf der Gegenseite die
Allotria mit dem charakteristisch karikierten Haupt ihres Vorsitzenden Franz von Lenbach. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint die Be-
Ziehung Lenbachs zu Albert von Keller als besonders interessant, ja ge-
radezu aufschlussreich. Seit langem schon war Keller mit Lenbach befreundet; als früher Förderer soll dieser den Kontakt zu Ramberg
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