Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer: (1719-1800) 9783110250466, 9783484365056


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Table of contents :
Einleitung
Erster Teil: Rezeptionsgeschichte und Biographie
I. Rezeptionsgeschichte
1. Die letzten Dekaden: 1990–1966
2. Von 1966 bis zum Ersten Weltkrieg
3. Von 1912 bis 1893
4. Von 1892 bis 1880
5. Von 1879 bis 1841
6. Von 1840 bis 1800
7. Die Meinung der Zeitgenossen: vor 1800
II. Vita A.G. Kaestneri
1. Der Gelehrte
2.
Zweiter Teil: Kästners literarische Werke
I. Poesie
1. Lehrgedichte
2. Andere Gedichtgattungen
3. Epigramme
II. Prosa
1.
2. Satiren
3. Reden und Aufsätze
4. Rezensionen
Dritter Teil: Das wissenschaftliche Lehrgebäude
I. Kästners naturwissenschaftlicher Ansatz
1. Entwicklung des Kästnerschen Physikbegriffs
2. Kästners Selbsteinschätzung im Rahmen der deutschen Aufklärung
II. Die mathematischen Disziplinen
1. Die Mathematik und ihre Teile
2. Die vornehmste Disziplin: Astronomie
III. Wissenschaftsgeschichte
Schlußbemerkung
Vierter Teil: Quellen- und Literaturverzeichnis
I. Siglen
II. Quellen
1. Verzeichnis der Schriften A.G. Kästners
2. Briefverzeichnis
3. Schriften verschiedener zeitgenössischer Verfasser (bis 1800)
III. Sekundärliteratur (nach 1800 erschienen)
1. Zu Kästner
2. Allgemeine Forschungsliteratur
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Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer: (1719-1800)
 9783110250466, 9783484365056

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FRÜHE NEUZEIT Band 5

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Gotthardt Frühsorge, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann und Jan-Dirk Müller

Rätsel. Er ward in Leipzig geboren; der Stolz eines Königs der Briten, und das Wunder Deutschlands. Wer ist dies?

Auflösung. Unter den Toden war es Leibniz, unter den Lebendigen ist es Kästner. (G. C. Lichtenberg, Sudelbücher Β 407)

Rainer Baasner

Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer (1719-1800)

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Baasner, Rainer: Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer :(1719 - 1800) / Rainer Baasner. Tübingen : Niemeyer, 1991 (Frühe Neuzeit; Bd. 5) NE: GT ISBN 3-484-36505-6

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert Druck GmbH, Darmstadt

Inhalt

Einleitung

1

Erster Teil: Rezeptionsgeschichte und Biographie I. Rezeptionsgeschichte 1. Die letzten Dekaden: 1990-1966 2. Von 1966 bis zum Ersten Weltkrieg 3. Von 1912 bis 1893 . . ! 4. Von 1892 bis 1880 5. Von 1879 bis 1841 6. Von 1840 bis 1800 7. Die Meinung der Zeitgenossen: vor 1800 II. Vita A. G. Kaestneri 1. Der Gelehrte 2.

17 18 29 32 43 50 56 65 75 76 127

Zweiter Teil: Kästners literarische Werke I. Poesie 1. Lehrgedichte 2. Andere Gedichtgattungen a. Oden b. Parodien c. Fablen d. Elegien e. Poetische Texte in späteren Sammlungen (nach 1755)

3. Epigramme II. Prosa 1. 2. Satiren

165 166 298 300 321 335 344 356

358 383 386 397

VI 3. Reden und Aufsätze a. Entwicklung des Stils b. Entwicklung der Themen

425 426 445

4. Rezensionen

471

a. Stil b. Themen

481 501

Dritter Teil: Das wissenschaftliche Lehrgebäude I. Kästners naturwissenschaftlicher Ansatz 1. Entwicklung des Kästnerschen Physikbegriffs 2. Kästners Selbsteinschätzung im Rahmen der deutschen Aufklärung II. Die mathematischen Disziplinen 1. Die Mathematik und ihre Teile 2. Die vornehmste Disziplin: Astronomie III. Wissenschaftsgeschichte Schlußbemerkung

531 533 560 569 570 575 587 597

Vierter Teil: Quellen- und Literaturverzeichnis I. Siglen II. Quellen 1. Verzeichnis der Schriften A. G. Kästners

603 607 607

a. Drucke zu Lebzeiten b. Postume Drucke

608 645

a. Briefe von Kästner b. Briefe an Kästner

647 661

2. Briefverzeichnis

3. Schriften verschiedener zeitgenössischer Verfasser (bis 1800) III. Sekundärliteratur (nach 1800 erschienen) 1. Zu Kästner 2. Allgemeine Forschungsliteratur

664 671 671 674

Einleitung

Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800) war vor seinem Tode weithin bekannt und berühmt als Poet, Mathematiker und Naturwissenschaftler. Auf jedem dieser Gebiete publizierte er als Fachmann in großem Umfang, das Spezifikum seiner Werke jedoch bleibt die enge Verbindung von schöner Literatur und Wissenschaft. Insofern erfüllen sie die grundlegende Bestimmung der Aufklärungsliteratur, wie sie seit langem in der germanistischen Forschung zur Abgrenzung gegenüber anderen Literaturepochen vorliegt: Daß man die Dichtung des Sturm und Drang, der Klassik, des Symbolismus usw. losgelöst von außerdichterischen Erscheinungen behandelt, ist vielleicht nicht erstrebenswert, aber denkbar. Für die Poesie der Aufklärung ist das nicht denkbar; denn hier ist nicht nur - wie oft - eine enge Verflechtung mit theologischen und philosophischen Tendenzen zu beobachten, sondern deren Dominanz.1

Der Schwerpunkt dieser geistesgeschichtlichen Bestimmung liegt auf dem philosophischen und theologischen Kontext. Ihm allein wird die Hervorbringung jener zugewiesen, deren Begriff in Anlehnung an die autonome Ästhetik der Klassik gebildet ist: Bevor sie [= die Epoche der Aufklärung] nennenswerte Dichtwerke hervorbrachte, hatte sie ihre Philosophen: [...] Ohne deren Grundlegungen sind Inhalte und Formen der Dichtungen von Haller, Brockes, Geliert, Wieland und Lessing gar nicht denkbar.2

Erst mit der Etablierung sozialhistorischer Fragestellungen begann die Literaturwissenschaft Funktionen der Quellentexte im Sinne einer „Verbreitung aufklärerischer Ideen" 3 in ihre Ansätze einzubeziehen. Dies führte allerdings kaum zu einer Erweiterung des historischen Fächerkanons, der in den literarisch-wissenschaftlichen Kontext integriert wurde. Mathematik und Naturwissen1 2 3

Pütz, Aufklärung S.2. Ebd. S.3. Aufklärung S.16.

2 schaft firmierten weiterhin unter den abgelegeneren Spezialdisziplinen; ein Autor wie Kästner konnte aus dieser Perspektive allenfalls durch seine Gedichte Aufmerksamkeit erfahren. Charakteristisch für die germanistische Aufklärungsforschung blieb eine wertende Hervorhebung des literarischen Komplexes und im übrigen die Subsumption der verschiedensten Wissenschaften unter einem verallgemeinernden Philosophiebegriff. Berücksichtigt wird vor allem die Leitwissenschaft Philosophie, ohne daß im Hinblick auf eine historisch bereits vorhandene Unterteilung der Wissensgebiete nach weiteren Einflüssen gefragt wird, die das Selbstverständnis der Aufklärung ebenfalls oder sogar in höherem Maße prägen. Gerade die zunehmende Bedeutung mehrerer Einzelwissenschaften im Spezialisierungstrend, die Verselbständigung wissenschaftlicher Praxis und Theorie in einer Mehrzahl von Disziplinen trägt wesentlich zur Dynamisierung des aufklärerischen Prozesses bei: Für den Fortschrittsglauben in der Aufklärung bildete die Entwicklung der Wissenschaften die entscheidene Basis [...].4

Im Gegensatz zur Literaturwissenschaft würdigen andere Bestimmungen der Aufklärungsepoche diese Entwicklung unter Berücksichtigung eines größeren Kontextes; sie heben dabei die besondere Rolle der Naturwissenschaften im Bezugsfeld von Poesie und Fachdisziplinen hervor: Groß ist die Zahl der Schriftsteller, deren Werk durch die Verbindung von Literatur und Naturforschung einen neuen und bedeutungsvollen Zusammenhang gewinnt. Allmählich löst man sich von der zunächst im 18. Jh. noch nachwirkenden mathematischen, das Naturgeschehen nach Gesetzen regelnden Weltansicht [...]. 5

Diese Darstellung stützt sich gleichermaßen auf Ergebnisse der geistesgeschichtlichen Literatur- und Philosophiegeschichte wie auf Positionen der Wissenschaftsgeschichte, vor allem der der Naturwissenschaft. Die größeren Anstöße innerhalb des , deren Vorsitz Gottsched innehatte. In ihrem Periodikum Proben der Beredsamkeit (1738) und seiner Fortsetzung Neue Proben der Beredsamkeit (1749) sind einige der von Kästner vorgetragenen rhetorischen Übungsstücke, deren frühestes auf 1736 datiert ist, enthalten.18 Man kann am späten, erst 1749 erfolgten Abdruck einiger früher Kästnerscher Beiträge von 1736 ersehen, daß seine Arbeiten den rhetorischen und poetischen Stand der Gesellschaft wohl auch dreizehn Jahre nach ihrer Entstehung noch repräsentierten. Einverstanden war der Verfasser jedoch nicht mehr mit ihrer Publikation, wie er erbost öffentlich erklärte.19 Der Besuch von Gottscheds Vorlesungen gehörte zeitweilig zu Kästners Studienprogramm. Dessen Einsatz für die Wölfische Lehre unterstützte er auch, gemeinsam mit dem Gottsched enger verbundenen Johann Joachim Schwabe. Zunächst publizierte Kästner in Gottscheds Blatt, den Beiträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und BeKästner 1768/5. S.U. Ebd. 18 Vgl. Kästner 1738/1 u. /2; 1749/2; /3; /4; /5. 19 Der entsprechende Brief vom 9.9.1748 wurde sowohl im Hamburgischen (Korrespondenten als auch in den Zürcher Freymüthigen Nachrichten abgedruckt (vgl. Winter, Kästner). 16

17

82 redsamkeit, dann erschienen seine Artikel in den von Schwabe h e r a u s g e g e b e n e n Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Eine Tatsache, die in der Kästner-Rezeption nach 1880 eine große Rolle spielte, seine gleichermaßen kritische Distanz zu wie auch sachliche Verbundenheit mit dem Leipziger u n d der Wölfischen Philosophie im allgemeinen, spiegelt sich in den Jahren 1741 bis 1745 in den erwähnten Aufsätzen wieder. Kästner trug auf poetischem wie gelehrtem Gebiet bei, trat polemisch für u n d später auch gegen die Gottschedsche Schule an, ohne jedoch jemals in seinen Texten die gedankliche Eigenständigkeit zu verlieren. Auf poetischem Gebiet gab für Kästner der Wandel von Gottscheds Urteil über Haller den Ausschlag, auch in Fragen des literarischen Geschmacks auf größere Distanz zu gehen. Er konnte nicht akzeptieren, daß sein Lehrer die ehemalige Anerkennung für Haller ohne stichhaltige Gründe - wegen unterstellter persönlicher Feindseligkeit Hallers und aus Neid auf dessen größeren Erfolg - in wütende Nachstellungen verwandelte. 20 Als sich Kästner später, nach Gottscheds Tod, öffentlich mit seinem Verhältnis zu ihm und mit dessen Bedeutung für die Leipziger Literaturwelt überhaupt auseinandersetzte, charakterisierte er die alten Verhältnisse emotionslos: Er war mein Lehrer und Gönner, ich verunzweyte mich mit ihm, aus keiner andern Ursache als wegen Hallers.21

Doch Kästners literarisch-poetische Tätigkeit in Leipzig war, im Guten wie im Schlechten, nie streng an die Pfade Gottscheds gebunden. Als dieser längst vom Amte des Ältesten der Leipziger Deutschen Gesellschaft zurückgetreten war, w u r d e Kästner dort erst aufgenommen. Mit dem Lehrgedicht Ob eine Gesellschaft, die Sprache zu verbessern, durch öffentliches Ansehn müsse berechtiget werden,22 das er zu seiner Aufnahme im Jahre 1741 vortrug, begann für ihn die fruchtbarste Zeit dichterischer Arbeit. Die in der Folgezeit - bis 1748 einschließlich - entstehenden didaktischen Poesien zeigen, im Gegensatz zu seinen eher traditionell gehaltenen anderen Gedichten, stilistische Selbständigkeit. In ihnen ringt der Verfasser um ein neues Konzept von aufklärerischer lehrhafter Dichtung. Die leidigen Auseinandersetzungen mit den linientreuen unter Gottscheds Schülern, die Undurchführbarkeit der eigenen dichterischen Pläne sowie die wachsenden Anforderungen durch 20 21 22

Vgl. die ausführliche Darstellung bei Hirzel, Haller S.CCCXIVff. Vgl. Kästner 1779/2 S.l. Vgl. Kästner 1755/1 S.105ff.

83 die Lehre (ζύ deren Steigerung Kästner freilich durch seinen ehrgeizigen Forschungsdrang selbst am meisten beitrug), führten um 1746, noch stärker aber nach 1748 dazu, daß Kästner weniger und weniger an den - das Ratskollegium stimmte schließlich schnellstens zu. Kästner erhielt sein jährliches Gehalt und die 60 Taler 50 Groschen für das Sekretariat; am 17.September des Jahres sagte er zu, das Amt anzunehmen.86 Ein ähnliches Verhalten Kästners, der aus verschiedenen Gründen gelegentlich unter Intrigen seiner Kollegen zu leiden hatte - und sich solche mehrfach wohl auch einbildete -, ist gegenüber der Obrigkeit immer wieder zu beobachten. Die Hannoverschen Räte pflegten seinen Einwänden meist stattzugeben, was zum einen darauf hinweisen mag, daß er mit seiner oft beteuerten tatsächlich dem Geist des herrschenden Rechts nahekam, was zum anderen aber ganz sicher beweist, wie sehr man Kästners Arbeitsleistung für die Universität und die anderen gelehrten Gremien zu schätzen wußte und bewahren wollte. Gerade in den Jahren 1769/ 70, als die Regierung ihre Professoren wieder einmal mahnen mußte, die Vortrags- und Schriftenreihen der Gesellschaft der Wissenschaften nicht einschlafen zu lassen, 87 bewährte sich Kästners Pflichtbewußtsein als Motor des ganzen akademischen Lebens. Im Gegensatz zum bis dahin in der Sozietät dominierenden Johann David Michaelis konnte er das Mißtrauen der in Hannover zerstreuen und die Kollegen zu Beiträgen anspornen. Michaelis resignierte daraufhin auch als Redakteur der Gelehrten Anzeigen: „Wirklich war es eigentlich die rechte Zeit, aus der Societät zu gehen [,..]". 88 85 86

87

88

Ein Teil des Briefwechsels ist erhalten im Göttinger Universitätsarchiv unter den Signaturen 4 Ve 2 Nr.4 und 4 Ve 2 Nr.4. Vgl. Göttinger Universitäts-Archiv 4 Ve 3 Nr.2. Sicherheitshalber hatte sich Kästner auch ausbedungen, vorzeitig zurücktreten zu dürfen: „Sollte ich etwa finden daß ich die Pflichten eines Sekretärs nicht erfüllen könnte, so müsse mir erlaubt seyn, mich von solchen loszusagen. Ew. Wohlgeb. werden bestimmen, wieviel Zeit die Lossagung vor der wirklichen Niederlegung hergehen müsse." Brief an den amtierenden Direktor vom 16.9.1761. SuUB Göttingen Cod. Ms. Mich. 325 fol. 61 v f. Vgl. Göttinger Universitäts-Archiv 4 Ve 8, Nr.8 und Archiv der Akademie der Wissenschaften Scient 47, Nr.27 u. 28. Michaelis, Selbstbiographie S.125.

102 Nachfolger in der Redaktion wurde Christian Gottlob Heyne, der beim Rezensieren als ebenso fleißig und zuverlässig galt wie Kästner. Heynes Biograph Heeren meldet diese Rangfolge auch für die Vortragstätigkeit in den Versammlungen der Sozietät: In den 50 Jahren, die er [= Heyne] Mitglied war, hat er ebenso viele Vorlesungen gehalten; so daß im Durchschnitt kein Jahr verflossen ist, w o er nicht seinen Verpflichtungen als Mitglied der Societät Genüge geleistet hätte. Kästner, der in einer gleich langen Periode, ihm auch in der Zahl der Abhandlungen [in den Commentarii] der nächste ist, steht dennoch u m zwei hinter ihm zurück. Freylich ist diese Zahl hier sehr gleichgültig, da der innere Werth entscheidet. Doch mußte auch dieß, als Beweis der Arbeitsamkeit, angeführt werden. 89

Zum Zeichen ihres verheißungsvollen Funktionierens mußte die Gelehrtenrepublik mit umfangreichen Ergebnissen hervortreten, außerdem erwartete jeder Fürst, daß gerade seine Landesuniversität unter allen am meisten von sich reden mache. Diese Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit, dieser Rechtfertigungszwang, war nicht immer förderlich für eine sinnvolle innere Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen. Die Kuratoren mußten versuchen, durch die Auswahl von Professoren, die beiden Anforderungen zugleich gewachsen sein konnten, zweckmäßige Kompromisse zu finden. Münchhausen hatte in diesem Sinne für den mathematischen Lehrstuhl nicht nur einen wissenschaftlich versierten Professor gewollt, sondern vor allem einen öffentlich wirksamen. Bei den Kästnerschen Publikationen aus der Leipziger Zeit dürfte deren Fülle mitunter höher gewertet worden sein als die - von kompetenten Zeitgenossen gelegentlich belächelte - oft nur kompilatorische inhaltliche Leistung. Außerdem dürfte sein literarisch geschliffenes Auftreten vorteilhaft gewirkt haben; an seinem Vorgänger Segner hatte man die Nachteile eines völlig undiplomatischen Dickkopfes verachten gelernt. 90 Diejenigen Seiten seiner Fleißarbeiten, die Kästner einstmals gegenüber Maupertuis gerühmt hatte, trugen nun wirklich die 89

90

Heeren, Heyne S.256f. Der statistische Durchschnitt über die in der Sozietät gehaltenen Vorlesungen täuscht über deren tatsächliche Verteilung hinweg. Es gab immer bessere und schlechtere Jahre. Kästner las 1757 bis 1760 sowie 1764 je zweimal vor, 1762 dreimal, 1760,1763,1766 u. 1769 je einmal, 1761,1765 u. 1767-1768 gar nicht; von 1770-1779 fehlen die Angaben und anschließend las er tatsächlich einmal pro Jahr. Für die Zeit von 1779-1785 liegen Listen von seiner Hand als Sekretär vor, wer hätte lesen sollen und wer es wirklich getan habe: die Regierung hatte zu dieser Zeit wirklich allen Grund, um das Funktionieren der Sozietät besorgt zu sein (vgl. Göttinger Archiv der Akademie der Wissenschaften Scient 9). Vgl. zu einigen exemplarischen Streitfällen Forbes, Mayer S.94ff.

103 beschworenen Früchte ; der ehemalige -für die persönliche Entwicklung so wichtige - Zusatz steht für Kästner stets im Mittelpunkt, wenn es um die Darstellung von Liebe geht. Reine Verliebtheit stellt sich ihm als Narrheit dar, nur patriarchalischer Familiensinn mit der entsprechend zweckrationalen Wahl einer als unerträglicher äußerer Zwang. Mit den folgenden Versen ist das Ideal, welches Kästner jahrelang in seiner Braut verehrt hatte, bestimmt: Ein kluger Geist, den Witz und Kenntniß zieret, Ein zärtiich Herz, von edlen Trieben voll, Sind, was bey dir, Vollkommne, mich gerühret Und was mich dir auf ewig fesseln soll. Verschmäh mit mir, was Thoren soll beglücken, Nur eitle Pracht, um Gold nur feile Lust: Der Weisheit Reiz, der Liebe sanft Entzücken Sind unser Glück, und jenen unbewußt.211

Das Gefühl der Isolation, welche sich mit der Verfolgung eines derartigen wenig zeittypischen Ideals einstellte, ist in dieser Strophe deutlich ausgedrückt; obwohl Kästner sich in Leipzig an den Festen der Studenten und jungen Magister beteiligt hatte, fühlte er sich doch insgesamt in größerer Gesellschaft immer fremd. Die geistige Gemeinschaft mit seiner Braut eröffnete eine Möglichkeit des kontinuierlichen Austausches und zugleich der sozialen Bindung - in der das erotische Element212 wichtig blieb, aber mit 209 210 211 212

Brief an Friederike Baldinger vom 19.3.[1779]. G.A. S.124. Kästner 1758/1 Vorrede. Kästner 1755/1 S.151. „dem Theil [...], den Menschen mit dem Thiere gemein haben und der wenigstens wenn er allein ist, den Nahmen Liebe nicht verdient" (Aus dem Fragment eines Briefes an Friederike Baldinger. SuUB Göttingen Cod. Ms. philos 166 fol.25 r ).

138 anderen Aspekten vermittelt war. Auf dieser Basis schien der Weg nach Göttingen im Herbst 1756 der Weg ins Glück. Die Hoffnungen hielten nicht lange an. Bevor sich das Ehepaar Kästner in Göttingen überhaupt hätte heimisch fühlen können, bevor eine Familie entstehen konnte, begann bereits das Ende dieses Zustandes: „Im Anfange des 1757 Jahrs erneuerte sich bey Ihr eine Krankheit, die Sie schon 1751 dem Grabe nahe gebracht hatte [...] der 4. März des jeztlaufenden Jahres [1758] war der letzte Tag ihres Lebens". 213 - Die im Eigenverlag publizierte kleine Schrift Zwo Elegien, in der Kästner einen Teil seiner Trauer und Enttäuschung mitzuteilen versucht, enthält wohl nur ein mattes Abbild dessen, was sich in der Seele des Witwers abgespielt haben muß: Was Sie jetzo erlitten hat, das auszudrücken, bin ich zu schwach, sonst hätte ich es in den nachfolgenden Zeilen gethan: Und wem dürfte ich zumuthen, es zu lesen? [...] Furcht und Hoffnung, oder vielmehr Furcht und Begierde zur Hoffnung, wechselten die folgende Zeit zu heftig bey mir ab, als daß ich diese Reime hätte fortsetzen können; denen ich auf das herzlichste wünschte, daß die Welt sie nie sehen möchte. 214

Dieses Erlebnis stellt in Kästners Leben einen entscheidenden Kontrapunkt dar zur erfolgreichen wissenschaftlichen Karriere.215 Die Lebensform, die er sich als persönliches Refugium gewünscht hatte, blieb ihm versagt. Gegenüber diesem Schicksalsschlag war das lange Warten auf die Ehe ein vergleichbar geringfügiges Leiden gewesen. Der Tod der Johanna Rosina verstärkte nicht nur Kästners Prädisposition zum beißenden Spott aus Enttäuschung, es stellte auch sein Lebensgefühl in Göttingen unter einen bösen 213 214 215

Kästner 1758/1 Vorrede. Ebd. Die trotz aller Disziplin negativen Auswirkungen des persönlichen Leides auf die wissenschaftliche Arbeit beklagt Kästner in der Vorrede zum ersten Band seiner Anfangsgründe, der im Herbst und Winter 1757 entstanden war: „Nicht allein die Anwesenheit der französischen Truppen war geeignet, die Freyheit und Munterkeit des Geistes, die zum Nachdenken erfodert wird, einigermassen zu schwächen. Noch nachtheiliger war meiner Arbeit auser diesem allgemeinen Schicksaale mein besonderes. Eine Person, deren Gesellschaft nächst der Untersuchung der Wahrheit das einzige Vergnügen war, das ich mir recht eifrig wünschte, und die selbst an dem letztem Vergnügen so viel Theil nahm, daß sie mir solches vergrösserte und mich in meinen Bemühungen aufmunterte, war von der Vorsicht zu andern Absichten bestimmt, als ich gehofft hatte. Ihr Beyspiel sollte mir zeigen, wie man durch eine lebendige Erkenntniß höhere Wahrheiten als die erhabenste Mathematik erfindet, die härtesten Prüfungen besiegt, durch welche Gott Seelen läutert, die er bald, im Guten bestätigten Geistern gleich machen will. Hoffentlich werden mich diese Umstände entschuldigen, wenn in gegenwärtigem Werke Kleinigkeiten bey der Verbindung und Ordnung der Sätze noch einiger Verbesserung fähig wären."

139 Stern. Das Epigramm Nach dem Tode meiner Ehegattin (1758) benennt diesen Zusammenhang: Ort, der mir nur Verdruß statt Glück und Ruhe gab, Nichts werthes hast du mir, als meines Hannchens Grab! 216

Seine Gläubigkeit rettete Kästner vor der völligen Verbitterung, doch konnte sie entsprechende psychische Reaktionen nur mildern, nicht verhindern. Seine Verbundenheit mit der orthodox lutherischen Konfession bestärkte die Überzeugung, die Providern habe für ihn das Bestmögliche getan; denn auch die Liebe der Eheleute könne nur exitieren, „solange es der Vorsicht gefallen würde, uns vereinigt zu lassen". 217 Dieselbe Gläubigkeit, zusammen mit dem Liebesideal einer zutiefst individuellen freundschaftlichen Verbundenheit, ließen Kästner Witwer bleiben. Er hat sich zwar nie abfällig über die allgemeine Praxis der bürgerlichen Hausväter geäußert, beim Tode einer Ehefrau eben die nächste auszusuchen, 218 doch blieb für ihn die erste Pflicht, seine Verbundenheit mit Johanna Rosina vor den Mitmenschen zu demonstrieren. Daß er sie einst Wiedersehen werde, daran bestand für ihn kein Zweifel. Die von einigen Biographen später angenommene zweite Heirat Kästners mit „der Witwe eines französischen Offiziers"219 entbehrt der faktischen Grundlage. Der alte Göttinger Klatsch jedoch führt auf eine wichtige Spur. Minor beispielsweise überliefert über die Nachrede von der zweiten Ehe hinaus weitere Gerüchte. Zugleich distanziert er sich aber von ihrem Inhalt: „Die Ueberlieferung, aus dieser zweiten Ehe sei eine Tochter, die nachmalige Frau Magister Kirsten [...] geboren worden, ist vermuthlich irrig". 2 2 0 Kästners starke Anteilnahme am Leben und frühen Tod ihres Sohnes Gotthelf Christian hat den Zeitgenossen die berechtigte Vermutung eingeflößt, er stünde in engerer als nur freundschaftlicher Verbindung mit der Familie Kirsten. Gemeinsam mit dem Ehemann Adolph Friedrich Kirsten hatte er 1796, kurz nach dem Tode des schwächlichen Knaben (4.10.1790-9.7.1792) und dem der Mutter, die nach der dritten Geburt 1796 im Kindbett starb, eine kleine monographische Gedenkschrift drucken lassen: Der Erinnerung eines Kindes und seiner Mutter gewidmet.221 Mit dem 216 217 218 219 220 221

Kästner 1772/1 S.212. Kästner 1758/1 Vorrede. Diese Praxis war besonders in reformierten Kreisen üblich, wo sogar die sterbende Ehefrau ihre Nachfolgerin bestimmen konnte. Vgl. ADB, Kästner S.441. Ebd. Vgl. Kästner 1796/1.

140 Argument, das von ihm - im Gegensatz zu seinen zwei jüngeren Geschwistern - so bewunderte Kind hätte Kästner, im Falle, daß er der Großvater gewesen sei, nicht „Pathe" gerufen,222 ist angesichts der Göttinger Zustände wenig gewonnen. Außereheliche Kinder waren so verbreitet, daß die entsprechenden Verschleierungsmechanismen für die jeweils wahre Abkunft gut entwickelt waren. Auch die Verhältnisse zwischen Professoren und Bürgermädchen oder weiblichem Hauspersonal machten mitunter diese Vorkehrungen erforderlich. Der letztere Fall trifft auf das Beispiel Kästners und der späteren Frau Magister Kirsten zu: sie war seine Tochter,223 geboren von der langjährigen Haushälterin Koch. Es ist keine Quelle überliefert, in der sich Kästner selbst über eine solche Verbindung mit, wie er zu sagen pflegte, seiner (die gelegentlich auch, der Gepflogenheit der Zeit entsprechend, mit der femininen Form ihres Nachnamens benannt wird) äußert. Aus zuverlässiger Quelle jedoch geht hervor, daß eine Tochter der Haushälterin in Kästners Haus selbst aufgezogen wurde: „Demoisell Catharine Koch, die Hausgenossin Kästners, hatte das Glück von ihm ganz erzogen und versorgt worden zu seyn - sie wurde in der Folge an den gelehrten und sehr rechtschaffenen Herrn Professor Kirsten in Göttingen glücklich verheurathet". 224 Diese Catharina Koch wurde also sehr viel besser behandelt, als man für fremde uneheliche Kinder selbst bei größter christlicher Barmherzigkeit hätte erwarten können. wurde sogar zum Umgang mit rechtmäßigen Professorenkindern zugelassen, so verkehrte sie regelmäßig im Haus des Mediziners Baldinger.225 Wäre Catharina ein Knabe gewesen, hätte Kästner sicherlich nicht „ein Ideal für alle Weiber"226 aus ihr zu machen versucht, sondern einen Stammhalter und Nachfolger für seine eigene Existenz. Diese Hoffnung projizierte er statt dessen in seinen erstgeborenen Enkel, dessen Tod die letzte Illusion einer in die Zukunft wirkenden Familie zerstörte:

222

Vgl. ADB, Kästner S.441. Lichtenberg beispielsweise nennt sie in einem Brief „präsumtive Tochter des alten Kästners". SuB Bd.4, S.944. 224 30 Briefe S.18. Wie sehr sich Kästner persönlich für ihre Erziehung einsetzte, belegt ein Epigramm, das er ihr widmete: Ein gröser Wohl, als Rang und Gold gewähren Hat Dir die Huld der Vorsicht zugedacht Ein fröhlich Herz genügsam im Begehren Für dessen Glück Verstand und Tugend wacht (ebd. S.18f.). 225 Vgl. ebd. S.15ff. 226 Ebd. S.77. 223

141 So bald genoß das Kind der Lehrbegierde Lohn! Drey Sprachen lallt' es hier, und spricht mit Engeln schon. Noch klagte Sie um den, der früh von uns gegangen: Als Engel sollf Er Sie empfangen.227 Bei aller Trauer verfiel Kästner nicht in einen Tonfall s c h m e r z lichster Ironie, w i e er beispielsweise aus Lessings Brief über d e n Tod seines S o h n e s spricht. 228 Für Kästner b e d e u t e t e n die außergew ö h n l i c h e n Verstandeskräfte Gotthelf Christians nichts als e i n e sichere O p t i o n auf e i n e n z u k ü n f t i g e n a u f g e k l ä r t e n Gelehrten; s e i n T o d erschien nicht als A u s d r u c k unerträglicher Z u s t ä n d e , s o n d e r n als Eingriff einer unverständlichen aber als g ü t i g a n g e s e h e n e n Vorsehung. Da es sich bei d e m Knaben nicht offiziell u m e i n e n F a m i l i e n a n g e h ö r i g e n handelte, g e l a n g es Kästner leichter, das Erlebnis in einer g e w i s s e n Distanz z u halten. Seine Trauer konnte das z w a r nur mildern, nicht vergessen m a c h e n , d o c h ließ sie sich selbst im tiefsten Inneren ü b e r w i n d e n mit der Ü b e r z e u gung, d a ß das e w i g e Leben das bessere sei - u n d i m übrigen Arbeit das bewährteste irdische Heilmittel: Im Grunde habe ich immer der Mathematik bey mir wenigstens, auch den Nutzen zugeschrieben, daß die Leidenschaft für sich alle anderen Leidenschafften die sonst vielleicht stärker gewesen wären, gedämpft hat.229 A u s persönlicher vitaler V e r a n l a g u n g u n d v o m i n L e i p z i g erlernten Konzept einer < galanten Lebensarb 2 3 0 her interessierte sich Kästner i m m e r w i e d e r für . 2 3 1 In d e n ver227

Kästner 1796/1 S.29. »War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er sobald Unrath merkte? - War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? [...] Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen" (Lachmann/Muncker Bd.18,1907, S.259). 229 Undatierter Brief an Friederike Baldinger. Stadtarchiv Hannover Sign. 3770. 230 „Freylich als ich noch bei Hausen ins Collegium ginge, hatte ich allerdings ein Mägdchen dem ich zu gefallen wünschte, sonst wäre ich kein Leipziger gewesen, und wenn ich recht zähle, war es schon das dritte oder vierte [...]" (Undatierter Brief an Friederike Baldinger. Stadtarchiv Hannover Sign. 3770). 231 „So habe ich wenigstens in diesem Stücke mehr Aehnlichkeit, mit dem Junggesellen der in seinem Alter immer noch galant that, als mit dem Manne der die zweyte Frau hat" (Brief an Friederike Baldinger vom 20.6.1781. SuUB Göttingen Cod. Ms. philos 166 fol.38 v ). Selbst im Zusammenhang mit Gedanken an das Paradies vermochte Kästner gelegentlich darüber zu scherzen: „Wenn man sich mit Aussichten in die Ewigkeit unterhalten will, so ist natürlich daß Jeder das was ihm [...] Vergnügen macht, insofern nur dieses Vergnügen ein geistiges seyn kann, da erwartet. Mein seel. Vater hätte sich nicht ausreden lassen, daß im Himmel Musik seyn wird. Ich der ich weniger Musikalisch bin, lasse das an seinen Ort gestellt seyn, glaube aber von einer 228

142

schiedensten Zusammenhängen äußert er seine Neigung zum und dem . Sie sind früh entstanden, in der Folgezeit benutzte der Autor den ersten und dritten Typus, den mittleren belebte er kaum noch einmal. Da die Lobgedichte an Herrscher und Standespersonen nur peripher, im alten Sinne traditioneller barocker Erudition, mit didaktischer Absicht ausgeschmückt wurden, lag der Schwerpunkt der Gottschedschen Lehrgedichte bald sogar ausschließlich auf dem letzten Typus. Er vereinigt die Eigenschaften, die oben schon umrissen wurden. Grundlage ist stets ein Lehrsatz, der als unbezweifelbar gesetzt wird: eben. Die Lehre, die vermittelt werden soll, ist moralischer Natur; darüber hinaus entstammt der Stoff aber einer Vielzahl von zeitgenössischen Disziplinen;41 im gleichen Zusammenhang kann aber auch die gleichlautende Behauptung für Kästner zurückgewiesen werden: er war zwar vielseitig aber spezialisiert ausgebildet. Die Aussagen dieser Lehren gilt es, im einzelnen zu exemplifizieren. So heißt es beispielsweise in der Hamartigenia: Wir Menschen sind verderbt: Der Satz ist offenbar. Allein wer macht uns wohl der Bosheit Quellen klar?

[...] 39

40 41

Zur nationalen Konzeption der Gottschedschen Literaturreform vgl. besonders Rieck, Gottsched S.70ff. In der 2. Aufl. nur noch „eine Magisterpromotion". Gottscheds polyhistorisches Interesse wird von Siegrist gerade in Bezug auf die Lehrgedichte zu recht hervorgehoben (vgl. Siegrist, Lehrgedicht S.230).

176 Ο könnt ich dieß ergründen Und aller Laster Brunn in wenig Reime binden! 42

Bei späteren Lehrgedichten gehört diese programmatische Erklärung nicht mehr zur Einleitung des eigentlichen Textes, sondern ist im Titel enthalten: so beispielweise in Ob ein Junggeselle eine Wittwe heirathen soll? (1733) oder Daß ein heutiger Gottesgelehrter auch in der Vernunft und Weltweisheit stark seyn müsse (1734). 43 Diese Titel sind in ihrer Art für die Sammlung repräsentativ. Es werden in solchen Gelegenheitsgedichten keine Fragen der systematischen Philosophie angesprochen, Gottsched paßt dem einzelnen Anlaß eklektische, begrenzte Lehrsätze an. Sie beziehen sich stets auf den Stand oder die Profession des Besungenen; grundsätzliche Meditationen wie die Hamartigenia kommen nicht mehr vor. 44 Ebensowenig gibt es - der theoretischen Überlegung in der Dichtkunst an sich durchaus angemessene Versuche, „den ganzen Inbegriff einer Kunst oder Wissenschaft" anstelle „nur einzelne[r] dahin gehörige[r] Materien" abzuhandeln. 4 5 Formal sind die Texte der limitierten Wirkungsabsicht angepaßt, sie sind nur von geringer oder mittlerer Länge, verglichen mit Hamartigenia oder den Lobgedichten auf Standespersonen. Die Strophenformen sind dabei festgelegt, sie umfassen meist acht, zehn, gelegentlich bis zu zwanzig paarweise gereimte Alexandriner. Entscheidend ist für das Gleichmaß der Gedichte, daß die Strophenumfänge innerhalb eines Textes nicht variieren; wenn dies in Ausnahmefällen doch geschieht, dann in geregelter Weise, indem sich zwei oder drei verschieden umfangreiche strophische Einheiten nach einem bestimmten Schema abwechseln. Gottsched selbst scheint später die - von ihm selbst betriebene zunehmende Beschränkung der Gattung auf Gelegenheitspoesien bereut zu haben, denn in der 3. Auflage der Dichtkunst eliminierte er die eigenen Beispiele ganz und nahm an ihrer Stelle umfangreiche Texte Opitzens auf.46 Dieser Versuch, der Gattung durch bewährte Texte zu größerem Ansehen zu verhelfen, schafft zwar Anschauungsmaterial über die versifizierte Abhandlung ganzer Lehrsätze und Wissenschaftsbereiche, dies jedoch nicht im 42 43 44 45 46

Gottsched, Dichtkunst S.627. Beide in Gottsched, Gedichte S.583 u. 587. Beiläufig beschreibt dieses Phänomen schon Albertsen, Lehrgedicht S.206f. Gottsched, Dichtkunst S.611. Inwiefern diese Argumentation hier in dieser einseitigen Art stichhaltig ist, muß erwogen werden; sicherlich spielte für Gottsched das historische Vorbild im Interesse einer deutschen Traditionsbildung auch eine Rolle (vgl. dazu den Kommentar in: Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke. Hg. von J. und B. Birke. Bd. VI,3, S.175f.).

177 aufklärerischen Sinne. Diese Veränderungen in der Critischen Dichtkunst bilden im Prinzip einen Rückschritt. So ließe sich, abweichend von der bisherigen Forschungsmeinung, sagen, Gottsched befürworte zwar - wenn auch zunächst wider Willen Lehrdichtung, nutze jedoch die von ihm selbst bemerkten didaktischen Vorteile der Gattung schon zu Beginn seiner Tätigkeit weniger zur Aufklärungsarbeit als zur sozialen Konsolidierung der Gelehrtenrepublik. Freilich bildete Gottscheds Dichtkunst nicht die einzige Quelle, aus der ein junger Lehrdichter wie Kästner seine Kenntnisse beziehen konnte. Auch die Gedichtsammlungen anderer Leipziger mögen als Leitbilder gewirkt haben, ebenso wie die ständige Einübung von Gelegenheitspoesie in der Deutschen Gesellschaft oder der Rednergesellschaft.47 Aber auch außerhalb Leipzigs gab es Lehrdichtung, an der Kästner sich orientierte. Zwei Vorbilder sind es vor allem, die sein poetologisches Fundament ergänzten: die Gedichte Albrecht von Hallers und riedrich von Hagedorns. Zunächst bildeten sie keine unmittelbare Konkurrenz zu Gottscheds Regeln und Beispielen. Erst als dieser sein positives Urteil über Haller plötzlich und aus für viele Zeitgenossen nicht nachvollziehbaren Gründen revidierte, entstand für Kästner eine Situation, in der er sich alternativ entscheiden mußte. Die radikalisierte Abgrenzung Gottscheds von der schweizerischen Poetik führte ihn in ein Dilemma. Ausschlaggebend wurde dabei für ihn einerseits seine konstante Bewunderung für Haller, andererseits sein Befremden über Gottscheds irrationales Verhalten. Nebenbei machte es ihm auch die eigene Erfahrung als Lehrdichter schwer, die Regeln Gottscheds überhaupt in ihrer Rigorosität und in ihren engen Grenzen auf die Dauer zu akzeptieren. In dem Maße, wie sich Kästner an außerhalb Leipzigs vertretenen Positionen orientierte nahm auch seine Auseinandersetzung mit Hagedorns Poesie zu. Folgende Werke der beiden Vorbilder waren zu der Zeit, als Kästner zu dichten begann, bekannt. Fast alle Hallerschen Lehrgedichte waren publiziert, vor allem auch in Leipzig verbreitet;48 von Hagedorn lag dem Publikum noch weniger vor. Bekannt wurden 1729 sein Versuch einiger Gedichte und 1738 die poetischen Fabeln und Erzählungen, erst ab 1742 erschienen die Teile 47

48

Zu dieser Abhängigkeit vgl. noch einmal Grimms verengte Perspektive: „An ihm [= Kästner] läßt sich die des theoretisch von Gottsched formulierten Ideals mit fast Exaktheit nachweisen" (Grimm, Gelehrtentum S.699). Zur Wandlung von Gottscheds Bewunderung für Hallers Dichtungen in einen unversöhnlichen literarischen Haß vgl. Hirzel, Haller S.CXCIIff.

178 der Sammlung Neue Oden und Lieder. Etliche Gedichte wurden im Laufe derselben Jahre auch einzeln gedruckt. Einen Gesamtüberblick über Hagedorns Schaffen, wie ihn die späteren Zeitgenossen durch die verschiedenen Auflagen der Werksammlungen erhielten, hatte Kästner noch nicht, vielmehr erschienen die für vorliegenden Zusammenhang wichtigsten Gedichte Hagedorns 4 9 gerade im Laufe der Entstehung seiner ersten eigenen Lehrgedichte. Der schweizerische wie auch der Hamburger Poet wichen von Gottscheds Poetik merklich ab, jeder auf seine Weise. Beim notwendigen Versuch, Kästners Lehrgedichte zunächst immer auf die Grundlagen der Critischen Dichtkunst zu beziehen, müssen deshalb vergleichend auch die anderen Einflüsse überprüft werden. Sie haben vor allem dort eine große Bedeutung, wo Kästner seine Anschauungen verändert.. Aber nicht allein für die Lehrdichtung ist dies von Bedeutung, sondern auch für andere Gattungen wie Oden und Lieder. lieber

die gegenseitige Verachtung der und Criticorum (1740),

Philosophen

an Herrn Johann Benedict Carpzov, als selbiger den 25. Hornung 1740 in Leipzig die Magisterwürde erhielt.50 Ein seltnes Schicksal hat bey dir, ο muntrer Freund, Doch noch Gelehrsamkeit mit der Vernunft vereint, Und leerer Köpfe Zier, die Arzigkeit der Sitten, Hat unverdroßnen Fleiß in dir bey sich gelitten. s Der Geist, der Wahrheit sucht, kaum eigner Einsicht traut, Auf veste Gründe nur mit sichren Schlüssen baut; Der Mann, der was uns nur der Jahre Neid vergönnet, Geschichte, Mundart, Brauch vom vorgen Rom erkennet. Was wirkt von beyden doch den nie versöhnten Zwist, ίο Daß dieser wenig denkt, und jener wenig list? Der nur auf Worte sieht, und jener nur auf Sachen, und jener rühmlich hält, den andern zu verlachen? Du, der du beyder Werth durch Reiß und Witz erkennst, Und beyden gleich zu seyn, von edlem Eifer brennst, 15 Ο Carpzov, sag es mir, ob wohl mein rauhes Dichten Den wahren Grund erklärt? Du kannst noch billig richten. Ihr, die ihr einst gestärkt von Rom und Griechenland, Die wilde Barbarey durch kühnen Fleiß verbannt, Ο wollt uns doch von euch das edle Beyspiel lehren, 20 Die Werke jener Zeit gebührend zu verehren!

49 50

Vgl. besonders Hagedorns Der Gelehrte (1740), Der Weise (1741) und Die Glückseligkeit (1743). Erstdruck in Kästner 1755/1 S.97ff.

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Der Mönche tummen Witz habt ihr von uns entfernt, Zur Hoheit erst die Bahn den Alten abgelernt, Und ihren Werth erkannt, aus unbewegten Gründen; Gelehrt, sie zu verstehn, und zärtlich, zum Empfinden. Ihr lerntet Sprach und Brauch, die Schriften zu verstehn. Die Schriften liest man ietzt, um Sprach und Brauch zu sehn. Wenn hier des Römers Mund verfolgte Tugend schützet, Dort voll gerechten Zorns auf Catilinam blitzet, Bald uns die Kunst erklärt, durch die er Rom regiert, Bald zu der Weisheit und durch gründlich Zweifeln führt; Wer ist es, der ihm folgt, und in dem theuren Werke Vom Weisen denken lernt, und fühlt des Redners Stärke? Wozu gebraucht man es? Um ängstlich nachzusehn, Ob diese Worte wohl in dieser Ordnung stehn? Ob man die Spuren noch von jenem Brauche finde? Ob er sich auf ein Stück vergeßner Rechte gründe? Doch nein, ich irre mich. Hat nicht ein jedes Wort Schon im Nizolius den angewiesnen Ort? Pitisci Lexikon ist ja in allen Händen. Es sind Register gnug bey Grävens ewgen Bänden. Nur diese schlägt man auf. Was hilft uns Tullius, Als daß man doch sein Buch zum Staate zeigen muß? Man braucht ihn wahrlich nicht, um sich gelehrt zu nennen. Was braucht man sonsten noch? das ABC zu kennen. Unwissend eitler Fleiß! Da man mit Schaalen spielt, Und nie den innern Reiz von alten Schriften fühlt. Dies ist auch dessen Fleiß, der sucht den Fleiß zu fliehen, Gelehrt zwar heißen will, doch sich nicht viel bemühen. Wenn eines Alten Werk aufs prächtigste geschmückt, Mit Noten überschwemmt, aus Holland wird geschickt, Wie eilt er, diesen Schatz am ersten zu besitzen! Zur Zier des Bücherschranks wird er ihn meistens nützen. Vergnügt, wenn er das Buch an seinen Ort gesetzt, Hat er durch Lesen nie den schönen Band verletzt. Zu mühsam wär es ihm, sollt er sich unterwinden, Vor den Erklärungen den Text und Sinn zu finden. Und wozu braucht er es? Noch allzu großer Fleiß, Wenn vom Heineccius er manche Stücken wiß, Gravinens Werke kennt, was vom Sigon gehöret, Und aus der Endung us die großen Namen ehret. Doch wenn er überdieß noch auf französisch flucht, Was wär er? würde nicht von ihm Paris besucht. Da lernt er erst genau die Alterthümer kennen, Und kann mit Rechte sich gelehrt und artig nennen, Daß, wenn der Doctorhut das weise Haupt geschmückt, Sein reizend Etwas bald das reichste Kind entzückt. Auf einmal wird nunmehr der saure Fleiß beschlossen, Der wohlverdiente Lohn in edler Ruh genossen, Gesellschaft, Spiel und Lust beschäftgen ihn allein, Und daß an seiner Art kein Mangel möge seyn. So lernt, so lebet man, so muß man ietzo leben, Will man zu unsrer Zeit nach Ruhm und Glücke streben. Ists Wunder, daß ein Geist, dem die Vernunft gefällt, Gelehrte dieser Art nicht für Gelehrte hält?

180 75 Und lacht, wenn man, bemüht mit lauter Kleinigkeiten, Sich bey der Nachwelt glaubt ein Denkmahl zu bereiten, Nur diese trift sein Spott, nicht Männer, deren Fleiß Den Geist der Alten kennt, und ihn zu brauchen weiß. Und eben der verlacht das Heer von kleinen Seelen, so Das Eitelkeit nur reizt, zu Weisen sich zu zählen, Das stets von Wahrheit spricht, und von Philosophie, Und prahlt mit der Vernunft, und kennt und braucht sie nie. Den halbverstandnen Satz dem Lehrer nachzusprechen; Ist ihre ganze Kunst. Nie sehn sie seine Schwächen. 85 Beweis ist, daß ers sagt. Sein Ausspruch macht sie kühn, Und voll von Wissenschaft mit wenigem Bemühn. Nie werden sie den Blick auf alte Schriften wenden, Denn alle Weisheit steht in W=== dreyßig Bänden. Was hilft es ihnen wohl, von Rom und von Athen, 90 Mit Arbeit ohne Nutzt, die Schriften durchzugehn? Zumal wenn sie mit Noth noch Griechisch können lesen, Und nie ein römisch Buch ihr großer Freund gewesen; Denn lachen sie mit Recht, wenn einer Sylben sticht, Und mehr wie Tullius, als wie Fonseca spricht. 95 Dieß ist des Streites Quell und trennt die beyden Heere. Eins hat in J=== Ruhm, und eins in L== Ehre, Der will kein Barbar seyn; und der kein Wörterheld, Der schmäht die Criticos, und der die beste Welt. Ο daß ein jeder recht, was er bekämpft, verstände! loo Dieß machte sie geschickt, und ihrem Zank ein Ende. Wenn einst Colifichet die Hoffnung übersteigt, Durch ein unsterblich Werk sich den Gelehrten zeigt, Was schenkt uns nicht sein Fleiß für nie gesehne Schätze Durch nützliches Bemühn! Hier ist ein alt Gesetze. 105 Tribonian giebt selbst davon nicht viel Bericht, Vielleicht verachtet ers, vielleicht wust er es nicht; Ein großer Gegenstand! Dieß kann vortrefflich heißen, Es der Vergessenheit erst ietzo zu entreißen. Zeit, Ursprung, der Tribun, der es dem Volken rieth, no Die Worte, Dauer, Fall, hat alles ihn bemüht. Ο wichtiger Verdienst! Wer kann ihn wohl belohnen? Er fand auch wahrlich nicht, was Kinder an den Bohnen, Wenn dorten V W X durch zweyer Jahre Fleiß So viel Philosophie, als selbst sein Lehrer weiß, lis Auch von der Meßkunst noch den vierten Theil gehöret, (Daß er Magister ward, hat ihn darinn gestöhret) Und weiset, was bisher ihm sein Bemühn genützt: Denn fiele Grotius, hätt er ihn nicht gestützt. Begriffe, die nur er an diese Wörter bindet, 120 Die sinds, worauf er sich mit falschen Schlüssen gründet. Er dehnt und quälet sich, bis er den Wunsch gestillt, Aus dem erlauchten Drey zween Bogen angefüllt. Ein jeder wird von den des andern Thorheit lachen, Und selbst sich lächerlich durch eigne Fehler machen, ι» Ach daß mein Dichten doch, zum Loben allzu matt, Nur für die Spötterey noch wildes Feuer hat!

181 Und es nicht wagen darf, nach jener ihren Bildern, Ein edler Bild in dir, mein Carpzov, abzuschildern. Von dir wird Livius und Wolf zugleich geschätzt, IM In dir ist beyder Werth aus Kenntniß vest gesetzt. Bewiesen, nicht erzählt, liebst du der Weisheit Lehren, Vernunft, nicht Vorurtheil heißt dich die Alten lehren. Catull giebt dir den Klang der römschen Lieder an, Den Klang, den nie der Schwärm von Sängern treffen kann, 135 Der nur noch Lob verdient, weil er lateinisch singet, Durch deutsches Dichten nicht den Deutschen Schande bringet. Noch eins verschweig ich nicht, was mich an dir ergötzt, Daß Leipzig dich gezeugt, der auch die Meßkunst schätzt, Nicht, wenn sein fauler Fleiß ihn nur gelehrt zu pralen, 140 Zeigt seinen Unverstand, und spottet Strich und Zahlen. Die Männer, deren Geist durch eifriges Bemühn Macht unsers Leipzigs Ruhm bey fernen Völkern blühn, Die dich auch bis hieher gelehret und geführet, Die geben dir den Lohn, der niemals Faule zieret. 145 Erfülle, was man ietzt voll Hoffnung noch begehrt, Sey deines Vaterlands, und deiner Väter werth.

Anlaß, Inhalt und Form des ersten Lehrgedichts orientieren sich deutlich am Vorbild der Gottschedschen Didaskalien. Der Anlaß, die Verleihung der Magisterwürde an jenen Benedict Carpzov, dem Kästner ein Leben lang freundschaftlich verbunden bleiben sollte, fügt das Gedicht in bekannter Manier ein in die sozialen Vorgänge der Leipziger Gelehrtenrepublik. Daraus kann der Schluß gezogen werden, daß Kästner am Anfang seiner Dichtertätigkeit schon öffentlich im Rahmen eines anerkannten und ihn anerkennenden Personenkreises tätig war. Seine Dichtung ist zunächst auf eine gruppeninterne Dialogsituation eingestellt. Der äußere Anlaß bestimmt den Textverlauf: mehrfache Apostrophen an den zu Ehrenden sowie eine Rechtfertigung und Belobigung sowohl seiner akademischen Laufbahn wie seiner persönlichen Leistungen charakterisieren die Argumentation. Darin ist ein stärkerer persönlicher Zuschnitt zu erkennen als bei den meisten von Gottscheds Gelegenheits-Lehrgedichten: das Individuum und sein Jubeltag sind hier nicht nur zufälliger Bezugspunkt für die Meditationen über einen fast beliebigen Lehrsatz. Uberhaupt ist die dominierende Präsenz eines solchen feststehenden Lehrsatzes nicht zu beobachten; die Titelzeile ist vergleichsweise vage in ihrer Aussage: Ueber die gegenseitige Verachtung [...] nimmt in dieser Form weder für oder wider eine der genannten Seiten Stellung. Unbekannt bleibt in dieser Zeile jene Entschiedenheit, wie sie bei Gottsched häufig vorkommt. Kästner schwingt sich nicht zum Propheten tradierter Erbauungsgedanken auf, vielmehr wendet er sich einem speziellen Problem zu. Gleich im ersten

182 Vers schreitet die Individuation des abgehandelten Stoffes voran (V.lf.). Damit ist jegliche Allgemeingültigkeit eines Lehrsatzes bereits bestritten. Die weiteren Ausführungen des Gedichtes belegen dies. Es kommt Kästner also nicht darauf an, etwas Bekanntes nur einzuflößen, sondern etwas Einzigartiges und zugleich Neues zu entwickeln. Die Anredeformel < muntrer Freund> vereinigt ebenfalls zwei Komponenten, deren eine auf längere Tradition, deren andere auf Innovation deutet: steht zunächst als Verweis auf den alten Freundschaftstopos der humanistischen Gelehrtengemeinde, der immer noch als Bindeglied zwischen den gelehrten Individuen fortwirkt. Zugleich ist darin aber auch schon eine Andeutung jenes persönlicheren Freundschaftsbegriffs51 enthalten, wie er dann um die Mitte der vierziger Jahre des Jahrhunderts in der deutschen Literaturwelt Raum zu greifen beginnt. Auf diesen persönlicheren Bezug in der Anrede weist auch das Epitheton hin; es steht für individuelle Lebens-, Dichtungs- und Schaffensfreude überhaupt. Zu verbinden ist es mit später auftauchenden Begriffen wie und , die in Kästners Poetik für individuelle Bedürfnisse des Dichters und des Lesers im literarischen Austausch stehen. Doch die solcherart angedeuteten individuellen Züge spielen im Gesamtzusammenhang des vorliegenden Lehrgedichtes nur eine untergeordnete Rolle. Der abgehandelte Gegenstand umfaßt, sowohl der Person des Geehrten als auch dem akademischen Anlaß angepaßt, ein Problem aus der zeitgenössischen Gelehrsamkeit. Dabei ist der Gegensatz von und , welcher im Begriff der (gegenseitigen Verachtung) ausgedrückt ist, zumindest aus der Sicht des heutigen Historikers, der beide Termini als Synonyma zur Bezeichnung von Aufklärern kennt, ungewöhnlich. Seit Thomasius' Tagen war der französische Begriff der als aufklärerisches Denkmuster auch in Leipzig bekannt, Gottsched hatte in der Vorrede der ersten DichtkunstAusgabe noch einmal ausführlich angemerkt, daß die wahre Critick keine schulfüchsische Buchstäblerey [sei], kein unendlicher Kram von zusammengeschriebenen Druck- und Schreibefehlern, die in den alten Scribenten begangen worden; [...] Die Critick ist eine weit edlere Kunst.52 51 52

Vgl. Andeutungen hierzu in Baasner, Freundeskreis; Meyer-Krentler, Bürger. Gottsched, Dichtkunst (l.Aufl.) Vorrede S.If. In der 2. Auflage heißt es bereits: „Das Critisiren ist seit einigen Jahren schon gewöhnlicher in Deutschland geworden, als es vorhin gewesen: Und dadurch ist auch der wahre Begriff dieses Wortes schon bekannter geworden. Auch junge Leute Wissens nun-

183 Kästner bezieht sich in seinem Gedicht auf die ältere Bedeutung des Begriffs , die den Philologen bezeichnet. Dieser setzt er die Bezeichnung als Inbegriff aufklärerischen Selbstbewußtseins entgegen. Deutlich wird die Opposition nicht nur aus der ausführlichen Beschreibung der Erkennungsmerkmale beider Lager, sondern auch durch deren Lokalisierung in Jena einer- und Leipzig andererseits (V.94f.). Die Beispielerzählung in diesem Gedicht an Carpzov stellt den Gegensatz fest zwischen denen, die durch Studium historischer Stoffe Kenntnisse gewinnen wollen [die ] und denen, deren Geist, der Wahrheit sucht, kaum eigner Einsicht traut, Auf veste Gründe nur mit sichren Schlüssen baut; [die ] (V.5f.).

Eine innovative Führung der Argumentation scheint sich auch in der ungewöhnlichen Form des Gedichts anzudeuten. Im Gegensatz zu den Lehrgedichten Gottscheds (und der anderen Leipziger Odendichter), deren Alexandriner entweder in identisch aufgebauten oder in regelmäßig abwechselnden, unterschiedlich langen Strophen angeordnet sind, weist Kästners Gedicht eine weniger gleichmäßige Struktur auf. Es umfaßt zwar ebenfalls paarweise gereimte Alexandriner, deren Gesamtheit jedoch in 12 Strophen von 4, 8, 4, 30, 26, 6, 16, 6, 22, 2, 16 und 6 Versen gegliedert ist.53 Mit der Vers- und Reimart verharrt Kästner in den üblichen Bahnen, die in Leipzig vorgegeben sind. Er wählt, etwa im Gegensatz zu Hagedorns fünfhebigen Versen, diese längere Form, da sie einem der diskursiven Begründung verhafteten Sprachduktus angemessener ist. Längeren Versen ohne Zäsur oder anderen rhythmischen Hürden - ist ein der Prosa verwandter Satzverlauf letztlich leichter anzuverwandeln als kürzeren Einheiten; die enge Koppelung von Verspaaren durch den Endreim kommt ebenfalls einer mit der Argumentation kontinuierlich fortschreitenden Formulierung zugute. Diese poetischen Formelemente werden von Kästner wegen ihrer unproblematischen Handhabbarkeit bevorzugt. Versuche mit veränderten Verslängen unternimmt er in dieser Gattung niemals. Betrachtet man den Inhalt der jeweiligen Strophen, so fällt sofort ins Auge, daß die kürzeren (mit 2, 4, 6, 8 Versen) per-

53

mehro schon, daß ein Criticus oder Kunstrichter nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gedanken, nicht nur mit Sylben und Buchstaben, sondern auch mit den Regeln ganzer Künste und Kunstwerke zu thun hat" (Vorrede S.IX). Vgl. ebd. S.97ff.

184 sonenbezogene allgemeine Aussagen treffen, während die längeren der Exemplifizierung und einzelnen Begründung dienen. Man kann dabei zwischen dreierlei Strophen unterscheiden, nämlich solchen der Apostrophe, der abstrakten Aussage und der Beispiel- oder Argumentenaufzählung. So kann dieser Stilzug als Kästnersche Erfindung gelten. Bei Haller gibt es zwar, ganz im Gegensatz zu Gottsched, fast nie regelmäßige Strophen, doch sind alle lang und nicht nach Aussageebenen unterschieden. Für Hagedorns Gedichte gilt gleiches, wobei dort allerdings auch regelmäßige Formen anzutreffen sind; erst 1748, in Die Freundschaft, wird ein dem Kästnerschen vergleichbares Verfahren der Unterteiliung in Kurz- und Langstrophen übernommen. Die prinzipielle Verbindung bestimmter Inhalte mit kürzeren oder längeren Strophenformen bleibt in allen Kästnerschen Lehrgedichten bestehen, auch wenn die Kurzstrophen mit der Zeit insgesamt seltener werden. Außerdem umschließen im Gedichtaufbau die kürzeren Strophen die längeren. Das Gedicht deutet in der Struktur bereits einen im Vergleich zu den traditionellen dogmatischen Poesien> Gottscheds umfangreicheren, nach verschiedenen Ordnungskriterien oder Aussageebenen verwalteten gedanklichen Inhalt an. Nicht mehr die rhythmisierte Paraphrase feststehender Wahrheiten steht im Mittelpunkt, sondern die Entwicklung weitergehender Aussagen sowie die Reflexion darüber. Kästner sprengt damit allein schon die Bestimmung der Gattung aus der Dichtkunst. Die ersten drei Strophen (4, 8 und 4 Verse) nehmen innerhalb der Gesamtstruktur eine Sonderstellung ein. Man könnte sagen, darin wird in verkürzter Form die Grundaussage des ganzen Gedichtes präsentiert und fernerhin eine Legitimation für die ganze Debatte überhaupt hergeleitet. Innerhalb der insgesamt 16 Verse wird die vorläufige Geschlossenheit des logischen Zusammenhangs durch einen symmetrischen Aufbau verdeutlicht. Die Apostrophe der ersten vier Verse wiederholt sich in den letzten vier. Zu Beginn enthält sie nur eine Feststellung, am Ende erweitert sie diese und bezieht sie auf das im Mittelteil abstrakt formulierte Problem. Der Anfang des ersten Verses verrät, wie gesagt, daß ein Einzelfall, für die Entwicklung der Gedanken im Gedicht den Ausschlag gibt. Die Innovation gegenüber Gottscheds ist unübersehbar: er forderte, eine allgemein abgesicherte Erkenntnis (Lehrsatz oder Beispielerzählung) durch Anrede an den zu Ehrenden mit dessen Person zu verbinden. Hier steht diese Regel Kopf, ein Ausnahmefall soll die Gültigkeit der Problembehandlung verbürgen, noch dazu einer, der durch die Person des Angesungenen selbst vertreten ist. Prinzipiell könnte das zwar

185 auf Gottscheds Lobgedichte an Herrscher zurückgeführt werden, doch eignet denen eine topische Ausstattung, die der Standesperson traditionellerweise zusteht, während hier nichts von beiden Eigenschaften zutrifft. Vielmehr meldet die Eingangszeile schon einen Anspruch darauf an, daß ein kritischer Ton angeschlagen wird: gekennzeichnet, von teilweise wirklicher, teilweise scheinbarer Unordnung, so findet diese nun zu einer neuen Ordnung. Die emanzipatorische Zerstörung des einheitlichen poetischen Schulmaßes schafft ein anderes Ordnungsprinzip, das sich nicht mehr in der störrisch gleichförmigen Abwicklung der linearen Argumente, sondern in einem sozusagen zentrierten, schwerpunktbildenden Aufbau verwirklicht. Die Behinderung des systematisierenden Verstandes in der Rechtslehre besteht zunächst, so wird in der sechsten Strophe ausgeführt, in der Vielzahl der Einzelfälle, die sich keinem allgemeinen Gesetz beugen. Hier muß mit Aufmerksamkeit vermittelt werden: „Erklärt, was dunkel ist, versöhnt, was scheint zu streiten" (V.61). Ratio und das Vorbild der Natur müssen allerdings die Leitung übernehmen. Gedankenlose Traditionalisten und ungerechte Juristen, so heißt es weiter in der siebten Strophe, schadeten nicht allein der Gemeinschaft der aufrichtigen „Asträens Freunde" (V.84), sondern schändeten auch deren Ansehen beim „Pöbel" (V.82). Genau wie die im ersten Lehrgedicht an Carpzov bereits getadelten Mode-Gelehrten grenzt Kästner die so charakterisierten Fachvertreter aber aus der Respublica litteraria aus: sie sind „den Fliegen gleich, die sich im Sommer mehren" (V.78). In der letzten Strophe werden die Vorbehalte und Warnungen aufgegriffen und in die Beschreibung einer angemessenen Realisierung des Ideals vom vernünftigen Rechtsgelehrten> übergeführt. Dem „Geist von Wahrheit voll, gewöhnt zu scharfen Schlüssen" (V.93) gelingt es, Unklares zu klären, Verdrehtes zu

243 richten, kennen. geklärte eigenen

eine Kausalkette von einem Gesetz zum anderen zu erAus der Kenntnis des historischen Rechts wird der aufJurist auf diesem Wege eine adäquate Rechtspraxis der Zeit entstehen lassen:

Er wirkt der Menschen Glück durch Tugend und Verstand; Nun urtheilt, wird er wohl verehrungswerth erkannt? (V.107f.).

Der Eindruck vom Beginn des Gedichtes, Kästner räche sich mit besonders satirischen Hieben an jener Wissenschaft, deren Studium ihn mit Unwillen und wachsendem Desinteresse erfüllt hatte, wird durch die abgewogene - am Ende sogar ungewohnt mäßige » Deskription von Mißständen und Problemen gegenstandslos. Vielmehr erkennt der Leser schnell das aufrichtige Interesse am Fortschritt der Rechtsgelehrsamkeit, das aus den Versen spricht. Auf der anderen Seite ist der Versuch deutlich, die zeitgenössische Rechtspraxis in die Nähe des Wölfischen Naturrechts und der Systemphilosophie zu rücken. Der vernünftige Rechtsgelehrte gehört somit fest in den großen Zusammenhang, den Kästners Werke in Beziehung auf die Ausgestaltung des eigenen systematischen Wissenschaftsverständnisses zu jener Zeit konstituieren. Daß es nicht darum geht, innerhalb der Rechtsgelehrsamkeit eine Begründung des Naturrechts in Versen zu präsentieren, erhellt aus dem Text sofort: auf einer allgemeineren Ebene, für das allgemeine gelehrte Publikum wird geschrieben. Die Grundbedingungen für die Wirksamkeit des Gedichtes vor diesem Forum werden, wenn hier auch nicht poetologisch reflektiert, im Vorübergehen angesprochen, , , und . Darüber hinaus belegt der Vorwurf an den, „der sich nie vom Nutzen will entfernen" (V.37), den im Vergleich zur konkreten wissenschaftlichen Disziplin der Rechtsgelehrten abgehobenen Charakter des Gedichtes. Daß der überhaupt genannt und in Beispielen gegen Ende angestrebt wird, zeigt hingegen die bewußte Anbindung der Gattung an die gesellschaftliche Praxis. Dieses Wechselverhältnis von Denken, Dichten und Wirken wird im Auge zu behalten sein, es bekommt im Laufe von Kästners Leben zunehmend andere Schwerpunkte. Philosophisches

Gedichte

von den Kometen

(1744) 9 2

Mein Lied beschreibt den Stem, der weit von unsern Kraisen, Nur selten sich uns naht, uns Kopf und Schweif zu weisen; Und wenn er sich so tief in unsre Welt verirt,

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Erstdruck vgl. Kästner 1744/6.

Des Weisen Neugier reizt, des Pöbels Schrecken wird. Ο möchte mir davon ein solches Werk gelingen! Als, wenn es Opitz wagt, Vesuvens Brand zu singen, Und durch sein Beyspiel zeigt, auch so ein Vers sey schön, Der nur Gelehrte reizt, den Kinder nicht verstehn. Das Volk, dem die Natur das Haupt umsonst erhöhet, Das stets den trägen Blick zur niedern Erde drehet, Vergißt sich doch manchmal, und sieht den Himmel an, Wenn seine Schläfrigkeit was neues reizen kann: Bald, wenn es dunkle Nacht, am heitern Mittag, schrecket, Da uns der schwarze Mond das Sonnenlicht verdecket; Bald, wenn bey Phöbus Glanz, da jeder Stern vergeht, Mit kühnem Schimmer noch die lichte Venus steht; Bald, wenn gebrochnes Licht, das durch die Dünste Strahlet, Der Einfalt Sarg und Schwerdt und Todtenköpfe malet. Doch kann wohl nichts so sehr der Dummheit furchtbar seyn, Als Sterne, die um sich die blassen Haare streun, Und wo man sie erblickt, auf schreckensvollen Schweifen, Krieg, Pest, des Fürsten Tod, und Hunger nach sich schleifen. Ο hätte diese Furcht den Pöbel nur gequält, Wo Fleiß und Unterricht dem blöden Geiste fehlt! Wie aber, daß darinn ihn Männer selbst bestärkten, Die auf des Himmels Lauf geschickt und ämsig merkten? So viel kann Vorurtheil, von Andacht unterstützt! Der Gottheit Rachschwerdt droht, wenn ein Komete blitzt, Dieß glaubt man, und genug, daß vor dem Wunderzeichen Die Kenner der Natur, wie dummes Volk erbleichen. Doch ist die ietzt hin; kaum sind es fünfzig Jahr, Da noch Chaldäens Wahn der Meßkunst Schandfleck war; Der Mensch ist nicht der Zweck von Millionen Sternen, Die er theils kaum erkennt, theils nie wird kennen lernen; Und daß ein Ländchen nur sein künftig Unglück sieht, Schickt Gott nicht eine Welt, die dort am Himmel glüht. Der weise Stagirit, der Wolf vergangner Zeiten, Der oft, der Meßkunst treu, sich ließ zur Wahrheit leiten, Doch der auch öfters fehlt, wenn den verwöhnten Geist Die Metaphysik nur mit leeren Wörtern speist, Glaubt, daß ein Schwefeldampf, der aus der Erde steiget, Und Blitz und Donner wirkt, auch die Kometen zeuget. Voll Eifer kämpft für ihn der Schüler Unverstand, Fremd in Euklidens Kunst, am Himmel unbekant. Doch weit aus unsrer Luft, zu den Planetenkraisen Führt Tycho den Komet mit siegenden Beweisen. Nein, er ist etwas mehr, als irdscher Dämpfe Brunst. Nein, Ordnung, Laufkrais, Zeit hält kein entflammter Dunst. Vom bunten Nordlicht an, das das Zenith bekränzet, Bis, wo im tiefen Sumpf ein feuchter Irrwisch glänzet, Der Drache, der den Brand weit durch die Lüfte schießt, Sanct Telmo, dessen Schein der Trost des Schiffers ist, Der helle Balkenstreif, die angeflammten Ballen, Der schwarzen Wolken Heer, aus dem betäubend Knallen Auf blendend Licht erschreckt; dieß alles wird bewegt, So, wie es innrer Trieb und Wind und Schwere regt:

Ganz anders ist der Lauf, den ein Komete zeiget, Der stets vom Morgen her am Horizonte steiget, Die Sterne nie verläßt, wo er beym Anfang steht, Und unterm Horizont zugleich mit ihnen geht. Und morgen wiederkommt, verrückt zu andern Sternen, Doch ordentlich verrückt, daß, seine Bahn zu lernen, Der Himmelskündiger nach wenig Nächten wagt, Und seinen künftgen Ort, kühn auf die Meßkunst, sagt. Wodurch wird ein Glut, die durch die Lüte fähret, So richtig fortgeführt? so lange Zeit genähret? Wie kömmts, daß ihn zugleich der Erde Hälfte kennt? Daß Schweden ihn erblickt, wo er in Welschland brennt? Umsonst, ein falscher Schluß, auf Vorurtheil gegründet, Hat erst in unsrer Luft Kometen angezündet. Der Himmel, sagte man, ist unzerstöhrlich, rein, Und was vergänglich ist, das muß auch irdisch seyn. Den Irrthum müssen wir der ersten Welt verstatten; Viel ist uns helles Licht, ihr warens dunkle Schatten; Ihr Fleiß verdienet Lob, der stets uns nützlich wird, Lehrt, wenn er Wahrheit fand, und warnet, wenn er irrt. So geht denn, weitentfernt von unsrer Atmosphäre, Der leuchtende Komet dort durch des Himmels Leere. Du, der unendlich mehr, als Menschen son?t gelang, Ins Innre der Natur mit kühnen Blicken drang, Ο Newton! möchte doch, erfüllt von deinen Sätzen, Mein Lied der Deutschen Geist belehren und ergötzen. Zwar nicht von Rechnung voll, nicht in Beweisen scharf, Doch gründlich, wie man es in Versen werden darf. Daß sechzehn Welten stets in unverrückten Kraisen, Im weiten Himmelsraum, um ihre Sonne reisen; Daß ein geworfner Stein, der durch die Lüfte dringt, Im Bogen aufwärts steigt, im Bogen wieder sinkt; Macht beydes eine Kraft. Es muß mit gleichen Trieben Die Sonne, der Planet, der Stein die Erde lieben. Der Schwung von unsrer Hand ist, was den Stein erhebt, Vom Schöpfer kam der Trieb, der den Planet belebt, Stets mit dem Zuge kämpft, der ihn zur Sonne senket; Durch beyde wird der Stern ins runde Gleis gelenket. Ein ähnliches Gesetz beherrschet den Komet, Der nur in längrer Bahn auch um die Sonne geht, Bald näher zu ihr kömmt, als kein Planet sich waget, Bald hinflieht, wo es nie von ihrem Lichte taget. Was jeder Erdball braucht vom Feuer und vom Licht, Schickt ihm die Sonne zu, und mehr vertrüg er nicht. Zu heiß wär es für uns dort, wo die Venus gehet, Zu kalt in jenem Raum, wo Mars sich einsam drehet; Ob gleich, wie Lybien nebst Grönland Menschen sieht, Auch Wesen eigner Art, so Mars als Venus zieht. Was aber würde wohl dort im Komet gebohren? Ein widriges Gemisch von Lappen und von Mohren, Ein Volk, das unverletzt, vom Aeußersten der Welt, Wo Nacht und Kälte wohnt, in heiße Flammen fällt? Wer ist, der dieses glaubt? Sind da beseelte Wesen: So ist ihr Wohnplatz nur zu ihrer Quaal erlesen.

Vielleicht hat er vordem, Planeten gleich geziert, Den ordentlichen Lauf um einen Stern geführt, Und ietzo muß er erst, aus seiner Bahn gerissen, Zerstöhrt, in Brand gesetzt, durch unsem Himmel schießen. Des Sternes wahre Bahn blieb Keplern noch versteckt; Den Britten hat zuerst ein Newton sie entdeckt; Noch vor ihm hatte sie ein Deutscher schon gemessen: Doch Newton wird verehrt, und Dörffel ist vergessen. Ihr, die ihr stets den Blick nach jenen Höhen werft, Ihr, den ein Glas das Aug, den Geist die Meßkunst schärft, Sagt, was Verstand und Sinn sonst mehr an ihm erblicket, Als einen heißen Ball, der Dämpfe von sich schicket. Doch scheint uns keine Glut, die dicker Rauch versteckt; Es ist entlehntes Licht, durch das er sich entdeckt, Das zeigt sein matter Glanz, der jedem Sterne weichet, Wenn er an Größe schon den größten Sternen gleichet. Stark, heiter sehn wir dort die ewgen Sonnen glühn, Die allerkleinsten selbst, die fast dem Aug entfliehn, Da er, dem Kraft gebricht, nur mit der Menge streitet, Und weit um sich herum den lichten Nebel breitet. Mich dünkt, er zeige mir des Dichters wahres Bild, Der manches Alphabeth mit leeren Reimen füllt; Die Zeit, die nach uns kömmt, weiß kaum, daß er gewesen, Doch Hallern wird man stets mit Hagedornen lesen. Den hellen Wölkchen gleich, zeigt sich des Hauptes Schein, Und einen dichtem Glanz schließt er im Mittel ein: Doch nicht, wie ein Planet, den man stets rund erblicket; Nein, höckricht, ungleich, rauh, ja öfters gar zerstücket. Was zeigt uns dieses an, als einen Ball, der glüht, Und den durch dicken Dampf kein Sternrohr deutlich sieht? Was wäre sonst der Schweif, als Rauch, der von ihm eilet, Und sich im weiten Raum von unsrer Welt zertheilet? Weswegen wächst er sonst, je näher der Komet Vom frostigen Saturn zur heißen Sonne geht? Wie, daß er allemal am furchtbarsten sich zeiget, Wenn sein erhitztes Haupt weg von der Sonne steiget? Doch, wer er etwa wohl in reiner Himmelsluft, Was er nicht hier soll seyn, nur ein entflammter Duft? Vielleicht sehn wir in ihm in einen Haufen fließen Nur Dünste, welche sich Planeten einst entrissen. Zu unsrer Väter Zeit ward dieser Satz beschützt; Und fällt er wohl so leicht, da ihn ein Hevel stützt? Da ihn ein Kepler glaubt? der, ohne dessen Lehre Ein Newton selbst vielleicht nicht ganz ein Newton wäre? Doch könnte wohl ein Dunst so bey der Sonne seyn? Wie plötzlich wird sie nicht den leichten Dampf zerstreun, Da, wo die dichte Glut selbst Schwedens Eisen schmelzte, Wenn unser Erdball sich ihr so nahe wälzte? Auch zeugt kein Sonnenstrahl, der sich im Haupte bricht, Wie Apian geglaubt, des Schweifes blasses Licht. Hat er daran gefaehlt, so hat er auch entdecket, Daß von der Sonne stets der Schweif sich abwärts strecket.

Und der ist wenigstens noch keines Tadels werth, Der uns, so oft er irrt, auch neue Wahrheit lehrt. Wie aber, könnte man wohl da ein Licht erblicken, Wo keine Körper sind, die es zur Erde schicken? Füllt, ihr, die Newtons Schluß nicht überführen kann, Den weiten Himmelsraum mit zartem Äther an; Doch sollt er uns so stark das Licht zurücke senden, So würd ein steter Glanz die Augen uns verblenden. Wird doch von uns kein Licht in grober Luft gefühlt, Als wo im Sonnenstrahl ein Haufen Stäubchen spielt, Wie sollte dorten wohl ein dünner Äther glänzen? Ein Wesen dichtrer Art strahlt in Kometenschwänzen. Auch wird deswegen nicht der Körper bald verstäubt, Weil er so weit, so stark die Dämpfe von sich treibt; Ein ausgebreitet Heer von leicht- und zarten Theilen Kann ohne viel Verlust beständig von ihm eilen. So wie virginisch Kraut, so viel die Pfeife füllt, Den ganzen Raufbold oft in dicke Wolken hüllt, Der doch, wenn er darauf von neuem wieder stopfet, Den unverrauchten Theil noch aus der Höhlung klopfet. Welch Schicksal meynt man wohl, ist einer Welt bestimmt, Wofern sie ihren Weg durch diese Dünste nimmt? Gewiß, was ärgers noch, als was Sylvan verspüret, Wenn ihn ein Unglücksfall in Raufbolds Dampfkrais führet. Die Ordnung der Natur wird ganz und gar gestöhrt, Mit Dünsten fremder Art die reine Luft beschwert, Und wenn sie haufenweis auf den Planeten sinken, Wird, wie in einer Flut, was Athem holt, ertrinken. Die Kugel selbsten wird aus ihrer Bahn gerückt, Wenn eingepflanzter Trieb sie zum Kometen drückt; Und muß vielleicht, wie er, ins Sonnenfeuer fallen, Vielleicht kalt, unbewohnt in größrer Ferne wallen. Hier öffnet sich ein Feld, euch Dichtern, deren Geist So gern ins weite Reich der Möglichkeiten reist, Besingt die Wunder nur, die vom Kometen stammen, Die Flut der ersten Welt, des letzten Tages Flammen, Was Whiston vorgebracht, was Cluver uns gelehrt, Und was der kühne Fleiß des muntern Heyn vermehrt. Wie sollt euch nicht davon ein prächtig Lied gelingen, Wo alles möglich ist, zum Beyfall nichts kann bringen. So glaubte denn sonst nicht ohne Grund, Es thu uns ein Komet den Zorn des Höchsten kund; Und kann er gleich kein Land durch Krieg und Pest verheeren: So könnte er wohl vielleicht die ganze Welt zerstöhren. Wahr ist es, daß wir noch dergleichen nicht gesehn; Allein, wie folgt der Schluß, drum könnt es nie geschehn? Ich schelte nicht den Fleiß, der für die Wahrheit kämpfet, Durch Gründe der Vernunft des Glaubens Feinde dämpfet, Und zeigt, ihr kühner Spott seh als unmöglich an, Was leicht durch die Natur der Schöpfer wirken kann. Doch glaub ich dieses auch; der Erden Ziel zu kürzen, Darf nicht die Vorsicht erst Kometen auf uns stürzen. Denn wäre der Komet, der uns verderben soll, Zuvor auch eine Welt, von Sünd und Menschen voll,

248 Und hätt ihn ein Komet aus dieser Bahn verdrungen: So frag ich weiter fort, wo dieser her entsprungen? Und endlich komm ich doch auf einer Erden Brand, 220 Der von was anders her, als vom Komet, entstand. Und viele sind gewiß bestimmt zu andern Zwecken, Die friedlich ihren Schweif in unsern Kraisen strecken. Das Feuer, das der Ball der Sonne stets verliert, Wird ihr durch sie vielleicht von neuem zugeführt, 225 Vielleicht, daß sie den Dampf durch unsem Himmel streuen, Auf allen Kugeln stets die Säfte zu vemeuen. In feste Körper wird viel Feuchtigkeit verkehrt, Wofern uns die Natur recht, wie sie wirkt, belehrt. So sehn wir festen Schlamm in faulem Wasser gehen, 230 So sehn wir hartes Holz aus Wasser meist entstehen, Vielleicht daß ein Komet, wenn er zu uns sich senkt, Mit frischer Feuchtigkeit die trocknen Welten tränkt. So zweifelt Newton hier, und darf man es ietzt wagen, Wo Newton zweifelnd spricht, was sichres schon zu sagen? 235 Denn Himmel und Natur schleußt nach und nach sich auf, Nur wenig kennen wir von der Kometen Lauf, Und ihren wahren Zweck, wohin sie sich entfernen, Wie lang ihr Umlauf währt, das mag die Nachwelt lernen.

Nach dem Gedicht über die Möglichkeiten einer modernisierten Rechtsgelehrsamkeit folgt in der Reihenfolge des Kästnerschen CEuvres mit der berühmten ein weiterer Text, in dem nicht eine Streitfrage, sondern ein fest umrissener wissenschaftlicher Gegenstand abgehandelt wird. In diesem Sinne ist der Titel zu verstehen, und in keinem anderen Fall hat sich der Verfasser so streng wie hier an diese Vorgabe gehalten. Die bereits im Titel erfolgende Qualifikation als Gedicht verstärkt zusätzlich den programmatischen Bezug auf das rationalistische System. In beiden Fällen geht es erklärtermaßen nicht allein um die Darstellung eines Stoffes, sondern auch um seine Einordnung in den Kontext der zeitgenössischen modernen Gelehrsamkeit. Unverkennbar hat sich der Horizont, in dessen Rahmen der Verfasser Stellung beziehen will, mittlerweile erheblich erweitert. Die begrenzten Belange der Leipziger Respublica treten in ihrer Bedeutung zurück; Kästners Gedichte enthalten nun universellere Aussagen. Ein äußerer Anlaß für die Entstehung oder den Vortrag des Kometengedichtes wird im Text scheinbar nicht genannt. Dieser weist zu Beginn keine Apostrophe auf, verweist auf kein Jubelfest, ja nicht einmal auf einen Streit in der gelehrten Welt. Und doch hat seine Entstehung einen ganz konkreten Auslöser in der : im Jahre 1744 war ein großer Komet am Himmel sichtbar, dem man auch in Leipzig gebührende Aufmerk-

249 samkeit schenkte. Zuvor hatten schon Seidel 93 und Mylius 94 Gedichte auf ihn verfaßt, Kästners Werk bedeutet zugleich eine Stellungnahme zu diesen (und zur öffentlichen Diskussion, die sie neben anderen Kometenschriften ausgelöst hatten). Davon jedoch wird im Wortlaut nichts erwähnt, die Erörterung richtet sich ganz allein nach dem Naturphänomen. Es ist anzunehmen, daß der Verfasser bewußt keine Anspielung auf das Tagesgeschehen einbezogen hat; denn andererseits hätten gerade die Meinungsunterschiede zu Mylius und seinen (im kurz zuvor veröffentlichten Lehrgedicht enthaltenen) astronomischen Behauptungen Anlaß genug zu einem neuerlichen Streitgedicht geliefert. Kästner strebte statt dessen eine über den in Deutschland anerkannten Positionen stehende allgemeine, im umfassenden Sinne Abhandlung an. Das Gedicht ist, seiner erklärten Absicht angemessen, sehr umfangreich. 15 unterschiedlich lange Strophen (mit 8, 22, 6, 40, 8, 14, 20, 16, 12, 12, 24, 12, 8, 18 und 18 paarweise gereimten Alexandrinern) geben Raum für eine gründliche Erörterung. Dabei ist hier kein Anrede-Rahmen mehr vorhanden, entsprechend auch keine Unterteilung in Rahmen- und Binnenstrophen. Weiterhin beibehalten wird jedoch die Zergliederung in kürzere Strophen, die allgemeinere, abstrakte Aussagen enthalten, und längere Beispiel- oder Argumentationsstrophen. Auch in der Begründungsabfolge bleiben bekannte Vorgehensweisen erhalten; zugleich aber enthält das Gedicht durch den größeren Umfang und die weiterreichende Diversifikation des Stoffes zusätzliche inhaltliche Untergliederungsmerkmale. Die kurze erste Strophe enthüllt Anlaß und Zweck des Werkes. Sie ist in dieser Beziehung viel weniger rätselhaft als die in den Jahren davor von Kästner verfaßten Eingangsstrophen seiner Lehrgedichte, weder Anreden noch indirekte metaphorische Fragen oder satirisch verzerrte, ebenfalls metaphorische Vorüberlegungen erschweren dem Leser das erste Verständnis. Auf der anderen Seite ist die Einleitung nichts weniger als bildlos formuliert; der Komet wird nicht beim Namen genannt, sondern mit einigen seiner Eigenschaften umschrieben (vgl. V.l-8). Die Verse enthalten mehr an programmatischer Aussage als nur die erste Beschreibung des Gedichtstoffes. Auffällig ist zum Beispiel die Eröffnung mit der individualisierenden Formel 93 94 95

Seidels Ode auf den Kometen (Leipzig 1744) ist im wissenschaftlichen Leihverkehr nicht mehr nachweisbar. Vgl. Mylius, Lehrgedicht. Vgl. Baasner, Lob der Sternkunst S.166ff.

250 . Bei Streitfällen oder auch nur innovativen Thesen pflegte Kästner bis dahin durch Anredeformeln teils einen (, < 0 Carpzov> etc.), teils möglichst viele (, etc.) Bürgen einzubeziehen, die durch herausragende Eigenschaften Richter- oder wenigstens Schutzfunktionen übernehmen konnten. Kästner ließ das erzählende Ich die Beweislast gewissermaßen nicht alleine tragen. Hier nun stellt das individuelle den Verfasser als den einzigen Verantwortlichen hin. Vergleichbares war bisher nur zu Beginn des Gedichtes über die Reime vorgekommen; allerdings verlief auch dort die Stellungnahme nicht ohne einen Bezug auf Autoritäten. Ganz ähnlich wie dort bezieht das erzählende Ich sein eigenes Vorgehen auf einen anerkannten Vorgänger, auf den Ahnen der deutschen Poeten schlechthin, auf Opitz. So wie dessen Entscheidung für die Reime dieselben bis zur Etablierung neuer Normen weiterhin gültig macht, legitimiert auch sein Gedicht Vesuvius den Nachfahren mit seinem gleichartigen Unternehmen. Ein drittes ist in der Einleitung bemerkenswert, die Zuspitzung der angesprochenen Literaturrezipienten auf zwei Gruppen, auf und . Diese verkürzende Gegenüberstellung erfolgt nicht nur aus Gründen des begrenzten Raumes. Zwar ist sie satirisch überpointiert, doch enthält sie bereits jenen Kernsatz, den Kästner in den beiden folgenden Lehrgedichten ausbreiten wird: es geht um eine Unterteilung der didaktischen Literatur in höhere und niedere Gattungsvertreter, in Gedichte für oder eben. Für das Philosophische Gedichte von den Kometen bedeutet diese Erklärung den Anspruch auf ein wissenschaftlich vorgebildetes Publikum. Diese Absichtserklärung wird unterstrichen durch die antithetische Eröffnung der zweiten Strophe. (V.9), das abergläubisch Angst hat vor dem Kometen, steht in krassem Gegensatz zur vom Verfasser geforderten aufgeklärten Leserschaft. Von der Argumentationstechnik her ist dieser anfängliche Sprung auf eine offensichtlich Position nichts Neues; schon häufig wählte Kästner diesen Weg, um die Begründung seiner eigenen Position aus der Widerlegung einer gängigen aber nicht Ansicht herzuleiten. Hier allerdings verzerrt er die zu widerlegende Auffassung nicht satirisch, sondern stellt sie vergleichsweise nüchtern dar, wenn auch aus dem Blickwinkel des Aufklärers. Nacheinander werden alle Himmels-Phänomene, die die Abergläubischen gewöhnlich beachten, aufgezählt, den Höhepunkt darunter bildet schließlich die Kometenangst. Die Darstellung dieser Zustände ist bereits abwertend; die Strophe beginnt mit einer Klage darüber, daß die Menschen ihr von der

251 Natur verliehenes Recht, zum Himmel zu schauen (vgl. V.10), nicht zur astronomischen Beobachtung nutzten, dann wird festgestellt, daß nur die am Himmel (V.18) und andere Zeichen erblicken könne. Beendet wird die Strophe mit einem Verdikt gegen jene gelehrten Astrologen, die trotz ihrer Beobachtungen den abergläubischen Standpunkt wider besseres Wissen verstärkten. In der dritten Strophe wird die aufgeklärte Abgrenzung von der davor beschriebenen Astrologie in nur sechs Versen vorläufig zusammengefaßt. Schon die erste halbe Zeile reicht zu ihrer Verurteilung und gleichzeitigen Überwindung aus: „Doch ist die Zeit ietzt hin" (V.31). Es ist also gar kein Anliegen des Gedichtes, die astrologische Kometenfurcht zu widerlegen, ein Geschäft, mit dem sich ansonsten gerade 1744 noch viele populäraufklärerische Schriften befaßten. In Kästners Augen ist der Kometenglaube mit wenigen einfachen Aussagesätzen fortgewischt. Er stellt in dieser Strophe nicht einmal einen positiven Gegenstandpunkt fest, es reicht ihm, die Überwindung der Astrologie im Laufe der ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts - „kaum sind es fünfzig Jahr" (V.31) - zu konstatieren. Die vierte Strophe bietet einen völligen Neuansatz. Kein Rückbezug auf die vorausgegangene Abrechnung mit dem Sternglauben bindet die Teile des Gedichtes aneinander. Statt dessen führt der Beginn sogleich in die neue Aussage der Strophe hinein. Im Gegensatz zu vielen metaphorisch verklausulierten Strophenanfängen in früheren Gedichten gelingt Kästner im vorliegenden Fall jedesmal ein direkter Zugriff auf die zentrale Aussage. Das Gedicht wirkt auf diese Weise konzentrierter, zielstrebiger. So ist der erste Vers der vierten Strophe, ja sogar der erste Teil der Zeile, wiederum bereits ein wesentlicher Hinweis auf deren Inhalt. Die Entwicklung der Sternkunde wird anhand von - methodischen und personellen - historischen Ausführungen vorgeführt: befördert, behindert die Astronomie; nützlich aber für den modernen Forscher sind sowohl richtige wie irrtümliche Erkenntnisse der Ahnen. Die Erzählung der historischen Beispiele endet mit folgenden vier Versen: Den Irrthum müssen wir der ersten Welt verstatten; Viel ist uns helles Licht, ihr warens dunkle Schatten; Ihr Fleiß verdienet Lob, der stets uns nützlich wird, Lehrt, wenn er Wahrheit fand, und warnet, wenn er irrt (V .73-76).

Kästners Anerkennung der antiken Wissenschaft kommt in diesen Worten erneut zum Ausdruck. Gerade in Fragen der Natur-

252 Wissenschaft ist dies ungewöhnlich für seine Zeit; Wolff etwa widerlegt die Irrtümer des Aristoteles mit weniger Verständnis für dessen geringeren Kenntnisstand, viele Zeitgenossen verachteten die Antike sogar gerade, weil sich die Scholastik auf ebendiese Quellen bezogen hatte. Inhaltlich erweist sich diese Strophe des Kometengedichtes somit bereits als Vorgriff auf Kästners im höheren Alter viel ausgeprägteres Bewußtsein vom stetigen Fortschritt der Wissenschaften und von der Notwendigkeit einer Analyse ihrer Geschichte. Damit hat die - mit vierzig Zeilen überhaupt in einem Lehrgedicht Kästners längste vorhandene - Strophe vom antiken zum modernen Stand des astronomischen Wissens übergeleitet. Verwunderlich ist in der Beispielfolge nur, daß nicht Christian Wolff oder einer der astronomischen Köpfe unter seinen Epigonen namentlich aufgeführt werden; die Umschreibung für Aristoteles, bildet den einzigen Hinweis auf den Schlußpunkt der langen Entwicklungsreihe. Erst aus dem Fortschreiten des Gedichtes erhellt der Grund für diese Auslassung deutlich, doch schon der vorletzte Sinnabschnitt der vorliegenden Strophe gibt einen Hinweis darauf. In der Zurückweisung der veralteten Kometentheorie, die diese Himmelskörper nur als im sublunaren Bereich ansah, wird zugleich nach den Gesetzen gefragt, denen stattdessen diese - nach neuer Auffassung festen - Körper gehorchten. Und in dieser Beziehung möchte Kästner nicht bei den Hypothesen der Wolff-Schule stehenbleiben; er bezieht sich später auf die neueren englischen Theorien. In Verbindung mit der Aristoteles-Metapher wird klar, daß die Kritik gegen die falschen astronomischen Theorien sich zugleich gegen den und gegen Wolff richtet: der Vorwurf, metaphysische Deduktionen führten von der richtigen Analyse der Naturphänomene ab, bezieht sich auch auf den führenden deutschen Schulphilosophen. 96 Beide beispielhaften Gelehrten repräsentieren exemplarisch für ihre Epoche veraltetes kanonisiertes Wissen. Die folgende Kurzstrophe kommt wieder auf den eigentlichen Gegenstand zurück, den Kometen. Seine Darstellung wird leitmotivisch in ähnlicher Weise aufgegriffen wie in der allerersten Strophe. Allerdings wird jetzt ein neuer, den aktuellen astronomischen Hypothesen entsprechender Begriff dafür verwendet, der zuvor noch nicht erwähnt worden ist. Damit beginnt auch die Abwendung von der Naturlehre der rationalistischen Systematik: 96

Diese Kritik wurde später von Kästner mehrfach ausdrücklich wiederholt. Vgl. u.a. Baasner, Lob der Sternkunst S. 92f.

253 So geht denn, weitentfernt von unsrer Atmosphäre, Der leuchtende Komet dort durch des Himmels Leere (V.77f.).

Des kann nicht auf Wolffs Äthertheorie des Kosmos bezogen sein; erstmals spielt Kästner damit in einem Lehrgedicht auf die in Deutschland noch verachtete Newtonische Lehre vom leeren absoluten Raum an. Es bleibt nicht bei der Anspielung, die nächsten vier Verse der Strophe benennen den Namen Newtons, ja sie enthalten sogar eine emphatische Apostrophe: Du, der unendlich mehr, als Menschen sonst gelang, Ins Innre der Natur mit kühnen Blicken drang, Ο Newton! möchte doch, erfüllt von deinen Sätzen, Mein Lied der Deutschen Geist belehren und ergötzen. Zwar nicht von Rechnung voll, nicht in Beweisen scharf, Doch gründlich, wie man es in Versen werden darf (V.79-84).

Die Anrede, die an das scheinbar Übermenschliche in Newtons Geist appelliert und im dichterischen Zusammenhang hier dem traditionellen Musenanruf vergleichbar erscheint, bildet, ebenso wie die Beschreibung des Kometen in den ersten beiden Zeilen, eine Parallele zum Bezug auf Opitz in der ersten Strophe des Gedichtes. Auch der letzte Vers des eben Zitierten greift die dort an gleicher Stelle vorgetragene Absicht auf, für Gelehrte zu schreiben. Durch diese mehrfache Wiederholung ähnlicher Inhalte (und der gleichen achtzeiligen Strophenform) wird die Parallelität der beiden kurzen Strophen hervorgehoben: die zweite von ihnen wirkt wie ein wiederholter Beginn des Gedichtes. Dasselbe beginnt nun in einem zweiten Zyklus die eigentliche Diskussion des Problems, nachdem im ersten Zyklus die Vorstufen der Astronomie beschrieben wurden. Zu erwägen wäre die Th^ge, ob der Verfasser den ,harmlosen' historischen Teil am Anfang nur eingesetzt hat, um nicht mit der Apostrophe an den noch umstrittenen, ja bekämpften Newton herausplatzen zu müssen? Andererseits ist Kästners Einsatz für eine wohlwollende Aufnahme der antiken Gelehrsamkeit im ganzen gesehen zu gewichtig, als daß man in dem entsprechenden ersten Teil des Kometengedichtes nur ein taktisches Ablenkungsmanöver von der in Deutschland noch kaum stattfindenden Newton-Rezeption sehen dürfte. Letzten Endes begeht der Autor ja mit seinem Vorgehen in den Augen der Leipziger Aufklärer gleich zwei Sakrilegien in einem Text: er lobt Aristoteles und Newton, erniedrigt hingegen Wolff. Trotzdem sind beide bisher betrachteten Teile des Gedichtes, der historische und der zeitgenössische, nicht gleich gewichtet. Im Gesamtaufbau des Werkes dominiert der letztere. So

254 beginnt es nach der Newton-Apostrophe wie in einem zweiten Zyklus mit dem neuen Hintergrund. Newtons Entdeckung des universellen Gravitationsgesetzes wird darin hergeleitet. Als Ausgangsbasis dient das gesamte bekannte Sonnensystem, zugespitzt wird die Aussage am Schluß der vierzehnzeiligen Strophe auf den Sonderfall des Kometen: Ein ähnliches Gesetz beherrschet den Komet, Der nur in längrer Bahn auch um die Sonne geht, Bald näher zu ihr kommt, als kein Planet sich waget, Bald hinflieht, wo es nie von ihrem Lichte taget (V.95-98).

Damit ist die wichtigste Einsicht der modernen Kometenforschung ausgedrückt. Halleys Erkenntnisse vom geregelten Bahnverlauf des Kometen von 1682, die Newton in seine Theorie aufgenommen und mit dieser weiterverbreitet hatte, stellten zugleich im Jahr der Erstveröffentlichung des Philosophischen Gedichtes das in Deutschland am ehesten akzeptierte Detail von dessen Lehre dar.97 Nun deutet sich eine Erklärung dafür an, warum Kästner ausgerechnet in einem Gedicht zum Anlaß des großen Kometen von 1744 die erste Apostrophe an den von ihm so hochgeschätzten Newton richtet. Dieser thematische Zusammenhang hatte bereits Gottsched dazu gedient, Newtons Theorie in diesem einen Punkt - wohlwollender als sonst . Die ganze Hochzeitsode nun umfaßt kaum mehr als eine ausführliche Meditation über den im Motto vorgegebenen Stoff. Das Streben nach Wahrheit bietet dem Individuum ein seltenes Glückserlebnis, welches nur durch die Liebe noch überboten werden kann. In der Art der Ausgestaltung dieses Themas läßt sich Kästner ganz auf die Bedingungen in seiner eigenen Umgebung ein; die in hohem Ton poetisch-enigmatisch formulierte Begeisterung in den Hallerschen Versen wird bei Kästner zu einer rational diskutierbaren. Dabei wird die Kraft der Liebe nicht als persönlich erlebte Überraschung geschildert - das Gedicht argumentiert ja auch nicht aus der Sicht des Verliebten, sondern wird vorausgesetzt als „das Zärtlichste, das wir empfinden". So-

308 mit hat die Darstellung im Gedicht auch nichts Lyrisches an sich, sie ist philosophisch, rational geprägt. Dieser Darstellungsart des Stoffes ist sich der Verfasser durchaus bewußt, denn im Odentext selbst wird die Unzuständigkeit der gewählten über ihn. Dann aber bricht der Redner noch einmal mit einem ungewöhnlich lebhaften Bekenntnis nicht zur Person, sondern zu den Prinzipien des antiken Dichters hervor und fordert in einem außergewöhnlich langen letzten Abschnitt alle Zuhörer auf, diesen zu folgen. Am Ende heißt es dort: Warum sage ich mit so viel Worten, was ich kurz sagen kann? Man stelle sich den Juvenal zum Muster vor. Was wird die Belohnung seyn, wenn man dieß thut? Das süsseste Vergnügen darüber, daß wir unsere Pflicht erfüllen, die Hochachtung aller Verständigen, und ein unsterblicher Ruhm bey der entferntesten Nachwelt. 70

Die aufklärerische Interpretation von Juvenals CEuvre in der Lobrede ist bemerkenswert, weil sie die Auseinandersetzung des jungen Kästner mit antiken Schriftstellern belegt, ferner weil sie darin eine große Selbständigkeit und Unerschrockenheit offenlegt. Gottsched hielt zwar auch in den späten Auflagen seiner Dichtkunst Neukirchs Satiren hoch, „da er nicht mit Scherzen und Lachen, sondern im Ernste und mit brennendem Eifer die bittersten Wahrheiten heraus saget", 71 doch verrät schon Kästners Eingehen auf die Kritiker der Satire in der Lobrede, daß die von ihm angeführten zu widerlegenden Gegenargumente keine leeren Befürchtungen umschreiben. Vielmehr kommen die Erfahrungen, die den bedächtigen Rabener so vorsichtig und verbittert werden ließen, darin implizit schon zum Vorschein - jene Erfah69 70 71

Ebd. S.515. Ebd. S.516. Gottsched, Dichtkunst (4.Auflage) S.555.

406 rungen mit dem deutschen Publikum, die Kästner selbst später immer wieder zu bissigen Bemerkungen im Zusammenhang mit der Aufnahme seiner Epigramme veranlaßten. Unlauterkeit tonangebender Personen - und ihre Angst vor der eigenen Entlarvung - sowie der literarische Publikumsgeschmack seien die beiden ungerechtfertigten Quellen der Satirenschelte: Leute, die sich nicht in ein Amt wollen greifen lassen, das ihren Gedanken nach ihnen allein gehöret; Thoren, die ihre Fehler weder wissen noch ändern wollen, Lasterhafte, die sich vor der Entdeckung ihrer Bosheit fürchten, vereinigen sich alle wider die Verfasser der Strafgedichte [...]. 72 Wir wissen ja den zärtlichen Geschmack unsers Jahrhunderts, der sich an Redensarten stößt, sie sonst für ganz unschuldig gehalten wurden [...] Man schlage nur unsern Opitz und Flemming auf: Man wird in ihren tugendhaftesten Gedichten, in ihren Liedern an Frauenzimmer, Ausdrückungen finden, die itzo niemand ohne Bedenken brauchen würde.73

Abgesehen von der eigenen Überzeugung, aufklärend und bessernd zu handeln, erwartet den Satiriker im Juvenalschen Stile also nichts als Verdruß; der Haß der Repräsentanten der Öffentlichkeit, vor dem Rabener eindringlich zu warnen lernte, und der Unwille des modeorientierten Lesepublikums. Daraus wiederum entspringt für den Autor Kästner die Verachtung für diese , umso schärfer hält er sich an seine Prinzipien der unbeugsamen Wahrheitstreue - und um so feindseliger wird sein Werk in der größeren Öffentlichkeit aufgenommen. So erging es den Lehrgedichten mit ihren satirischen Zügen, so erging es den scharfsinnigen Parodien auf die anakreontischen wehmutsvollen Klägern und