66 x Beethoven: Alles was Sie über den großen Komponisten wissen müssen 9783806240863

Sie wollen wissen, ob Beethoven Humor hatte und wie seine Umgangsformen waren? Passend zum 250. Geburtstag des großen Mu

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German Pages 191 [193] Year 2020

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort & Gebrauchsanweisung
Artikel- & Stichwortverzeichnis
Lexikonteil
Danksagung
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Abbildungsnachweis
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66 x Beethoven: Alles was Sie über den großen Komponisten wissen müssen
 9783806240863

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Hans-Georg Klemm / Yvonne Zoll

66 x Beethoven

Hans-Georg Klemm / Yvonne Zoll

66 x Beethoven Ludwig van A bis Z

Für Anneliese Klemm

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Veronika Roman, Köln Layout, Satz und Prepress: satzgrafik Susanne Dalley, Aachen Einbandgestaltung und Illustration: Christian Hahn, Babenhausen Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4082-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-4086-3 eBook (epub): 978-3-8062-4087-0

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Inhaltsverzeichnis 8

Vorwort & Gebrauchsanweisung

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Artikel- & Stichwortverzeichnis

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Lexikonteil

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Danksagung

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Literaturverzeichnis

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Anmerkungen

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Abbildungsnachweis

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„Beethovens Musik bewegt die Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens und erweckt jene unendliche Sehnsucht, die das Wesen der Romantik ist.“ (E. T. A. Hoffmann)

„O Beethoven! […] Du bist der größte und beste Freund der Leidenden, der Kämpfenden. Wenn das Elend der ganzen Welt uns überwältigt, dann nahst du dich uns, wie du dich einer trauernden Mutter nahtest, dich wortlos ans Klavier setztest und der Weinenden Trost reichtest […].“ (Romain Rolland)

„Der Name Beethoven ist heilig in der Kunst.“ „Seine Dunkelheit und sein Licht bezeichnen uns die Straße, der wir folgen müssen; sie sind für uns, eins wie das andere, ein fortwährendes Gebot, eine unfehlbare Offenlegung.“ (Franz Liszt)

„Beethoven, ein Gesang Gottes vor sich selbst.“ (Christian Morgenstern)

„Ich werde nie eine Sinfonie komponieren! Du hast keinen Begriff, wie unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört!“ (Johannes Brahms)

„Beethoven begreift in sich die ganze, runde, komplexe Menschennatur. […] Niemals hat ein Musiker von der Harmonie der Sphären, dem Zusammenklang der Gottesnatur, mehr gewußt und mehr erlebt als Beethoven.“ (Wilhelm Furtwängler)

„Diese Kämpfer- und Siegernatur, die wir Beethoven nennen, ist eine Quelle, aus der man das ewige Leben trinken kann.“ (Richard Wetz)

Vorwort & Gebrauchsanweisung





Ta-ta-ta-taa – ta-ta-ta-taa!!! ...

Werden diese weltberühmten acht Donnerschläge die ersten menschlichem Denken und Fühlen entsprungenen Klänge sein, die dereinst eine außerirdische Lebensform zu hören bekommt?1 Welchen Eindruck wird dann diese gewaltige rhythmische Gebärde, auf Erden so populär, dass sie fast jedes Kind kennt, bei dem Wesen hinterlassen? – Wird der Kopfsatz der fünften Sinfonie Ludwig van Beethovens es womöglich (im wahrsten Sinne des Wortes) völlig „kaltlassen“ oder kann er auch in ihm „Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens“ bewegen, „jene unendliche  Sehnsucht“ erwecken, von der E. T. A. Hoffmann spricht? Dass es zu dieser Begegnung zwischen irdischer Musik und extraterrestrischer Existenz eines fernen Tages tatsächlich kommen könnte, mag nicht wenigen Zeitgenossen zwar höchst unwahrscheinlich, wenn nicht völlig absurd erscheinen, doch theoretisch möglich ist sie immerhin: Denn im Jahr 2020, wenn wir hier unten den 250.  Geburtstag des großen Komponisten feiern, zu diesem gewichtigen Anlass eine Reihe neuer Bücher (wie das Ihnen vorliegende) erscheint, sein Werk in unzähligen Konzertsälen rund um den Globus erklingt, nähern sich die beiden Raumsonden Voyager I und II den Grenzen unseres Sonnensystems, an Bord, auf einer vergoldeten Kupferschallplatte, unter anderem, zwei Hörproben Beethovens: der so berühmte erste Satz seiner Schicksalssinfonie sowie die zauberhafte Cavatina (→ Werk). – Eine musikalische Botschaft der Menschheit an außerirdische Zivilisationen (→ Beethoven im All); sofern es diese denn gibt. Und sofern diese denn überhaupt „einen Sinn“ für die Schönheit irdischer (klassischer) Musik besitzen – wie zweifellos Sie, liebe Leserinnen und Leser, die sich gerade dem Vorwort widmen, weil Sie, vielleicht in einem Buchladen stehend, mit dem Gedanken spielen, dieses Buch zu erwerben oder sogar bereits Ihr Eigen nennen. Ihr Interesse gilt also Ludwig van Beethoven, über den Sie schon viel, so einiges – oder aber auch (noch) so gut wie gar nichts wissen. 8

Wie dem auch sei: In allen drei Fällen dürften Sie bestens bedient sein mit diesem Werk, dessen Ziel es ist – als kleines Lexikon und Lesebuch zugleich –, unterhaltsam zu informieren. Es soll dem Einsteiger eine Vielzahl von Möglichkeiten bieten, sich einem faszinierenden Menschen und seinem Werk Stück für Stück zu nähern, das Wissen der bereits Vorgebildeten erweitern und festigen, die Persönlichkeit Ludwig van Beethoven aus verschiedenen Perspektiven schlaglichtartig erhellen. Eine solide Grundlage für jedwede Konversation, in deren Mittelpunkt der Komponist steht, dürfte nach der Lektüre gesichert sein (es sei denn, man hält es mit dem Beethoven-Bewunderer Friedrich Nietzsche, der ihn als Gegenstand eines unterhaltsamen Gesprächs eigentlich für zu erhaben ansah und daher „Über den schweigt man am besten“ gesagt haben soll). Wie will nun dieses Buch gelesen werden? Auch wenn es, ungeachtet seiner lexikonartigen Anlage, durchaus denkbar ist, es sich von A bis Z zu Gemüte zu führen, schön der Reihe nach, dürfte es vermutlich weitaus reizvoller und spannender sein, sich von Artikel zu Artikel (ver-)führen zu lassen. Denn vielleicht gilt ja Ihr vorrangiges Interesse ganz bestimmten Aspekten wie dem Aussehen oder Charakter des Komponisten, seiner Taubheit, der mysteriösen unsterblichen Geliebten? Ansonsten: Warum nicht – dem Anlass entsprechend – mit der sich 2020 zum 250. Male jährenden Geburt Ludwig van Beethovens beginnen, eines Komponisten, dessen Meisterwerke bis zum heutigen Tag nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben …

L

Viel Vergnügen bei der Lektüre!

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Artikel- & Stichwortverzeichnis A

Anekdoten ................................................................................................ 14 Appassionata ........................................................................................... 17 Arbeitsweise ............................................................................................. 20 Ausbildung............................................................................................... 23 Aussehen .................................................................................................. 26

B

Beethoven im All ..................................................................................... 29 Beethoven, Johann Peter Anton van (Vater) → Elternhaus → Familie → Jugend → Kindheit Beethoven, Johanna van (Schwägerin) → Neffe Karl → Schimpfwörter Beethoven, Karl van → Neffe Karl Beethoven, Kaspar Karl van (Bruder) → Familie → Jugend → Kindheit → Marketing Beethoven, Ludwig van (Großvater) → Familie → Kindheit Beethoven, Maria Magdalena van (Mutter) → Elternhaus → Familie → Jugend → Kindheit Beethoven, Nikolaus Johann van (Bruder) → Familie → Jugend → Kindheit Begräbnis ................................................................................................. 31 Bildung → Ausbildung Bonn.......................................................................................................... 32 Breuning, Familie von → Jugend Bridgetower, George Polgreen → Kreutzersonate Briefe......................................................................................................... 36 Broterwerb ............................................................................................... 37 Brüder → Beethoven, Kaspar Karl van → Beethoven, Nikolaus Johann van Brunsvik, Josephine → Deym, Gräfin Josephine

C

Cavatina → Werk Charakter ................................................................................................. 39 Coriolan-Ouvertüre op. 62 → Werk

10

D

Deym, Gräfin Josephine → Appassionata → Frauen → Unsterbliche Geliebte Diabelli-Variationen.............................................................................. 44 Dirigent .................................................................................................... 46

E

Elternhaus ................................................................................................ 47 Eroica → Napoleon Essen und Trinken .................................................................................. 50 Europahymne .......................................................................................... 52

F

Familie...................................................................................................... 54 Fidelio ....................................................................................................... 57 Finanzen → Broterwerb → Nachlass → Widmungen → Marketing Frauen ...................................................................................................... 63 Freizeit ...................................................................................................... 66 Fremdsprachenkenntnisse ..................................................................... 67 „Freude, schöner Götterfunken“ → Europahymne → Neunte Freunde .................................................................................................... 68 „Für Elise“ ................................................................................................ 70

G

Geburt....................................................................................................... 72 Goethe....................................................................................................... 74 Grab .......................................................................................................... 77 Guicciardi, Gräfin Giulietta → Frauen → Heiratspläne → Mondscheinsonate → Unsterbliche Geliebte

H

Handschrift .............................................................................................. 79 Heiligenstädter Testament .................................................................... 81 Heiliger Dankgesang eines Genesenden → Werk Heiratspläne ............................................................................................ 84 Hörrohre → Konversationshefte → Taubheit Humor ...................................................................................................... 86

11

J

Jugend ....................................................................................................... 88

K

Kindheit ................................................................................................... 91 Klavierkonzerte → Werk Klaviersonaten → Werk Klavierspiel .............................................................................................. 94 Klaviertrios → Werk Konzerte → Dirigent → Werk →Wien Konversationshefte ................................................................................. 96 Krankheiten ............................................................................................. 98 Kreutzersonate ...................................................................................... 100

L

Lebendmaske ......................................................................................... 103 Letzte Worte → Tod Lichnowsky, Fürst Karl → Anekdoten → Mäzene

M

Marketing .............................................................................................. 105 Mäzene ................................................................................................... 107 Missa solemnis ...................................................................................... 110 Mondscheinsonate ................................................................................ 112 Mutter → Beethoven, Maria Magdalena van Mythos Beethoven................................................................................. 115

N

Nachlass ................................................................................................. 117 Name → Familie Napoleon ................................................................................................ 118 Nationalsozialismus ............................................................................. 121 Natur ...................................................................................................... 123 Neffe Karl ............................................................................................... 126 Neunte .................................................................................................... 129

O

Öffentlichkeit → Mythos Beethoven → Wien Ouvertüren → Werk

P

Politik ..................................................................................................... 131

R

Rasumowsky, Graf Andrej Kirillowitsch → Mäzene → Widmungen

12

Reisen...................................................................................................... 133 Religiosität ............................................................................................. 135 Roll over Beethoven .............................................................................. 137

S

Salieri, Antonio → Ausbildung Schwarzspanierhaus → Wohnungen Schicksalssinfonie ................................................................................. 138 Schimpfwörter ....................................................................................... 141 Schindler ................................................................................................ 142 Sinfonien → Werk „Song of Joy“ → Neunte Sommeraufenthalte → Reisen Soziale Stellung ..................................................................................... 143 Streichquartette → Werk

T

Tagebücher ............................................................................................ 146 Taubheit ................................................................................................. 149 Tod .......................................................................................................... 153 Totenmaske............................................................................................ 155

U

Umgangsformen .................................................................................... 157 Unsterbliche Geliebte ........................................................................... 159

V

Vater → Beethoven, Johann Peter Anton van Violinkonzert op. 61 → Werk Violinsonaten → Kreutzersonate → Werk Violoncellosonaten → Werk Virtuosität → Klavierspiel

W

Waldstein, Graf Ferdinand → Freunde →Mäzene → Jugend Werk ....................................................................................................... 164 Widmungen ........................................................................................... 166 Wien ....................................................................................................... 169 Wohnungen ........................................................................................... 173

Z

Zehnte ..................................................................................................... 176

13

A

Anekdoten Schloss Grätz bei Troppau2 im Jahr 1806, dem Jahr, das sich durch die Schlachten von Jena und Auerstedt seinen festen Platz in der Geschichte sichern wird. Französische Offiziere sind auf den Landsitz des Fürsten Karl Lichnowsky geladen, und auch Ludwig van Beethoven, der dort an seiner vierten Sinfonie arbeitet, ist zu Gast. Er hat dem Musik liebenden Adligen wahrlich viel zu verdanken: Sein erster finanzieller Förderer ist er gewesen (→ Mäzene), als Beethoven vierzehn Jahre zuvor von Bonn nach Wien übergesiedelt ist, hat ihm sogleich Quartier gewährt, ihm sein hauseigenes Streichquartett zur Verfügung gestellt, um neue Werke auszuprobieren. Beethovens Opus 1, die drei Klaviertrios, sind im Hause des Fürsten zum ersten Mal erklungen, ihm hat er sie gewidmet, ebenso die „Pathétique“ wie auch die zweite Sinfonie (→ Widmungen). Kostbare italienische Streichinstrumente hat Lichnowsky Beethoven zum Geschenk gemacht, lässt ihm seit Jahren schon ein Jahresgehalt von 600 Gulden zukommen, damit der Lebensunterhalt gesichert ist und er sich beruhigter dem Komponieren widmen kann. Ja, großzügig ist er immer gewesen, der Fürst, der sein Freund geworden ist. An diesem Tag jedoch wird es zum Bruch zwischen ihnen kommen. Beethoven soll für die französischen Gäste am Klavier improvisieren – doch bevor es so weit ist, wendet sich unglücklicherweise einer der Offiziere – ganz offenbar völlig verkennend, wen er da vor sich hat – an den Komponisten und fragt ihn, ob er denn auch etwas von Streichinstrumenten verstehe … Welche Beleidigung! Für solche Kretins soll er, Ludwig van Beethoven, Perlen vor die Säue gleich, spielen? Er weigert sich. Lichnowsky, peinlichst berührt, versucht händeringend und milde lächelnd zu retten, was kaum mehr zu retten ist, lässt und lässt nicht locker. Irgendwann hat Beethoven einen Stuhl in der Hand und bedroht mit dieser hölzernen Waffe den Fürsten, packt schließlich wutentbrannt seine Koffer, verlässt Nacht und Regen trotzend das Schloss, läuft zu Fuß nach Troppau. Die können ihn doch alle mal … und zwar kreuzweise … diese … (→ Schimpfwörter) 14

Hat wirklich ein unwissender französischer Offizier mit einer einzigen – zugegeben wenig geistreichen – Frage einen solchen Eklat provoziert? Oder hat sich der Komponist – zweite Variante dieser Geschichte – von vornherein „ungefragt“ schlichtweg deshalb geweigert, weil die Franzosen nun mal Franzosen waren, die er grundsätzlich nicht ausstehen konnte? Dass die Freundschaft zwischen Beethoven und Lichnowsky im Oktober 1806 auf Schloss Grätz tatsächlich irreparable Schäden erlitt, ist gesichert; über die Gründe indes wird gemutmaßt. Trug es sich so zu wie in der soeben angeführten, berühmten Anekdote? Welche der beiden Varianten ist dann die richtige? Dass der zu Wutausbrüchen neigende Komponist (→ Charakter) mehr als nur einmal seinen Klaviervortrag vor Publikum unter Beschimpfung desselben (beispielsweise mit den charmanten Worten „Für solche Schweine spiele ich nicht!“) abgebrochen haben soll, stützen andere Anekdoten, doch es existieren daneben auch solche, die seine Feindschaft gegenüber dem französischen Imperialismus (→ Napoleon → Politik) belegen wollen. Die Wahrheit liegt noch immer im Dunkeln, wie so vieles im Leben des Ludwig van Beethoven; allerbester Boden somit für das Gedeihen von Anekdoten, die den Komponisten ab und an auch in wenig schmeichelhaftem Licht erscheinen lassen, wie eine gar köstliche Geschichte aus dem Munde eines Kupferstechers namens Blasius Höfel, deren vergleichsweise harmlose Variante Beethoven sogar selbst in heiterer Runde erzählt haben soll: Er sei, zur Zeit der französischen Besatzung, mir nichts, dir nichts beim Spaziergehen in der Wiener Neustadt verhaftet worden, weil man ihn, da er immer aufgeschaut und seine Noten ins Taschenbuch geschrieben habe, für einen Spion hielt; erst als herbeigerufene Ratsleute das Missverständnis aufklärten („Mensch! Das ist doch Beethoven!“), sei er freigekommen. Einer dieser angeblichen „Ratsleute“, besagter Höfel, will die Sache allerdings „etwas“ anders erlebt haben: Da sitzt er doch gerade schön gemütlich mit einigen Kollegen und dem Polizeikommissar beim Abendessen, als plötzlich der Polizeidiener hereinkommt: Melde gehorsamst: Man ist soeben eines besonders dreisten Landstreichers habhaft geworden. Kein Ausweis, kein Hut, alter Mantel. Hat in fremde Fenster geschaut und bei seiner Festsetzung auch 15

noch behauptet, Ludwig van Beethoven zu sein! Jetzt sitzt er da, wo er hingehört! Ein fürchterliches Missverständnis, wie sich zum Leidwesen des Inhaftierten erst am nächsten Morgen herausstellt. Immerhin wird er – gewiss ein ganz schwacher Trost nach einer Nacht hinter Gittern – im Magistrats-Staatswagen höchst vornehm nach Hause kutschiert … Eine unglaublich anmutende Geschichte, die angesichts der Erscheinung Beethovens in den Straßen Wiens (→ Aussehen) allerdings nicht jeder Grundlage entbehrt und sich durchaus so zugetragen haben könnte. – Falls dem so sein sollte: Ob der Komponist, dessen Sinn für Humor ausgeprägt war, dieses Erlebnis wohl in seinen Memoiren verewigt hätte? Diese Frage muss im Konjunktiv stehen. Denn leider hat Beethoven, im Gegensatz zu etlichen (weitaus weniger) prominenten Zeitgenossen, keine hinterlassen. Selbst eine Bitte des Schriftstellers Friedrich Wähner um eine biografische Skizze, die dieser, auch zur Widerlegung vieler unrichtiger Behauptungen über ihn, zu einem Artikel umarbeiten wollte, schlug er aus. Warum auch immer. Dass man einer Berühmtheit wie ihm eine Lebensbeschreibung widmen würde, stand für den Komponisten, der sich seines Ranges wohl bewusst war (→ Soziale Stellung), jedoch außer Frage. Die sollte dann aber auch Wahrheit und nicht Dichtung sein! Also bestimmte er seinen Vertrauten Karl Holz (→ Freunde) zu seinem Biografen. Ihm traute er offenbar ein seriöses, sich an Fakten haltendes Werk zu. Da Holz jedoch nie mit der Arbeit begann, fühlten sich nach Beethovens Tod andere berufen, und aus seinem Bekanntenkreis erwuchsen mehrere miteinander wetteifernde Zirkel.3 Allerlei Dokumente, wie Briefe und Konversationshefte, wurden zusammengetragen. Aus ihnen allein konnte jedoch unmöglich eine plastische Lebensbeschreibung erwachsen, eigene Erinnerungen mussten ergänzend hinzutreten; doch da selbst die Biografen, die Beethoven noch persönlich gekannt hatten, nur einen begrenzten Zeitraum seines Lebens überblicken konnten, war man auf Berichte anderer angewiesen – dass diese womöglich nicht immer voll und ganz der Wahrheit entsprachen (oder sogar zur Gänze Produkte blühender Fantasie waren), musste hierbei in Kauf genommen werden. Und wie viele Zeitgenossen es waren, die (angeblich) etwas über Beethoven zu erzählen hatten! Wer wollte sagen, ob all diese Ge16

schichten, oftmals in die Form einer (ihrem Wesen nach pointierten) Anekdote gebracht und auch durch unzählige Zeitungsartikel weite Verbreitung findend, wirklich stimmten? Gleichwohl warfen und werfen sie gemeinsam ein mal mehr, mal weniger erhellendes Schlaglicht auf die Persönlichkeit Ludwig van Beethovens. Auch aus diesem Grund wird dieses Buch nicht auf sie verzichten wollen, und die eine oder andere Anekdote wird Ihnen bei der Lektüre noch begegnen, etwa sein Klavierspiel, seine Taubheit oder seine Umgangsformen betreffend. Wer die wohl allerberühmteste kennenlernen möchte, der möge sich noch ein wenig gedulden – oder aber jetzt schon bei Goethe weiterlesen … (HGK)

Appassionata Der Klavierhocker bricht zusammen unter ihm. Ein kurzer missbilligender Blick auf dessen traurige Überreste, dann setzt der Pianist sein halsbrecherisches Tempo halb stehend fort und bringt sie zu Ende – die „Appassionata“. Tobender Applaus für den Virtuosen und natürlich zugleich auch für den Schöpfer dieses wahrlich umwerfenden Werkes. So geschehen bei einem Auftritt des großen Artur Rubinstein in Eindhoven.4 Dem gebürtigen Polen lag diese Sonate, lag Beethoven sehr am Herzen.5 Er sah in ihm „den ersten Romantiker“, da er – so Rubinstein in seinen Memoiren – „sein schöpferisches Genie dazu benutzte, in Musik seiner Verzweiflung, seiner Freude, seinem Naturgefühl, seinen Zornausbrüchen und vor allem seiner Liebe Ausdruck zu verleihen“. Die Klaviersonate f-Moll op. 57 zeugt in unnachahmlicher Weise von dieser Meisterschaft des Komponisten. Ihren berühmten Beinamen „Appassionata“ (die Leidenschaftliche) erhielt sie zwar, wie auch die Mondscheinsonate, nicht von Beethoven persönlich, sondern erst nach seinem Tod – genauer gesagt 1838, zwecks Ankurbelung des Verkaufs, von dem Hamburger Verleger August Heinrich Cranz, der hiermit den Charakter des Werkes gleichwohl traf, betonen doch Interpreten „selten einmütig“ seine „besondere Leidenschaftlichkeit“6. Was nur hat Beethoven dem Klavier anvertraut, als er dieses Meisterwerk schuf, das mit keiner seiner früheren Kompositionen 17

vergleichbar ist – sind es die Freuden, sind es die Leiden der Liebe? Ein Blick auf einen besonderen Lebensabschnitt Beethovens mag durchaus erhellend sein … Im Mai 1799 macht der Komponist die Bekanntschaft einer jungen, adligen Frau, die, gemeinsam mit ihrer Schwester Therese, seine Klavierschülerin wird: Josephine von Brunsvik. Eine zarte Liebesgeschichte beginnt, findet jedoch nach nur wenigen Wochen ein jähes Ende: Josephine wird von ihrer Mutter gezwungen, einen anderen Mann, Joseph Graf Deym, standesgemäß zu heiraten, mit dem sie später nach Prag zieht. Doch ganz aus den Augen verlieren sie und Beethoven sich nie, und im Sommer 1804 kehrt Josephine nach dem unerwarteten Tod ihres Gatten und in Erwartung ihres vierten Kindes nach Wien zurück. Wieder funkt es zwischen den beiden, und mehr noch als zuvor empfinden sie sich als Seelenverwandte. Bis über beide Ohren ist Beethoven nun verliebt, und auch die gesellschaftlichen Barrieren, die einer Verbindung im Wege stehen, können ihn nicht abschrecken. In leidenschaftlichen Briefen nennt er Josephine „Engel – meines Herzens – meines Lebens“, unterschreibt mit den Worten „ihr Sie anbetender“ oder „ihr – ihr – Beethoven“, sieht in ihr die vollkommene Frau, die ihm Kraft zu großen Werken gibt (und in der Tat wird Beethoven in der Folgezeit ungewöhnlich viel komponieren, so Großartiges wie das vierte Klavierkonzert, die vierte Sinfonie, die „Rasumowsky“-Quartette und das Violinkonzert entsteht). Doch diese Liebe steht unter keinem guten Stern. Die Familie Brunsvik, allen voran die Mutter, versucht mit allen Mitteln, Josephine zum Verzicht auf eine Beziehung zu bewegen, die in ihren Augen nur verhängnisvoll enden kann. Aber die Tochter widersetzt sich, zwingt sich und Beethoven jedoch zu größerer Geheimhaltung. Man trifft einander unbeobachtet, verständigt sich mit verschlüsselten Nachrichten, versteckt Briefe in Büchern – das Gefühl größter Verbundenheit wächst noch durch das geteilte Geheimnis, und unvergesslich bleibt beiden gewiss der Sommer 1805, den die Liebenden in dem ruhigen, ländlichen Ort Hetzendorf verbringen. An eine Heirat indes ist nicht zu denken, und für Josephine kommt Beethoven – so sehr sie ihn auch liebt – als Stiefvater ihrer vier Kinder nicht infrage, für deren Glück alles zu tun sie ihrem verstorbe18

nen Mann versprochen hat. Sie hofft, dass Beethoven dies akzeptieren und sich darüber hinaus auch mit einer platonischen Beziehung begnügen kann. „Ich liebe Sie unaussprechlich“, schreibt sie ihm im Entwurf zu einem nicht erhaltenen Brief, „wie ein frommer Geist den andern – Sind Sie dieses Bündnisses nicht fähig? – Andrer Liebe bin ich für jetzo nicht empfänglich.“ „Für jetzo“ ist sie es nicht. – Doch das Schicksal7 sollte sie wohl noch einmal an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit zusammenführen … denn es spricht sehr viel dafür, dass Josephine sechs Jahre nach der vorübergehenden Trennung, zu der es im Frühjahr 1806 kommt, Ludwig van Beethovens unsterbliche Geliebte wird …8 Im Sommer 1804, als Josephine wieder in sein Leben getreten ist, hat Beethoven – wie man heute annimmt – mit der Komposition der „Appassionata“ begonnen, die er im Herbst des kommenden Jahres abschließt und später Franz von Brunsvik, dem Bruder Josephines, widmet. Doch warum nicht ihr? Denn gerade dadurch, dass er der Frau, die er liebt, weder dieses noch ein anderes größeres Werk zueignet, nährt er erst recht Spekulationen, die er doch eigentlich entkräften will. (→Widmungen) Marie-Elisabeth Tellenbach, in deren Augen die Sonate „aufs Engste mit dem Höhepunkt von Beethovens Leidenschaft“ für Josephine verbunden ist, schreibt treffend über die „Appassionata“: „Das offene Weh am Ende des ersten Satzes, die kurze Beruhigung im zweiten, in den – attaca – der erschreckende Einbruch neuer Stürme erfolgt; im dritten der verzweifelte Versuch energischer Bändigung im Presto: Die Sonate ist ein Ausdruck von Leidenschaft, wie sie der Charakter eines Beethoven durchleben und bestehen musste.“9 „Ein einziges wildes Toben“ sei der Finalsatz10, befindet Jan Caeyers, kaum noch Musik zu nennen, „sondern eher ein langer, lauter Schrei, Ausdruck von Verzweiflung und Aufbegehren“, und der Pianist scheine „weniger ein Instrumentalist als eine Art Schamane zu sein, der – vergebens – das Verhängnis zu beschwören“ suche.11 Und nicht jeder Klavierhocker ist eben, wenn ein Pianist wie Artur Rubinstein als Schamane „am Werk“ ist, dieser Beschwörung gewachsen. (HGK)

→ Frauen → Heiratspläne 19

Arbeitsweise Heute würde man ihn als perfektionistisch veranlagten Workaholic bezeichnen, der bereits im zarten Alter von zwölf Jahren eigene Kompositionen unter dem Künstlernamen Louis van Beethoven veröffentlichte. Er ist ein Musiker, der selbst beim Spazierengehen komponiert, über Tage, Nächte, Wochen, gar Monate mit Notizbüchern am Klavier brütet, aber auch auf Abendgesellschaften gekonnt zu improvisieren versteht. 20

So widersprüchlich wie sein Charakter sind seine Schaffensprozesse: Musikwissenschaftler diskutieren sich die Köpfe heiß über Schöpfungspausen und deren Ursachen. Er hat restlos alles für seine Werke gegeben, sodass es keine Frau auf Dauer bei bzw. mit ihm auszuhalten vermochte, sei er auch noch so interessant als Mann und Mensch (→ Ausbildung → Frauen → Freizeit). Doch wie haben wir – als musikalische Laien – uns etwa den Entstehungsprozess der fünften oder neunten Sinfonie (→ Neunte), die „musikalische Arbeit“ vorzustellen? Am Beginn mag ein Spaziergang gestanden haben, wie etwa der mit seinem Freunde Ferdinand Ries. Er bezeugt, wie Beethoven den ganzen Weg über „für sich gebrummt oder theilweise geheult, immer herauf und herunter, ohne bestimmte Noten zu singen“, als ihm das Thema des letzten Satzes der Appassionata durch den Kopf geht. – Doch ist es bis zum fertigen Stück ein weiter Weg! Soll es die Qualität eines guten Weines haben, so braucht – wie bei ebendiesem – seine Entstehung ihre Zeit. Eingeschlossen ist dabei eine gewisse Einlagerung, die dazu dient, den Wein, in diesem Fall die Komposition, reifen zu lassen, wobei Veränderungen bis zum Schluss – gar im Autograf noch – festzustellen sind. Doch sind die verschiedenen Entwicklungsstadien der Arbeit gut dokumentiert, etwa in Notizbüchern, durch Anmerkungen in Briefen und Tagebüchern: „fahren E.K.H. nur fort, besonders sich zu üben, gleich vom am Klawier ihre Einfälle flüchtig kurz niederzuschreiben, hierzu gehört ein kleines Tischgen an’s Klawier, durch d. g. wird die Phantasie nicht allein gestärkt, sondern man lernt auch die entlegensten Ideen augenblicklich festhalten“, schreibt Beethoven seinem Kompositionsschüler, dem Erzherzog Rudolph. Er arbeitet selbst nach seiner Empfehlung, wobei sich die Art und Funktion der Skizzen je nach Schaffenszeitraum verändern und entwickeln. Dieser Prozess spiegelt sich auch in seiner häuslichen Umgebung wider. (→ Wohnungen) Doch darf man bei den Skizzen nicht an einen genialisch-romantisch umherschweifenden Beethoven denken, der feinsinnige, der Natur abgelauschte Eingebungen direkt formvollendet in Notizbücher einträgt! Eher mag wohl ein geneigter Leser von der erstaunlichen Trivialität und Substanzarmut vieler Eintragungen überrascht werden. Beethoven bleibt seinen Kompositionen gegenüber äußerst 21

kritisch! Er verändert, feilt, verbessert sie bis zum Schluss, bis in das eigentlich fertige Autograf, das oft mit letzten Verbesserungen versehen wird. Demgegenüber schwärmt Beethoven jedoch geradezu von Improvisation. Er wird auch von Zeitgenossen begeistert als Improvisator gerühmt, erteilt sich gar selbst den Rat: „Nur wie vorhin wieder auf dem Clavier/ in eignen Phantasien – trotz allem Gehör“ und empfindet seine Skizzenarbeit – unberechtigt – als eine Art künstlerischen Makel, wie seine Entschuldigung dem Auftraggeber Schlesinger gegenüber zeigt: „das vorigemal geschah es, indem ich meiner kränklichen Umstände wegen mein Concept weitläufiger aufgeschrieben als gewöhnlich, jetzt aber … bin ich mit dem ganzen fertig im Kopfe, so wird alles aber nur einmal aufgeschrieben.“ Der Komponist würde gern die ganze Komposition im Kopf entwerfen, sie nur einmal, perfekt, zu Papier bringen! Insbesondere, da er oft an mehreren Auftragswerken gleichzeitig arbeiten muss, in dem – teilweise vergeblichen – Bemühen, sie rechtzeitig zu beenden. Indes zeigt sich zwischen dem Vorläufigen, Umrisshaften erster Einfälle und dem Grad der Ausarbeitung der endgültigen Kompositionen Beethovens ein derartiger Gegensatz, dass jedem klar wird: Das lässt sich nicht mit freiem Improvisieren – und sei man auch noch so gut, gar hochverehrt – erreichen. Und daher beschreibt Kurt Westphal ihn als einen konstruktiven Komponisten, der im Gegensatz zu Mozart und Schubert stehe, die alles intuitiv – im Kopf – ausarbeiteten. Das Beethovenlexikon bezeichnet ihn gar als Erfinder einer neuen Kompositionsweise bestimmend bis ins 20. Jahrhundert hinein. Der neuartige, oftmals geradezu dramaturgische Aufbau sowie das Gipfeln in einem großen Finale, während die Stücke anderer zeitgenössischer Komponisten an einem Punkt einfach endeten, ebenso die Unberechenbarkeit des Weges von Melodie und Begleitung, zeigen das Herausragende, die konstruktive Arbeit am Detail und seinen Hang zum Perfektionismus: beinahe wissenschaftlich, ganz und gar gegensätzlich zu Mozarts manchmal verspielt und fröhlich klingenden Werken. Auch der Unterricht bei verschiedenen Musikern (→ Ausbildung) trägt zur Entwicklung seiner Musik bei, zur methodisch-akribischen Ausarbeitung von Werken über Jahre. 22

So kommt es zu einem – im Vergleich zu anderen Musikern – relativ überschaubaren Gesamtwerk: Beethoven hat in seinen 56 Lebensjahren lediglich rund 340 Werke hinterlassen, diese dafür jedoch in unübertroffenem Maße von Dauerhaftigkeit und Bestand geprägt (→ Werk) – vergleichbar ebenjenen besonders guten, angemessen gelagerten Weinen im richtigen Alter … (YZ)

Ausbildung In der musikalischen Früherziehung wird heutzutage Kindern ab einem Alter von etwa vier Jahren durch Singen, Sprechrhythmen, rhythmische Bewegungsspiele und Verwendung altersgerechter Musikinstrumente sowie Körperpercussion musikalisches Grundverständnis und Gefühl für Rhythmus vermittelt. Soziale Erfahrung, Fantasie, Kreativität, inneres Hören, Erinnerungsvermögen, erster Umgang mit Instrumenten, Bewegung: aber bitte mit „Spaß & Spiel“! – das ist musikalische Früherziehung von heute. Die im 18. Jahrhundert nimmt sich da ganz anders aus … In den vom Frühnebel durchzogenen Straßen Bonns werfen mit Gas betriebene Straßenlaternen kärgliche Lichtflecke in die Gassen und erleuchten durchs Fenster ein gutbürgerlich möbliertes Zimmer im schattigen Kerzenlicht. Unter den ernsthaft wirkenden Augen des vom Ölgemälde von Radoux herabschauenden Großvaters in pelzbesetzter Kleidung mit Notenrolle am Klavier schwankt ein leicht vernachlässigt wirkender, gähnender junger Bub: Im hemdsärmeligen Nachtgewand steht der Zwerg auf einem Holzschemel vor dem riesigen Klavier. Streng auch die Blicke der rechts und links von ihm am Klavier lehnenden erwachsenen rauchenden Männern mit Rotweingläsern in der Hand. Leicht wippend auf den Zehenspitzen streckt er zaghaft seine kleinen Kinderfinger mit den Trauerrändern unter den Nägeln nach den sachte schimmernden Tasten aus. Die sich auf dem Blatt befindenden Noten erfüllen mit ihrem Wohlklang den Raum. Der Junge beginnt zu fantasieren, die Melodie verändernd. Variierend hier und da lauscht er neuen Harmonien nach, bis ihn schmerzvoll die Hand – oder gar der Rohrstock? – des strengen Vaters trifft, ihn zum genauen Beachten der Notation zwingend. 23

Mit vier Jahren begann die Ausbildung zum Pianisten, die – so anders als heute, doch typisch für die damalige Zeit – eine harte Schule darstellte. Vom Vater und dessen exzentrischen Freund Tobias Friedrich Pfeifer wurde er spätnachts im solistischen sowie die Kammermusik begleitenden Klavierspiel unterrichtet, zu lediglich für den im Untergeschoss tätigen Bäckermeister angenehmen, für den Schüler jedoch grausamen Uhrzeiten und zeittypischen Methoden. Nur wenige Jahre später erfolgten Zuhören und Teilnahme an stundenlangen sogenannten „Jam-Sessions“12 mit Musikkollegen des Vaters wie besagtem Pfeiffer und dem Geiger Franz Rovantini, beides Untermieter der Familie. Er lernte: im entscheidenden Moment unbedingt seiner Fantasie zu vertrauen, da vor allem diese – im Zusammenhang mit gekonnter Improvisation – den wahren Künstler ausmacht. Nebenbei wurde Beethoven von Franz Ries, einem engen Freund13 und Mitglied der Bonner Hofkapelle, auch auf Geige und Bratsche unterrichtet sowie von dem Franziskanerbruder Willibald Koch und anderen namhaften musikalischen Klerikern auf der Orgel. Es sind eine Reihe „schillernder Figuren aus einem Bonner Raritätenkabinett“14, denen Beethovens erste Ausbildung anvertraut wurde. Was für eine Tortur und wenig verwunderlich, dass Beethoven zeit seines Lebens Mühe beim Rechnen (wie unwichtig!) hatte, besonders bei den komplizierten Währungsumrechnungen seiner Zeit … und während er in früher Zeit auf dem Tirocinium, der angesehenen lateinischen Elementarschule in der Bonner Neugasse, in vier Jahren zwar einwandfrei orthografisch richtig, auch sauber zu schreiben lernte, ist auch hier später das Unsaubere, Flüchtige zu erkennen (→ Handschrift). Ferner bleibt offen, ob er jemals einen schulischen Abschluss gemacht hat, doch erhielt er ab dem zehnten Lebensjahr etwa privaten Fremdsprachenunterricht bei einem Gymnasiasten. Weitere Bildung schnappte er im Haushalt von Freunden, den Breunings, auf, obwohl er lediglich als Klavierlehrer der Kinder vorgesehen war. Mit den literarischen und aufklärerischen Ideen seiner Zeit vertraut werdend, entwickelte er in Gesprächen mit den Philosophie und Recht studierenden Söhnen eine eigene Ansicht und gewann Einblicke in die Wissenschaften, wurde in die intellektuelle Elite Bonns eingeführt, was ihn zeitlebens mit Wissbegierde und Bildungshunger erfüllte (→ Natur → Krankheiten → Politik → Religiosität). 24

Viel wichtiger ist die musikalische Ausbildung: Als einer der bedeutendsten Musiklehrer der Bonner Zeit ist der äußerst gebildete Freimaurer und Klopstock-Verehrer Christian Gottlob Neefe zu bezeichnen, der, 1779 nach Bonn kommend, ab 1781 als Hoforganist tätig war. Er sorgte dafür, dass das junge Genie auch als Komponist in der musikalischen Öffentlichkeit Bonns bekannt wurde, nicht zuletzt, indem er ihm anspruchsvolle Aufgaben übertrug. Durch solche Stärkung des Selbstbewusstseins wusste der Zwölfjährige sich in Szene zu setzen. So soll er mit einer ad hoc improvisierten und höchst komplexen Begleitung einen bekannten stand- wie tonfesten Sänger völlig aus Ton und Takt geworfen haben. Der Kurfürst musste ihn ermahnen, sich doch etwas zurückzuhalten. Beethoven führte in seiner Jugend bereits ein Leben als Hofmusiker. Ferner soll sich Neefe für die Ausbildung in Wien bei Mozart ausgesprochen haben, wobei es sich hier höchstens um wenige Stunden gehandelt haben dürfte, da der erste Wien-Aufenthalt lediglich zwei Wochen dauern sollte, bevor er aufgrund einer ernsthaften Erkrankung seiner Mutter heimreiste. Mit dem erneuten – diesmal dauerhaften – Umzug nach Wien im Oktober 1792 begann die Weiterbildung Beethovens vorwiegend im kompositionellen Bereich. Doch auch sein Violin- und Geigenspiel vervollkommnete er mithilfe verschiedener Lehrer wie dem berühmten Wenzel Krumpholz oder Ignaz Schuppanzigh. Schwer enttäuscht ist Beethoven von dem hochgepriesenen Lehrer Haydn: Bei dem habe er (außer Schachspielen) „nie etwas gelernt“. Immerhin verdanke er dem kurzen Zwischenspiel mit dem Wagenseil-Schüler Johann Schenk den doppelten Kontrapunkt in der Oktave. Ausgehend von Albrechtsbergers Lehrwerk „Gründliche Anweisung zur Composition“ (1790) vertieft Beethoven in den folgenden fünf Jahren seine Kontrapunktstudien und Fugenkomposition. Vielseitig, um Vervollkommnung in allen musikalischen Bereichen bemüht, lässt er sich fortan vom Hofkapellmeister Antonio Salieri freie Kompositionsart und Vokalkomposition beibringen. Seine Dankbarkeit zeigte der Komponist eher selten, und wenn in musikalischer Form (→ Widmungen). (YZ)

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Aussehen In durchaus imposanter Höhe erhebt er sich über dem Betrachter, der bewundernd nach oben blickt – zu dem Stein gewordenen, auf seinem Sockel stehenden (Bonn) oder thronenden (Leipzig) Komponisten. So hat man ihm zu seinen Ehren, darin auch der Größe seines Werkes Rechnung tragend, hier und anderswo ein Denkmal gesetzt. Doch in einem immerhin sind sich alle Zeitgenossen Beethovens, denen wir Beschreibungen seines Äußeren verdanken, einig: Groß ist er gewiss nicht gewesen. Schon Bäckermeister Fischer, in dessen Bonner Haus die Familie des Knaben Ludwig längere Zeit wohnte (→ Kindheit → Jugend), weiß über diesen zu berichten: „Kurz getrungen, breit in die Schulter, kurz von Halz, dicker Kopf, runde Naß, schwarzbraune Gesichts Farb, er ginng immer was vor übergebükt. Mann nannte ihn im Hauß, ehmal noch alls Junge, der Spangol.“ Dass auch der erwachsene Beethoven „kurz getrungen“ oder anders ausgedrückt „klein und unscheinbar“ wirkt, bezeugt die Augsburger Pianistin Elisabeth Bernhard, die dem Komponisten in Wien begegnet. Ihre Schilderung ist insgesamt wenig schmeichelhaft: Von „einem häßlichenrothen Gesicht voll Pockennarben“15 ist darin die Rede. Und weiter heißt es: „Sein Haar war ganz dunkel. Sein Anzug sehr gewöhnlich und durchaus nicht von der Gewähltheit, die in jenen Tagen und besonders in unseren Kreisen üblich war. Dabei sprach er sehr mit Dialect und in einer etwas gewöhnlichen Ausdrucksweise, wie überhaupt sein Wesen nichts von äußerer Bildung verrieth, vielmehr unmanierlich in seinem ganzen Gebahren und Benehmen war. Er war sehr stolz […].“ Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. Von daher kann es kaum verwundern, dass der von Beethoven in einem Klavierwettstreit übelst gedemütigte Virtuose Abbé Gelinek (→ Klavierspiel) seinen Widersacher in den dunkelsten Farben malt: klein, hässlich, schwarz und störrisch aussehend sei er gewesen. Doch auch der mit Beethoven freundschaftlich verbundene Pianist und Komponist Carl Czerny gibt in seinen Memoiren womöglich der Wahrheit die Ehre, als er sich daran erinnert, wie er als Neunjähriger dem Meister um 1800 erstmals begegnete: „Beethoven selber war in eine Jacke 26

von langhaarigem dunkelgrauem Zeuge und gleichen Beinkleidern gekleidet, so daß er mich gleich an die Abbildung des Campeschen Robinson Crusoe erinnerte, den ich damals eben las. Das pechschwarze Haar sträubte sich zottig, à la Titus geschnitten, um seinen Kopf. Der seit einigen Tagen nicht rasierte Bart schwärzte den untern Teil seines ohnehin brünetten Gesichts noch dunkler.“ Sehr schwärmerisch hingegen mutet die aus dem Jahr 1810 stammende Beschreibung Bettina von Arnims an: „Seine Person ist klein (so groß sein Herz und Geist ist), braun, voll Blatternarben, was man so nennt: garstig, hat aber eine himmlische Stirn, die von der Harmonie so edel gewölbt ist, daß man sie wie ein herrliches Kunstwerk anstaunen möchte, schwarze Haare, sehr lang, die er zurückschlägt […].“ Zu dieser Zeit soll Beethoven – wie ebenfalls Czerny bekundet – großen Wert auf sein Äußeres gelegt haben. „In jüngeren Jahren (bis um 1810)“ sei seine Kleidung „elegant“, sein Benehmen „cavaliermäßig“ gewesen, „später aber bei zunehmender Taubheit immer mehr und mehr verwahrlost“, und auch in der Erinnerung Franz Grillparzers war er „sorgfältig, ja elegant“ gekleidet. Erst später sei eine „bis zur Unreinheit“ gehende „Vernachlässigung“ eingetreten. „Wie ein herrliches Kunstwerk“ dürfte Beethoven dann den meisten Zeitgenossen wohl kaum mehr erschienen sein, die ihm auf seinen häufigen Spaziergängen (→ Freizeit) in Wien begegneten. Gerhard von Breuning, der Sohn seines Freundes Stephan (→ Freunde), liefert jedenfalls einen recht anschaulichen Bericht: „Beethoven’s äußere Erscheinung hatte, der ihm ganz eigenthümlichen Nonchalance in der Bekleidung wegen, auf der Straße etwas ungewöhnlich Auffälliges an sich. Meist in Gedanken vertieft und diese vor sich hinbrummend, gestikulirte er, wenn er allein ging, nicht selten mit den Armen dazu. Ging er in Gesellschaft, so sprach er sehr lebhaft und laut, und, da der ihn Begleitende dann immer die Antwort in das Conversationsheft [→ Konversationshefte] schreiben mußte, wurde im Gehen wieder häufig inne gehalten, was an sich schon auffällig und durch allenfalls noch mimisch geäußerte Antworten noch auffälliger wurde. So kam es, daß die meisten der ihm Begegnenden sich nach ihm umwandten, die Straßenjungen auch wohl ihre Glossen über ihn machten, und ihm nachriefen. Neffe Carl verschmähte deßhalb, mit 27

ihm auszugehen, und hatte ihm auch geradezu einmal gesagt, daß er sich schäme, ihn seines ‚narrenhaften Aussehens‘ wegen auf der Straße zu begleiten.“ Dass Beethoven in späteren Jahren mitunter „wie ein Bettler“ ausgesehen haben muss – was ihm, einer sehr unterhaltsamen Geschichte zufolge, im Jahr 1822 (oder 1823) sogar zum Verhängnis geworden sein soll (→ Anekdoten) –, bezeugt Nanette Streicher (→ Frauen), die dem Komponisten eine Zeit lang bei seiner Haushaltsführung zur Hand ging. Außerdem sei er ihr „wie ein Bär“ erschienen, „launisch und mürrisch“, sein Lachen habe „wie ein Brüllen“ geklungen. Doch obwohl Streicher auch erleben musste, dass Beethoven Vorbeigehende beschimpfte, hielt sie ihn für „einen guten Menschen“ (→ Charakter). Der Schriftsteller Ludwig Rellstab besuchte Beethoven an dessen Lebensende, zwei Jahre vor seinem Tod, mehrere Male. Seine sehr anrührende Beschreibung relativiert „die gängigen bekannten Abbildungen“ des Komponisten, die nach wie vor auch heute noch das Beethoven-Bild entscheidend prägen16: „So saß ich denn neben dem kranken, schwermütigen Dulder. Das fast durchweg graue Haar erhob sich buschig, ungeordnet auf seinem Scheitel, nicht glatt, nicht kraus, nicht starr, ein Gemisch aus Allem. Die Züge erschienen auf den ersten Blick wenig bedeutend; das Gesicht war viel kleiner, als ich es mir nach dem in eine gewaltsam geniale Wildheit gezwängten Bildnisse vorgestellt hatte. Nichts drückte jene Schroffheit, jene stürmische Fessellosigkeit aus, die man seiner Physiognomie geliehen, um sie in Uebereinstimmung mit seinen Werken zu bringen. Weshalb sollte auch Beethovens Angesicht aussehen wie seine Partituren? Seine Farbe war bräunlich, doch nicht jenes gesunde Braun, das sich der Jäger erwirbt, sondern mit einem gelblich kränkelnden Ton versetzt. Die Nase schmal, scharf, der Mund wohlwollend, das Auge klein, blaßgrau, doch sprechend. Wehmut, Leiden, Güte, las ich auf seinem Angesicht; doch, ich wiederhole es, nicht ein Zug der Härte, nicht einer der mächtigen Kühnheit, die den Schwung seines Geistes bezeichnet, war auch hier nur vorübergehend zu bemerken. Ich will hier den Leser nicht durch eine Dichtung täuschen, sondern die Wahrheit geben, ein treuer Spiegel seines theuren Bildnisses sein. Er büßte, trotz allem eben Gesagten, 28

nichts von der geheimnisvoll anziehenden Kraft ein, die uns so unwiderstehlich an das Aeußre großer Menschen fesselt. Denn das Leiden, der stumme, schwere Schmerz, der sich darin ausdrückte, war nicht die Folge des augenblicklichen Unwohlseins, da ich diesen Ausdruck auch nach Wochen, wo sich Beethoven viel gesünder fühlte, immer wieder fand, – sondern das Ergebniß seines ganzen, einzigen Lebensgeschicks, das die höchste Gewähr der Bestätigung mit der grausamsten Prüfung des Versagens verschmolz […]. Deshalb ergriff der Anblick dieses stillen tiefen Grams, der auf seiner wehmuthvollen Stirn, in seinen milden Augen lag, mit namenloser Rührung. Es gehörte starke Kraft der Selbstüberwindung dazu, ihm gegenüber zu sitzen und die hervordrängende Thräne zurückzuhalten.“ (HGK)

→ Lebendmaske → Totenmaske → Umgangsformen

B

Beethoven im All Welche irdische Musik käme den Hörgewohnheiten extraterrestrischer Wesen wohl am ehesten entgegen? Ein Initiationsgesang von Pygmäenmädchen aus Zaire – aserbaidschanische Sackpfeifen – Panflötenklänge von den Salomonen-Inseln – Männerhausgesang aus Neuguinea? Sagt ihnen Chuck Berrys „Johnny B. Goode“ vielleicht mehr zu? Louis Armstrongs „Melancholy Blues“? Oder sind es am Ende doch eher klassische Klänge, die ihr Herz, sofern vorhanden, berühren und beglücken? Bach würde ihnen geboten, Mozart, Strawinsky – und (natürlich, ist man geneigt zu schreiben) Ludwig van Beethoven: der erste Satz seiner fünften Sinfonie (→ Schicksalssinfonie) sowie die Cavatina aus dem Streichquartett op. 130. Insgesamt 27 Titel sind es, die – ein „Spiegel einer gefestigten Kanonbildung westlicher Kunstmusik“17 – auf einer kleinen (etwa 30 cm), vergoldeten Kupferschallplatte gemeinsam mit Bildern, Geräuschen und Grußworten („Herzliche Grüße an alle“, sagt die Germanistin Renate Born) verewigt worden sind, als Botschaft für außerirdische Zivilisationen an Bord der US-amerikanischen Raumsonden Voyager 1 und 2. 29

1977 zwecks Erforschung der äußeren Planeten und des interstellaren Raums ins All gestartet, haben diese bereits Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun passiert und werden im Jahr 2020, wenn auf Erden der 250. Geburtstag Beethovens begangen wird, die Grenzen unseres Sonnensystems erreicht haben … um – an eine Gebrauchsanweisung ist übrigens gedacht worden – eines (sehr) fernen Tages tatsächlich gehört zu werden? Ludwig van Beethoven, der am Ende seiner Neunten „Seid umschlungen, Millionen“ ausruft und „diesen Kuss der ganzen Welt“ widmet, hätte an dem Gedanken, dass seine Musik irgendwann einmal selbst in entlegenen Galaxien erklingen könnte, sicherlich Gefallen gefunden; wohl deutlich mehr als an der Tatsache, dass Astronomen einen der zahlreichen Krater des Merkur18 „Beethoven“ getauft und ein temporäres Phänomen nach ihm benannt haben: Am 16.12.1999, seinem 229. Geburtstag19, „leuchtete das Universum für wenige Sekunden auf. Eine solche Explosion kommt nur etwa alle vier Jahre vor. Aufgrund des Datums und der Brillanz des Phänomens wurde er von Brad Schaefer (Yale University) ‚Beethoven burst‘ (burst = Explosion, Ausbruch) genannt (technischer Name: GRB 991216). Das Phänomen, das sich in Gamma-Wellen niederschlug, wurde von Astronomen aufgezeichnet. Der Ursprung des ‚Beethoven burst‘ liegt etwa 10 Milliarden Lichtjahre entfernt, also etwa zwei Milliarden Jahre nach dem Urknall. Seine Ursache ist unbekannt, möglicherweise ist er Resultat des Zusammentreffens eines Neutronensterns mit einem schwarzen Loch oder einer Hypernova (eines neuen Sterns mit extrem starkem Helligkeitsausbruch).“20 Ludwig van Beethoven als Namensgeber für ein – und sei es auch noch so hell gewesen! – nur wenige Sekunden dauerndes Aufleuchten? – Verehrern des Komponisten mag diese Wahl unpassend erscheinen. Denn sein Stern wird, jedenfalls solange die Menschheit sich ihren Sinn für das Schöne bewahren kann, niemals untergehen, wird Licht und Wärme und Hoffnung ihr spenden. Hier unten auf Erden und – wer weiß – ganz weit oben vielleicht tatsächlich auch ... (HGK)

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Begräbnis Wir schreiben den 29. März des Jahres 1827. Die warme Frühlingssonne bescheint die mit Menschenmassen verstopften Straßen Wiens. Zahlreiche Ohnmächtige werden abtransportiert, sowohl Vorplatz als auch Dreifaltigkeitskirche sind derartig überfüllt, dass das Militär eingreifen muss und selbst Angehörigen und Freunden den Zutritt verwehrt. Doch handelt es sich nicht um Festspiele oder ein Festival. Ein äußerst trauriger Anlass hat diesen Tumult ausgelöst: Beethovens Tod – bzw. sein drei Tage später veranlasstes Staatsbegräbnis, zu dem die Crème de la Crème anreist, dem Verstorbenen im Gefolge seines Leichenzugs die letzte Ehre zu erweisen. Der Umzug braucht für die wenigen Hundert Meter vom Schwarzspanierhaus (→ Wohnungen), wo Beethoven gestorben, obduziert und aufgebahrt worden war (→ Tod), bis zur Dreifaltigkeitskirche über eine Stunde. Ganz Wien, die Welt ist erschüttert, fühlt sich zu kulturellen Höchstleistungen der Ehrerweisung animiert: Die Fackelträger sind berühmt-bekannte Persönlichkeiten, etwa Franz Schubert, der leider schon im folgenden Jahr seinem großen Vorbild in den Tod folgen und an seiner Seite beerdigt werden wird, Carl Czerny, Franz Grillparzer, um nur drei zu nennen. Sein langjähriger Freund Franz Grillparzer, der ihn bis zur letzten Stunde begleitete, verfasste die von dem Schauspieler Heinrich Anschütz gehaltene Grabrede, in der er das Monumentale am Werk des Freundes heraushebt: „der Meister des tönenden Lieds, der Tonkunst holder Mund, der Erbe und Erweiterer von Händel und Bach, von Haydn’s und Mozart’s unsterblichem Ruhm hat ausgelebt, und wir stehen weinend bey den zerrissenen Saiten des verklungenen Spiels“. Zahlreiche Gedichte werden auf den Tod Beethovens verfasst und vorgetragen, ebenso verschiedenste musikalische Darbietungen sowohl aus seiner Feder wie auch von Mozart und Bernhard Anselm Weber. Noch heute wirbt das Bestattungsinstitut Adolf Fritz, ein Familienunternehmen in Solingen, mit diesem Staatsbegräbnis für das eigene Unternehmen. (YZ)

→ Grab → Krankheiten → Totenmaske 31

Bonn Bonn feiert Beethovens 75. Geburtstag – Höhepunkt: die Enthüllung seines Denkmals. „[M]an [kann] sich nicht leicht einen Begriff machen, … unter einem ungeheuren Jubelruf der Menge, Music und Geschützessalven, zeigte Beethoven[s Statue] sich der ungeheurn Versammlung, freilich kehrte er den auf Fürstenbergs schön verziertem Balkon, versammelten Herrschafften den Rücken“, schrieb die 31-jährige Marie Ophoven geb. Hüffer in einem Brief 32

vom 15. August 1845 anlässlich des zwei Tage zuvor zu Ende gegangenen ersten Beethovenfestes der Stadt Bonn.21 Welch eine Brüskierung europäischer Elite – u. a. Humboldt, Friedrich Wilhelm IV., sogar Königin Victoria von England – und typisch Beethoven: Er kehrt ihnen den Allerwertesten zu! Wer diese Rückenansicht heute bewundern möchte, begebe sich in die Räumlichkeiten der damaligen Feier, des heutigen Max-Planck-Instituts für Mathematik. Eine Ehrerweisung gleich derjenigen anlässlich des Begräbnisses Beethovens, sind doch Bonn und Wien die zwei Städte, die sich bis heute im Ruhm dieses Musikers sonnen. Doch ist das rauschende, an köstlichen Anekdoten so reiche, von Franz Liszt initiierte Fest22 nur ein kleiner, gar miniaturhafter Ausschnitt dessen, was die lange Tradition Bonns ausmacht, deren Historie sich – Tacitus sei Dank – bis in die Zeit der Römer zurückverfolgen lässt. Aber Sie wollen Bonn zur Zeit Beethovens kennenlernen: eine seinerzeit relativ kleine kurkölnische Haupt- und Residenzstadt am Rhein, die sich nur wenige Kilometer oberhalb Kölns am gleichen Ufer befindet, wenngleich man von der einen zur anderen Stadt mit der Kutsche durchaus fünf Stunden brauchte. Als angenehm ebenes, idyllisches, teils von Weinbergen umgebenes Gebiet im schattigen Angesicht des nahen Siebengebirges breitet sich Ludwig van Beethovens Bonn aus: eine pulsierende Stadt, eine der glänzendsten im deutschen Westen, die – eingezwängt in Festungsanlagen aus dem 13. und 17. Jahrhundert – von der heutigen Beethovenhalle bis zum Alten Zoll reichte sowie vom Rhein bis kurz vor den heutigen Bahnhof; eine Barockresidenz mit Prachtbauten wie etwa dem Stadtschloss, dem Poppelsdorfer Schloss, dem Rathaus oder der Kreuzbergkirche mit Heiliger Stiege. Der beliebteste Kurfürst war wohl Clemens August (1723–61), der ebenso gefällig wie leichtsinnig im Umgang mit Geld wie Zeitgenossen prunkvolle Bauten errichtete, darin rauschenden Feste feierte – natürlich mit standesgemäßer Musik von hoch dotierten Musikern. Den Wittelsbachern folgten Max Friedrich aus dem Hause Königsegg-Rothenfels (1761–84) und Max Franz von Habsburg-Lothringen (1784–94), ein Sohn der Kaiserin Maria Theresia als Herrscher Bonns zu Beethovens Jugendzeit, der die erste Bonner Universität gründete und sich baulich verewigte mit der sogenannten Redoute. 33

Sechzehn Stationen sind es, die interessierten Besuchern der Stadt auch heute noch eine gute Orientierung bieten, dem jungen Ludwig, seiner Kindheit und Jugend, auf die Spur zu kommen. Begeben wir uns in Auszügen auf diesen Rundgang, der in der Bonngasse 20, dem berühmten Beethovenhaus mitten in der sehenswürdigen historischen Innenstadt, seinem Geburtsort, beginnt. Dort befindet sich der von Hermann Abs konstruierte, 1989 eröffnete Kammermusiksaal mit seiner hervorragenden Akustik23. Nebenan das berühmte über dreihundert Jahre alte Haus „Im Mohren“, aus dem seine Taufpatin, die Ehefrau des Ratskellermeisters, Gertrud Baum stammte, die der Familie das Taufessen ausrichtete. Der sich an der Front befindliche etwa 160  cm große Mohr, den biblischen Balthasar darstellend mit seiner Pfeife, ist zu Beethovens Zeiten noch nicht dort … Von hier aus geht es weiter die Gasse hinunter, auf dem Weg zur Taufe in die alte St.-Remigius-Kirche auf dem Remigiusplatz, wo das Verhältnis zwischen Bonn und Beethoven nicht nur mit seinem Eintrag ins Taufregister seine ganz besondere Bedeutsamkeit erhält. Haben sich hier doch schon Großvater und seine Frau Maria Josepha Poll (7.9.1733) sowie die eigenen Eltern (12.11.1767) das Jawort gegeben und sechs Kinder taufen lassen. Nicht nur in privater Hinsicht, auch in der Ausbildung Beethovens spielte diese Kirche eine wichtige Rolle. Einer der Schüler des Vaters, Nicola Veit, wurde – ähnlich wie Beethoven am Bonner Hof – Organist an der Remigiuskirche und unterrichtete Beethovens Jugendfreund Franz Josef Mompour, den der junge Musiker 1792 so gern mit nach Wien genommen hätte, was sich dieser jedoch nicht leisten konnte. Leider brannte die Kirche aufgrund eines Blitzeinschlags wenige Jahre später (1800) vollkommen ab, sodass von ihrer mehr als 1000-jährigen Geschichte – trotz ihrer Bedeutung für Bonn – nicht viel mehr bekannt ist, als dass sie die Hauptpfarrkirche mit dem größten Pfarrbezirk von Bonn war. Und wie viel gäbe es noch zu berichten über das Haus Rheingasse 24, das Universitätshauptgebäude, die Schlosskirche, den Zehrgarten/Markt (am Alten Rathaus), das Bonner Münster (die ehemalige Münsterschule), nicht zu vergessen das Beethovendenkmal auf dem Münsterplatz. Über den Kaufhof gäbe es eine eigene Geschichte zu 34

erzählen, handelt es sich hier doch um das ehemalige Breuningsche Haus. Die heutige Beethovenhalle sollte erwähnt werden, ebenso die Beethoven-Büste davor. Bis hin zum Ballhaus La Redoute, Bad Godesberg und dem Lippeschen Palais in Beuel-Oberkassel reichen die Berührungspunkte des jungen Musikers mit seiner Heimatstadt, zu der er zeit seines Lebens eine herzliche Beziehung hatte, nach der er sich immer wieder zurücksehnte, wenngleich er sie nach seinem endgültigen Fortgang nicht mehr wiedersehen sollte. Womit wir nun bei einer letzten wichtigen Station angelangt wären, die nicht fehlen darf: eine letzte Ruhestätte auf dem Alten Friedhof. Wenn Sie einmal in Bonn sind, schauen Sie ihn sich an, denn er ist nicht nur die letzte Ruhestatt vieler berühmter Persönlichkeiten, er ist bis heute ein Ort der Ruhe und Erholung im Herzen von Bonn. Joseph Clemens, gerade aus seinem französischen Exil in seine Residenz in Bonn zurückgekehrt, begründete diesen Friedhof. Es ging um eine hygienische Verbesserung, die Entlastung überbelegter Kirchhöfe (Pfarrkirche St. Martin, Hauptpfarrkirche St. Remigius) sowie die Ersetzung von „Notfriedhöfen“, die aufgrund von Seuchen im 17. Jahrhundert angelegt worden waren. Mit der endgültigen Schließung aller anderen Friedhöfe wurde dieser im Jahr 1887 zur Grabstätte aller Bonner Bürger und damit auch von Beethovens Mutter. Doch wie schlicht und zurückhaltend nimmt sich ihr Grab gegen andere aus wie etwa das vermutlich berühmteste Musikergrab des Friedhofs, welches mit einem aufwendigen Denkmal versehen ist: die letzte Ruhestätte von Clara (1896) und Robert Schumann (1856).24 Auch das Grab von Ludwigs Geigenlehrer Franz Anton Ries (1846) befindet sich hier.25 Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durften nur Nachfahren der Bestatteten bzw. Privateigentümer oder Ehrenbürger der Stadt Bonn auf dem „Alten Friedhof “ begraben werden. Doch Beethoven war längst ein Ehrenbürger Wiens, das ihn nicht mehr hergeben würde. (YZ)

→ Ausbildung → Begräbnis → Familie → Grab → Jugend → Kindheit → Mäzene

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Briefe „Von ihr – der einzig Geliebten – warum giebt es keine Sprache die das Ausdrücken kann was noch weit über Achtung – weit über alles ist – was wir nennen können – o wer kann Sie aussprechen, und nicht fühlen daß so viel er auch über Sie sprechen möchte – das alles nicht Sie – erreicht – – nur in Tönen – Ach bin ich nicht zu stolz, wenn ich glaube, die Töne wären mir williger als die Worte“, schreibt Beethoven 1805 seiner Geliebten – vielleicht ja unsterblichen Geliebten, wer weiß – Gräfin Josephine Deym und gewährt uns mit diesem Brief einen Einblick, wie Gefühl, Sprache und Musik für ihn zusammenhängen. Er setzt lieber auf seine Musik als auf Briefe: Ein „Reden, Schwätzen über Kunst, ohne Taten!!!!!“, das lehnt er ab, schreibt er auch seiner Freundin Bettina Brentano 1811. Wagen wir aus diesen zwei und anderen der etwa 1770 erhaltenen Briefe26 einen Einblick in Beethovens Denken, sein künstlerisches Selbstverständnis: Sie reichen von auch umfangreicheren Liebesbriefen (etwa dem an die unsterbliche Geliebte) sowie dem berühmten Heiligenstädter Testament über kurze Mitteilungen und Zettelchen bis hin zum offiziellen Schriftverkehr des Komponisten, aus denen seinem Charakter, seiner künstlerischen Physiognomie, seinem Schaffen, über das sich Beethoven ansonsten beharrlich ausschweigt (→ Arbeitsweise), nachgespürt werden kann. Auch scheinbar triviale Angelegenheiten stehen mit seinem Schaffen in Zusammenhang, zeigen die Lästigkeit, künstlerisches Schaffen, Komponieren und profanen Alltag zusammenbringen zu müssen. Wie oft geht es etwa um häusliche Probleme: Da werden Nikolaus von Zmeskall und Nanette Streicher mal wieder mit einem fast unleserlichen Wisch in fast schon unverfroren ungezierter Knappheit konfrontiert – wie unhöflich, das lassen sich nur wirkliche Freunde gefallen: Doch erst einmal müssen sie das auch noch von orthografischen Fehlern sonderbarster Art durchzogene Schriftstück interpretieren und verstehen, ach ja: Sie sollen Hilfestellung leisten beim Wohnungswechsel, der Suche nach passenden Dienstboten oder Hausangestellten, weil der Künstler sie mit seiner teilweise rüpelhaften Art (→ Charakter), seiner notorischen Unordnung (→ Wien → Wohnungen) hinausgeekelt hat. Äußerst schwer zu datieren sind 36

sie, diese krakeligen Schmierwerke ohne Datenangaben, lediglich eine Veränderung der Handschrift und die verwendeten Schreibmittel (Übergang etwa von Tinte zu Bleistift) geben ungefähre Anhaltspunkte für die kurzen Mitteilungen, Zettel und Billetten. Und doch: Man erfährt so einiges über die Sorgen und Nöte, die den Komponisten in seinem Alltag plagten, auch über sein Verhältnis zu Mitmenschen sowie in anderen Äußerungen, längeren Briefen an Freunde, über sich selbst, seinen Sorgerechtsstreit um den Neffen Karl. Eine kompositionsarme Zeit von etwa 1813 bis 1816 korreliert mit einem beträchtlichen Briefwechsel, der – nicht nur – die finanzielle Notsituation spiegelt. Den geschickten Umgang mit Behörden und die gleichzeitige planvolle Umsetzung der finanziellen Absicherung seines Neffen zeigt der gut belegte Schriftverkehr der Folgezeit. Und in Briefen an Verleger und Mäzene etwa dokumentiert sich, mehr sachlicher Art, der Schaffensprozess des Künstlers: Projekte, Entwürfe, Autografe, Erstausgaben etc. sowie natürlich – nicht zu unterschätzen – Fragen des Honorars (→ Broterwerb → Mäzene → Soziale Stellung). Sie offenbaren gleichzeitig eine weitere Seite dieses vielschichtigen Charakters: das Bewusstsein von sowie die fachkundige Umsetzung der Normen und Konventionen des Briefeschreibens im 19. Jahrhundert, denn natürlich weiß ein van Beethoven, wie man dem Mäzen gesellschaftlich angemessen seine Honorarwünsche darbieten muss, ohne sich jedoch unterwürfig zu zeigen. Und noch die letzten erhaltenen Briefe dokumentieren auf erschütternde Weise den Tatendrang, die Schaffenskraft auch des kranken, vom Tode gezeichneten Genies, stecken sie doch voller Pläne für eine Zukunft, die er nicht mehr verwirklichen konnte. Was hätten wir wohl zu hören bekommen? (YZ)

Broterwerb Stellen Sie sich vor, Sie nähmen Klavierunterricht, bezahlen gut dafür, bei einem großen Meister unterrichtet zu werden. Doch leider unterlaufen Ihnen klitzekleine Fehler: Ihre Finger wollen leider nicht so, wie es die Satztechnik des vor Ihnen liegenden Stückes vorgibt. Zunächst werden Sie gutherzig ermahnt, von einem durchaus gedul37

digen Lehrer. Doch es kommt erneut zu einer Ungenauigkeit und ein stechender Schmerz fährt Ihnen in die Schulter: Sie spüren Zähne! Ist das zu fassen? Ihr Lehrer hat Sie tatsächlich gebissen – vor lauter Wut über Ihre Unachtsamkeit, Ihre kleine Unausgewogenheit im ansonsten doch gar nicht so schlechten Spiel. Das gibt es nicht, denken Sie? Lassen Sie sich eines Besseren belehren: Wäre Ihr Lehrer Beethoven und Sie Carl Friedrich Hirsch, Enkel Albrechtsbergers, des einstigen Lehrers des Meisters (→ Ausbildung), dem man gefällig sein musste, dann, oh ja, wäre Ihnen genau dies widerfahren! Auch wird berichtet, dass Beethoven vor lauter Wut über unachtsames Spiel die Noten zu Boden geworfen, gar zerrissen haben soll. Kein Wunder, dass er als Musiklehrer nicht die erste Wahl der Wiener war! Trotzdem hat er mit einem genau ausgeknobelten Unterrichtskonzept, ausgehend von Bachs „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ über Muzio Clementis und Johann Baptiste Cramers Etüden aus deren Klavierschulen, zumindest zwei bedeutende Musiker und Lehrer hervorgebracht: Ferdinand Ries und Carl Czerny (bis heute unerlässlicher Lehrmeister der Fingerfertigkeit, lernt man Klavier nach Methode der Klassiker). Zum Glück musste Beethoven sich in seiner Wiener Zeit nicht hauptberuflich mit Schülern abgeben, war Lehrtätigkeit für ihn höchstens eine Nebentätigkeit, was jedoch durchaus eher untypisch war für Musiker seiner Zeit. Viele hielten sich damit und dem Spiel in Ensembles über Wasser. Nicht jedoch ein Beethoven. Lediglich in seiner Jugendzeit in Bonn hat er, nach der offiziellen Vertretung seines Lehrers Neefe als Hoforganist, ein festes Engagement an der Bonner Hofkapelle gehabt, als Organist und später zusätzlich noch als Bratschist, was er bis zu seiner endgültigen Übersiedlung nach Wien auch blieb. Daneben stellte das unbeliebte Unterrichten eine nur zu dieser Zeit nötige Einnahmequelle dar, die ihm jedoch immerhin erste wichtige Kontakte innerhalb der Gesellschaft der Adligen verschaffte, wie etwa die lebenslange Freundschaft mit der Familie Breuning oder seinen ersten Gönner, den Grafen Waldstein. Doch ist das eine andere Geschichte (→ Freunde → Kindheit → Jugend → Mäzene). Ferner unterrichtete Beethoven immer wieder einmal Gönner oder Angehörige, bestand jedoch, wie bei der Gräfin Giulietta Guicciardi 38

(→ Mondscheinsonate), darauf, mit etwas Selbstgenähtem bezahlt zu werden. Das zeigt, dass sich Beethoven auf diese Weise eben nicht den Lebensunterhalt verdiente, sondern eher aus Freundschaft, aus Verpflichtung heraus handelte. Die Widmungen seiner Werke geben wichtigen Aufschluss über den Kreis seiner Schülerinnen, z. B. Henriette Lichnowsky, die Schwester seines Gönners Fürst Karl, sowie dessen Schwiegermutter, Josepha von Liechtenstein, die Fürstin Odescalchi, Gräfin Ertmann und die Brunsvik-Schwestern. Nur einmal in seinem Leben spielt Beethoven mit dem Gedanken, sich sein Brot durch eine feste Anstellung zu verdienen: als Kapellmeister im Königreich Westfalen, am Kasseler Hof Jérôme Bonapartes. Doch die Annahme dieses so verlockenden Dienstverhältnisses wird durch die von seinen wichtigsten Gönnern für ihn ausgesetzte Leibrente verhindert, die, einmalig in ihrer Art, vertraglich ein solides Grundauskommen festsetzt – und das lediglich an die Bedingung geknüpft, auf Dauer in der schönen Stadt Wien zu verweilen (→ Mäzene). Diese Vereinbarung bringt tatsächlich keinerlei Verpflichtungen für Beethoven mit sich, außer vielleicht, dass sich der Erzherzog Unterricht durch den Komponisten wünscht, weshalb man hier definitiv nicht von einem Arbeitsvertrag, einer Anstellung sprechen kann. So bleibt festzuhalten, dass das Genie seinen eigentlichen Lebensunterhalt, und das fast sein Leben lang – dank seiner enormen Fähig- und Fertigkeiten –, außerhalb fester Anstellungsverhältnisse durch die Herausgabe und Aufführung seiner Kompositionen sowie durch die Unterstützung von Mäzenen hat bestreiten können. (YZ)

C

Charakter

Einem Musikschüler soll er doch tatsächlich in die Schulter gebissen, einen Ober, der zu seinem eigenen Unglück das falsche Essen gebracht hatte, glatt mit Suppe überschüttet haben – jeweils gewiss begleitet von den passenden Worten (→ Schimpfwörter). Denn vor Beleidigungen scheut er ganz grundsätzlich nicht zurück, selbst vor Handgreiflichkeiten nicht, ist ein ums andere Mal verwickelt in Schlägereien mit Bediensteten, Musikerkollegen, seinem Neffen Karl. – Einerseits. 39

Andererseits: Er fällt, wie berichtet wird, selbst Fremden um den Hals, versöhnt sich zum Teil auf offener Straße unter den Augen erstaunter Passanten mit Freunden, überreicht galant Blumengeschenke an Frauen, in deren Seele er sich ohnehin bestens einzufühlen versteht, sucht Zuflucht in der innig geliebten Natur, tritt, jeglichem Luxus entsagend, so bescheiden auf, dass man ihn (1826 in Gneixendorf) sogar für einen Diener hält und ihm ein Trinkgeld zusteckt – was ihm, der durchaus mit Humor gesegnet ist, ein Lächeln entlockt haben dürfte. Die Persönlichkeit Ludwig van Beethovens: Sie ist faszinierend, sie ist in ihrer Ambivalenz zugleich irritierend. „Mit einem feurigen Temperamente geboren“ sei er, bekennt der Komponist in seinem Heiligenstädter Testament, womit er eine Seite seines Wesens anspricht, die seinen Mitmenschen unschwer verborgen bleibt. Denn er kann schon sehr starrköpfig sein und aufbrausend, jähzornig gar, kann aber auch voller Euphorie und Überschwang und Herzlichkeit sein, um im nächsten Moment schon in Melancholie zu 40

verfallen – unerklärlich für andere ist dieser rasche Wechsel von einer extremen Stimmung in die andere, dieses „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“. So ist der junge Ludwig van Beethoven, so bleibt er im Grunde sein Leben lang. Und er weiß es selbst nur zu gut, offenbart der mütterlichen Vertrauten Frau von Breuning (→ Jugend → Kindheit) seine „hartnäckigen und leidenschaftlichen Launen“ und lässt sie nicht ohne Augenzwinkern Jahre später als schon erwachsener Mann wissen, dass er noch immer bisweilen seinen „Raptus“, seine jähen Stimmungsumschwünge, habe. Doch was sind die Ursachen hierfür? Darüber zerbricht sich auch Beethoven den Kopf, ergründet das eigene Wesen, betont in einem Brief an Johann Xaver Brauchle, „empfindlicher als alle andern Menschen“ zu sein, und bekennt gegenüber Ferdinand Ries: „Ich habe die Gabe, dass ich über eine Menge Sachen meine Empfindlichkeit verbergen und zurückhalten kann, werde ich aber auch einmal gereizt zu einer Zeit, wo ich empfänglicher für den Zorn bin, so platze ich auch stärker aus als jeder anderer.“ Dass der Komponist das eigene Verhalten reflektiert, geht auch aus seinem Tagebuch (→ Tagebücher) hervor. Hier finden sich Einträge, die sogar den Anschein erwecken, als wolle sich Beethoven selbst zur Räson rufen, wenn es zum Beispiel in dem Eintrag 34 heißt: „Gegen alle Menschen äußerlich nie die Verachtung merken lassen, die sie verdienen, denn man kann nicht wissen, wo man sie braucht.“ Und er braucht sie durchaus, seine Bediensteten etwa, die wahrlich nicht zu beneiden sind, müssen sie doch (wie auch Freunde und Verwandte) mit den Folgen seiner Angst leben, beobachtet, belauscht, betrogen, bestohlen, übervorteilt zu werden, was durch die zunehmende Ertaubung geradezu paranoide Formen annimmt. Beethoven schreckt nicht davor zurück, die Hausangestellten mit recht unsinnigen Vorschriften zu drangsalieren, inspiziert ihre Kammern, lässt Lebensmittel in einem Fach am Kopfende seines Bettes aufbewahren, um die Entnahme überwachen zu können, schirmt sein Zimmer mit Schallisolierungen an den Türen und Fensterläden ab. Eine seiner Angestellten wird einzig und allein wegen einer Notlüge entlassen. Denn hoch sind die moralischen Ansprüche Ludwig van Beethovens. Seiner Schwägerin hält er ihren angeblich lockeren Lebenswandel vor, verbietet seinem Neffen Karl Freizeitvergnügungen und straft 41

schulischen Misserfolg mit Schlägen. – Doch die strengen Maßstäbe, die der Komponist bei anderen ansetzt, selbst einzuhalten, gelingt ihm zu seinem eigenen Verdruss nicht immer. Unverbrüchlich hingegen hält er sowohl an seinem Arbeitsethos (→ Arbeitsweise) fest, so wie er es sich in seinem Tagebuch auferlegt („Alles, was Leben heißt, sei der Erhabenen geopfert und ein Heiligtum der Kunst.“), als auch an der Caritas, der Nächstenliebe: „ermuntere Dich […] die göttliche Vorsehung und Güte dadurch nach Deiner Fähigkeit nachzuahmen, dass Du auch Deine Sorgfalt zum Unterhalt und zum Wohl Deiner Mitgeschöpfe beitragest“ – so lautet ein Satz, den er in den „Betrachtungen“ des Theologen Christoph Christian Sturm mit einer Anstreichung versieht (→ Religiosität), und seinem Jugendfreund Gerhard Wegeler schreibt Beethoven im Juni 1800, dass seine Kunst sich nur „zum Besten der Armen“ zeigen solle und sein „Beutel“ nicht leide, wenn er „einen Freund in Not“ sehe. Es sind keine leeren Worte: So unterstützt der Komponist beispielsweise – allen persönlichen Differenzen zum Trotz – seine Brüder (→ Familie) großzügig und würde selbst seiner in einer finanziellen Misere befindlichen Schwägerin Johanna unter die Arme greifen – zu einem Zeitpunkt, als er diese juristisch geradezu bekämpft (→ Neffe Karl) –, ist jedoch hierzu gerade nicht in der Lage, was ihn untröstlich stimmt.27 Unerwähnt bleiben darf indes nicht, dass demselben Beethoven auf der anderen Seite eine gewisse Kaltschnäuzigkeit eigen ist, beispielsweise wenn er bei Honorarforderungen kühl kalkulierend seine Verleger gegeneinander ausspielt oder ein Gericht mit einem fingierten Adelsdiplom zu täuschen versucht. Man darf also mit Fug und Recht (und Untertreibung) sagen, dass Beethoven gewiss kein „einfacher“ Mann ist. Ihm nahestehende Menschen reagieren oftmals mit Verständnis, wie zum Beispiel seine enge Vertraute Dorothea Ertmann (→ Frauen), die seinen Charakter wie folgt beschreibt: „Er war sehr reizbar, sehr aufbrausend, sehr empfindlich und dadurch oft ungerecht und misstrauisch gegen seine besten Freunde. Wer hätte aber dem durch seine zunehmende Taubheit so unglücklichen Mann gram sein können! Man muss seinen physischen und moralischen Leiden Rechnung tragen und ihm alles vergeben. Auf diese Weise haben wir jahrelang in ungetrübter Freundschaft gelebt.“ 42

Nachsicht übt aus demselben Grund auch Goethe nach dem Zusammentreffen mit dem Komponisten, bei dem er ihn als „eine ganz ungebändigte Persönlichkeit“ erlebt. „Sehr zu entschuldigen und sehr zu bedauern“ sei er hingegen, da ihn sein Gehör verlasse, „das vielleicht dem musikalischen Theil seines Wesens weniger als dem geselligen“ schade. Er, der „ohnehin lakonischer Natur“ sei, werde es „nun doppelt durch diesen Mangel“. In der eigenen Ertaubung (→ Taubheit) sieht auch Beethoven selbst die Hauptursache für die eher düsteren Seiten seiner Persönlichkeit, wie er im Alter von 31 Jahren zu Beginn des Heiligenstädter Testaments darlegt („O ihr Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet oder erklärt, wie unrecht tut ihr mir, ihr wisst nicht die geheime Ursache von dem […]“). Der mit dem Komponisten freundschaftlich verbundene Aloys Weißenbach jedoch – wie er unter Ertaubung leidend – ist weit weniger bereit, dessen charakterliche Schwächen einzig und allein darauf zurückzuführen. „Vielmehr betrachtet er Beethovens Persönlichkeit mit dem forschenden Blick eines Arztes und glaubte, einen tief greifenden Widerspruch zwischen der ‚Rüstigkeit und Derbheit‘ seiner äußeren Erscheinung und seiner psychischen Verfassung erkennen zu können. Sein ‚Nervensystem‘, so Weißenbach, ‚ist reizbar im höchsten Grade und kränkelnd sogar‘, sodass es ihm ‚wehe […] getan habe, in diesem Organismus der Harmonie die Saiten des Geistes so leicht abspringen und verstimmbar zu sehen‘.“28 Weißenbachs Diagnose erscheint aus heutiger Sicht äußerst treffend. Denn es spricht sehr viel dafür, dass Ludwig van Beethoven ein besonderes Wesen besitzt, das in der Psychologie erst in jüngster Zeit zunehmend in den Blickpunkt gerückt ist und als hochsensibel bezeichnet wird – ein Begriff, der keinesfalls nur in seiner üblichen Bedeutung, nämlich als Synonym für „äußerst empfindlich“, aufgefasst werden darf; dies würde viel zu kurz greifen. Der Begriff „hochsensible Person“ wurde von der amerikanischen Professorin und Psychotherapeutin Elaine Aron geprägt, die auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistete und im Jahre 1996 in ihrem Buch „The Highly Sensitive Person“ erstmals eine grundlegende und detaillierte Darstellung der Hochsensibilität bot. Eine Vielzahl der dort beschriebenen „Symptome“ – beispielsweise extreme Stimmungs43

schwankungen, eine ungewöhnliche Empfindlich- und Empfindsamkeit, die innige Naturverbundenheit, nicht zuletzt eine künstlerische Hochbegabung – trifft auf Beethoven zu. Die im Jahr 2012 erstmals aufgestellte These29, dass der Komponist ein hochsensibler Mensch gewesen sein könnte, bringt Licht ins Dunkel seiner faszinierenden Persönlichkeit, erklärt die Ambivalenz seines Wesens. Es zu wissen, wäre für Beethoven eine Offenbarung gewesen – wie für so viele Menschen, die heutzutage ihre eigene Hochsensibilität entdecken und lernen, mit dieser besonderen Persönlichkeit, die Fluch und Segen zugleich sein kann, zu leben. (HGK)

→ Aussehen → Broterwerb → Mythos → Nachlass → Religiosität → Umgangsformen

D

Diabelli-Variationen

Ludwig van Beethoven ist – so überliefern es jedenfalls einige Anekdoten – angeblich zunächst ganz und gar nicht „amused“: Da ist ihm doch gerade etwas ins Haus geflattert! Keine Rechnung, keine Mahnung, kein Schmähbrief. (Gott sei Dank! → Religiosität) – Etwas Musikalisches ist es, ein Walzer. Der Absender: „Diabolus Diabelli“, wie Beethoven seinen Wiener Kollegen Anton Diabelli schon mal gern nennt (→ Humor), der scheinbar ohne Unterlass kleine Klavierstücke für ein breites Publikum komponiert. Auch dieser – zugegeben: nicht gerade vor Einfallsreichtum sprühende, jedoch hinreichend Raum und Freiheit für Veränderungen bietende – Walzer stammt aus seiner Feder, und er hat ihn Anfang 1819 nicht nur Beethoven, sondern auch gleich 49 anderen Komponisten30 zugesandt. Diabellis (gar nicht diabolische, lediglich durchaus clevere) Idee: Ein Sammelwerk von Variationen auf den Walzer soll seinem einige Monate zuvor gegründeten Musikverlag ein wenig auf die Sprünge helfen. Mit lediglich einer Variation kann und will sich ein Ludwig van Beethoven jedoch unmöglich begnügen, wenn seine Inspiration einmal geweckt ist (wie er mit seinen „Eroica-Variationen“ op. 35 siebzehn Jahre zuvor bereits eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat)! 44

Und so entsteht der „kontrastreichste und aufregendste KlavierVariationszyklus der Musikgeschichte“, in dem Beethoven mit Diabellis Walzer „wie ein genialer Löwe mit einer doofen kleinen Maus“ spielt,31 sein neben der dritten Sinfonie umfangreichstes, längstes Instrumentalwerk von ca. einer Stunde Spieldauer. Gleich nachdem Beethoven die Entscheidung getroffen hat, sich an dem Projekt zu beteiligen, skizziert er zwei Drittel der letztlich insgesamt 33 Variationen, unterbricht dann jedoch die Arbeit daran zugunsten der Missa solemnis und der letzten drei Klaviersonaten (op. 109, 110 und 111), sodass „Diabolus D.“ sich geschlagene drei Jahre gedulden muss. Dann, im Jahr 1823, ist das Antonie Brentano zugeeignete (→ Frauen → Unsterbliche Geliebte → Widmungen) Riesenwerk endlich fertig, und Anton Diabelli veröffentlicht es – durchaus demütigend für die anderen 49 Komponisten (denn so war das ja nicht abgemacht!) – getrennt von ihnen als ersten Teil seines Projekts und lässt den zweiten erst im Jahr darauf folgen. Nun waren sie in der Welt, die Diabelli-Variationen Ludwig van Beethovens, doch bevor ein Konzertpublikum sie das erste Mal hören würde, sollten noch über drei Jahrzehnte vergehen. Denn da selbst der Hexenmeister der Tasten, Franz Liszt, der das Werk durchaus beherrschte und für seine Uraufführung eigentlich prädestiniert erschien (hatte er doch die wahrlich angsteinflößende „Hammerklaviersonate“ als Erster öffentlich dargeboten), nie eine Aufführung wagte, haftete diesem bald der Ruf der Unspielbarkeit an. Erst Hans von Bülow stellte sich 1856 dieser gewaltigen Herausforderung und ließ das Stück in Berlin erklingen. Mit dem „Mikrokosmos Beethovenschen Geistes“, wie von Bülow die „33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli“ (op. 120) nannte, sind aus heutiger Sicht wohl nur die „GoldbergVariationen“ Johann Sebastian Bachs in einem Atemzug zu nennen, und sie weisen, wie manch andere Werke Beethovens auch, „einen Weg durch die Musik des 19. Jahrhunderts, könnten noch als avantgardistisch an dessen Ende stehen und am Beginn zur Musik des 20. Jahrhunderts.“32 Beethoven, der lediglich 50 Jahre in die Zukunft veranschlagte, gab sich hier also durchaus (und ungewohnt) bescheiden. (HGK)

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Dirigent „Dort stand er so fest entschlossen, seine Bewegungen, sein Gesicht drückten die Vollendung seiner Schöpfung aus.“ – Der schwärmerische Blick Bettina Brentanos, einer Freundin Beethovens, die so im Jahr 1810 dessen Dirigat Goethe gegenüber schildert, ist wohl trügerisch, und Zeitgenossen, die es (besser) wissen müssen – Orchestermusiker nämlich –, betonen zwar des Meisters Temperament sowie seine energetische Persönlichkeit, vermissen jedoch hinsichtlich der Spielanweisung musikalische Präzision – was für einen guten Dirigenten bekanntlich von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Als chaotisch gar beschreibt der Beethoven-Schüler Ferdinand Ries dessen Probenarbeit zur dritten Sinfonie („das ganze Orchester“ habe er hinausgeworfen), und auch Ignaz von Seyfried spart nicht mit kritischen Tönen: Beethoven bringe seine Musik gewiss mit vollem Körpereinsatz zum Ausdruck, verliere hierüber aber zuweilen das Orchester aus dem Auge: „Im Dirigieren durfte unser Meister keineswegs als Musterbild aufgestellt werden, und das Orchester musste wohl Acht haben, um sich nicht von seinem Meister irreleiten zu lassen; denn er hatte nur Sinn für seine Tondichtungen und war unablässig bemüht, durch die mannigfaltigsten Gestikulationen den identifizierten Ausdruck zu bezeichnen.“ Auch wenn nur lückenhaft belegt ist, wie Beethoven, unter dessen Stabführung zumeist eigene Werke erklangen, tatsächlich dirigiert hat, so steht außer Frage, dass seine Bedeutung als Dirigent – im Gegensatz zu anderen Komponisten von hohem Rang wie Richard Wagner oder Gustav Mahler – als eher gering angesehen werden muss. Die zunehmende Taubheit beeinträchtigte diese Tätigkeit erheblich, was im Konzertsaal offen zutage trat. Gleichwohl dirigierte Beethoven noch 1819 – zu einem Zeitpunkt, als er sich bereits der Konversationshefte bediente, um mit seinen Mitmenschen kommunizieren zu können – die siebte Sinfonie, sah sich drei Jahre später während der Proben zu der Oper „Fidelio“ jedoch gezwungen, den Taktstock niederzulegen, da es im Orchestergraben zu Tumulten kam. „Verwirrten Antlitzes, mit überirdisch begeistertem Auge“, so erinnerte sich die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient, habe er diesen zuvor „un46

ter heftigen Bewegungen“ hin- und her geschwungen, habe, „mitten unter den spielenden Musikern“ stehend, „keinen Ton“ gehört. Sein letzter öffentlichen Auftritt als Dirigent war am 7. Mai 1824; dem Tag, als Beethoven einen seiner größten Triumphe feiern konnte: die Uraufführung der Neunten. (HGK)

E

Elternhaus

Zwischen Mehlspeicher und Backstube, so notiert die Tradition, gedeihen nicht nur Bäckerdynastien gut. Egal ob „bönnsche Jung“, „Tünnes“ oder „Schäl“33, es wird täglich frisch gebacken, hier duftet es nach Sauerteig, nach frischem Backwerk. Käufer stehen bereits frühmorgens Schlange, um an Backspezialitäten zu kommen, die Bäckermeister Fischer, mittlerweile bereits in fünfter Generation, mit seiner mehlbestaubten Schürze frisch gebacken aus dem sich im Laden befindlichen Holzbackofen hervorholt: ein sinnliches Vergnügen. Um köstliches Brot herzustellen, das noch nach Brot schmeckt, aromatisch duftet, aus Natursauerteig mit knusprigster Kruste und bissfester Krume besteht, hat der Bäckermeister wohl spätestens um zwei Uhr nachts sein gemütliches, sich im Stock darüber befindliches Ehebett verlassen. Aus dem dritten Stock, dem Mehlspeicher, hat er die Zutaten für seine Backspezereien geholt und sich, begleitet von musikalischer Untermalung, mitten in der Nacht an die Arbeit gemacht. Musikalische Untermalung? Ja, so ist es, denn wir befinden uns im berühmten „Haus in der Rheingasse Nr. 934“, welches, im Stockwerk über der Wohnung des Bäckermeisters, die Familie Beethoven lange Zeit beherbergte. Deren männliche Mitglieder, zumindest jedoch der Vater, sein Freund und der Sohn Ludwig, erkoren in der Regel die späte Nacht bzw. den frühen Morgen für die Übungszeiten am Klavier aus, wenn die Erwachsenen nach der Vorstellung der Hofkapelle heimgekehrt waren (→ Ausbildung). Der Bäckermeister hatte sich verständlicherweise ausbedungen, dass am Nachmittag, an dem er seinen dringend benötigten Schlaf nachholte, nicht musiziert werden dürfe. 47

Könnte man doch noch einen Rundgang durch das leider 1944 den Bomben zum Opfer gefallene „Haus in der Rheingasse Nr. 934“, die Wohnung des Kapellmeisters im zweiten Stock des seinerzeit als höchstes Privathaus Bonns geltenden Hauses der tradierten Bäckerfamilie Fischer, machen … Vom Dachboden aus hätte man einen phänomenalen Blick gehabt wie Beethoven, der als Kind von hier aus träumend sehnsüchtig den wechselhaften Himmel über dem fernen Siebengebirge sowie die schaumgekrönten Wasser des Rheins beobachtete. Im Erdgeschoss würde man vielleicht ein so oder ähnlich geschildertes Vergnügen in einer (garantiert auch heute) gut laufenden Bäckerei erleben, darüber die Familie Fischer in fünfter Generation selbst wohnte und in dessen zweiten Stock sich die Beethovensche Wohnung befand. Deren räumlichen Mittelpunkt stellte eine geräumige Küche dar, die einmal quer über die Hausbreite reichte: Auf die Straße gingen zwei Fenster, zum Innenhof hinaus drei weitere. Als „wohl eingerichtet von Preciosen“34 werden die sechs von Vater, Mutter sowie drei Söhnen bewohnten Zimmer beschrieben, als reichlich möbliert, in den Vitrinen ein Silberservice, ein vergoldetes Porzellan und Glasvasen, nicht zu vergessen die feine Tischwäsche (auch Kleidung) aus ostindischem Tuch, die von Gemälden geschmückten Wände, unter anderem auch jenes von Beethoven verehrte Ölbildnis von Radoux, das den Großvater darstellte (→ Ausbildung). Lebten die Beethovens – als Musikerfamilie – damit über ihre Verhältnisse? Es ist bekannt, dass der Vater eines der sechs Zimmer weiter untervermietete – an Freunde etwa –, um auf diese Weise sein nicht so üppiges Salär aufzufrischen. Ein Gehalt, mit dem er diese für das späte 18. Jahrhundert typische gutbürgerlich repräsentative Wohnung auf keinen Fall hätte bezahlen und unterhalten können, wenn ihm nicht zusätzlich die nach dem Tod seiner Eltern empfangene Erbschaft zugutegekommen wäre. Diese ermöglichte es der Familie, zumindest auf längere Zeit, in das Haus zurückzuziehen, in dem vormals bereits der Großvater gewohnt und mithilfe von zwei Kellerräumen seinen Weinzwischenhandel betrieben hatte. Aus der Wohnung war die Familie jedoch im Unfrieden in zwei einander gegenüberliegende Wohnungen in der Bonngasse 515 umgezogen, in der der junge Ludwig denn auch das Licht der Welt in einer Dach48

kammer erblicken sollte (→ Kindheit → Jugend), da der alte Ludwig Johanns Heirat mit Beethovens Mutter missbilligt hatte. Es gehört wohl zu den Kuriositäten der Geschichtsschreibung, dass dieses – nur kurze Zeit von den Beethovens bewohnte – sogenannte Geburtshaus, als Museum hergerichtet (heute Bonngasse 20), zum Wahrzeichen der Stadt Bonn geworden ist, jährlich von rund 100.000 Gästen aus aller Welt besucht wird und – laut eigener Werbung – als das einzige erhaltene Wohnhaus der Familie Beethoven gilt, das sich weitgehend im originalen Zustand befindet. Zusätzlich zu Erbschaft, Untervermietung und Kapellmeistersalär war es notwendig, Konzerte in den wohlhabenden privaten bürgerlichen Haushalten zu geben, woraus sich für den jungen Beethoven 49

die Chance des Unterrichtens im Haus der Breunings erschloss und damit der Zugang zu höheren Gesellschaftsschichten und Bildung. Existenziell wurde diese Unterstützung der Familie durch den jungen Künstler jedoch, als das Salär des Vaters infolge eines rigiden Sparkurses des Kurfürsten Maximilian Franz ab 1784 herabgesetzt wurde. Dass überdies der verstärkte Unterricht in der eigenen Wohnung zu Auseinandersetzungen mit dem Bäckermeister geführt haben könnte, scheint – neben der Geldfrage – ein weiterer einsichtiger Grund für die Suche nach einer neuen Bleibe der Familie zu sein, die sie schließlich 1785 fünf Häuser weiter finden sollte. Jedoch stellte sich auch diese Wohnung als sehr teuer heraus, sodass man dazu gezwungen war, 1787 in die Wenzelgasse 476 überzusiedeln, der letzten Bleibe der Familie in Bonn, wo sowohl Mutter (17.7.1887) als auch Schwester (im Oktober) starben (→ Grab) und Vater Johann sich darauf folgend der Trunksucht ergab, die zu seiner Entlassung aus dem Dienst führte. Verantwortungsbewusst übernahm der 19-jährige Komponist die Sorge für die Familie, sowohl für seine zwei Brüder als auch für den unzurechnungsfähigen Vater. Dadurch musste er – abgesehen vom eigenen Verdienst als Hoforganist und Teil des Opernorchesters des Bonner Hofs – haushalten mit einem knappen Budget von 200 Reichstalern, der Hälfte der Pension des Vaters, deren Überlassung er für den Unterhalt seiner Brüder erwirkt hatte. Zusätzlich musste der Haushalt Stück für Stück versetzt werden, bis seine Brüder ihm 1794, zwei Jahre nach des Vaters Tod im November 1792, nunmehr erwachsen nach Wien folgten. So ist heute aus dem Elternhaus Beethovens insbesondere das imposante Gemälde des Großvaters erhalten, das viele Umzüge miterlebte, letztendlich im Schwarzspanierhaus (→ Wohnungen) hing und derzeit im Historischen Museum Wiens zu besichtigen ist. (YZ)

Essen und Trinken Wie wäre es mit Wildente? – Duckente? – Huhn? Dazu vielleicht Blaukohl und Kastanien. Oder aber ein schönes Wildbret! Rehschlegel; mit Spinat und Karbonaden. – Ob man auch Austern servieren sollte? – Beethoven kann sich noch nicht entscheiden … 50

Völlerei und Luxus sind ihm eigentlich zuwider … Doch wenn Gäste ins Haus stehen (wie für die Haushälterin bestimmte Einkaufszettel in Konversationsheften verraten), kommen bei ihm auch schon mal „mehrgängige Menüs auf dem Niveau gediegener Hausmannskost“35 auf den Tisch. In Gasthäusern, die der Komponist regelmäßig aufsucht (→ Freizeit), gibt er jedoch eher Rustikalerem, wie Blutwurst mit Kartoffeln, den Vorzug. Daheim schmeckt es mal so, mal so; je nach Haushälterin, die häufig wechselt. Beethoven ist von ihren Künsten abhängig, er selbst kann nicht kochen (abgesehen von seinem morgendlichen Kaffee, der, in einer gläsernen Kaffeemaschine zubereitet, von beträchtlicher Stärke – angeblich 60 Bohnen pro Tasse (!) – ist). Und vieles, was das Herz so recht erfreuen würde, muss Beethoven verschmähen. Da die Ärzte über Jahrzehnte eine strenge Diät verordnen (→ Krankheiten), ist leichte Kost angesagt: Zum Abend gibt es häufig Makkaroni mit Schinken und Parmesan, donnerstags Brotsuppe mit weich gekochtem Ei, freitags Fisch (→ Religiosität) mit Kartoffeln; mittags wird kalt gegessen: Brot mit Käse, Salami, Kalbsbraten oder Zunge. Beethoven hält sich (zumeist) an die Anordnungen seiner Ärzte, ebenso an deren Alkoholverbot – so schwer es auch fällt. Bier, das er trinken dürfte, weil jene es als gesundheitsfördernd ansehen, schätzt er nicht allzu sehr. Das kann kein Ersatz sein für einen schönen, unverfälschten Roten (wie ungarischen Tokaier) oder – wie sehr Beethoven ihn in Wien doch vermisst! – heimatlichen Rhein- und Moselwein, dem seine letzten Worte gelten werden (→ Tod). Dass Ludwig van Beethoven – darin seinem Vater (→ Elternhaus) ähnlich – ein Trinker gewesen sei, ist ein weitverbreiteter Irrglaube. Abgesehen von der Zeit der engen Verbindung mit Karl Holz (→ Freunde), der einem guten Tropfen, gelinde gesagt, nicht abgeneigt war, „gibt es keine Anzeichen für einen über das zu Mahlzeiten übliche Maß hinausgehenden Alkoholgenuss“.36 Wenn man Anton Schindler Glauben schenken will, trank Beethoven allerdings reichlich, wenn nicht sogar übermäßig … frisches Brunnenwasser. (HGK)

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Europahymne Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elisium …



Wer kennt sie nicht – diese Worte, die Friedrich Schiller einst im Jahre 1785, der frühen Fassung seines neunstrophigen Gedichts, niederschrieb? Und wer summt die Tonfolge nicht beim Lesen unbewusst mit, diese eingängige und so vertraute Melodie, die daraus hervorgegangen ist, die gar in einer Bearbeitung zu einer Hymne unseres Kontinents wurde? Und wieder einmal ist es Beethoven, der dieses Gedicht zu einem der wohl bekanntesten musikalischen Werke seiner sowie heutiger Zeit und – wie sollte es anders sein – einem gänzlich neuartigen und bekannte Dimensionen sprengenden Werk ausgeformt hat: der 9. Sinfonie in d-Moll op. 125, als letzte vollendete Sinfonie mit einer Zeitdauer von etwa 70 Minuten im Jahre 1824 uraufgeführt (→ Neunte). Sogar ein neuer Name ist geprägt worden: Als „Sinfoniekantate“ definiert man sie, da im Finalsatz der ursprünglichen Sinfonie zusätzlich zum Orchester auch Gesangssolisten und ein gemischter Chor eingesetzt werden. Damit ist Beethoven einmal mehr zum Vorreiter geworden, nämlich für die romantischen, teilweise ganze Abende füllenden Sinfonien etwa von Bruckner oder Mahler. Beethovens Neunte gilt weltweit als eines der populärsten Werke der klassischen Musik, und ihr Finale ist womöglich noch bekannter, fasste doch die Europäische Gemeinschaft 1971 den Entschluss, dem Staatenbund das orchestrale gesanglose Finale als Hymne voranzustellen. Doch warum ausgerechnet die „Ode an die Freude“? Hatte man nicht in der unheilvollen Zeit des Nationalsozialismus auf Beethoven geschworen, in ihm einen typisch deutschen idealen Künstler gesehen? Und doch setzte Wagners Enkel Wieland bei den Bayreuther Festspielen im Jahr 1951 bewusst auf Beethovens Neunte, um mit dem nationalistischen Wagner-Kult aufzuräumen, und solange die beiden deutschen Staaten bei den Olympischen Spielen mit einer Mannschaft aufgetreten sind (1952–61), ist stets anstelle von zwei Nationalhymnen die als neutral wahrgenommene 52

„Ode an die Freude“ erklungen. Beethoven ist heraushebend, immer wieder neu, neutral zu interpretieren, egal ob aus sozialistischer oder kapitalistischer Perspektive. Die europäischen Organisationen haben aus der „Ode an die Freude“ – bewusst ohne einen Text, der ja in einer Landessprache hätte verfasst sein müssen – eine Staatsmusik kreieren lassen, die eine „Marseillaise im Stab der Menschheit“37 darstellte, um den Geist der Europäischen Gemeinschaft musikalischsymbolhaft zu verdeutlichen. Gerade im Finale, dessen Worte man ja eigentlich durchaus in jeder Sprache kennt, die im Unbewussten mit anklingen, liegt das Eindrückliche, die Sprengkraft verborgen, der hymnenhafte Charakter. Das Glück des Zueinanderfindens kristallisiert sich auf so unnachahmliche Weise heraus, dass es jedem, auch dem, der sich mit Beethovens Musik nie befasst hat, unwillkürlich kalt den Rücken hinunterläuft, hört er diese Töne. So schien es offenbar auch den Beamten zu gehen, die jene erste feministische Forderung einer europäischen Hymne im August 1949 ablehnten, der ungezählte weitere Partituren folgen sollten. Es handelte sich um Jehane-Louis Gaudets selbst entwickelte Hymne. Sie bezeichnete sich als eine Mutter, die „im letzten Krieg alle möglichen Schwierigkeiten hatte, einschließlich ihrer Internierung (durch die Deutschen)“, und schickte eine Hymne nach Straßburg ein als „Gesang der Vereinten Nationen“. Doch wo bleibt da historische Verwurzelung, Tradition – da muss man doch anknüpfen, um die neue demokratisch-kollektive Identität zu schaffen! Also Beethoven! Zustimmung auch durch André Maurois – bereits 1957 im Figaro: „Und da meint man, etwas zu hören, das sich in die Ankündigung des vereinten Europa mischen will, Beethovens ‚Hymne an die Freude‘ aus der Neunten Symphonie und die edlen Mahnungen Victor Hugos, der in den ärgsten Stunden eines Krieges den Mut hatte, der auch heute, im wiedergefundenen Frieden der unsre sein sollte.“ Mit der Neunten ist Vollkommenheit vollendet, alles Künftige nur Wider- oder Nachhall, und „Beethoven […] dazu berufen, das ‚Europa des Herzens‘“ und damit das vereinte Europa anzukündigen. Doch Beratungen und endgültiger Entschluss zogen sich noch über vier Jahre (!) hin, bis der Europarat das Stück mit der lakonischen Begründung „Es erscheint angemessen, ein Musikwerk zu 53

wählen, das charakteristisch für das europäische Genie ist und dessen Verwendung bei europäischen Veranstaltungen bereits ansatzweise eine Tradition bildet“ im „Beschluß 492“ 1971 zur Europahymne wählte und im darauffolgenden Jahr amtlich anerkannte. Nun wird aber die Europahymne als „Werk von Herbert von Karajan“38 bezeichnet. Warum dem so ist, fragt sich der geneigte Leser. Karajan hat im „europäischen“ Auftrag Beethovens Werk bearbeitet und es quasi als „Orchesterfassung des Gesangsparts angelegt“, indem er entsprechende Passagen des Stücks nachahmte und somit die Europahymne entwickelte, indem er die Ode an die Freude in die universelle Sprache absoluter Musik übersetzte und damit zu einer Stimme des „genialen Europa“ gerinnen ließ. In der Zwiespältigkeit des Umgangs und der immer wieder unter neue Vorzeichen gesetzten Verwendung von Beethovens Werken lässt sich seine Aktualität wohl auf zwei Standbeine zurückführen: Einerseits erscheint seine Musik als das sich immer wieder an jede Situation Anpassende, elementaren Bedürfnissen Entsprechende, und andererseits scheint sie gleichsam aus der Zeit herausgehoben – ein universalistisches Element zu haben, sodass die Menschen, egal welcher Zeit und welcher Ideologie angehörig, zu ihr finden, indem sie sie als „wahr“ erkennbar annehmen. Vielleicht ist ja auch gerade das einer der Gründe, warum Beethoven ins All geschickt wurde (→ Beethoven im All). (YZ)

→ Neunte

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Familie Haben Sie einmal Ahnenforschung betrieben? Waren Sie erstaunt, was aus der Geschichte alles ausgegraben wurde auf den Spuren eigener Traditionen? Die der Familie Ludwig van Beethovens lassen sich gar bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen bis ins belgische Brabant zu einer Familie „vom Rübenfeld“ – so die wörtliche Übersetzung des Namens van Beethoven – mit Besitzungen und – wie die überwiegende Mehrheit der Menschen jener Zeit – in der Landwirt54

schaft tätig. Eher untypische Berufe wie Zimmermann, Bäckermeister oder Händler finden wir jedoch in Folgegenerationen. Zudem ungewöhnlich: der ‚Wandersinn‘ der Beethovens: Von Löwen über Mecheln zieht es die Familienmitglieder über Lüttich und Bonn nach Wien und schließlich gar bis Amerika, doch dazu später mehr. Insgesamt zeichnen sich die verschiedenen Generationen der Familie alle durch besonders kreativen Unternehmergeist aus. Schon Urgroßvater Michael betreibt ausgehend von seinem soliden Grundstock als Bäckermeister39 in Mecheln lange Zeit einen gut gehenden Handel mit Luxusgütern wie Spitzenwäsche, Möbeln und Gemälden. Wichtiger ist noch, dass es Großvater Louis ist, der als Erster Zugang zur Musik findet, sich schließlich überwiegend von ihr zu ernähren weiß, obschon auch er zusätzlich zur Musikerkarriere das Händlergen durch regen Weinzwischenhandel in Bonn weiterpflegt. Doch der Reihe nach: Mit sechs Jahren tritt der Großvater als junger Pimpf in die Choralschule von St. Rombout ein, erhält eine solide Grundausbildung, ergänzt noch um Generalbassunterricht und eine Ausbildung zum Organisten (ab dem 13. Lebensjahr). Er ist so erfolgreich, dass er mit 19 Jahren den Ruf als Bassist nach St. Lambert in Lüttich bekommt. Dort wird niemand geringerer als Clemens August, Erzbischof von Köln und Bischof von Lüttich, auf ihn aufmerksam und lädt den jungen Musiker ein, in der europaweit bekannten und geschätzten kurfürstlichen Bonner Hofkapelle Bassist zu werden, wo er später (1761) zum Kapellmeister aufsteigt. Dieser wohlwollenden Einladung folgt nicht nur Louis … Kurze Zeit später trifft auch sein Bruder Kornelius, ein Kerzenmacher, in Bonn ein, wird durch die geschickte Heirat mit einer Bonnerin Bürger und gar Hoflieferant. Schließlich wird die Familie komplettiert durch den Vater der Brüder, der nach dem Konkurs mitsamt Frau vor den Gläubigern zu den Söhnen nach Bonn flüchtet. Mit Frau Maria Josepha hat der Großvater drei Kinder, von denen jedoch nur Beethovens Vater Johann überlebt, der relativ erfolgreich in die Fußstapfen des großen Vaters tritt. Mit Ludwig, benannt nach dem Großvater sowie dem ältesten, direkt verstorbenen Bruder, einem von sieben Kindern, wird die Musikerkarriere fortgesetzt. Man könnte durchaus von einer Musikerfamilie, vielleicht einer Tradition sprechen, hätte nicht, mit Beethoven als Spitzengenie, diese „Tradi55

tion“ schon in der dritten Generation den absoluten Höhepunkt und gleichzeitig auch ihr Ende erreicht – ganz anders als die berühmten Bachs. Auch wenn heutzutage viele bei Bach nur an Johann Sebastian denken (natürlich kaum zu überschätzen), sollte berücksichtigt werden, dass sein Künstlertum Teil einer über 200-jährigen familienund zeitgeschichtlichen thüringischen Traditionslinie ist. Wie anders nehmen sich da Karrieren und Entwicklungen der Beethovenschen Familie aus. – Nehmen wir zunächst den Vater: Vater-Sohn-Beziehungen sind bekannterweise nicht immer die einfachsten, oftmals mit Komplexen, Autoritätsproblematik und ähnlichen psychologischen Schwierigkeiten behaftet, man denke da nur einmal an die Familien Kafka oder Mann. Und diese Probleme liegen anscheinend auch bei den Beethovens schon seit Generationen in der Familie. Neben dem Erfolg des Kapellmeisters muss Ludwigs Vater Johann sich sein Leben lang klein und gering gefühlt haben, war der Großvater doch gleichzeitig in beruflicher Hinsicht Vorgesetzter des Vaters, wenngleich auch Letzterer zum Unterhalt der Familie sein Bestes gibt, und durchaus auch mit einigem Erfolg. So berichten glaubhafte Quellen von einer großen Nachfrage nach seinem Gesangs- und Klavierunterricht. Zudem steigt sein Gehalt lange Zeit kontinuierlich an, so schlecht können die Leistungen als Musiker wie Lehrer also nicht gewesen sein. Und doch wird erst der Sohn zum Titan; ein Begnadeter, die Musikgeschichte auf einzigartige Weise prägendes Genie! Und die beiden überlebenden Brüder Beethovens? Sie haben sich durchaus nicht der Musik, sondern im einen Fall dem Umgang mit Finanzen und im anderen Fall der Gutswirtschaft verschrieben, während Beethovens Schwester Maria Margarete Josepha im gleichen Jahr wie seine Mutter verstarb (→ Jugend → Kindheit). Auch eine (musikalische) Nachkommenschaft des berühmten Komponisten suchen wir vergeblich. Lediglich der Sohn des Bruders Carl, sein „berüchtigter“ Neffe Karl40, überlebt das Kindheitsalter und wird später eine Familie gründen, von deren fünf Kindern wiederum nur eines, nämlich die Tochter Karoline, Beethovensche Nachkommen in die Gegenwart führen wird. Während man im musikalischen Bereich so wenig von Traditionen sprechen kann, gibt es doch eine andere auffällige Beethovensche Charakteristik – ihr Umgang mit Geld: Der Biograf Caeyers 56

spricht von einer „Art ererbter Unfähigkeit im Umgang mit Geld“. Er erwähnt das riskante und leichtsinnige Spiel mit Anleihen und Hypotheken als Ursache für den Bankrott der Urgroßeltern, die sich ihrer Verurteilung nur durch Flucht zu entziehen wussten. Auch verweist er auf die gegen Vater Jean 1774 angestrengte Klage, die sich wohl im Zuge des Lavierens zwischen dem Begleichen von Schulden und Eintreiben von nicht immer korrekt verbuchten Außenständen ergeben hat. Folgt man dieser Fährte, sieht man den Sohn des Neffen Karl, der geschickt den Namen seines berühmten Großonkels zu vermarkten und nutzen weiß, jedoch nach Betrugsvorwürfen unter abenteuerlichen Umständen in die USA flüchtet, wo er gar seinen Namen in van Houven oder van Hoven41 ändert und unter diesem Namen eine erfolgreiche Firma gründet. Seine für alle Beethovens typische empfindlich stolze wie dickköpfige Kämpfernatur lässt ihn dort mit einer geradezu futuristischoriginellen Unternehmung relativ schnell Oberwasser – und viel Geld – gewinnen: Installiert er doch auf der berühmten Weltausstellung in Chicago 1893 einen Rollstuhlservice für Behinderte und Senioren. Trotzdem stirbt er völlig verarmt nach der Rückkehr auf den Kontinent vermutlich in Paris oder Brüssel irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Sohn, einem Journalisten, der 1917 in einem Wiener Lazarett an den Folgen seiner Darmverschlussoperation elendig zugrunde geht, findet, so Caeyers, „das Mechelner Geschlecht der Beethovens ein glanzloses Ende“. Doch einer überdauert! (YZ)

Fidelio (op. 72. Große Oper in 2 Akten) Es geht um nichts Geringeres als die Liebe – treue, bedingungslose Liebe, Liebe bis zum Tod; es geht um Unrecht und Befreiung, Auflehnung gegen Tyrannei … Und die Heldin ist zudem eine Frau (eine Frau, deren Name – Leonore – ihn unweigerlich an seine Jugendliebe Eleonore erinnert und sentimentale Gefühle weckt)! An diesem Stoff muss Ludwig van Beethoven doch einfach Gefallen finden, sie muss ihn zu seiner ersten (und leider einzigen) Oper inspirieren – und spannend, ja geradezu dramatisch, ist die Geschichte noch dazu: 57

Fidelio ist der falsche Name, unter dem Leonore in Männerkleidung als Gehilfe in den Dienst des Kerkermeisters Rocco tritt. Sie vermutet nämlich, dass ihr Gatte Florestan hier, in einem nahe Sevilla gelegenen Staatsgefängnis (auf dessen Hof der ganze erste Aufzug spielt), gefangen gehalten wird. Der Geschlechtertausch gelingt ihr so überzeugend, dass niemandem etwas Verdächtiges auffällt – auch Marzelline ganz offensichtlich nicht. Denn die Tochter des Kerkermeisters verliebt sich in den vermeintlichen Jüngling (was die Tarnung so richtig perfekt macht) und drängt sogar auf Eheschließung (ganz ungeachtet der Tatsache, dass sie bereits mit Jaquino, seines Zeichens Pförtner, verlobt ist). Rocco, wenig charakterfest, sähe Fidelio recht gern als Schwiegersohn (was er gegen den armen Jaquino hat, erfährt man nicht), womit er keineswegs hinterm Berg hält, und singt (als lebenserfahrener Bass) bei dieser Gelegenheit die vermeintliche Weisheit „Hat man nicht auch Gold beineben, kann man nicht ganz glücklich sein“. Gold ist so ziemlich das Letzte, was Fidelio alias Leonore jetzt gerade interessiert. Sie fleht Rocco an, sie (bzw. ihn) doch endlich 58

in die unterirdischen Verliese mitzunehmen, wo ein geheimnisvoller Gefangener ohne Licht und Stroh sein kärgliches Dasein fristet. Der Kerkermeister sträubt sich zunächst, wird schlussendlich jedoch von Fidelio und Marzelline überredet und erklärt sich bereit, Don Pizarro, den Gouverneur des Staatsgefängnisses, um die entsprechende Erlaubnis zu bitten. Dieser (böse) Bariton hat indes just eine Depesche erhalten, deren warnender Inhalt ihn zu Recht beunruhigt: Der Minister (Don Fernando, ebenfalls Bariton, aber gar nicht böse) will noch am selben Tage überraschend die Gefängnisse kontrollieren, da er argwöhnt, Opfer willkürlicher Gewalt säßen darin ein. Pizarro, nicht auf den korrupten Kopf gefallen, weiß gleich, von wem nur die Rede sein kann: dem Staatsbeamten Florestan nämlich, der zwei Jahre zuvor den Versuch gewagt hat, verbrecherische Machenschaften im Gefängniswesen aufzudecken – ein gar frevlerisches Unterfangen, für das Pizarro ihn seitdem hier schön (bei zuletzt noch kleiner werdenden Essensrationen) schmachten lässt. Schnell ist der perfide Plan gereift, den Unglücklichen der Einfachheit halber gleich umzubringen. „Ha! Welch ein Augenblick!“, frohlockt Don Pizarro, der es eigentlich eilig haben sollte, in einer etwa dreieinhalbminütigen Arie und befiehlt seinen Wachen, ein Trompetensignal zu geben, sobald der lästige Minister in Sichtweite ist. Rocco wird beauftragt, schon mal ein Grab zu graben, und (ausgerechnet!) Fidelio soll ihm dabei helfen … Nachdem sich diese(r), dem/der die Bedrohlichkeit der Lage nicht entgangen ist, mittels seiner/ihrer Sopranstimme etwas Mut angesungen hat („Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern“), dürfen die an die frische Luft geführten Gefangenen ihren weltberühmten Chor „O welche Lust“ zum Besten geben …

DuS „O welche Lust“ dürfte Beethoven beim Komponieren gewiss nicht immer verspürt haben, so sehr ihm der Stoff auch zusagte. Dieses „geistige Kind“, das bekannte er wenige Monate vor seinem Tod, habe ihm „vor allen anderen die größten Geburtsschmerzen“ bereitet. Dass er auf dem Gebiet der Oper unerfahren war, spielte dabei natürlich eine Rolle, wohl mehr noch der Ehrgeiz des Komponisten, weit über das Niveau einer ersten, im Jahr 1798 in Paris uraufgeführten 59

Leonoren-Oper von Pierre Gaveaux („Léonore, ou L’amour conjugal“) hinauszugehen (das aus der Feder des französischen Schriftstellers Jean Nicolas Bouilly stammende Textbuch soll übrigens angeblich auf eine wahre Geschichte zurückgehen). Fast zwei Jahre (!) arbeitete Beethoven an der ersten, auf dem Libretto von J. F. Sonnleithner basierenden Fassung des zunächst auf drei Akte angelegten Werkes. Die Uraufführung seiner ersten Oper sollte der Höhepunkt seiner Karriere werden! Denn so sehr die Instrumentalmusik auch an Bedeutung gewonnen hatte: In den Augen (und Ohren) des Publikums stand die Oper noch immer an der Spitze der Gattungshierarchie. Doch schon die Generalprobe zu der für den 20. November 1805 angesetzten Uraufführung verhieß nichts Gutes, und – was erschwerend hinzutrat – die Zeiten für kulturelle Veranstaltungen jeder Art waren gerade in höchstem Maße (gelinde gesagt) ungünstig. – Konnte die Uraufführung dennoch der erhoffte Erfolg werden? Durfte Beethoven auf die faszinierende Musik, die fesselnde Handlung vertrauen?

DuS Diese nimmt, nun zunächst in einem unterirdischen Kerker spielend, rasant Fahrt auf: Florestan, mit dicken Ketten an die Wand geschmiedet, beklagt sein Schicksal in der grandiosen Arie „Gott! Welch Dunkel hier!“ und glaubt in einer Hungerhalluzination, Leonore als Engel vor sich zu sehen, der ihn in die Freiheit führt – worauf er erschöpft zusammenbricht. Damit die Handlung alsbald fortschreiten kann, kommen gleich Rocco und Leonore herab, um Pizarros Befehl folgend die Zisterne freizulegen, in die Florestan geworfen werden soll. Der dem Tode Geweihte, wieder ansatzweise Herr seiner Sinne, redet mit Rocco, und aus dem Gespräch erschließt Leonore, dass Florestan tatsächlich Florestan ist … Zeit und Gelegenheit, einander in die Arme zu fallen, ist ihnen leider (noch) nicht vergönnt, denn schon bald wird es so richtig dramatisch: Auf einen Pfiff Roccos naht Pizarro, den Dolch im Gewande …

DuS 60

Dass es jetzt Spitz auf Knopf steht, dürfte selbst den unzähligen französischen Offizieren nicht entgangen sein, die zuvor vermutlich kaum ein Wort verstanden haben bei der Uraufführung im halb leeren Theater an der Wien, dessen Plätze sie größtenteils erobert hatten – wie auch ganz Wien, wo Napoleon gerade einmal sieben Tage zuvor mit 15.000 Mann eingefallen war; verständlich, dass den allermeisten der Einheimischen – der Adel, Beethovens natürliche Anhängerschaft, war auf seine Landsitze geflüchtet – nicht der Sinn nach einem Opernbesuch stand (und man daher sogar eiligst Freikarten an zufällig vorbeikommende französische Soldaten hatte verteilen lassen). Da darüber hinaus das Orchester so seine Probleme hatte, der Chor schlecht vorbereitet und die Mehrheit der Sänger ihren Rollen nicht gewachsen war, geriet die Uraufführung – zu Beethovens Leidwesen, der persönlich die Leitung übernommen hatte (→ Dirigent) – zum Desaster; bei einer zweiten Vorstellung kam das Werk nicht besser an und wurde nach der dritten abgesetzt. Doch ein Ludwig van Beethoven ließ sich nicht entmutigen! Gemeinsam mit Stephan von Breuning (→ Freunde) schickte er sich an, eine mehr Erfolg versprechende Fassung zu erarbeiten. Und so strich man und verschob und ergänzte, auf dass die Handlung schneller in Gang kam, legte die ersten beiden Akte zusammen, von Breuning glättete den Text, Beethoven verfeinerte die Orchestrierung und komponierte eine neue Ouvertüre. Diese zweite Fassung, am 29. März 1806 uraufgeführt, kam bei Publikum und Presse zwar weitaus besser an, erlebte jedoch – nach einem Streit zwischen Beethoven und der Theaterleitung – nur zwei Aufführungen und wurde abgesetzt. Acht volle Jahre blieb die Oper nun liegen, dann wandte sich der Komponist seinem „gestrandeten Schiffe“ wieder zu und begann erneut mit „musikalischen Reparaturarbeiten“42. Abermals wurde gestrichen, verschoben, verändert – am Libretto feilte nun Friedrich Treitschke –, auf den letzten Drücker eine neue Ouvertüre komponiert43 (die allerdings nicht rechtzeitig fertig wurde und erst bei der zweiten Vorstellung erklang). Auch sollte das Ganze jetzt nicht mehr „Leonore“, sondern „Fidelio“ heißen. Und unter diesem Namen trat die Oper einen beeindruckenden Siegeszug an, der in Wien begann und über zahlreiche deutsche Städte bis nach Sankt Petersburg (1819), Paris (1825), London (1832) 61

und New York (1839) führte. Schon die Premiere im Theater am Kärntnertor am 23. Mai 1814 war ein großer Erfolg. Bereits nach dem ersten Akt wurde Beethoven auf die Bühne gerufen, um den stürmischen Applaus der begeisterten Zuhörer entgegenzunehmen; unter ihnen ein siebzehnjähriger Student, der einige seiner Schulbücher verkauft hatte, um sich die Eintrittskarte leisten zu können. Auch Franz Schubert bangte nämlich mit Leonore und Florestan, deren Schicksal sich im zweiten Akt entscheidet:

DuS Pizarro erscheint und macht gar keinen großen Hehl daraus, was er alsbald zu tun beabsichtigt. „Ein Mörder steht vor mir“, erkennt Florestan, doch bevor ebenjener mittels des gezückten Dolches sein schändliches Werk vollbringen kann, springt die gellend schreiende Leonore dazwischen („Töt erst sein Weib!“) und hält erst kurz das hohe b und bald darauf Pizarro, der sich partout nicht beirren lassen will, sicherheitshalber eine Pistole vor. – In diesem Moment ertönen die Trompetensignale vom Turm – jetzt wird es eng für den Bösewicht, was er auch sogleich realisiert („Ha! Der Minister! Höll und Tod!“). Als er fluchtartig den Kerker verlassen hat, wo er ohnehin nur stört, können die wieder vereinten und der Gefahr entronnenen Eheleute ihrer Glückseligkeit mit der großartigen Arie „O namenlose Freude“ (wozu ihnen Beethoven gut drei Minuten Zeit gönnt) Ausdruck verleihen. Schlussendlich lässt (im zweiten Bild, auf dem „Paradeplatz des Schlosses mit der Statue des Königs“) der Minister den entlarvten Pizarro abführen, alle anderen (einschließlich des für üblich ergriffenen Publikums) dürfen bei dem Hohelied der Gattenliebe jubeln: „Wer ein holdes Weib errungen“.

DuS Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass es ein einsamer Junggeselle ist, der die Macht der (ehelichen) Liebe in den höchsten und schönsten Tönen preist (→ Frauen → Heiratspläne). Das „holde Weib“, das in seinem Leben zu erringen Beethoven zur Entstehungszeit dieses Musikdramas hoffte, war keine Geringere als seine mutmaßliche unsterbliche Geliebte Josephine Brunsvik44 (diese Liebesgeschichte ist in dem Appassionata-Artikel nachzulesen), und Jan Caeyers hat 62

keinen Zweifel daran, dass „die Endorphinflut der Jahre 1804 und 1805 den Kompositionsprozess und das klingende Ergebnis beeinflusst haben“.45 Ach ja – das Glück und Leid der Liebe: Wie vielen Meisterwerken der Musik es doch erst die nötige Süße verliehen hat … (HGK)

Frauen „Frauenzimmer“ sah er „sehr gerne“, weiß Ferdinand Ries zu berichten, „besonders schöne, jugendliche Gesichter, und gewöhnlich, wenn wir an einem etwas reizenden Mädchen vorbeigingen, drehte er sich um, sah es mit seinem Glase nochmals scharf an und lachte oder grinste, wenn er sich von mir bemerkt fand.“ Ja: Ludwig van Beethoven war nicht nur der „Titan“, fraglos einer der größten Komponisten der Musikgeschichte, sondern auch ein Mann und als solcher bekanntlich im Grunde zur Schwäche neigend – ein Umstand, der keinesfalls vernachlässigt werden sollte; ein Mann, der sich dem weiblichen Geschlecht durchaus zugetan zeigte. Auch wenn er fremde junge Damen auf der Straße recht ungeniert angestarrt haben soll (welcher Geschlechtsgenosse tat und täte dergleichen nicht ab und an?), so wird doch sein Verhalten gegenüber Frauen im Allgemeinen als galant und einfühlsam beschrieben (→ Charakter → Umgangsformen). Sie spielten eine bedeutende Rolle in Beethovens Leben. Vielen war er in Freundschaft verbunden, einige hat er geliebt, so manche sehr – doch nur eine von ihnen kann die geheimnisvolle unsterbliche Geliebte gewesen sein; bei der er das größte Glück und zugleich, untrennbar verbunden damit, das größte Leid finden sollte. Eleonore von Breuning, das darf auch an dieser Stelle verraten werden, war es gewiss nicht; sie, seine erste Liebe oder, um es mit den Worten des Beethoven-Biografen Ludwig Schiedermair zu sagen, „die erste Frauengestalt, die ihm innerlich stärker zu schaffen“ machte, auch wenn die „Grenzen der gesitteten Freundschaft“ wohl nicht überschritten worden sind. Ihr hat, noch in seiner Heimatstadt Bonn, der erst 14-Jährige Klavierunterricht erteilt, im Hause der Familie von Breuning (→ Freunde), das ihm, insbesondere nach dem Tod seiner 63

Mutter (→ Elternhaus → Jugend → Kindheit), Liebe und Geborgenheit bot, bis er 1792 nach Wien übersiedelte; man ging nach einem Streit auseinander, dessen Anlass im Dunkeln liegt. Auch wenn Beethoven nach Ansicht seines Freundes Franz Gerhard Wegeler, dem späteren Ehemann Eleonores, „mehr abbat, als er gesündigt hatte“, entschuldigte sich dieser in zwei Briefen überschwänglich und wünschte sich von ihr zur Erinnerung eine selbst gestrickte Weste „aus HaasenHaaren“, um etwas „von ihrer Hand meine liebe Freundin zu besizen“. Freunde, wenngleich einander fern, sind sie ein Leben lang geblieben, doch wiedergesehen haben sie sich nie mehr. Einer der „größten Wünsche“ Eleonores (wie es im Postskriptum eines erhaltenen Briefes heißt), ein Besuch Beethovens, ist nie in Erfüllung gegangen. Ende 1825, zwei Jahre vor seinem Tod, berichtete sie ihm, ihre Tochter Helene höre „so gern von ihnen erzählen“, wisse „alle kleine Begebenheiten“ ihrer „frohen Jugend in Bonn – von Zwist und Versöhnung“. Zu diesem Zeitpunkt waren schon viele „Frauenzimmer“-Gesichter hinzugekommen, die in seinem Inneren vorbeizogen, wenn Ludwig van Beethoven an sein Leben zurückdachte. Denn in Wien soll er, der, über großen Charme und Witz verfügend, ein beliebter Gesellschafter war, laut Ries „sehr häufig verliebt“ gewesen sein;46 wenn auch „meistens nur auf kurze Dauer“ – und unglücklicherweise oftmals in die falschen, weil für einen Mann seines Standes unerreichbare, dem Adel entstammende Frauen. Wie viele seiner Klavierschülerinnen, zu denen er engere, auch freundschaftliche Beziehungen knüpfte: die Schwestern Therese und (vor allem!) Josephine von Brunsvik (→ Appassionata) sind hier zu nennen, deren Bekanntschaft er im Mai 1799 machte, sowie ihre Cousine Giulietta Gräfin Guicciardi (→ Mondscheinsonate), „ein liebes zauberisches Mädchen“, wie Beethoven seinem Freund Wegeler schrieb. – Ist eine von ihnen die mysteriöse unsterbliche Geliebte des Komponisten, der die Forschung seit nunmehr fast 200 Jahren auf der Spur ist? Oder vielleicht doch Antonie Brentano, die Beethoven im Mai 1810 kennenlernte? Dass beide eine tiefe Freundschaft verband – in einer Tagebuchnotiz spricht Antonie sogar von einer „Wahlverwandtschaft“ –, steht jedenfalls außer Frage. Nicht unerwähnt bleiben darf die Gräfin Anna Maria (Marie) Erdödy, auch wenn sie ganz gewiss nicht die Adressatin des berühm64

ten Briefes (→ Unsterbliche Geliebte) war. In ihrem Haus wohnte Beethoven von Herbst 1808 bis Frühjahr 1809 (→ Wohnungen) und versicherte ihr, dass sie ihm „so lieb und werth“ sei, „daß es schwerlich hierin noch einen Höhern Grad“ geben könne. Lange Jahre, selbst aus der Entfernung, hielt diese besondere Freundschaft, „u[nd] wäre ich eine Zeitlang einmal unter alten Freunden, welche sich onerachtet diesem u. jenem TeufelsMenschen Zeug noch immer um mich herum erhalten haben“, betonte Beethoven in einem Brief an sie, „so würde vielleicht Gesundheit u. Freude wieder einkehren“. Natürlich entstanden und gediehen Freundschaften auch im beruflichen Umfeld des Komponisten: Innig verbunden war er mit der Pianistin Dorothea von Ertmann, der er die Klaviersonate op. 101 widmete („ein Beweiß meiner Anhänglichkeit an ihr Kunsttalen[t] wie an ihre Person“), enge Kontakte bestanden zu den Sängerinnen Amalie Sebald und Anna Milder-Hauptmann, die in etlichen Uraufführungen Beethovenscher Werke mitwirkte, sowie – wenngleich für kurze Zeit – zu der Pianistin Marie Bigot de Morogues. Eine zentrale Rolle spielte eine Zeit lang die ebenfalls aus dem Umfeld der Musik stammende Nanette Streicher, die Beethoven schon seit ihrer Kindheit kannte. In den Jahren 1817/1818 half sie dem Komponisten (der zwecks Bewältigung seines Alltags oftmals auf die Dienste wohlwollender Freunde zurückgreifen musste) bei der Haushaltsführung, da diese durch die im Jahr zuvor errungene Vormundschaft über den nun mit ihm zusammenlebenden Neffen Karl anspruchsvoller geworden war. Eine ganze Reihe weiterer für Beethoven wichtiger Frauen, von denen man weiß, muss hier allein aus Platzgründen verschwiegen werden – wie viele es wohl noch gibt, die der Nachwelt gänzlich unbekannt geblieben sind? Und was die uns bekannten anbelangt, so gibt der Beethoven-Kenner Albert Leitzmann zu bedenken: „Die Frauengestalten im Leben Beethovens vermögen wir alle nur wie durch einen Schleier zu erkennen; wir wissen nur sehr wenig von ihrem inneren Wesen, und auch die genauere Geschichte ihrer Beziehungen zu ihm liegt meist in tiefem Dunkel.“ – Was dem Komponisten gar nicht so unrecht sein dürfte. (HGK)

→ Heiratspläne 65

Freizeit Eine Kerze brennt zur Nacht. – Sie brennt in der Wallfischgasse 1087, das übrigens als „verrufenes Haus“ gilt, brennt „Bei den Klepperställen“, dritter Stock, brennt auch im „Alten Schwarzspanierhaus“ noch, in einer der unzähligen Wohnungen eben, die ein höchst sonderbarer Mieter, wenn auch nur für wenige Wochen oder gar Tage, in Wien bezogen hat. – Sie brennt, bis ihm die Augen zufallen, tropft heiß hinab auf die aufgeschlagenen Seiten des Buches, das nun beiseitegelegt wird. Und jetzt erst erlischt sie. Die vielen Wachsspuren in den hinterlassenen Büchern Ludwig van Beethovens zeugen davon, dass der Komponist sich ihnen meist abends und bevorzugt im Bett widmet. Seine Hausbibliothek ist zwar nicht sonderlich umfangreich (was angesichts der vielen Umzüge auch von großem Nachteil wäre), dafür aber erlesen, und sie spiegelt den immensen Bildungshunger Beethovens wider, der seit seiner Jugend viel und intensiv liest. Klopstock begeistert ihn und Goethe besonders, Shakespeare, Herder und Homer; doch auch philosophischen, historiografischen, ethnologischen und naturwissenschaftlichen Werken gilt sein gesteigertes Interesse. – So viele Bücher kann und will man gar nicht kaufen! Beethoven ist daher häufig in Leihbibliotheken zu Gast, tauscht mit Freunden Bücher aus. Sie sind, neben dem Tagesgeschehen und politischen Ereignissen (→ Politik), auch Thema, wenn der Komponist sich dem wohl einzigen reinen Freizeitvergnügen hingibt: den regelmäßigen Wirtshausaufenthalten. Man speist in geselliger Runde (→ Essen und Trinken), liest Zeitung bei einer Tabakspfeife, spielt eine Partie Schach, das Beethoven, nach eigener Aussage, von Joseph Haydn gelernt haben will – und zwar ausdrücklich weit besser als das Komponieren (→ Ausbildung). Ansonsten liebt Beethoven ausgedehnte Wanderungen in der freien Natur (die allerdings als Teil des Kompositionsprozesses anzusehen sind → Arbeitsweise), spaziert aber auch gern in der Stadt, wo seine Erscheinung durchaus für nicht geringes Aufsehen sorgt (→ Aussehen) und sich den Blicken des Meisters so manches bietet: Wenn man einem Bericht Anton Schindlers, zeitweise Beethovens Se66

kretär und Adlatus, vertrauen will, so betrachtet Beethoven während des Flanierens nämlich die Auslagen der Geschäfte und vorüberwandelnde Damen mittels seiner Lorgnette gleichermaßen eingehend. Wer weiß schon, welches hübsche Gesicht er, der in der Liebe ein Leben lang kein dauerhaftes Glück findet (→ Frauen), noch einmal ganz nah vor sich sieht in seinen Träumen, wenn die Kerze lange erloschen ist. (HGK)

Fremdsprachenkenntnisse Die Begegnung mit Ludwig van Beethoven, um die sich der italienische Opernkomponist Giacomo Rossini bereits mehrfach bemüht hat und zu der es im Jahr 1822 endlich kommt, fällt enttäuschend kurz aus. Wie soll man sich auch verständigen? Rossini kann kein Deutsch, Beethoven kein Italienisch – jedenfalls hat Letzteres den Anschein. Oder will er etwa den wenig geschätzten Kollegen, wie manch anderen unliebsamen Zeitgenossen auch, einfach nur schnell wieder loswerden und gibt sich deshalb so einsilbig (→ Umgangsformen)? Rossini mag dem ersten der beiden möglichen Gründe den Vorzug gegeben haben, und die Wahrheit sollte er, werden auch wir nie erfahren. Denn es ist nicht genau ermittelbar, wie gut (oder schlecht) des Meisters Kenntnisse im Italienischen47 tatsächlich waren – Cipriani Potter, Direktor der Royal Academy of Music, hingegen will nach eigener Aussage nämlich sehr wohl mit Beethoven auf Italienisch kommuniziert haben und nicht auf Englisch, das der Komponist trotz intensiver Kontakte nach England und seiner Begeisterung für dieses Land, dessen „einfache Sitten“ ihm als Ideal vorschwebten, nie gelernt hat. Während er das Französische nur gebrochen beherrschte und eine Verbesserung desselben ganz offenbar nicht für nötig erachtete, muss Beethoven sein in Grundkenntnissen während der ohnehin recht kurzen Schulzeit (→ Ausbildung) erworbenes Latein mittels eigener Studien so weit verbessert haben, dass er immerhin Ovid im Original zu lesen vermochte (→ Freizeit). (HGK)

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Freunde „Für dich, armer Beethoven, gibt es kein Glück von außen, du mußt dir alles in dir selbst erschaffen, nur in der idealen Welt findest du Freunde“, klagt Beethoven in einem Brief, das klingt nach Einsamkeit, nach Kummer. Warum das Genie sich einsam fühlt, könnte man sich fragen. Beethoven hätte vielleicht geantwortet, dass er versuche, „nicht den ganzen Menschen wegen einzelner Schwächen zu verdammen, sondern gerecht zu seyn, das gute vom Menschen im Sinne zu behalten“. In diesem Sinne bezeichnet er sich „nicht allein als Freund des ganzen Menschengeschlechts, sondern [habe] auch noch besonders einzelne darunter immer als … Freunde angesehn und auch genannt“. Sie finden eine solche Definition von Freundschaft eventuell ein wenig beleidigend? Es ist doch klar, warum der sich einsam und missverstanden fühlt, trotz seiner Freunde. Da könnten Sie durchaus recht haben, spricht der Komponist doch auch von Freunden zum Teil abwertend, indem er sie als „bloße Instrumente“ bezeichnet, „worauf ich, wenn’s mir gefällt, spiele“, wie Beethoven einmal schrieb in Bezug auf Nikolaus Zmeskall, den österreichisch-ungarischen Hofbeamten und Komponisten, der als einer seiner engsten Freunde gilt. Was muss ein Freund denn nun haben, um von dem berühmten Komponisten auch als ein solcher bezeichnet zu werden? Das Wichtigste vielleicht zuerst: Er durfte nicht ständig in Beethovens Nähe sein, so wie etwa Carl Amenda, der sich nur etwa eineinhalb Jahre in Wien aufhielt, aber ein enger Freund Beethovens wurde, dem dieser viel Liebe und Zuneigung entgegenbrachte, dem er sogar einmal „als Denckmal unserer Freundschaft“ die erste Fassung seines Streichquartetts op. 18 Nr. 1 schenkte, in Erinnerung der gemeinsam „durchlebten Tage und zugleich, wie innig gut dir war und immer seyn wird dein wahrer und warmer Freund Ludwig van Beethoven“. Dieser wahre Freund ist es auch, dem er als Erstem von seinem „große[n] Geheimniß“, seiner beginnenden Taubheit, erzählen wird in einem Brief. Ein Freund ist jemand, auf den er sich verlassen kann, der ihm in schwierigen Situationen weiterhilft. Ein wahrer Freund muss also auch die Verschrobenheiten Beethovens entsprechend zu nehmen wissen, wie der an gleicher Stelle auch als „bloßes Instrument“ bezeichnete Geiger Ignaz Schuppanzigh, den Beethoven 68

durch seinen Gönner Fürst Lichnowsky (→ Mäzene) kennenlernte, dessen Streichquartett der Freund leitete. Und der wichtig für Beethoven bleibt, sodass er ihn, insbesondere nach längerer Abwesenheit aufgrund einer Russlandreise im April 1823 gar scherzhaft zu sich zitiert mittels eines Kanons: „Falstafferel, laß dich sehen!“ (WoO 184). Wie typisch dieses Verhalten ist, zeigt sich bereits viel früher und auch daran, dass Beethoven seine Freunde duzt: „ist es wircklich wahr? bist du hier? – abscheulicher, wortbrüchiger, treuloser, Verrätherischer, Freund! und doch Freund! … ich erwarte dich morgen den Vormittag vor dem strengen Gericht der Freundschaft, sey Baron, sey … weiß der Himmel was – ich bin schlechtweg nicht weniger und nicht mehr als dein höchst aufgebrachter Freund Beethowen“, schreibt er nämlich 13 Jahre zuvor an Ignaz von Gleichenstein – im Übrigen auch ein Kollege des Beethovenschen Freundes Stephan von Breuning im k. k. Hofkriegsrat –, der ihm einige der wichtigsten Verträge seines Lebens aufsetzt. Ebenso verbinden Beethoven nicht nur mit erwähntem Stephan, sondern mit der gesamten Familie Breuning (→ Jugend) aus Bonn sowie mit den Wegelers, die ihn bis an sein Grab begleiten (→ Begräbnis → Krankheiten → Taubheit → Tod) , lebenslange freundschaftliche Bande – mit den Frauen ebenso wie mit den Männern der Familie, da er hier keinen Unterschied macht. Zu große Nähe erträgt der Komponist offensichtlich in seinem Hang zur Perfektion nicht, wie man auch im Artikel über die Erziehung und sein Engagement bezüglich seines Neffen Karl nachlesen mag, der nach jahrelangem Bemühen unter die Vormundschaft des Freundes Wegeler gestellt wird. Ein eindrucksvoller Vertrauensbeweis, der zeigt, dass Freundschaft für Beethoven auch mit entsprechendem Pflichtgefühl und Verantwortung einherzugehen hat. Immer wieder stellt sich die Widersprüchlichkeit dieses Charakters heraus, der auf der einen Seite seine eigenen hohe Ansprüche als Genie auf andere Menschen, insbesondere ihm wichtige, überträgt und auf der anderen Seite – in Konfrontation damit – bei seiner Umwelt um Zuneigung und Liebe wirbt, die Menschen zum Lachen bringt und mit Geschenken überhäuft, sich um sie kümmert, auch etwa, indem er den einen Freund (Ignaz von Gleichenstein) bittet, sich um den anderen (Stephan von Breuning) zu kümmern, dem es gerade schlecht gehe. Eine Übersicht der Freunde Beethovens sollte 69

zumindest noch ergänzt werden durch Franz Brunsvik, Karl Holz, Vinzenz Hauschka sowie die Brentanos, allesamt Persönlichkeiten seines musikalisch-künstlerischen Umfeldes. Insgesamt jedoch bleibt es eben schwer und muss seinen treuen Freunden hoch angerechnet werden, einen Menschen zu verstehen – und ihm beizustehen in schwierigen Zeiten, der auch sich selbst von der ganzen Welt oftmals missverstanden fühlt: „O ihr Menschen, die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misanthropisch haltet … wie unrecht thut ihr mir“ (→ Heiligenstädter Testament). (YZ)

„Für Elise“ Für manche Menschen fraglos zwei der größten Alltagsplagen des 21. Jahrhunderts: Man hängt – welch sinnlose Verschwendung von Lebenszeit! – gefühlte Ewigkeiten hilflos am Telefon in einer Warteschleife und lässt sich von einer mal männlichen, mal weiblichen Stimme zwischendurch für ein paar weitere Minuten vertrösten; man sitzt oder geht oder steht irgendwo, und ein Handy klingelt … Was beides oftmals verbindet (ein Missbrauch, der Kulturliebende die Stirn runzeln lässt): Es ist eine so bekannte klassische Melodie, mit der Verzweifelte weiter „unterhalten“ und völlig Unbeteiligte auf öffentlichen Plätzen, in Straßenbahnen, Zügen und Bussen akustisch behelligt werden: die der Bagatelle in a-Moll (WoO 59), „Für Elise“. Sie zählt zweifellos zu den populärsten Klavierkompositionen Ludwig van Beethovens – und ist aller Wahrscheinlichkeit nach unter falschem Namen zu Berühmtheit gelangt … Die Geschichte reicht zurück bis ins Jahr 1809. Beethoven ist mit fast 40 noch immer Junggeselle und in der Liebe oftmals enttäuscht worden (→ Frauen → Heiratspläne). Nun scheint er, sich aufgrund seiner solideren finanziellen Lage bessere Chancen ausrechnend, fest entschlossen, eine geeignete Ehefrau zu finden. Halb im Scherz bittet er seinen Freund Ignaz von Gleichenstein, ihm bei der Suche behilflich zu sein: „wenn du dort in F.[reiburg] eine schöne findest, die vielleicht meinen Harmonien zuweilen einen seufzer schenkt […] so knüpf im voraus an – Schön muß sie aber seyn, nichts nicht schönes kann ich nicht lieben – sonst müste ich mich selbst lieben.“ 70

Gleichenstein wird ganz offenbar in F. nicht fündig, führt ihn jedoch im Jahr darauf – Beethoven stolpert zu dieser Zeit von einer nicht zum erhofften Ziel führenden Liebesaffäre in die andere – in Wien bei den Malfattis ein, deren jüngere Tochter Anna er verehrt (und später selbst ehelicht). In dem prachtvollen Haus der vornehmen Großhändlerfamilie begegnet der Komponist ihrer Schwester Therese und verliebt sich in die junge Frau, die nicht nur schön, sondern sehr schön ist: brünett, mit frischer Gesichtsfarbe und dunklen Augen … Klug ist sie und temperamentvoll, wenngleich vielleicht – darin Giulietta Guicciardi (→ Mondscheinsonate) ähnlich – auch eine Idee zu kokett. Beethoven fühlt sich jedenfalls äußerst wohl in diesem Haus in der Rotenturmstraße („ich danke dir guter g, daß du mich dorthin gebracht hast“, schreibt er Gleichenstein) und ist fortan, stets ordentlich gekleidet und frisch rasiert, häufig zu Besuch, spielt – bei ihm beileibe keine Selbstverständlichkeit (→ Anekdoten) – bereitwillig vor, gibt beiden Töchtern Klavierunterricht; Indizien, die eindeutiger und typischer kaum sein können. Die Gedanken an einen Heiratsantrag scheinen schnell gereift zu sein, der, anders als bei Giulietta Guicciardi, die aus Standesgründen unerreichbar gewesen war, theoretisch Aussicht auf Erfolg hat, entstammt Therese doch keiner adeligen Familie. Gleichenstein wird beauftragt, ihm für die stolze Summe von 300 fl. Hemdenstoff und Halstücher zu besorgen, der Bonner Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler um Zusendung eines für die Formalitäten nötigen Taufscheins gebeten … Ersteres wird sich als nicht lohnende Investition, Letzteres als völlig voreilig erweisen. Therese, die später keinen van, sondern einen von (den Baron von Drosdick nämlich) heiraten wird, gibt Beethoven zu verstehen, dass er sich keine großen Hoffnungen machen könne. In einem langen Brief – „vergeßen sie das Tolle“, heißt es darin – entschuldigt dieser sich schließlich für seine Annäherungsversuche. Doch auch wenn er Gleichenstein offenbart, nun „aus den Regionen des höchsten Entzückens wieder tief herab“ gestürzt zu sein: Dafür, dass seine Liebe zu Therese so groß nicht gewesen sein kann, spricht das doch recht geringe Gewicht seines einzigen musikalischen Geschenks an sie, komponiert „auf der Grundlage von Restmaterial48 aus dem Jahr 1808“49: nämlich die Bagatelle in a-Moll. Doch warum ist diese später unter dem Beinamen „Für Elise“ bekannt geworden? 71

Der Beethoven-Forscher Ludwig Nohl ist es, der 1865, also fast drei Jahrzehnte nach Beethovens Tod, das Autograf des Stückes bei einem gewissen Fräulein Bredl in München entdeckt. Dieses hat es nach eigenen Angaben aus dem Nachlass Therese von Drosdicks, geborene Malfatti, geschenkt bekommen. Da der Verlag Breitkopf & Härtel es – wohl Zweifel an seiner Echtheit hegend – nicht in die Gesamtausgabe (1862–1865) aufnehmen will, veröffentlicht Nohl es seinerseits in „Neue Briefe Beethovens“ innerhalb einer Gruppe von Briefen des Komponisten an Gleichenstein und teilt als Widmung auf dem Autograf mit: „Für Elise am 27 April zur Erinnerung von L. v. Bthvn“ … Das Leben sei zu kurz, um schöne Buchstaben oder Noten zu schreiben, pflegte Beethoven selbst zu scherzen (→ Handschrift); man geht daher heute von einem Lesefehler Nohls aus, der „Therese“ als „Elise“ entzifferte – ob dem tatsächlich so ist, kann jedoch nicht mehr überprüft werden; das Autograf der Bagatelle verschwand nach der Veröffentlichung und ist bis heute verschollen geblieben. Aber ob nun „Für Therese“ oder „Für Elise“ – nicht nur in Warteschleifen Gefangene und andere akustische Opfer des (in unzähligen Varianten von Handytönen „verarbeiteten“ und auch auf Anrufbeantwortern oft zu hörenden) Stücks werden heutzutage damit geplagt, sondern wohl auch immer noch so mancher Klavierschüler, erfreut es sich doch in der Musikpädagogik anhaltender Beliebtheit; wie übrigens auch auf dem Popmusik-Markt, wo es eine zweifelhafte Renaissance erlebt hat. So wird beispielsweise die Original-Klavierversion, von Vogelstimmen begleitet, als Meditationsmusik verkauft. Wem es denn gefällt … (HGK)

G

Geburt

„Das süßeste Glück, das es gibt, ist das des häuslichen Lebens, das uns enger zusammenhält als ein andres. Nichts identifiziert sich stärker, beständiger mit uns, als unsere Familie, unsere Kinder.“50 So definierte im 18. Jahrhundert, in Vater Beethovens jungen Jahren, der berühmte Philosoph Jean-Jacques Rousseau, Goethe schreibt in den 70ern den Werther in seiner Sturm-und-Drang-Phase, Mozart 72

tourt durch das noch absolutistisch geprägte, jedoch bereits in Gärung begriffene Europa. In diese äußerst intensive Umbruchzeit wird also nun Ludwig van Beethoven an einem dunklen Dezembertag des Jahres 1770 als zweites von sieben Kindern in die gutbürgerliche Familie Beethoven hineingeboren. Und zwar durchaus in keine einfache Familie, hat doch Vater Johann Beethoven durch seine Liebesheirat mit der resoluten und sechs Jahre jüngeren Maria Magdalena Keverich, verwitwete Leym, von der Feste Ehrenbreitstein derart den eigenen Vater gegen sich aufgebracht, dass der ihn aus dem Haus geschmissen hat! Wie kann man sich aber auch in eine völlig verarmte Witwe verlieben, sie gar ehelichen? Eigentlich wäre Maria Magdalena ja durchaus eine gute Partie gewesen, hätte sie nicht durch die Intrigen ihrer Verwandtschaft einst das ererbte Vermögen ihrer Mutter trotz des von ihr angestrengten Prozesses verloren. Unter Schmerzen und mit Angst bringt Beethovens Mutter im Hinterhaus Bonngasse 515 in besagter dunkler Zeit ihr drittes von acht Kindern auf die Welt. Wird dieser Junge überleben, fragt sie sich angstvoll, nachdem sie innerhalb von sechs Jahren bereits das zweite Kind an den frühen Tod verloren hat?51 Der vermutlich am Sonntag zur Welt gekommene Junge wird jedenfalls wohl genauso schnell getauft worden sein wie die anderen Kinder, schon allein aus Angst vor einem frühzeitigen Tod. Man darf, auch wenn so nicht im Taufregister der St.-Remigius-Kirche verzeichnet, sondern nur sein Tauftermin mit dem 17. Dezember 1770, wohl den 16. Dezember als Geburtstag annehmen. Welche Stoßgebete mag die junge Mutter nach dem Verlust bereits ihres zweiten Kindes, des ersten von Johann und ihr, welches sie noch Ludwig Maria getauft hatten, bevor es zu den Engeln geholt wurde, in dieser dunklen Winternacht des Jahres 1770 an ihre heilige Namenspatronin gerichtet haben? Lass mir diesen Jungen, hilf ihm, lass ihn leben! Und in welch unfassbar wunderbarer Weise sie erhört worden ist, gebar sie doch in dieser Nacht ein Kind, das auch Jahrhunderte später noch immer durch seine Musik die Menschen bewegen sollte – quasi einen Unsterblichen. Ihre zunächst ängstliche Liebe zu dem Neugeborenen wuchs sich zu einem lebenslangen innigen Mutter-Sohn-Verhältnis aus, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Der tief empfundenen Trauer um ihren allzu frühen Tod verlieh der 16-jährige Sohn am 15. September 73

1787 in seinem Brief an Joseph Wilhelm von Schaden in Augsburg Ausdruck: „Sie war mir eine so gute liebenswürdige Mutter, meine beste Freundin; O! Wer war glücklicher als ich, da ich noch den süßen Namen Mutter aussprechen konnte, und er wurde gehört, und wem kann ich ihn jetzt sagen? Den stummen ihr ähnlichen Bildern, die mir meine Einbildungskraft zusammensetzt?“ Natürlich ist bei diesem Pathos Beethovens immer etwas Vorsicht angebracht, neigt er doch dazu, seinen Gefühlen in überschwänglichster Weise Ausdruck zu verleihen, und zwar sowohl den positiven wie den negativen (→ Anekdoten → Charakter). (YZ)

Goethe Bad Teplitz, Böhmen, am Nachmittag des 26. Juli 1812: Auf einer der großen Alleen des mondänen Kurortes schreiten ein recht kleiner und ein etwas größerer Mann52 nebeneinander; vielleicht schweigend, vielleicht vertieft in ein Gespräch, über dessen Inhalt man leider nur mutmaßen kann: Geht es um Literatur? Um Musik? Philosophie? Die Farbenlehre? Die politische Lage? (Gerade ist Napoleons Armee mit 600.000 Mann in Russland eingefallen.) – Oder widmen sich die beiden Männer weit weniger gewichtigen, doch mitnichten uninteressanten Themen wie Essen und Trinken, dem Wetter, der Liebe (wobei die Gedanken des deutlich Jüngeren zu jener Frau schweifen dürften, der er vor Kurzem erst so unverhofft in Prag begegnet ist, seiner unsterblichen Geliebten, während der Ältere womöglich seiner im nahen Karlsbad zur Kur weilenden Gattin gedenkt …)? Wie dem auch sei: Wenn sie denn gerade reden, geht es auf jeden Fall lautstark zu, und so mancher, der vorübergeht, mag sich noch einmal verwundert umwenden: Warum im Himmel schreit dieser Mann – hessischer Dialekt, unverkennbar – denn so? Sein Begleiter geht doch direkt neben ihm! Oder ist der etwa schwerhörig? Bald erscheint in der Ferne eine größere Gesellschaft, eine feine, wie sich beim Näherkommen herausstellt, eine sehr feine: die Kaiserin von Österreich, umringt von Herzögen und Hofstaat. Nun wird es selbst auf dieser breiten Allee arg eng werden … 74

„Bleib nur in meinem Arm hängen“, sagt Beethoven zu Goethe, „sie müssen uns Platz machen, wir nicht!“ Doch der Dichterfürst zögert … „Göthe ist hier“, bemerkt Beethoven eher beiläufig in einem Brief vom 17. Juli. Seit gut zehn Tagen ist der Komponist auf Anraten seines Arztes Dr. Staudenheim (→ Krankheiten), wie schon im Jahr zuvor, in dem 90 Kilometer nordwestlich von Prag gelegenen Teplitz, das dafür bekannt ist, Linderung für langwierige Leiden zu verschaffen; die berühmten Heilquellen sollen sogar besondere Erfolge bei Schwerhörigkeit erzielt haben. Die Kur, deren Nutzen er ohnehin bezweifelt („muß ich mich wieder im wasser herum plätschern“), ist Beethoven eher lästig. Immerhin hat er die Bekanntschaft einiger interessanter Menschen gemacht und angenehme Augenblicke mit ihnen erleben dürfen, wie mit der Berliner Sängerin Amalie Sebald beispielsweise. Nun ist also „Göthe“ hier! Beethoven bewundert den 75

Dichter, den er in einem Atemzug mit Homer, Shakespeare, Schiller zu nennen pflegt, hat bereits Musik zu seinem Trauerspiel „Egmont“ komponiert, mehrere seiner Gedichte vertont, wie „Sehnsucht“, „Neue Liebe, neues Leben“ und „Wonne der Wehmut“. Wie lange wünscht er es sich schon, ihm einmal persönlich zu begegnen! Doch bislang hat es nicht sein sollen. Goethe, Stammgast in Teplitz, bewegt sich im Gegensatz zu Beethoven gewandt und vergnügt in der eleganten Gesellschaft – unter den feinen Damen und Herren sind übrigens nicht wenige, die aus purem Snobismus vor Ort sind, ist die sommerliche Badekur hier doch auch ein jährliches Rendezvous der Reichen und Schönen –, genießt die Aufmerksamkeit, die sein Erscheinen erregt. Er ist bester Stimmung, als Beethovens Wunsch endlich in Erfüllung geht und es am 19. Juli 1812 zu dem ersten Gipfeltreffen der beiden Genies kommt, das Goethe in seinem Tagebuch unter den „Visiten“ erwähnt (was jedoch wohl eher so zu verstehen ist, dass Beethoven ihn in seinem Quartier, dem „Goldenen Schiff “, aufgesucht hat). In der Folgezeit trifft man sich beinahe täglich, geht spazieren, unternimmt auch eine Bootsfahrt auf der Biela, an einem Abend mindestens improvisiert Beethoven am Klavier für Goethe („Er spielte köstlich“), bevor der Komponist am 27. Juli nach Karlsbad abreist. Noch einmal, im September, kreuzen sich ihre Wege, zum letzten Mal, und soweit man weiß, haben beide danach keinen Gefallen an einer Korrespondenz miteinander gefunden. „Offenbar“, vermutet der Beethoven-Biograf Caeyers, „hatten die beiden Herren nicht viele gleichgestimmte Saiten entdeckt“53, verlief das Treffen nicht ganz unproblematisch, wenngleich Goethe durchaus Bewunderung für den mehr als zwanzig Jahre Jüngeren empfand und kurz nach ihrer Begegnung seiner Frau schrieb, dass er „zusammengefasster, energischer, inniger“ noch keinen Künstler gesehen habe und „recht gut“ begreife, „wie der gegen die Welt wunderlich stehen“ müsse. Mit ein wenig Abstand jedoch heißt es dann in einem aufschlussreichen Brief an Zelter (vom 2. September 1812): „Beethoven habe ich in Töplitz kennen gelernt. Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht Unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freylich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher 76

macht. Sehr zu entschuldigen ist er hingegen und sehr zu bedauern, da ihn sein Gehör verlässt, das vielleicht dem musikalischen Theil seines Wesens weniger als dem geselligen schadet. Er der ohnehin lakonischer Natur ist, wird es nun doppelt durch diesen Mangel.“ Eine „ganz ungebändigte Persönlichkeit“ hat der Geheimrat also in Beethoven gesehen, der seinerseits in einem Brief wenige Wochen später urteilte: „Göthe behagt die Hofluft zu sehr mehr als einem Dichter ziemt […].“ – Trug sich dieser recht peinliche Vorfall an jenem 26. Juli 1812 – seine Geschichte zählt zu den Klassikern der Anekdoten über den Komponisten – womöglich doch genau so zu?54 Beethoven selbst soll angeblich jedem, der es hören wollte, davon erzählt haben – was Goethe wenig erfreut haben dürfte: Wie dieser, als die feine Gesellschaft nahe gekommen ist, sich aus seinem Arm befreit, brav zur Seite tritt und – den Hut ehrerbietend gezogen – die Kaiserin sowie ihr Gefolge mit tiefen Verbeugungen an sich vorüberziehen lässt, wie er, Beethoven, jedoch mit verschränkten Armen einfach mitten auf dem Weg weitergeht, sodass Herzog nach Herzog ihm freundlich und bereitwillig Platz macht. – Und zu dem peinlich berührten Goethe sagt er, als dieser schließlich nachgekommen ist: „Auf Euch hab’ ich gewartet, weil ich Euch ehre und achte, wie Ihr es verdient, aber jenen habt ihr zu viel Ehre angetan!“ Selbst wenn die Anekdote tatsächlich eine Erfindung Bettina Brentanos sein sollte, so veranschaulicht sie dennoch treffend das Selbstbewusstsein Ludwig van Beethovens, der, wenn auch nicht gleichberechtigt, so doch auf gleicher Höhe, seit Anbeginn seiner Wiener Zeit mit dem Hochadel Umgang pflegte (→ Mäzene → Soziale Stellung) und „den Anspruch erhob, in den höchsten Kreisen wie ein Napoleon der Musik zu verkehren“55. (HGK)

Grab Was verbindet Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Edmund Eysler, Christoph Willibald Gluck, Amalie Friedrich-Materna, Wolfgang Amadeus Mozart, Anton Rückauf, Franz Schubert, mehrere Generationen der Familie Strauss, Andreas Streicher, Marie Wilt und Hugo Wolf? Klar: Sie alle haben sich im Wien des 19. Jahrhunderts 77

(manche durchaus früher, andere nach Beethoven) mit Musik beschäftigt. Sei es als Komponist, Pianist, Opernsängerin (im Fall der beiden Damen) oder aber auch Kapellmeister: eine illustre Runde. Doch es gibt eine weitere, bis heute bestehende Verbindung zwischen diesen – und noch einigen anderen gleichfalls äußerst bekannten – Persönlichkeiten, befinden sich doch alle ihre Gräber auf dem Wiener Zentralfriedhof und sind der Gruppe 32a „Komponistengruppe“ zugeordnet. Gleich zu gleich gesellt sich gern? Da mag man, zumindest was Beethoven anbetrifft, wohl geteilter Meinung sein (die Artikel Charakter, Umgangsformen, Humor offenbaren bedenkenswerte differierende Betrachtungsweisen). Jedenfalls ist der Besuch des Zentralfriedhofs ein kultureller Höhepunkt für einen Besucher dieser schönen Stadt, wenngleich sich hier nur das „ehrenhalber gewidmete Grabdenkmal“ befindet (so wie auch im Falle Mozarts, dessen sterbliche Überreste eigentlich auf dem Sankt Marxer Friedhof liegen). Beethoven war ursprünglich auf einem anderen, nämlich dem Währinger Friedhof begraben worden, wie außerdem Schubert, der rechts von ihm liegt (→ Begräbnis). Auf dem Sockel des Gedenksteins befindet sich der Hinweis auf das ursprüngliche Grab, ebenso, dass diese Gedenkstätte eine getreue Nachbildung sei, errichtet mit Beiträgen des k. k. Stadterweiterungsfonds der Gemeinde Wien und des Vereines der Philharmoniker von der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien im Jahre 1888; jener Gesellschaft, die ihn – im Gegensatz zur englischen – in seinen gesundheitsbedingten finanziellen Nöten kaum unterstützte. Das Künstlerdreieck mit Mozarts Stätte an der Spitze, Beethovens an der linken und Schuberts an der rechten Tangente liegend, findet der Besucher, der sich vielleicht an einem schönen Septembertag auf diesen Friedhof begibt, auf dessen Lageplan, der inklusive interessanter weiterführender Informationen – ganz modern – über den Touristenguide online abzurufen ist. In frischem Dufte bietet sich Beethovens Grabmal dar, von den noch in voller Blüte stehenden von Gärtnern gepflanzten Grabblumen ebenso wie von den ständig immer wieder neu ausgelegten Gedenkgestecken und Blumensträußen der Bewunderer des musikalischen Genies. Da finden sich neben Vergissmeinnicht und Lilien, den Symbolen für die Liebe über den Tod hinaus, Primeln und Schlüsselblumen als Bild der Hoffnung, des vom Himmel gefal78

lenen Schlüssels von Petrus ebenso wie Margeriten, die vergossenen Tränen und Gerbera, die darauf verweisen, dass der Verstorbene das Leben schöner, reicher gemacht hat. Gegenseitig übertrumpfen sich Gedenkende mit Gaben von Grabschmuck. Oft haben die Gärtner ihre liebe Mühe damit, immer wieder für Ansehnlichkeit und Ordnung zu sorgen, was sogar dazu geführt hat, dass sich nun statt ständig zertretener Wiese lockerer Rindenmulch vor Beethovens Stätte befindet, damit Bewunderer ihrem großen Komponisten noch ein wenig näher kommen können, ohne die gesamte Anlage zu zerstören. Wie anders präsentiert sich das Grab seiner Mutter auf dem Bonner Friedhof, wo auch Clara und Robert Schumann ihre letzte Ruhe gefunden haben. Nur Eingeweihte, wirklich Interessierte werden sich hier die Mühe machen, ihr einen Besuch abzustatten, und doch: Wäre es nicht vielleicht auch dem großen Komponisten angenehm gewesen, eine solch ruhige letzte Ruhestätte zu finden, von mächtigen alten Buchen und Eichen umgeben, Frieden findend nach einem Leben, das von Rastlosigkeit, Einsamkeit (→ Heiligenstädter Testament) bei gleichzeitigem Weltruhm, Zeiten schmerzvollsten Leidens geprägt war (→ Krankheiten → Taubheit)? (YZ)

H

Handschrift Was steht da nur? – Was soll das wohl heißen? – Der BeethovenForscher Ludwig Nohl überlegt. – „Für“, das ist klar. Aber dann? Das zweite Wort … Ein Frauenname könnte es sein. – Ist das ein großes T? – Vielleicht doch eher ein E!? Wem hat der Meister diese Komposition nur gewidmet? Wer ist die Unbekannte? Nohl hat im Jahr 1865 das Autograf einer a-Moll-Bagatelle bei einem Fräulein Bredl in München erworben, die es nach eigenen Angaben aus dem Nachlass einer gewissen Therese von Drosdick geschenkt bekommen haben will. Ungeachtet dieses nicht unbedeutenden Indizes wird Nohl die Handschrift Beethovens aller Wahrscheinlichkeit nach unkorrekt entziffern und somit dafür sorgen, dass das kleine anmutige Stück auch heute noch unter seinem (wohl falschen) Beinamen bekannt ist: „Für Elise“. 79

Nohl sind jedoch keine Vorwürfe zu machen, denn die sogenannte Beethoven-Klaue ist berühmt-berüchtigt. Man kann sie, wie Karl Scheffler, für „dramatisch-tragisch“ halten, als „eine dramatische Ausdrucksschrift“ ansehen (Paul Mies) – oder auch einfach nur „eine der schlechtesten Handschriften“ überhaupt nennen (Paul Bekker). Doch wäre es der Nachwelt lieber, wenn sie auf die letzten Streichquartette verzichten müsste, dafür aber Briefe und Autografe in gestochen scharfer, fein leserlicher Schrift überliefert wären? – Das Leben sei zu kurz, um schöne Buchstaben oder Noten zu schreiben, pflegte Beethoven, dessen Hauptaugenmerk nun einmal auf seinem 80

Werk lag, selbst zu scherzen; eine Erkenntnis, die er jedoch erst im fortgeschrittenen Alter gewann. Schulmäßig schreibt Beethoven noch in seiner Jugend (wenngleich bereits einige Buchstaben und Verzierungsstriche von Eigensinn zeugen → Charakter), wie er es vermutlich nach einem der zeittypischen Schreibmeisterbücher erlernt hat, wobei er sich die Großbuchstaben offenbar erst später in etwas eigenwilliger Form selbst aneignet. Erst im Laufe der Zeit entwickelt sich aus der gut lesbaren Jugendhandschrift die recht wilde, ungeduldig, ja flüchtig wirkende BeethovenKlaue, indem die Buchstaben immer runder und größer (dabei sogar innerhalb eines Wortes ihre Richtung und Größe wechselnd), die Zeilen zunehmend unregelmäßig werden. In Schriftstücken aus den späteren Lebensjahren lassen sich schließlich mehrere Buchstaben (wie beispielsweise „r“ und „w“) nicht mehr voneinander unterscheiden und sind leicht zu verwechseln. Beethovens Handschrift spiegelt oftmals die Impulsivität und Emotionalität des Schreibenden wider, dem die Worte selbst nicht zu genügen scheinen.56 Bis zu 9 cm (!) große Schriftzeichen, starker Druck mit Schreibfeder oder Zimmermannsbleistift, kräftige Unterstreichungen sowie lange Gedankenstriche statt regelgerechter Zeichensetzung sprechen oftmals ihre eigene Sprache, lassen vermuten, was im Inneren des schreibenden Beethoven vorgegangen sein mag, der sich letztlich am allerliebsten und -besten doch nur in einem offenbaren konnte: seiner Musik. (HGK)

Heiligenstädter Testament Laut Duden ist das Testament die „letztwillige schriftliche Erklärung, in der jemand die Verteilung seines Vermögens nach seinem Tode festlegt“. Als Herkunft des Begriffes gelten zwei Varianten: Das mittelhochdeutsche Wort Testament wird als „Vertrag“, „Bündnis“ oder „Urkunde“ bezeichnet, das aus dem Lateinischen stammende „testamentum“ wird in der Übersetzung als „Zeuge sein“ angegeben. – Man verfasst es im Angesicht oder in Vorausschau des eigenen Todes, um seinen Nachlass zu regeln. Was veranlasst aber einen Menschen dazu, sich ein Vierteljahrhundert vor dem eigenen Tod, mit Anfang 81

30, in den besten Jahren seines Lebens, fast auf dem Höhepunkt des Ruhmes, von der Gesellschaft gefeiert, mit einem solchen Thema auseinanderzusetzen? Und noch dazu in solch außergewöhnlicher Art und Weise? Handelt es sich doch bei dem Heiligenstädter Testament längst nicht nur um eine Nachlassregelung; ist dieses Legat vielmehr eines der aussagekräftigsten Dokumente, das der Nachwelt einen ganz besonders eindrücklichen Einblick in den Charakter eines eigensinnigen Genies ermöglicht. Am 6. Oktober 1802 setzt sich Beethoven in Heiligenstadt im Zuge seiner mittlerweile bereits halbjährigen Kur, verschrieben von seinem Arzt Johann Adam Schmidt, in seinem kleinen einsamen Winzerhäuschen am Fuße des Kahlenbergs an den Schreibtisch und erblickt, aus dem Fenster schauend, die Kirche mit ihrem Glockenturm, aus dem die Kirchenglocken erschallen – und immer leiser werden – irgendwann werden sie für ihn für immer verstummen … und genau da sind wir bei Beethovens größtem Problem, seiner größten Angst und Krankheit angelangt. Sie veranlasst ihn dazu, eine der wohl eindrucksvollsten Selbstenthüllungen seines Lebens (neben dem Brief an die unsterbliche Geliebte) mit zitternder Hand in Form eines Testaments niederzulegen: sich der sich immer stärker ausbreitenden Taubheit, die dem Komponisten das Leben – insbesondere in Gesellschaft – zur Qual werden lässt, entgegenzustellen. Er hat Angst, Mitmenschen auf ein Leiden aufmerksam zu machen, das ihn in zunehmendem Maße bereits seit sechs Jahren, wie er selbst beschreibt, peinigt. Und das bis dato keinem Menschen im Umfeld Beethovens (außer seinen Ärzten und seit etwa einem Jahr zuvor seinen Freunden Wegeler und Amenda) bekannt gewesen sein soll. Das Dokument scheint weniger Testament (obschon juristisch gesehen alle formalen Voraussetzungen erfüllt waren, auch weil Beethoven die Aufteilung des Nachlasses nicht weiter ausspezifiziert; zwei weitere Testamente aufsetzt; 1823 und 1827), sondern vielmehr ein Schrei nach „Liebe, Geborgenheit, Wärme und unangestrengter Geselligkeit im Umgang mit den Menschen“57 zu sein, wie Martin Geck befindet. In zwei Drittel des Gesamtumfangs erläutert Beethoven ausführlich und in emphatischer Weise sein aufgrund der Krankheit verändertes Verhalten und verteidigt es mit pathetischen Worten: „O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Mi82

santhropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet“! In der ihm eigenen Art erläutert Beethoven auf diesen Schrei, wie er, der immer nur „Wohlwollen“ gefühlt und „große Handlungen“ verrichten wollte mit seinem „feurigen Lebhaften Temperamente“, „selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft“ war, sich aufgrund seiner fortschreitenden Taubheit gezwungen sah, sich abzusondern. Er schreibt, dass es ihm unmöglich sei, die Menschen auf sein Problem aufmerksam zu machen, dass er, als der große Musiker gefeiert, nicht die „Schwäche“ seines wichtigsten Sinnes, der bei ihm in einem „Vollkommenern Grade als bey andern seyn sollte“, zugeben konnte. Sowohl die zunehmende Taubheit an sich als auch ihr Verstecken müssen Beethoven Enormes abverlangt, ihn gedemütigt, in die selbst gewählte Isolation und bis an den Rand der Verzweiflung getrieben haben, so seine Selbstoffenbarung: sowohl künstlerisch als auch menschlich eine substanzielle Gefahr für die Fähigkeit zur Kommunikation. Zu Unrecht im Übrigen, wie die späteren Konversationshefte und Werke zeigen. Hegte Beethoven gar Selbstmordgedanken? – Es kursierten in Europa Gerüchte über den eingetretenen Tod des Giganten. Das Testament gibt nach wie vor mehr Rätsel auf, als es löst. Etwa das Rätsel um die Leerstelle in Bezug auf die Adressaten „meine Brüder Carl und …“ – warum ließ Beethoven den zweiten Bruder weg? Familienzwist? Ist gar die „Logenbruderschaft“ der Illuminaten angesprochen, wie ein Beethovenforscher nachweisen zu können glaubt? Auch wenn er sich am Ende des Kuraufenthalts aller Hoffnungen in Bezug auf eine mögliche Besserung seines Leids – von Heilung gar nicht zu sprechen – beraubt sieht, bleibt eines unbenommen und Grundkonstante in Beethovens Leben, im Heiligenstädter Testament niedergelegt: „nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte“ – man denke nur an die Neunte… welch ein Verlust wäre es, hätte Beethoven nicht einen solch eisernen Willen gehabt, die Musik ihm nicht so im Blut gesteckt, dass er, selbst gehörlos und von heftigen Krankheiten geplagt, imstande war, derartige Wunderwerke zu komponieren. (YZ)

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Heiratspläne Frau S. muss gar nicht lange überlegen. Dann entgegnet sie lachend: „Weil er so hässlich war und halb verrückt!“ Diese für Ludwig van Beethoven wenig schmeichelhafte Antwort soll die Frau S., eine Schwester der Sopranistin Magdalena Willmann, auf die Frage hin gegeben haben, warum diese den Heiratsantrag des Komponisten (in der zweiten Jahreshälfte 1795 oder Anfang 1796) 84

denn nicht angenommen habe. – So berichtet es jedenfalls der bedeutende Beethoven-Biograf Alexander Wheelock Thayer, dem man in Ermangelung weiterer Belege hierfür Vertrauen schenken muss. Als gesichert gilt indes, dass Beethoven die ihm noch aus Bonner Zeiten bekannte Sängerin in Wien wiedertraf, wo sie am Hoftheater engagiert war. Er sei, so Thayer, „in kurzem durch die Reize der schönen Magdalene in so hohem Grade gefesselt“ worden, „daß er ihr seine Hand anbot“. Die Sopranistin gab jedoch der des Antonio Galvani den Vorzug, den sie im Juli 1796 ehelichte. Etwa sechs Jahre nach dieser Zurückweisung trat ein „zauberisches Mädchen“ in Ludwig van Beethovens Leben, das in ihm, wie aus einem Brief an den Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler vom 16.11.1801 hervorgeht, erneut den Gedanken aufkommen ließ, dass „heirathen glücklich machen könnte“ – vermutlich handelte es sich hierbei um seine Klavierschülerin Giulietta Guicciardi, die Widmungsträgerin der Mondscheinsonate (die für Beethoven letztlich einen ebenfalls unbefriedigenden Ausgang nehmende Liebesgeschichte wird ebenda erzählt, sodass hier darauf verzichtet werden soll). Den „einzig ernst zu nehmenden Versuch eines Heiratsantrags“58 unternahm der Komponist viele Jahre später, als er – durch einen Rentenvertrag finanziell abgesichert – die Gründung einer Familie ins Auge fasste und nach einer geeigneten Kandidatin Ausschau hielt; wer wissen möchte, warum auch Therese Malfatti, die er im Februar 1810 kennenlernte, nicht mit Beethoven vor den Traualtar trat, der möge bei Für Elise weiterlesen. Resigniert gab Beethoven nach dieser erneuten Zurückweisung den Gedanken an eine Heirat auf. Als seine Freundin Nanette Streicher (→ Frauen), die ihm 1817/18 bei der Haushaltsführung behilflich war, ihm empfahl zu heiraten, soll er „bitter“ den Kopf geschüttelt haben, und Fanny Giannattasio del Rio berichtet in ihrem Tagebuch über des Komponisten spätere, ernüchterte Haltung: „Was ihn beträfe, so habe er noch keine Ehe gekannt, von welcher nach einiger Zeit nicht das [sic] Eine oder Andere den Schritt bereut hätte; – und von einigen Mädchen, welche er in früheren Zeiten zu besitzen als das größte Glück erachtet hätte, habe er in der Folge eingesehen, daß er sehr glücklich sei, daß keine derselben seine Frau geworden sei, und wie gut es sei, daß die Wünsche oft nicht erfüllt werden.“ 85

Wer weiß, ob Beethovens vergebliche Suche nach einer Frau an seiner Seite nicht ein Segen für die Nachwelt war, ob nach einer Eheschließung nicht womöglich eine wichtige Inspirationsquelle eines nach der Liebe seines Lebens suchenden Mannes versiegt wäre … (HGK)

→ Frauen → Unsterbliche Geliebte

Humor „‚Genies sind doch schwierige Menschen.‘ Tief beeindruckt unterbrach Hoshino seine Lektüre und seufzte. Im Musiksaal seiner Schule hatte eine Bronzebüste von Beethoven gestanden, an deren grimmige, verbitterte Gesichtszüge er sich noch gut erinnern konnte, aber dass das Leben dieses Mannes so leidvoll gewesen war, hatte er nicht gewusst. Kein Wunder, dass er so grimmig guckt, dachte Hoshino.“ So wie Hoshino, eine literarische Figur aus dem (übrigens sehr lesenswerten) Roman „Kafka am Strand“ des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami, glauben viele Menschen allein aufgrund der erhaltenen Bildnisse des Komponisten, insbesondere der weitverbreiteten, einen durchaus falschen Eindruck vermittelnden Porträtbüsten (→ Lebendmaske), Ludwig van Beethoven sei ein von Grund auf todernster Mann gewesen. Doch dem war mitnichten so. Mit dem eigenen, oftmals grausamen Schicksal ringend und diesem trotzend (→ Jugend → Kindheit → Krankheiten → Taubheit), hätte er Gustav Mahler ganz gewiss zugestimmt, der nach eigenen Worten „die „Tragik der menschlichen Existenz“ ohne die „Entgiftung des Lebens“ durch den Humor nicht ertragen konnte. Beethoven stammte – man darf es nicht vergessen – aus dem Rheinland (→ Bonn), einer Region, die diesen bekanntlich seit eh und je geradezu kultiviert und wo Geselligkeit geschätzt wird. Und der Komponist machte seiner Herkunft in der zweiten Heimat Wien auch in dieser Hinsicht alle Ehre, soll unter Freunden „drollig“, aufgeweckt, zuweilen sogar „schwatzhaft“ gewesen sein. Einmal „in Bewegung gesetzt“, seien ihm „derbschlagende Witzworte, possierliche Einfälle, überraschende, aufregende Kombinationen und Paradoxien“ immerfort zugeströmt. 86

Äußerst humorvoll pflegte man in seinem Freundeskreis miteinander umzugehen, sprach sich beispielsweise mit verballhornten militärischen Dienstgraden an. Besonderen Spaß hatte Beethoven daran, sich originelle Spitznamen auszudenken und (mehr oder weniger) geschmackvolle Späße mit seinen Freunden zu treiben. So musste es sich der Komponist und Pianist Anton Halm gefallen lassen, dass Beethoven dessen Namen auf einer Partitur ein „Stroh“ voransetzte und bei anderer Gelegenheit – nach Halms Klavierspiel befragt – „Nicht jeder Halm gibt Ähren“ zur Antwort gab. Ein beliebtes (weil beleibtes) Opfer von Beethovens Scherzen war auch der lange zu seinen engsten Vertrauten zählende Geiger Ignaz Schuppanzigh. „Lob auf den Dicken“ (WoO 100) lautet der Titel eines eigens für ihn komponierten kleinen Stücks – übrigens nicht der einzige musikalische Spaß, den sich Beethoven erlaubte. Neben dem „Duett mit zwei obligaten Augengläsern“ sind hier besonders seine textlich humorigen, geistreichen Kanons wie „Bester Herr Graf, Sie sind ein Schaf “ (auf den Klavierbauer namens Graf) zu nennen sowie der ursprünglich angedachte Titel für die Kreutzersonate: „Sonata mulattica“. Im Gegensatz zu den bedauernswerten Halms oder Schuppanzighs war Johann van Beethoven (→ Familie) selbst schuld daran, von seinem Bruder verspottet zu werden: Nachdem der Apotheker zu einigem Wohlstand gelangt war und er sich ein eigenes Landgut zugelegt hatte, fügte er seiner Unterschrift in einem Neujahrsgruß stolz die Bezeichnung „Gutsbesitzer“ hinzu, worauf der Empfänger unter seine Antwort „Ludwig van Beethoven, Hirnbesitzer“ setzte … Selbst angesichts des eigenen Todes soll Beethoven seinen Humor nicht verloren haben: Auf dem Sterbebett liegend erhält er Besuch von dem Sänger Ludwig Cramolini und dessen Braut Nanette Schechner, die ihn über alles verehren. Der Kranke bittet den jungen Mann darum, ihm etwas vorzusingen, doch der ist so überwältigt, dass er keinen Ton herausbringt. Nachdem Schindler dies dem tauben Beethoven verständlich gemacht hat, lacht der Komponist schallend und ermuntert Cramolini mit den Worten: „Singen Sie nur, lieber Louis, ich höre ja leider nichts, ich will Sie nur singen sehen.“ (HGK)

87

J

Jugend

Wie schnell ist das Geld des Großvaters ausgegeben und man muss, erneut geplagt von Geldsorgen, gar aus dem repräsentablen Bäckerhaushalt ausziehen. Dringend benötigt wird das Gehalt des 14-jährigen Ludwig, der als zweiter Hoforganist 150 Gulden Jahressold verdient. Sein Ausbilder Neefe hält so große Stücke auf den strebsamtalentierten Teenager, dass er ihn nicht nur in die höhere Gesellschaft einführt, sondern sich für eine Bildungsreise nach Wien einsetzt, zum berühmten Mozart! Diese wird den 17-jährigen Beethoven für mehrere Monate und ein erstes Mal nach Wien, seine zukünftige Heimat, führen. Zwischenzeitlich erkrankt jedoch die Mutter, sodass der junge Mann relativ schnell wieder in seine Heimatstadt Bonn zurückkehrt, gerade rechtzeitig. Es ist der Anfang vom Ende: Im Jahr 1787 verstirbt Mutter Maria, die sich durch Ernsthaftigkeit auszeichnete und die Familie zusammenhielt59, und fortan verfällt Beethovens Vater immer mehr dem Alkohol, sodass sich der fast 18-Jährige gezwungen sieht, Stück für Stück die komplette Verantwortung für die Familie zu übernehmen, seine Brüder wie den Vater, der 1789 schließlich aufgrund seiner Trunksucht in Pension geschickt wird und Beethoven die Hälfte seiner Pension für den Unterhalt überlassen muss. Zum Glück hat der Sohn schon mit zwölf Jahren am Hofe musiziert, spielt Klavier, Geige, Cembalo und Bratsche auf hohem Niveau, erteilt Unterricht, finanziert so die Familie mit seinem Musikergehalt. Mit der Eröffnung des neuen Opernhauses im Revolutionsjahr 1789 übernimmt er zusätzlich noch eine Tätigkeit als Bratschist im Opernorchester. Trotzdem liegt wohl in diesen schweren Zeiten Beethovens lebenslange panische Angst vor einer knappen finanziellen Lage, ja eine regelrechte Existenzangst, begründet (→ Nachlass). Ein großes Glück für den jungen Mann ist die Familie von Breuning, die sich als lebenslange Freunde erweisen werden: eine Familie, in der Beethoven eine zweite Heimat findet. Die Hofrätin Helene von Breuning nimmt sich auf mütterliche Art des jungen Musikers an. Ludwig gehört nun einfach dazu, verbringt ganze Tage und manche Nacht im wohlhabenden Hause und begleitet sie im Sommer gar auf mehrtägigen Ausflügen. Hier darf er sich befreit fühlen von 88

den häuslichen Sorgen und Pflichten, darf aufatmen in einer sich für ihn öffnenden völlig neuen Welt entspannten Alltagslebens, in dem sich – auch das kennt der junge Mann nicht – Zeit füreinander genommen wird. In der Gesellschaft des Kleinadels darf Beethoven erste Erfahrungen mit der Salongesellschaft machen, in der er sich später so unbedingt etablieren wird, die er mit seinem inspirierten Klavierspiel schon in Bonner Zeiten so gut zu unterhalten weiß. Die selbst ernannte Adoptivmutter übt zudem wohlmeinenden erziehe89

rischen Einfluss auf den launenhaften jungen Mann aus, weiß seine heftigen Anfälle und Ausbrüche mit Humor zu nehmen, reagiert mit Nachsicht, wenn alle aufgestaute Enttäuschung und Verbitterung mal wieder auf einmal aus Beethoven herausbrechen. Ja, sie gibt dem Phänomen gar den Namen „Raptus“, quasi des gesunden Verstandes beraubt, den Beethoven sein Leben lang in euphemistischer Weise und gewisser Selbstironie verwendet, weil er diese Umschreibung seiner Ziehmutter fast schon als schmeichelhaft befand. Im Hause Breuning sollte er ferner auf seinen ersten Gönner (→ Mäzene), den Grafen von Waldstein, treffen, der ihm wohl gar den entscheidenden Vorschlag unterbreitet, nach Wien zu gehen, bei Haydn zu studieren. Auch der literarischen intellektuellen Elite nähert Beethoven sich nun an, indem er sich etwa regelmäßig im Zehrgarten einfindet: Szenekneipe am Bonner Marktplatz, Zentrum der Geselligkeit, wo bei ebenso günstigem wie fettem Essen, im Alkohol- und Tabakdunst über Mittel und Wege zur Verbesserung der Gesellschaft debattiert wird. In diesem von Anna Koch geführten Literatentreff mit angeschlossenem Lesekabinett samt Buchhandlung, Stammlokal der Intellektuellen Bonns, ergibt sich für den faszinierten jungen Mann die Gelegenheit zur Debatte: mit angesehenen Universitätsprofessoren, Hofbeamten, Malern und Dichtern, natürlich auch Musikern und über die neuesten politischen Ideen wie Ideologien, die Französische Revolution oder Kants Wahlspruch „Sapere aude“ wie sein „Kategorischer Imperativ“. Schillers Strukturierung seiner Dramen, die Beziehung zwischen Rhetorik und Architektur eines Werks, zwischen Inhalt und Form, bei einem Bier erörtert, inspirierten ihn als Komponisten vielleicht mehr als die Sinfonien seiner Zeitgenossen Dittersdorf und Konsorten.60 Und noch ein wichtiges Ereignis sollte hier Erwähnung finden, denn was ist die Jugend ohne Liebe: Zum ersten Mal in seinem Leben – wenn auch bei Weitem nicht zum letzten Mal – sollte der Komponist in Leidenschaft entbrennen: zu (s)einer Schülerin. Und ebenfalls zum ersten – und ebenfalls nicht letzten Mal – endet diese Leidenschaft in Enttäuschung. Wenngleich dies natürlich eigentlich in einen anderen Artikel gehört (→ Frauen → Heiratspläne), sei doch ein interessantes Muster verraten, das hier seinen Anfang nimmt und sich durch 90

sein gesamtes Leben zieht: Eleonore, Tochter der Breunings, zeigt ihre Sympathie, ihre Gefühle vielleicht etwas zu deutlich in den Briefen, die sie ihrem jungen, sich mittlerweile gut zu kleiden verstehenden Verehrer Ludwig schreibt, sodass der schließlich aus Angst vor der Gefühlsintensität der jungen Dame sich ihr fluchtartig entzieht. Zeigt sich hier etwa erstmals ein für das Genie, seine Auffassung vom Künstlertum, so wesentlicher, nicht zu überwindender Zwiespalt: Liebe als Ablenkung von der Berufung? Zwei Jahre später sein Verhalten bedauernd schreibt er jedenfalls, nunmehr wohl aus einer durch Abstand gereiften Perspektive sowie aus seiner neuen Stadt Wien, in einem um Entschuldigung ersuchenden Brief an die Bonner Dame: „o wie viel gäbe ich dafür, wäre ich im Stande, meine damalige mich so sehr entehrende sonst meinem Charakter zuwider laufende Art zu handlen ganz aus meinem Leben tilgen zu können“, bemüht sich erfolgreich um den Erhalt ihrer Freundschaft, auch, indem er ihr einige Kompositionen widmet, sie als Heldin seiner einzigen Oper Fidelio idealisiert.61 Wie sehr mag es ihn gefreut haben, als sein guter Freund Franz Wegeler die junge Dame in den Hafen der Ehe führt: „Umarme und küße deine verehrte Frau“, schreibt er ihm im Jahr 1810. So schafft sich der Komponist in jungen Jahren einen kleinen Kreis guter Freunde zusammen mit seiner Familie, die trotz aller Zwistigkeiten doch letztendlich immer wieder zusammenfinden. Nicht zuletzt sind die Brüder ihm nach Wien gefolgt, haben sich dort in relativer räumlicher Nähe niedergelassen, eigene Familien gegründet62 und familiäre Beziehungen aufrechterhalten, einen zuverlässigen inneren Kreis wohlwollender wie ehrlicher und dauerhaft für ihn einstehender Menschen gebildet. (YZ)

→ Kindheit → Freunde → Familie

K

Kindheit Was sei er für ein dreckiger und rotziger Lausbub, Ludwig van Beethoven, rügt Cäcilia Fischer, Tochter des Vermieters, doch der ist um eine freche Antwort nicht verlegen: „Was liegt daran! Wenn ich einmal ein Herr werde, dann wird mir das keiner mehr ansehen!“ 91

(~1780) – Und recht scheint das Gör tatsächlich schon hier zu haben: Beethoven ist ein Name, der mit großen Verpflichtungen einhergeht! So erlebt der Junge seinen gleichnamigen Ahnen als einen äußerst respektablen wie erfolgreichen Mann, Hofkapellmeister, der es mit dem nebenbei betriebenen Wein- und Geldhandel zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht hat (→ Familie). Dieser angesehene Mann kümmert sich rührend um seinen Enkel, nimmt ihn mit, zeigt ihm seine Heimatstadt, den pulsierenden Markt, Mittelpunkt des täglichen Lebens der Stadt Bonn, respektvoll werden die beiden von städtischen Honoratioren – teilweise gar Adeligen – gegrüßt. Ehrfürchtig blickt der kleine Ludwig zum großen auf, und Stolz regt sich in ihm; so möchte ich auch einmal gegrüßt werden, denkt er, der Großvater hat es zu was gebracht! Selbst sein Tod (die Folge eines Schlaganfalls zum dritten Weihnachtsfest des jungen Ludwig) gereicht den Beethovens zum Vorteil: Dank seiner Hinterlassenschaft zieht man in die großräumige gutbürgerliche repräsentable Wohnung im zweiten Stock der Fischerschen Bäckerei zurück.63 Zeit seines Lebens bleibt dieser Opa Ludwigs großes Vorbild, verehrt und bewundert vom kleinen Jungen wie später auch vom gestandenen erfolgreichen Mann, obwohl der Knabe – oder vielleicht auch gerade weil er – sich nur drei bescheidene Jahre in der Liebe dieses Ahnen sonnen kann. Denn der Großvater soll durchaus auch andere Seiten gehabt haben: Jähzornig und aufbrausend soll er gewesen sein, was dazu geführt habe, dass er seine Vaterstadt Antwerpen – und damit auch seine Familie – im Zorn verlassen haben soll, um sich in Bonn häuslich niederzulassen (→ Elternhaus). Hätte er länger gelebt, wer weiß, ob sich nicht der junge aufrührerische Geist des jungen Beethoven dann irgendwann in (vor- oder) pubertärer Zeit nicht doch gegen den geliebt-verehrten Menschen gerichtet hätte, wenn der sich als nicht einverstanden mit musikalischen Fantasien des jungen aufstrebenden Genies oder dieser als unverstanden vom anderen gefühlt hätte. So wie etwa der Vater gilt Johann doch zunächst als lebenslustig und kinderlieb, und seine Vorliebe für Alkohol scheint vorerst eher Bestandteil seiner Geselligkeit. Sie bewegt sich – lange Zeit – im gesellschaftlich üblichen Rahmen. Dass er seinen Sohn äußerst streng erzieht und ihn zu unchristlichsten Zeiten aus dem Bett zwingt (→ Ausbildung), sollte – neben dem väterlichen Ehrgeiz, den 92

Sohn zu Großem zu führen – auch im Kontext der zeitlichen Umstände betrachtet werden. So ist es gang und gäbe, Kinder in den häuslichen Arbeitsprozess der Familie zu integrieren, sie Aufgaben übernehmen zu lassen, ohne allzu große Rücksicht zu nehmen auf etwaige kindliche Bedürfnisse, was bei den Beethovens nun einmal die Musik war. Etwas, worin der kleine Ludwig sich ja ohne Frage als äußerst talentiert erwies. Auch Schläge waren – bis weit ins zwanzigste Jahrhundert – allgemein anerkanntes akzeptiertes Disziplinierungsmittel. Und die unchristlichen nächtlichen Unterrichtszeiten sind eben sowohl dem Umstand geschuldet, dass man sich in einem Bäckerhaushalt befindet, dessen Eigentümer auf seine nachmittägliche Ruhe dringt, als auch, dass der Vater und weitere ihn in dieser ersten Zeit unterrichtende Lehrer tagsüber proben, unterrichten und abends Aufführungen geben. Dies führt nebenbei dazu, dass die Beethovenschen Kinder sich relativ oft selbst überlassen bleiben. Letztlich sind es seine Brüder, der vier Jahre jüngere Kaspar Karl und der sechs Jahre jüngere Nikolaus Johann, mit denen Ludwig seine Kindheit verbringt und Unsinn ausheckt, sowie kurze Zeit seine Schwester Maria Margarete Josepha, die jedoch leider bereits in jungen Jahren in Beethovens letzter Bleibe in Bonn verstirbt (→ Elternhaus). – Streiche, die beweisen, dass das junge Genie nicht nur einen Sinn für Musik hatte, sondern auch eine Lausbubenseite, wie den handschriftlich erhaltenen Erinnerungen Gottfried Fischers entstammende Anekdoten zeigen dürften. Oftmals auch bei rauem kaltem Wetter in den Hof zum Spielen geschickt, müssen sie sich auf dem nassen und kalten Steinpflaster teilweise schlimme Erkältungen eingefangen haben. Überdies müssen sie oft schmutzig, ungepflegt und obendrein rotzfrech erschienen sein, glaubt man der Anekdote um die gestohlenen Eier der armen Frau Fischer, der der kleine Ludwig dreist antwortete, dass wohl ein Fuchs darunter geraten sei, woraufhin sie – ebenfalls schlagfertig – zurückgab: „Ich glaube, Du bist auch einer von den schlauen Füchsen. Was wird wohl aus dir noch werden!“ – Das fragten sich wohl auch die Eltern … (YZ)

→ Jugend 93

Klavierspiel Der Sieger eines denkwürdigen Duells wurde einer frühen, ganz besonders perfiden Form des Dopings bezichtigt: „Was dieser Mensch dort tat, das ging nicht mit rechten Dingen zu! So kann kein Mensch spielen. Das ist unmöglich. In diesem Mann muss der Teufel stecken!“ So heißt es in den nachgelassenen Papieren des Klaviervirtuosen Abbé Joseph Gelinek, deren Authentizität allerdings nicht verbürgt ist. Ihnen zufolge soll es am 21. Juni 1798 zu einem öffentlichen Wettspiel zwischen dem Abbé und Ludwig van Beethoven gekommen sein, bei dem Gelinek zu seinem Leidwesen unterlag, was er anschaulich zu schildern verstand: „Hatte ich gedacht, mein Vortrag hätte das Publikum bewegt, so war dies kein Vergleich zu den Wirkungen, die Beethovens Spiel hervorbrachte. Die Damen schluchzten, und auch 94

unter den Herren blieb kein Auge trocken. Der Mann am Klavier, dieses Genie, er schien nicht von dieser Welt zu sein.“ Drei Jahre später war offenbar aus der Ahnung Gewissheit geworden, denn Gelinek notierte in seinem Tagebuch: „Nun bin ich sicher: Das ist der Teufel. Seine Seele hat er verkauft […].“ – Es darf getrost angenommen werden, dass der Abbé irrte und Ludwig van Beethoven aus den damals durchaus beliebten Wettspielen auch ohne unterirdischen Beistand mit schöner Regelmäßigkeit als Sieger hervorging … Noch bevor er als Komponist Anerkennung finden sollte, hatte er – als völlig unbekannter junger Pianist aus dem Provinzstädtchen Bonn – durch sein Klavierspiel in Wien für Aufsehen gesorgt, die Herzen der Menschen dort im Sturm erobert und war in der österreichischen Hauptstadt schnell zum Idol einer neuen Musikkultur geworden: „Dass dieser eigensinnige Klaviervirtuose das Publikum in Bann schlagen konnte“, urteilt sein Biograf Caeyers, „lag natürlich an seinem besonderen musikalischen Charisma, aber auch daran, dass durch Mozarts Tod ein Vakuum entstanden war, außerdem an geschickter ‚Promotion‘“.64 Es war nämlich durchaus die Strategie Beethovens, in seinen ersten Wiener Jahren vor allem als Pianist und Improvisator berühmt (und berüchtigt) zu werden; an ernst zu nehmenden Konkurrenten mangelte es nicht (→ Marketing). Doch keiner von ihnen spielte und komponierte so wie Beethoven, dessen Werke zum Teil eigens darauf abzielten, aufgrund ihrer technischen Schwierigkeiten die übrigen Pianisten ins Schwitzen zu bringen und in ihre Schranken zu verweisen. So sollen die Variationen WoO 40 („Se vuol ballare“), wie der Meister 1793 äußerte, ihre Entstehung seinem Wunsch verdanken, die „hiesigen Klawiermeister“ in Verlegenheit zu setzen, „manche davon“ seien seine „Todtfeinde“, an denen er sich „auf diese Art“ habe „rächen“ wollen. Den „Riesen unter den Klavierspielern“, wie Beethoven von dem Komponisten Wenzel Tomaschek tituliert wurde, forderten neben Gelinek eine Reihe anderer Pianisten zum musikalischen Duell – um wie der Abbé allein aufgrund der Virtuosität des „Riesen“ zu unterliegen. In Schönfelds „Jahrbuch der Tonkunst“ stand 1796 über diesen zu lesen, er werde „allgemein wegen seiner besonderen Geschwindigkeit“ und den „außerordentlichen Schwierigkeiten bewun95

dert“, welche er „mit so vieler Leichtigkeit exequirt“. Dazu kam eine weitere, Gott gegebene Gabe, die der Mozart-Schüler Joseph Woelfl in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ 1799 würdigte: „Er zeigt sich am allervorteilhaftesten in der freien Phantasie. Und hier ist es wirklich ausserordentlich, mit welcher Leichtigkeit und zugleich Fertigkeit in der Ideenfolge Beethoven auf der Stelle jedes ihm gegebene Thema nicht etwa mit den Fingern variiert […], sondern wirklich ausführt.“ Die fortschreitende Taubheit setzte Beethovens Pianistenkarriere indes ein Ende. Am 25. Januar 1815 trat er letztmals öffentlich auf, als Liedbegleiter beim Vortrag von „Adelaide“ op. 46. Nur mehr „Spuren eines grossen Spiels“ hatte im Jahr zuvor Ignaz Moscheles hören können, und Louis Spohr berichtete über die Aufführung des „Erzherzog-Trios“ im April 1814, dass von der „früher so bewunderten Virtuosität“ infolge der Taubheit „fast gar nichts übrig geblieben“ sei. „Im Forte schlug der arme Taube so darauf, daß die Saiten klirrten, und im Piano spielte er wieder so zart, daß ganze Tongruppen ausblieben […].“ „Der Mann am Klavier“, der „nicht von dieser Welt zu sein“ schien, er faszinierte seine Zuhörer in der Folgezeit mit seiner Improvisationskunst nur noch sehr selten, in privaten Zirkeln und „radikaler Einsamkeit“65, die untrennbar mit seinem Schicksal verbunden schien. (HGK)

→ Ausbildung

Konversationshefte „In die sogenannten Konversationshefte hat Beethoven selbst aber nie ein Wort hinein geschrieben – er war ja schließlich ‚nur‘ taub und nicht stumm! Du verstehst?“ – Der so Belehrte und nun klüger Gewordene schlägt sich womöglich peinlich berührt die Hand vor die Stirn: Da hätte er aber auch selbst drauf kommen können! – Doch diese vermeintliche Weisheit, oftmals von notorischen, milde lächelnden Besserwissern mit erhobenem Zeigefinger zum Besten gegeben, spiegelt einen weitverbreiteten Irrglauben wider … 96

Aufgrund seiner fortschreitenden Ertaubung (→ Taubheit) musste Ludwig van Beethoven im Laufe der Jahre zu verschiedenen Hilfsmitteln greifen, um sich mit seinen Mitmenschen verständigen zu können. Als lauteres Sprechen der Gesprächspartner nicht mehr genügte (Beethoven war Mitte vierzig), verwendete er einige Jahre lang (1814 bis etwa 1818) spezielle Hörrohre, die der Mechaniker Johann Nepomuk Mälzel für ihn anfertigte, sah sich dann jedoch gezwungen, zur schriftlichen Verständigung überzugehen. „Wenige, an deren Organ er gewöhnt war“, habe Beethoven noch 1826, also ein Jahr vor seinem Tod, verstehen können, berichtete der preußische Bibliothekar Samuel Heinrich Spiker nach einem Besuch bei dem Komponisten; den meisten Menschen, die zu ihm kamen, stand jedoch laut Gerhard von Breuning „ein aus Conceptpapier zur Octavform gefaltetetes und genähtes Correspondenzheft sammt Bleistift“ zur Verfügung sowie eine „Schiefertafel sammt Griffel“. Während die mittels dieser Schiefertafel geführten Gespräche aus naheliegenden Gründen nicht überliefert sind, gelten die insgesamt 139 erhalten gebliebenen Konversationshefte66 (von Zeitgenossen auch „Büchel“ genannt) als wertvolle Zeugnisse und Quellen für die Forschung, erlauben die aus den letzten zehn Lebensjahren des Komponisten stammenden Einträge doch Einblicke etwa in den Prozess um die Vormundschaft des Neffen Karl (1819/1820) sowie dessen Suizidversuch, die Uraufführung der Neunten, die Entstehung der späten Streichquartette (→ Werk) sowie die Phase der letzten schweren Erkrankung (→ Krankheiten). Bei Beethovens Gesprächspartnern handelte es sich beispielsweise um nächste Verwandte (den Neffen Karl, den Bruder Johann), Anton Felix Schindler, Freunde wie Karl Holz und eine Reihe weitere Personen, die ihm hilfreich zur Seite standen, Besucher sowie die behandelnden Ärzte. In der Regel sind nur ihre Eintragungen in den Konversationsheften enthalten, doch – um nun auf den eingangs erwähnten Irrglauben zurückzukommen – es erscheint (wenngleich selten) sehr wohl auch die Handschrift des Komponisten, in den Fällen nämlich, wenn er sich mit Leidensgenossen verständigte oder in der Öffentlichkeit fürchtete, zu laut zu sprechen und belauscht zu werden; außerdem nutzte er die Hefte als Notizbuch und bewahrte Zeitungsausschnitte (Buch- und Wohnungsannoncen) darin auf. 97

Aus dem Nachlass des Komponisten gelangten die „Büchel“ vermutlich widerrechtlich zunächst in den Besitz von Schindler, der sich – was auch der beste Besserwisser oft nicht weiß – nachweislich als Fälscher betätigte und zahlreiche eigene Gespräche mit Beethoven nach dessen Tod einfügte, wie in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts bekannt wurde. (HGK)

Krankheiten Über die Leiden Beethovens könnte man ganze Bücher verfassen! Bereits im zarten Alter von siebzehn Jahren berichtet er als Jugendlicher in einem seiner Briefe von einer „schweren Unpäßlichkeit“. Und diese Äußerung scheint nicht die eines Hypochonders zu sein, wie manche Zeitgenossen geneigt waren anzunehmen. Er ist ein Genie, das sich selbst beständig – und auch schon in jungen Jahren – stets an und teilweise auch über die eigenen Grenzen hinaus treibt, seien es musikalische, gesellschaftliche oder eben gesundheitliche, was ihm zudem in frühen Zeiten bereits den Ruf eines Sonderlings einbringt. Hinzu kommt, dass er sich seiner Krankheiten, insbesondere der zunehmenden Hörschwäche, derart schämt, dass er sie lange Zeit, über Jahre, verheimlicht (→ Taubheit) und eher auf die Gesellschaft anderer Menschen verzichtet, als etwa ihr Mitleid herauszufordern. Indes ist Beethovens Krankengeschichte durch schriftliche Dokumente überaus gut dokumentiert: Briefe, Tagebücher und Konversationshefte zeigen, wie stark und intensiv er sich mit seinen verschiedenen Leiden auseinandersetzt, die neben einer Verkümmerung der Gehörnerven eine deutliche Veränderung der inneren Organe in der Bauchhöhle zur Folge hatten, wie der Obduktionsbericht (→ Tod) später zeigen sollte. Und sie verdeutlichen, welch großes Mitteilungsbedürfnis Beethoven nach anfänglichen Bemühungen um Verheimlichung hat. Spätestens das Heiligenstädter Testament gilt hier als Wendepunkt, in dem sich der große Komponist erstmals öffentlich zu seinen Leiden bekennt. Und das sind wahrlich nicht wenige. Bis heute rätseln Wissenschaftler in Bezug auf eine zweifelsfreie Diagnose der ursprünglichen Krankheitsursache(n), deren Folge die zum Tode führende Leberzirrhose war. 98

Ausgehend vom Obduktionsbericht sind verschiedenste Hypothesen über Ursachen, die von einer Typhus- oder Syphiliserkrankung (ausgeschlossen aufgrund der schleichenden Hörbeeinträchtigung wie späten Manifestation von Hepatitis und Obduktion) über einen Alkoholabusus (ebenfalls ausgeschlossen), einer Arsen- oder Bleiintoxikation (nicht alleinige Ursache für seine Leiden) bis hin zu einer Brucellose-Infektion reichen, aufgestellt worden. Letztere, auch als Maltafieber bekannt, eine durch Rinder übertragene Infektionskrankheit, könnte zwar sämtliche Symptome von Beethovens Leiden erklären: die Organveränderungen, seine Gehörlosigkeit, die Magen-Darm-Probleme ebenso wie die starken Erkältungsgrippen, aber auch seine psychischen Ausfälle und Anflüge von Depressionen (→ Charakter → Umgangsformen); doch auch die Möglichkeit, dass Beethoven ganz einfach unter vielen verschiedenen Krankheiten litt, seine angegriffene Gesundheit jeweils auf akute Infektionen zurückzuführen ist, lässt sich nicht endgültig ausschließen. Schon zu Lebzeiten, so viel ist jedenfalls klar, wurden Mediziner seiner Krankheiten – und seiner persönlichen Kriterien, abgeleitet aus Kenntnissen, die er sich durch eigene Lektüre erwarb – nicht Herr; sind es doch elf bekannte und namhafte Ärzte, die Beethoven – oftmals über Freunde oder Mäzene kennengelernt – während seiner 29 Jahre andauernden Patientenschaft behandelten. So wird etwa unter anderem Johann Malfatti, der spätere Leibarzt des Erzherzogs Karl und eng mit seinem Mäzen Baron Ignaz von Gleichenstein befreundete Arzt, von Beethoven im Jahre 1809 konsultiert. Zunächst scheint der Musiker auch zufrieden mit der Behandlung. Doch als Therese, Nichte Malfattis und Schwester von Ignaz von Gleichensteins späterer Frau, Beethovens Heiratsantrag ausschlägt, ist es mit dem Vertrauen vorbei: Ende der Behandlung! Beethoven erwartet von seinen Ärzten nicht nur eine Linderung seiner physischen Leiden, wobei die therapeutischen Erfolge leider ebenfalls oftmals eher mangelhaft ausfielen, sondern auch psychologische Betreuung. Vertrauen ist für Beethoven die Basis, und das hat auch ein Verwandter der sich so abweisend Verhaltenden verloren! In seiner zunehmenden Verzweiflung über ausbleibende Therapieerfolge konsultiert Beethoven (neben eigener Fortbildung durch Lektüre) ab 1802 sys99

tematisch mehrere Ärzte gleichzeitig. Und die enormen Summen für seine jahrzehntelange Behandlung scheinen kein Hindernis zu sein, wobei Beethoven seinen Medizinern durchaus – so etwa Malfatti – teilweise unterstellt, dass sie ein mehr finanzielles als hippokratisches Interesse an seiner Patientenschaft hätten. In einem Fall führte dies gar zur behördlichen Untersuchung, nämlich als der Chirurg Johann Seibert eine Rechnung über 90 (!) Visiten ausstellte – in zweieinhalb Monaten. Er war ein Arzt des aus fünf Ärzten bestehenden Ärztekonsiliums, das Beethoven in seinen letzten Monaten begleitete, und zuständig für vier Bauchwasserpunktionen. Ob er es vielleicht war, der Beethoven seelischen Beistand in seinen letzten Stunden leistete, ist im Artikel Tod zu erfahren. (YZ)

Kreutzersonate „‚Ich werde das Thema aus der Sonate für Herrn Swann spielen‘, sagte der Pianist. ‚Teufel, das wird doch nicht auch so eine Schlange wie die Kreuzottersonate sein?‘, fragte Forcheville, um ebenfalls einen Geistesblitz von sich zu geben. Dem Doktor war dieses Wortspiel neu, er verstand es nicht und meinte, Forcheville habe sich geirrt. Er trat rasch neben ihn und berichtigte: ‚Aber es heißt doch Kreutzersonate‘, flüsterte er ihm eifrig, ungeduldig und gleichzeitig triumphierend zu. Forcheville erklärte ihm, dass es ein Witz sein sollte. Der Doktor wurde rot.“ Die „Kreuzottersonate“ – Verzeihung: die „Kreutzersonate“ (mit tz!) natürlich – war, wenn man Marcel Proust vertrauen will, der diesen köstlichen Dialog im ersten Band seines Monumentalwerkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zum Besten gibt, auch in den vornehmen französischen Salons Ende des 19. Jahrhunderts präsent und sorgte, wie schon zu Lebzeiten ihres Schöpfers, für reichlich Gesprächsstoff. Denn eine derart leidenschaftliche Sonate war der Violine und dem Klavier bis zu dem Erscheinen des Werkes im Jahr 1803 noch nicht anvertraut worden, und das Unverständnis der 100

Zeitgenossen war dementsprechend. Der Kritiker der Allgemeinen Musikalischen Zeitung beispielsweise bescheinigte Beethoven wenig schmeichelhaft „ästhetischen oder artistischen Terrorismus“. Heute gilt, nach einem gewandelten Verständnis, die „Kreutzersonate“, insbesondere aufgrund ihres fulminanten Kopfsatzes, als bedeutendste Violinsonate des Komponisten. Sein op. 47 ist – da hat der eifrige Doktor des Marcel Proust völlig recht – nicht nach der bekannten Giftschlange, sondern nach einem heute weniger bekannten französischen Geiger benannt, dessen Name dank der ihm zuteilgewordenen Widmung gleichwohl nie in Vergessenheit geraten wird: Rodolphe Kreutzer. Dieser soll, Hector Berlioz zufolge, die Komposition übrigens „outrageusement intelligible“ – also „völlig unverständlich“ – empfunden und daher wahrscheinlich niemals selbst aufgeführt haben. Wenn Beethoven das geahnt hätte! Ohnehin sollte die Sonate ursprünglich einem anderen, englisch-polnischen Geiger gewidmet werden, der bei seinem Besuch in Wien im Frühjahr 1803 für nicht geringes Aufsehen sorgte – wegen seines außergewöhnlich virtuosen Spiels zum einen, wegen seines Aussehens zum anderen; denn er, sein Name George Bridgetower, war europäisch-schwarzafrikanischer Abstammung. Beethoven machte seine Bekanntschaft und nahm ihn, wie man weiß, zu einigen Musikabenden mit, um gemeinsam mit ihm zu konzertieren, seine neuesten Violinsonaten zum ersten Mal erklingen zu lassen. Irgendwann jedoch, gegen Ende des Wien-Aufenthaltes des Geigers, muss es dann zum Krach gekommen sein, angeblich wegen einer Beethoven sehr werten, unbekannten Dame, die Bridgetower beleidigt haben soll – was ihn die Widmung der „Kreutzersonate“ gekostet hat. Ein autografer Entwurf des Werkes (der überdies davon zeugt, dass Humor für Beethoven alles andere als ein Fremdwort war) verrät nämlich das ursprünglich Angedachte: „Sonata mulattica Composta per il Mulatto Brischdauer, gran pazzo e compositore mulattico“ (mulattische Sonate, komponiert für den Mulatten Bridgetower, großer Narr und mulattischer Komponist). Immerhin: Die Ehre, dieses außergewöhnliche Werk als Erster öffentlich gespielt zu haben, ist dem Verschmähten letztlich geblieben. 101

Was bot sich den Ohren der Zuhörer, als das Werk, das also, hätte sich Bridgetower einer Dame gegenüber höflicher benommen, womöglich als „Mulattische Sonate“ bekannt wäre, zum ersten Mal erklang, was bietet es ihnen noch heute? „Die ‚Kreutzer‘-Sonate beginnt mit einem ebenso herrlichen wie heiklen Solo für die Violine. Unbegleitet, gleichsam nackt, muss sie in strahlenden Doppelgriffen ihr majestätisches Adagiothema vortragen. […] Danach übernimmt das Klavier in sonorem Moll die erhabene akkordische Gestalt. Eher zögernd setzt das Presto ein. Es wirkt wie unschlüssige Ruhe vor dem Sturm. Der bricht dann rasend los: so rasch, dass man eher die Fetzen einer Prestomelodie als diese selbst zu erkennen meint. Wieder relative Ruhe. Und dann ein mitreißend schwungvolles Drängen zum grandiosen zweiten Thema. Mit äußerster Gewalt spricht Musik die Sprache der Leidenschaft. Wer dieses Oktaventhema einmal wahrhaft begriffen hat oder von ihm ergriffen worden ist, kann es nie mehr vergessen […]. Der Mittelsatz, ein Variationssatz, fasziniert weniger mit Leidenschaft als mit Empfindsamkeit, Brillanz, brütender Dunkelheit (dritte Variation) und melodisch reichen Entfaltungen.“ Im Finale dürfe, so Joachim Kaiser, der das besondere Wesen dieses Werkes so anschaulich zu schildern versteht, schließlich „ein virtuoser Daseinsrausch in hellem Dur das letzte Wort behalten“, nachdem es am Anfang „um Leben und Tod“ gegangen sei.67 Apropos Leben und Tod: Anders als Marcel Proust hatte sich der große russische Schriftsteller Leo Tolstoi nicht mit einem kurzen Dialog begnügen wollen. Er war von diesem Werk Beethovens so beeindruckt (wenngleich er persönlich das Finale „ganz schwach“ fand), dass er ihm im Jahre 1889 seine wohl berühmteste Novelle widmete: die „Kreutzersonate“.68 Tolstois Gedanke: Musik, die so leidenschaftlich, so seelenerschütternd ist, kann geradewegs zum Mord führen ...69 Auf einer Bahnreise erzählt ein Mann etwas Unglaubliches, ungeheuer Erschütterndes: Er hat die eigene Frau ermordet, weil sie mit dem Musiklehrer fremdgegangen ist. Die beiden sind in flagranti von dem Eifersüchtigen erwischt worden; allerdings nicht im Bett, sondern am Klavier, wo sie gemeinsam die „Kreutzersonate“ gespielt haben. Dieses Erlebnis ist Auslöser des Mordes ... 102

„Kennen Sie das erste Presto? Sie kennen es?“, fragt der Mörder seinen Zuhörer im Abteil und fährt fort: „Huhuhu! Ein furchtbares Werk ist diese Sonate! Und gerade dieser Teil.“ Und erklärend fügt er hinzu, dass ihn die Musik in die gleiche Seelenverfassung versetzt hat wie die, die Beethoven beim Komponieren gehabt habe. Doch anders als für den Komponisten, bei dem dieser Zustand durch die Musik ausgelöst worden sei, habe sie ihn nur aufgestachelt: „Auf mich wirkte dieses Werk entsetzlich; es taten sich vor mir scheinbar ganz neue Empfindungen auf ... Alle anwesenden Personen, darunter auch meine Frau und er, erschienen mir in anderem Lichte.“ Es sei jedem, der noch nicht in den Genuss der „Kreutzersonate“ gekommen ist, ans Herz gelegt, ihre intensive Wirkung alsbald selbst zu erproben. Es wird gewiss nicht zwingend zum Mord führen. (HGK)

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Lebendmaske Wie soll man da nicht grimmig gucken, nicht die Lippen zusammenpressen? – Wenn einem flüssiger Gips auf das Gesicht gegossen wird – und das nun bereits zum zweiten Mal! Denn beim ersten Versuch hat er, Beethoven, wahrhaft geglaubt, ersticken zu müssen! Nun hat man ihm Röhrchen in beide Nasenlöcher eingeführt, damit er atmen kann. Wer würde fröhlich dreinblicken in so einem Moment, nicht froh sein, wenn man diese Tortur endlich hinter sich gebracht hat? Unglücklicherweise war die Lebendmaske, die der österreichische Bildhauer Franz Klein im Jahr 1812 von dem Antlitz Beethovens abformte, Grundlage für eine von dem Klavierfabrikanten Johann Andreas Streicher in Auftrag gegebene Porträtbüste. Just diese, in unzähligen Nachgüssen sowie als Briefmarkenmotiv weite Verbreitung findend, vermittelt – wen mag es verwundern – nur mit Einschränkungen einen Eindruck von dem wahren Aussehen des Komponisten. Aufgrund der extrem unangenehmen Prozedur, der sich dieser unterziehen musste, ist der Gesichtsausdruck ein äußerst finsterer, erweckt den Anschein, als habe Beethoven nicht den leisesten Sinn für 103

Humor gehabt, sei ein durch und durch grimmiger und störrischer Mensch gewesen. Darüber hinaus ist die entstandene Porträtbüste zum Teil auch das Ergebnis bildhauerischer Kreativität, da Klein wichtige Partien des Gesichtes (Augen, Augenbrauen, Haaransatz) beim Abformen abdecken und nachbearbeiten musste. Künstlerische Freiheit spiegelt sich daher in Beethovens weit geöff neten Augen wider, die geistige Inspiration zum Ausdruck bringen sollten, sowie 104

in der bewegten, üppigen, von einem temperamentvollen Wesen zeugenden Frisur. Weitere „Zutaten“ Kleins sind neben Hinterhaupt und Ohren der Oberkörper in zeitgenössischer Kleidung. Die originale Büste soll bis in die 1920er-Jahre im Besitz der Nachkommen Streichers gewesen sein und befindet sich heute im Wien Museum; über einen Abguss verfügt das Bonner Beethoven-Haus, zudem ist hier ein früher Nachguss der Lebendmaske (vor dem Geburtszimmer) ausgestellt. (HGK)

→ Totenmaske

M

Marketing Eine Wette gegen diesen neunmalklugen Grünschnabel von gerade einmal fünfzehn Jahren gewinne ich mit links, denkt sich Ferdinand Heller, gestandener Bassist des Wiener Hoforchesters, tonerfahrener Sänger, als der junge Beethoven ihn 1785 herausfordert. Im Angesicht einer voll besetzten Kirche glaubt der tatsächlich, er könne mich mit einer ad hoc improvisierten Begleitung vor versammeltem Hofstaat im Gottesdienst aus dem Takt bringen? Pah, dem Bürschchen zeige ich, was wahres Sängertum ausmacht! Doch Beethoven, gerade zum ersten Mal in Wien, legt in Gegenwart des Kurfürsten und seines Hofstaats eine Glanzleistung hin: Nicht nur ad hoc improvisiert, nein, auch als äußerst komplex erweist sich seine Begleitung. Frei und immer außerordentlicher verzweigt sich sein kunstvolles Akkompagnieren. Heller gerät ins Schwitzen, versucht weiterhin, dagegen anzusingen – mit ihm im Takt zu bleiben, doch über den immer stärker ausufernden Tonpartien gerät er ins Stocken! Peinlich, er muss tatsächlich abbrechen, verwirrt, völlig aus dem Takt geraten über diese so sonderbar schwungvollen neuen Tonkompositionen. Mit hochrotem Gesicht und offenem Mund präsentiert sich beschämt ein stummer Sänger dem staunenden Gottesdienstpublikum. Übermütig verbeugt sich Beethoven vor dem interessiert wirkenden Kurfürsten, der ihm zwar im Nachhinein eine Rüge erteilen wird, jedoch seine Bewunderung nicht verbergen kann. Solch nachhaltiger Eindruck mündet in eine Empfehlung für 105

eine besondere Förderung, den Wiener Studienaufenthalt für dieses Mal. Eine typische Marketingstrategie, schon in früher Jugend von Beethoven so bewusst wie erfolgreich eingesetzt, und zwar sein Leben lang: Verschaffe dir Respekt durch Respektlosigkeit, in ebenso fachkundiger wie kreativer Weise, nutze die Schadenfreude des Publikums! Immer wieder sucht Beethoven Situationen der Konkurrenz, stellt Kontrahenten bloß, versetzt Anwesende in atemloses Staunen und stellt über die Mitfreude an seinem Sieg Einvernehmen mit den Zuhörern her. Das ist ebenso nötig wie wichtig in der vor Kultur und Musik nur so pulsierenden Stadt (→ Wien) und vor rivalisierenden Adelshäusern, die ihren Marktwert gern in Form von Improvisationswettbewerben testen, indem sie ihre Hauspianisten als Mäzene unterstützen. Pianistisches Können vereint mit psychologischer Kriegsführung gehört zum Handwerkszeug eines erfolgreichen Pianisten (→ Klavierspiel). Von der meisterhaften Beherrschung dieses Spiels künden zahlreiche Anekdoten. In Berlin habe er etwa mitten in einer Improvisation den Pianisten Friedrich Heinrich Himmel gefragt, wann er denn mit dieser zu beginnen gedenke. Und jemand, der glaubt, er könne sich mit Beethoven messen, indem er eine Improvisation einstudiert über ein Werk des Künstlers selbst, den bestraft er mit vernichtender Grandiosität, so geschehen dem Virtuosen Daniel Steibelt bei dem Grafen Fries, ausgerechnet Beethovens Mäzen. Mit Verachtung soll Beethoven ihm das Blatt mit der Cellostimme des soeben gespielten Quartetts entrissen, sich kopfüber aufs Pult gestellt, mit einem Finger das nun transponierte wie rückwärts erscheinende Thema hin gestümpert haben, um darüber eine neue eigene brillante Improvisation zu performen. Wie gut, dass Ludwig das mit der Muttermilch aufgesogen hat, aufgewachsen in seiner Bonner Hofkapellmeister-Familie mit Tradition (→ Ausbildung → Jugend). Schon Papa setzt werbewirksam auf den „Wunderkindfaktor“; der Hoforganist preist seines Schülers Brillanz überregional in Cramers Magazin der Musik (1783) an. Auch Beethovens Widmungskompositionen wie gezielte Anschreiben an Königshäuser sind reine Werbung in eigener Sache, ein Oszillieren zwischen Privatem und Geschäftlichem (→ Widmungen). Sogar vermietet hat er Kompositionen vor der endgültigen Drucklegung und 106

damit bestimmten zahlungskräftigen Persönlichkeiten das Exklusivrecht einer Erstaufführung eingeräumt (etwa bei der 4. Sinfonie für Graf Oppersdorff, der 500 fl. dafür hergeben durfte). Honorarverhandlungen hat Beethoven jedoch, in geschäftlichen Angelegenheiten selbst wenig begabt, lieber in die Hände eines professionellen Kaufmanns gelegt, wie die des Wiener Kunsthändlers und Verlegers Johann Träg oder seines Bruders Kaspar Karl. Seit 1815 tätigte er erfolgreich mit Johann Baptist Häring Widmungsgeschäfte bis nach England. Musik verkauft sich eben nicht von allein! Neben Können gehören dazu Persönlichkeit, Psychologie, Taktik, Strategien und Durchsetzungsvermögen: Beethoven – Gütesiegel für Qualität – gleich einem „Made in Germany“… (YZ)

Mäzene Beethoven ist glücklich: „[A]uch bin ich als Kapellmeister zum König von Westphalen berufen, und es könnte wohl seyn, daß ich diesem Rufe folge“, berichtet er dem Grafen Oppersdorff am 1.11.1808 in einem Brief. Endlich wäre er als Kapellmeister Jérôme Bonapartes in Kassel unabhängig, könnte sich ohne Einschränkungen auf das Wichtigste konzentrieren: „[I]n Westphalen habe ich 600 (Dukaten) in Gold 150 (Dukaten) reisegeld und nichts dafür zu thun als die Konzerte des Königs zu dirigiren, welche kurz und eben nicht oft sind – nicht einmal bin ich verbunden eine oper, die ich schreibe, zu Dirigiren – aus allem erhellt, daß ich dem Wichtigsten Zwecke meiner Kunst Große Werke zu schreiben ganz obliegen zu können – auch ein Orchester zu meiner Disposition.“ Zeit seines Lebens bzw. seit Beginn seiner Laufbahn als Musiker ist Beethoven stets durch Mäzene unterstützt worden, mal mehr, mal weniger eigennützig. Denn Beethoven lebte in Zeiten des Umbruchs. Die Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft ging auch einher mit einem Wandel des Mäzenatentums, das sich immer mehr an dem uns heute bekannten Sponsoring zu orientieren begann und sich immer weiter von der Tradition höfischen Mäzenatentums der Spätaufklärung eines „klassischen“ Mäzens mit „monarchischem Charakter“ entfernte. Immer wieder wünschten sich wohlhabende Bürger oder 107

Adelige, dass Beethoven ihnen ein Werk komponierte, wollten sich mit seinem Talent schmücken und in der Öffentlichkeit präsentieren, wodurch sie sich weniger als Mäzene, sondern viel eher als Sponsoren outeten, vergleichbar Geschäftspartnern. Zahlreiche „Gelegenheitsmäzene“ wären anzuführen, denen Beethoven hier und da entsprechende Werke widmete. Daneben gab es wenige klassische, jedoch sehr viel wichtigere Mäzene: Als erster Förderer, der (zunächst ohne eine Gegenleistung zu verlangen) den jungen Künstler unterstützte, könnte der Bonner Kurfürst Maximilian Franz gelten. Der Erzbischof von Köln, Ludwig van Beethovens erster Arbeitgeber, stellte ihn von ebendieser frei, um dem angehenden Musiker zwei Studienreisen nach Wien (1787 und 1792) zu ermöglichen bei Fortzahlung seines Jahresgehalts von 100 Dukaten (zumindest bis zur Einstellung desselben in den 90er-Jahren, weil Beethoven nicht aus Wien zurückkehrte). So ganz uneigennützig war dieses Unterfangen nicht, wäre ein gut ausgebildeter Beethoven doch für Bonn ein erstklassiges musikalisches Aushängeschild mit enormem Prestige gewesen. Wie viel uneigennütziger erlebt man doch da das Engagement eines Grafen Waldstein. Er war derjenige, der dem Kurfürsten wohl erst den Floh mit dem Wiener Studium in den Kopf setzte, ihn damit auch seinem Freund, dem Graf Lichnowsky, einem Lebemann und bekannten Wiener Mäzen zuführte, mit dem Beethoven eine jahrelange Freundschaft verbinden sollte. Dieser nahm Beethoven gar 1794 in sein Haus auf und setzte ihm ein Jahresgehalt von 600 Gulden aus. Der Künstler dankte es ihm, mit Werken, Widmungen, Aufführungen und in Briefen, wie etwa dem folgenden an die Verleger Breitkopf & Härtel: „er ist wirklich – was in diesem Stande wohl ein seltenes Beyspiel ist – einer meiner treuesten Freunde und beförderer meiner Kunst“. Doch endet dieses beiderseits profitable Verhältnis leider auf äußerst abrupte endgültige Weise mit einer turbulenten Geschichte (→ Anekdoten), einer dauerhaften Verletzung der empfindlichen Seele des Künstlers. Noch Jahre später wird der einst so hochgelobte Gönner als Mensch beschimpft, der seine „Freunde mit Flegeln traktieren“ wollte. Wen wundert es da, dass Beethoven ernsthaft in Betracht zieht, sich ins ländliche Westfalen zu begeben, wo ihm, ohne die für ihn schwierig zu ertragenden Eigenarten verschiedener 108

Mäzene, ein festes Gehalt winkt, ein Orchester, mit dem er nach Herzenslust proben kann? Welch ein Verlust für Wien, seine Anhängerschaft, treue Freunde wie Zuhörer, wäre Beethoven wirklich jenem Ruf Jérôme Bonapartes nach Kassel gefolgt! Wie gut, dass die sprichwörtlichen Buschtrommeln (Gräfin Erdödy und Ignaz von Gleichenstein) so gut funktionieren: Diesem Plan muss ein lukratives Gegenangebot entgegengehalten werden, darüber sind sich drei hochwohlgeborene Wiener Herren nach Erhalt dieser alarmierenden Nachricht schnell einig. Niemand Geringeres als der Erzherzog Rudolph von Österreich, Fürst Franz Joseph Maximilian Lobkowitz und Fürst Ferdinand Johann Nepomuk Kinsky wollen gemeinsam für Beethovens Unterhalt aufkommen, wenn der Kerl nur in Wien bleibt! Drei Monate später unterzeichneten drei Gönner den Rentenvertrag, der Beethoven ein Jahresgehalt von 4.000 Gulden zusicherte. Eine enorme Summe für damalige Zeiten, außergewöhnlich auch, dass daran außer dem Verbleib des Komponisten in Wien keinerlei Bedingung geknüpft war. Erwähnt werden sollte noch Graf Andrej Kirillowitsch Rasumowsky, der Beethoven seit 1808 bis zum bedauerlichen Brand seines Palastes in der Silvesternacht des Jahres 1814/15 sein Quartett zur Verfügung stellte. Welch Freude bzw. Anerkennung für den überragenden Künstler, der ja durchaus kein einfacher Mann war, wenngleich er eigentlich äußerst spartanisch lebte. (→ Nachlass) Doch fühlte sich Beethoven schon immer zu Höherem berufen, und so mag ihm diese Anerkennung gerade recht gekommen sein. Leider sollte er sich jedoch nicht lange an dem gewährten wie unterzeichneten Rentenvertrag erfreuen können. Aufgrund schlechter Zeiten, kriegsbedingter Erschütterungen Österreichs – musste man doch die Franzosen endlich an ihren Platz verweisen, sich von ihnen unabhängig machen –, verringerte sich der Geldwert infolge des Staatsbankrotts auf ein Fünftel. Das hatte enorme Einbußen für die geradeso gewonnene finanzielle Sicherheit des Komponisten zur Folge. Auch der Lebenswandel des Fürsten Lobkowitz sowie der Tod Kinskys erschütterten die Einnahmequelle – zwar vorübergehend, jedoch nachhaltig: So führte beim einen das ausschweifende Leben zu eigenen finanziellen Problemen und vorübergehender Einstellung der für Beethoven so existenziellen Zahlungen, während sich im anderen Fall die Nachkommen 109

Kinskys weigerten, ihn weiterhin finanziell zu unterstützen, weshalb sie mithilfe eines Gerichtsverfahrens dazu gezwungen werden mussten. Diese Schwierigkeiten kosteten Beethoven tatsächlich die Zahlungen von vier Jahren! Als dauerhaft und wirklich zuverlässig in Krisenzeiten erwies sich hier zum Glück für Beethoven der Erzherzog: Nicht umsonst widmete Beethoven ihm so viele Werke wie keinem anderen – etwa die Missa solemnis. Doch darüber berichtet ein anderer Artikel … (YZ)

Missa solemnis Die Missa solemnis – ein „olympischer Kraftakt“, ein „Opus summum“ oder aber „mein größtes und gelungenstes Werk“, wie Beethoven selbst die Missa zu bezeichnen liebte. Neben dem Autograf gibt es gleich acht überprüfte Abschriften des gesamten Werks sowie etwa 600 Seiten mit Skizzen … – das ist mit Sicherheit kein Werk für „rein liturgische Zwecke“, obwohl der Titel dies nahelegt. Er verweist auf eine an einem hohen Festtag aufzuführende Messvertonung – ein Oratorium vielleicht? –, vorstellbar nicht wirklich: Kein Laienchor, kein einfaches Kirchenorchester würde sich an diese Mammutaufgabe herantrauen, die Beethoven zu Ehren seines bedeutendsten Gönners, des Erzherzogs Rudolph, zu dessen Ernennung zum Erzbischof von Ölmütz, von der er im Januar 1819 erfuhr, schrieb: „Gott wird mich erleuchten, daß meine schwachen Kräfte zur Verherrlichung dieses Feyerlichen Tages beitragen.“ Leider fand jedoch die Inthronisierung Rudolphs am 9. März 1820 ohne das phänomenale Werk statt, obschon sein Schöpfer es bereits im November in einem Schreiben an seinen Freund Ferdinand Ries als „fast vollendet“ eingestuft hatte. Sie merken auf, fast! Das heißt bei Beethovens Akribie, dass die Messe eben erst drei Jahre später als fertiges Werk der Öffentlichkeit vorgestellt bzw. dem Erzbischof Rudolph überreicht wird! Und es kommt noch besser: Erst etwa elf Wochen vor den Feierlichkeiten teilt Beethoven seinem Gönner umständlich mit, dass er sich leider nicht in der Lage sehe, das Werk pünktlich zu vollenden, wobei er vorher so euphorisch war. Vielleicht sollte man jedoch berücksichtigen, dass sich Beethoven aufgrund 110

seiner Krankheiten, der stärker werdenden Taubheit in einer extremen Krise befand: Er litt, physisch wie psychisch! Dennoch kann man sich vorstellen, dass sein Eingeständnis zu einer ernsthaften Verstimmung Rudolphs führte, der kurzerhand eine Messe von Nepomuk Hummel aufführen ließ. Beethoven indessen ließ die Arbeit an der Solemnis nun erst einmal ruhen, war doch der konkrete Anlass weggefallen. Am 19. März 1823, fast punktgenau drei Jahre zu spät, überreichte er seinem Gönner das Werk mit der Widmung: „Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen!“ Was hat es mit diesem Werk auf sich? Was macht es zu etwas derartig Besonderem, dass selbst der äußerst selbstkritische Beethoven es als sein „größtes und gelungenstes Werk“ bezeichnet? Dass schon in der zeitgenössischen Presse das Werk als unübertrefflich in Bezug auf alles Vorhergegangene geschildert wird? U. a. die Allgemeine musikalische Zeitung bewundert 1834 seine Genialität: „Es ist kaum möglich, dass das Ganze hintereinander kräftig ausgeführt und vernommen werde, so gewaltig strengt es Ausübende und Hörer zugleich an.“ Noch 2003 rezensiert ein begeisterter Hörer auf Amazon: „Bei den Salzburger Festspielen [1992] (1991? [es war ein Jahr später, Anm. d. Verf.]) kam dann Nikolaus Harnoncourt und brachte ein sicherlich erfahrenes Publikum (und alle Kritiker) zum fassungslosen Staunen. Dramatisch und schwebend; melodiös; jubelnder, hymnischer und leichter Chor; opernhafte Stimmschönheit der Solisten; mystische Verzückung beim Violinpart im Benedictus, liturgische Ernsthaftigkeit des Textausdrucks, makellose Phrasierung und Klang-Klarheit des Orchesters. Am Ende ergriffenes Schweigen und riesiger Applaus.“ In dieser aus dem Herzen geschriebenen Begeisterung steckt genau das, was die Missa solemnis zu etwas Einzigartigem macht: Da ist die besondere Balance, die es immer wieder auszutarieren gilt: zwischen dem Gesang, der sich bis in die höchsten klaren Höhen schrauben können muss, und Instrumenten(gruppen), die ein stürmisches Lob des Höchsten herausposaunen sollen. Im Anschluss soll sich eine besondere Innerlichkeit als Friedenssehnsucht im „Benedictus“ bis tief in die Herzen der Zuhörer eingraben. Hier werden Teile gregorianischer Choräle nachempfunden, kommen typische Kirchentonarten 111

zu Ehren, bewusst sind traditionelle Gestaltungsmittel eingesetzt, die jedoch in ein Neues überführt werden. Jeder Textaussage hat Beethoven für sich eine ihrer Intention angemessene – unverkennbare, epochemachende – musikalische Form verliehen. Es reicht nicht! Ein solches Werk ist mit unvollkommenen Worten in wenigen nicht zufriedenstellenden Sätzen nicht zu beschreiben, man muss es sich erhören! Die Meinungen von Fachleuten und Publikum gehen weit auseinander: Welche Fassung mit welchem Dirigenten sollte man hören? Man könnte der Expertenempfehlung von Christoph Vratz folgen. Hören Sie die Missa solemnis als „Summe ihrer Einzelteile“, so wie sie wohl auch Beethovens Zeitgenossen gehört haben müssen: John Eliot Gardiner mit seinem Orchestre Révolutionnaire et Romantique und dem Monteverdi-Chor oder Philippe Herreweghe mit dem Champs-Élysées-Orchester und zwei besonderen Chören. Als „Brückenbauer“ zwischen traditioneller und moderner Interpretation gelten Roger Norrington oder Enoch zu Guttenberg im Jahre 2009. Und natürlich Toscaninis Einspielung (entweder von 1940 oder aber 1953), denn daran „kommt niemand vorbei“. Weiterhin erwähnt Vratz die „Größe und visionären Charakter“ besitzende Einspielung von Karajan aus dem Jahr 1958 sowie zwei weitere aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, zum einen von Otto Klemperer und zum anderen von dem Wiener Böhm mit dem Wiener Staatsopernchor und den Philharmonikern. Oder aber Sie hören sich eine Aufnahme des oben erwähnten Harnoncourt an.70 (YZ)

Mondscheinsonate Beethoven liest Zeitung. Eine Tasse dampft vor ihm. – Ach sieh mal da: Ein neues Musikinstrument ist erfunden worden: der Clavicylinder. Ernst Florens Friedrich Chladni, ein deutscher Physiker, hat ihn erdacht. Beethoven nimmt einen großen Schluck von dem Kaffee, der aufgrund seiner Stärke wohl bei nicht wenigen Menschen sogleich eine umwerfende Wirkung entfalten würde (→ Essen und Trinken). Äußerst interessant: Ein Zylinder aus Zink oder Glas wird durch ein Fußpedal in Rotation versetzt. Mittels einer Klaviatur werden gestimmte Metallstäbe so an den Zylinder herangeführt, dass sie 112

infolge der Reibung zum Schwingen kommen und Töne erzeugen, als streiche der Wind über Saiten wie Finger über die einer Harfe … Beethoven, noch nachsinnend, blättert weiter. Und weiter. Ein neues Buch wird, dazu ja passend, rezensiert: „Die Aeolsharfe. Ein allegorischer Traum“. Der Name des Autors, Johann Friedrich Hugo Reichsfreiherr von Dalberg, sagt ihm wenig. – Mal lesen, ob die Lektüre lohnen würde. Ungewöhnlich, der Inhalt: Einsame Seelen, nach einem unerfüllten Leben auf Wolkeninseln versprengt, harren der Vereinigung mit anderen entgegen. – Nur das Mondlicht vermag sie miteinander zu verbinden; so lange, bis sich schließlich der Windgott Aelos ihrer erbarmt und sie mit den Klängen seiner Harfe erlöst … Er hat sie im Kopf, diese Klänge des Windes … dazu eine akkordische Begleitung im mittleren Register, aufgelöst in Achteltriolen … ähnlich dieser Romanze von Schwarzendorf, die er noch abschreiben will. Jetzt ist der Kaffee leider kalt. – Doch die Idee zu einem neuen, ganz besonderen Werk, sie ist vielleicht soeben geboren worden … Davon geht zumindest die neuere Beethovenforschung aus. Denn in der Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, deren regelmäßige Lektüre Ludwig van Beethoven pflegte, wurde im 3. Jahrgang 1800/1801 – für die musikalische Nachwelt also vermutlich ein höchst erfreulicher Umstand – nicht nur über die Erfindung des Clavicylinders berichtet (Beethoven notierte sich: „Claviercylinder“) , sondern auch die Erzählung „Die Aeolsharfe“ rezensiert und noch dazu der Klavierauszug einer Romanze des Komponisten Schwarzendorf abgedruckt, den Beethoven (gewiss nicht grundlos) eigenhändig kopierte.71 Es erscheint daher musikalisch durchaus einleuchtend, dass diese glückliche Vereinigung die Inspirationsquelle für den ersten (und vielleicht auch dritten) Satz der „Mondscheinsonate“ gewesen sein könnte.72 Wer es (noch) ein wenig romantischer mag, darf aus ihr auch die sehnsüchtigen Gedanken des Komponisten an eine schöne, junge Frau heraushören; die Frau, der er sie widmen sollte: Giulietta („Julia“) Guicciardi. Und das Werk klingt schon so, als seien in ihm – wie Joachim Kaiser meint – „Bekenntnisse“ verewigt worden, als vibriere es geradezu „von der Passion, zu der eine schöne Kokette den unseligen Beethoven einst inspirierte“.73 113

Im Jahr 1800 war dieser der höchst attraktiven 16-jährigen Tochter einer Gräfin begegnet, die viele Jahre in Italien gelebt hatte und, kaum in Wien angekommen, mit ihrem südländischen Flair und Temperament schon „geradezu Aufsehen“ erregte, wie eine ihrer Cousinen in einem Brief anmerkte. Man nenne sie nur „die schöne Guicciardi“ … doch manch einer nahm durchaus Anstoß an ihrer koketten, wenn nicht gar leichtfertigen Art – Beethoven indessen dürfte sie weniger gestört haben, wissen wir doch, dass er schon recht bald in seine neue Klavierschülerin verliebt war, denn er teilte seine Glücksgefühle im Herbst 1801 brieflich mit dem Jugend- und Busenfreund Franz Gerhard Wegeler (→ Freunde) – zu einem Zeitpunkt, als die drohende Taubheit sein Inneres bereits mehr und mehr verdüstert hatte: Er lebe jetzt wieder „etwas angenehmer“, schreibt Beethoven, indem er sich „mehr unter Menschen gemacht“. Und weiter heißt es: „Diese Veränderung hat ein liebes zauberisches Mädchen hervorgebracht, die mich liebt, und die ich liebe, es sind seit 2 Jahren wieder einige seelige Augenblicke, und es ist das erstemal, daß ich fühle, daß – heirathen glücklich machen könnte.“ Doch Beethoven fügt gleich hinzu: „leider ist sie nicht von meinem stande – und jetzt – könnte ich nun freylich nicht heirathen – ich muß mich nun noch wacker herumtummeln.“ So kam es, wie es kommen musste: Giulietta wurde nicht die Frau des weiter nach einer verwandten Seele suchenden „Titanen“ Beethoven, sondern – im Vergleich zu ihm – eines musikalischen Zwerges, der jedoch den unschlagbaren Vorteil hatte, blaublütig zu sein: Der wenig bedeutende Ballett-Komponist Graf Wenzel Robert von Gallenberg war 1803 der Glückliche, der seine „Julia“ zum Traualtar geleiten und mit ihr nach Neapel entschwinden durfte. – Nicht die erste, nicht die letzte Enttäuschung in Liebesdingen (→ Frauen → Heiratspläne) für Ludwig van Beethoven, der später jedoch bekannte, über die gescheiterte Eheschließung eigentlich doch erleichtert gewesen zu sein. Denn seine große, seine unsterbliche Geliebte war Giulietta Guicciardi ohnehin nicht (wiewohl sie lange Zeit als ernsthafte Kandidatin gehandelt wurde). Durch die Widmung der Klaviersonate op. 27 Nr. 2 cis-Moll wird sie dennoch nie in Vergessenheit geraten; und die kokette Gräfin muss Beethoven doch einiges bedeutet haben, bewahrte er doch ein kleines Porträt von ihr, das man in seinem Nachlass finden sollte, bis zu seinem Tod auf … 114

Mit diesem romantischen Hintergrund hat der sentimental anmutende Beiname74 übrigens gar nichts zu tun – und stammt auch nicht vom Komponisten selbst. Der Berliner Dichter, Musikkritiker und Beethoven-Bewunderer Ludwig Rellstab versuchte 1823, die so unendlich wehmütige Stimmung des Kopfsatzes in Worte zu fassen, und schrieb (womöglich die Quellen der Inspiration erahnend): „Der See ruht in dämmerndem Mondenschimmer […] eine Äolsharfe tönt Klagen sehnsüchtiger einsamer Liebe […] geheimnisvoll von jener Ruine herab. Still, gute Nacht!“ Ähnliche Assoziationen hatten, ohne sich auf Rellstab zu beziehen, sowohl der Pianist und Komponist Carl Czerny, der den ersten Satz als eine „Nachtszene“ empfand, „wo aus weiter Ferne eine klagende Geisterstimme ertönt“, als auch der Musikschriftsteller Wilhelm von Lenz, der das Adagio mit einer Überfahrt über einen See „bei Mondschein in einer stillen Augustnacht“ verglich. Mitte des 19. Jahrhunderts war die „Mondscheinsonate“ schließlich als solche bekannt – anders als zu Lebzeiten ihres Schöpfers, der sich über die außerordentliche Beliebtheit dieses Werkes oft zu ärgern pflegte (ob ihm der spätere Beiname zugesagt hätte, sei hier dahingestellt): Immer spreche man nur von der cis-Moll-Sonate! Er habe „doch wahrhaftig Besseres geschrieben“. Da sei die Fis-DurSonate doch „etwas anderes“. Womit die Appassionata gemeint ist; die er selbst auch nicht so getauft hat … (HGK)

Mythos Beethoven Mythos – das Rätselhafte schlechthin, von beispielhafter Größe, existenzielle Fragen beantwortend: Mythos ist Kultur, bringt in Verzückung – im Angesicht von Leid und Tod hebt er Menschen über sich hinaus und bleibt doch im Transzendenten letztendlich unerklärbar – auch in seiner Faszination. Was liegt näher, als auch die Erscheinung Beethoven einmal unter diesem Blickwinkel zu begutachten? Ist nicht einer der Gründe, warum dieser Musiker – und seine Musik – unsterblich sind, dass sich schon zu seinen Lebzeiten ein Mythos um ihn bildete, an dem er selbst tatkräftig mitgewirkt hat – 115

nicht zuletzt durch seinen besonderen zwiespältigen widersprüchlichen Charakter, seine eigensinnige Arbeitsweise und die Selbstoffenbarungen im Heiligenstädter Testament wie im Brief an die unsterbliche Geliebte? Ein Mythos, der sich im Lauf der Zeit wandelte, sich jeweils anpassend, auch in dunklen Zeiten, etwa der des Nationalsozialismus, der von seiner Schubkraft, Anziehung und Faszination bis heute nichts eingebüßt hat, befindet er sich nicht umsonst gerade gar auf dem Weg in weit entfernte Galaxien (→ Beethoven im All). Das anstehende Jubiläum im Jahr 2020 wird erneut Aktualität und Zeitlosigkeit des Phänomens Beethoven auf besondere Art herausstellen: ein Mythos auch der Komposition, die sich über sich selbst erhebt, programmatisch und transzendent zugleich, nah und doch schwer zu fassen, in ihrer gedanklichen Tiefe von ebenso allgemeiner wie spezieller Aussage, in ihrer prägnanten Formung gleichzeitig offen und ohne didaktisches Pathos. Egal, ob man sich hier nun der dritten Sinfonie, der „Eroica“, der Cavatina, der Kreutzer-, der Mondscheinsonate oder aber der Missa solemnis zuwendet. Eine schon von Beethoven gewollte Mythisierung, die sich nicht zuletzt auch in Widmungen widerspiegelt: „Von Herzen – möge es – wieder zu Herzen gehen“. Diese verbindende Vereinigung von Leben und Kunst ist es, die – so bewusst gelebten – Widersprüche zwischen den Banalitäten des Alltags (→ Broterwerb), den heftiger werdenden Leiden (→ Krankheiten) und dem künstlerischen Schaffen (→ Arbeitsweise → Werk), die schon von seinen Zeitgenossen, insbesondere Literaten wie etwa E. T. A. Hoffmann oder Clemens und Bettina Brentano, als paradox erkannt werden. In ihrer Überwindung werden sie als beispielhaft stilisiert, insofern Ludwig van Beethoven sie zu versöhnen imstande sei. Damit gebe er ein Beispiel ab. Er wird zum Mythos, der zeigt, wie Leid durch künstlerisches Schaffen überwunden, gar in höhere Sphären gehoben wird. Zum siegreichen Heros wird er und seine Werke Transzendierende. Die 5. Sinfonie entführe ihre Hörer in Geisterreiche, als deren unumschränkter Herrscher über die Räume der Seelen Beethoven erscheine, so der bewundernde E.  T.  A. Hoffmann. Von unvergleichlicher Größe sei er, sein Antlitz werde durch die Taubheit zu einem Geisteszeichen, das uns anblicke wie seine Werke – Mensch und Künstler seien zur Einheit verschmolzen, attestierte Hugo von Hofmannsthal 1920. Romain Rolland schließlich spricht von einem 116

„musikalischen Evangelium“, sieht Beethoven als Symbol der Eintracht Europas, der menschlichen Brüderlichkeit und konnte doch nicht wissen, wie sehr seine Worte prophetischen Charakter hatten, wurde doch die 9. zur Hymne des vereinten Europas. Dies ist jedoch eine andere, eigene Geschichte (→ Europahymne). Und heute? In der Überwindung und Versöhnung von Gegensätzen, dem Ordnen des Chaos und der damit verbundenen Sinnstiftung durch die Kraft seiner Kunst, seiner Musik zeigt sich seine Aktualität und die seiner Komposition auch in unseren postmodernen Zeiten. Hören Sie selbst … (YZ)

N

Nachlass

Ein Smaragdring, eine goldene Medaille, eine silberne Taschenuhr, Silberbesteck – je zwei Fracks und Spencer, fünf Gehröcke, ein blauer Mantel, je 16 Gilets und Beinkleider, zwei Hüte, sechs Paar Stiefel, drei Paar Hosenträger, ein Schlafrock, 14 (wohl Unter-)Hemden, je 20 Hemden, Hals- und Einstecktücher, 18 Paar Socken, acht Nachthemden, 14 Garnituren, sechs Schlafhauben – sechs Rasiermesser, ein Spazierstock, zwei Pistolen75 … Kein Zweifel: Seine Musik ist das Wertvollste, was Ludwig van Beethoven der Nachwelt hinterlassen konnte, durch sie wird sein Name – man kann es wirklich nur von ganzem Herzen hoffen! – nie in Vergessenheit geraten. Doch es ist schon sehr aufschlussreich, verrät recht viel über den Menschen Beethoven und sein Leben, wenn man sich vor Augen führt, was kurz nach seinem Tod in des Komponisten letzter Bleibe, dem Schwarzspanierhaus (→ Wohnungen), vorgefunden, rund fünf Monate später dann gerichtlich inventarisiert und offiziell geschätzt wurde zwecks Vorbereitung der am 5. November 1827 stattfindenden Versteigerung, deren Erlös (wie auch das Bar- und Aktienvermögen) an den Neffen Karl als Universalerben ging. Es waren fast 10 000 Gulden, die er diesem, nachdem alle Außenstände wie Begräbniskosten und Arzthonorare beglichen waren, schließlich hinterließ – für einen Musiker zur damaligen Zeit ein beachtliches Vermögen, zumal Unterhalt und Schulgeld für den Nef117

fen sowie die mit zunehmendem Alter stetig steigenden Kosten der medizinischen Versorgung (→ Krankheiten) daran gehörig gezehrt hatten!76 Doch im Gegensatz zu Wolfgang Amadeus Mozart, der dreieinhalb Jahrzehnte zuvor völlig verarmt und verschuldet verstorben war, hatte Beethoven spartanisch genügsam gelebt, weder für Kleidung (→ Aussehen) und Ernährung (→ Essen und Trinken) noch für Wohnungen und deren Einrichtung mehr als nötig aufgewendet, sich als einzigen Luxus alljährliche Sommeraufenthalte (→ Reisen) sowie eine – wenn auch nicht sonderlich umfangreiche, doch ausgesuchte – Bibliothek gegönnt. Die Kleidungsstücke in Mozarts Nachlass waren doppelt, die Möbel (einschließlich eines eleganten Billardtisches) sogar sechsmal so viel wert wie die Beethovens, dem es fernlag, verschwenderisch mit seinem Geld umzugehen; die Furcht vor finanzieller Not wurzelte wohl tief in der eigenen Kindheit und Jugend. Das Nachlassverzeichnis liefert auch über das Mobiliar seiner letzten Bleibe einen recht genauen Überblick: ein kupferner Waschzuber, ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen, vier Messingleuchter, ein Satz Streichquartett-Instrumente (Geschenk seines Mäzenen Fürst Lichnowsky), ein Broadwood-Flügel, ein Mälzel-Metronom, zwei Betten, zwei große und vier kleine Tische, zehn Stühle, ein Sofa, ein Kleiderschrank, drei Kommoden, zwei Nachtschränke, ein Sekretär, ein Reiseschreibpult, zwei Schatullen und sieben Bücherregale, ein lederner Schlafsessel, der erst kurz vor seinem Tod in den Besitz Beethovens gelangt war. Der erhaltene Teil des Nachlasses befindet sich heute überwiegend in der Sammlung des Beethoven-Hauses Bonn, das zu besuchen jedem Verehrer des Komponisten ans Herz gelegt sei. (HGK)

Napoleon – oder vielleicht doch eher Prometheus? „Bedecke deinen Himmel, Zeus, und übe Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen dich und Bergeshöhen“, beginnt Goethe im Sturm und Drang seinen berühmten „Prometheus“, ein Vorbild, so anregend wie bewundernswert! Ein Lichtbringer sein für die Menschen, 118

welch Ruhm, welch Ideal nach meinem Geschmack, gesteht auch Beethoven sich ein. Genauso schwingt sich Napoleon aus kleinen Verhältnissen zu legendärer, ja gottähnlicher Größe auf, bewundert von den Geistesgrößen der Zeit, etwa Goethe. Prometheus, Aufbegehrer, schöpferischer Rebell, Menschheitserzieher, scheint wiedergeboren in Napoleon und wird musikalisch verewigt durch Beethovens Musik zu Viganòs Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ op. 43, auch Verbindungen zur dritten Sinfonie, der „Eroica“, lassen sich herstellen. Insbesondere im Titanismus, der heroischen Phase seiner Schaffenskunst, etwa in der Eroica, herrscht diese besondere Aufbruchsstimmung: Das Eingangsmotiv der Sinfonie wird als rudimentäre Vorform des Kontretanzthemas gestaltet. Von Beginn an steuert die Sinfonie auf dieses Ende zu: „intitolata Bonaparte“! Gleich einem Phönix erhebt dieser sich aus der Asche der Französischen Revolution, mit der auch Beethoven zumindest sympathisierte: „Freyheit über alles lieben, Wahrheit nie, (auch am Throne nicht) verläugnen“ (1793) und 1812 „abgerissene Sätze wie Fürsten sind Bettler“77 unter Skizzen zur späteren Neunten kritzelte. Seine Bewunderung ging bis zum Äußersten, Pardon, Äußeren: „A la Titus“ trug der 30-jährige Beethoven das „pechschwarze Haar“, verschmähte bewusst die in höheren Kreisen getragene Perücke, eiferte dem Vorbild Napoleons nach, einem Mann, der ja so viel gemeinsam hatte mit ihm, dem gerade mal einem Jahr jüngeren Beethoven selbst: Staatskünstler und Staatskünstler (→ Politik). Doch gegenüber standen sie sich in ihrem Leben niemals direkt, auch wenn Beethoven nicht nur einmal mit dem Gedanken spielte, ins revolutionäre Paris zu reisen, wo seine Musik doch so hoch geschätzt wurde. Doch kamen sie sich nie näher als durch Stadtmauern getrennt: Beethoven innerhalb Wiens und Napoleon davor, im Belagerungszustand etwa im Jahre 1805, hierin ein dem Komponisten nun gleichermaßen verhasster Herrscher: „Nun wird auch er […] sich nun höher, wie alle Andern stellen, ein Tyrann werden!“ Im Anfall höchster Wut angesichts der Nachricht über dessen selbstherrliche Kaiserkrönung zerriss er bereits konsequenterweise das Titelblatt der „intitolata Bonaparte“, zumindest ist die Zeile ausrasiert worden, 119

ein Loch im Papier zeugt davon. – Verständlich, und auch wenn es „nur“ eine Anekdote sein sollte, so zeigt sie doch, wie sehr Europa, Deutschland, Österreich, Wien und somit auch Beethoven in der Folgezeit wirklich unter dem „Usurpator“ zu leiden hatten, unter den katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnissen, der Kontinentalsperre. Und diese alltäglichen Schwierigkeiten waren es wohl, laut Geck, die Beethoven veranlassten, die „Eroica“ seinem Mäzen Lobkowitz zu verkaufen, bekam er doch so 700 Gulden dafür! Damit verbot sich natürlich ein Hinweis oder gar eine Widmung auf Napoleon … Trotzdem, einer gewissen Bewunderung der „grandeur de Napoléon“ konnte sich Beethoven wie viele andere Größen nicht entziehen: Durch seine Hybris zwar gescheitert, habe er jedoch, so 1820 in den Konversationsheften zu lesen, „Sinn für Kunst und Wissenschaft und haßte die Finsterniß. Er hätte die Deutschen mehr schätzen und ihre Rechte schützen sollen. […] Doch stürzte er überall das Feudal System, und war Beschützer des Rechts und der Gesetze.“ – Vom napoleonischen Genie zeigte er sich fasziniert, dem „gloire“, „Ruhm und Verdienst“, wie Geck es formuliert, die bis heute die Taten Napoleons umgeben. Darin gleiche er ebenjenen antiken Helden, sei es nun einem Prometheus oder einem Alexander dem Großen – hierin liegt wahre Bedeutung: Taten zu vollbringen, die dem Wohl der Menschen dienen, der Allgemeinheit Muster werden und damit dem Genie Ruhm einbringen (→ Mythos). Eine sinnlich erfahrbare Perspektive, umgesetzt im Klang, so will, aus heutiger Sicht kann man auch sagen, hat Beethoven sich im Reich der Künste einen entsprechenden Platz errungen: Nicht nur mit den ersten drei Sinfonien, vielen Partien seiner Oper Fidelio, die von dieser Bewunderung zeugen, der Egmont-Ouvertüre oder aber der Fünften (→ Schicksalssinfonie), in der er auf eine auch für ihn selbst einzigartige Weise den Gordischen Knoten durchschlage78: Ein Prometheus im wörtlichen Sinne – ein Lichtbringer, entschwebt Beethovens Musik doch derzeit gar bis über die Grenzen unserer Galaxie hinaus, und wer weiß, von wem er dort noch gehört (und geschätzt werden) wird (→ Beethoven im All). (YZ)

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Nationalsozialismus Berlin, 1. August 1936: „Stark wolkig und zeitweise bedeckt mit Regenfällen. Mäßige Südwest- bis Westwinde. Etwas kühler. 19 Grad“, meldet der Reichswetterdienst für Berlin. Schon in der Früh tummeln sich auf den Straßen in friedlicher Atmosphäre Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, sieht man Sportler mit schwerem Gepäck in verschiedenen Sprachen nach dem Weg zum Olympiastadion fragen, um rechtzeitig zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele zu kommen. Auf dem Pariser Platz vor dem Adlon erklingt um acht Uhr Marschmusik, mehrfach von Weckrufen sowie dem Lied „Freut euch des Lebens“ unterbrochen – das „Große Wecken“ hat begonnen –, eine der vielen Ehrerbietungen der Nationalsozialisten gegenüber dem IOC. Weiterhin stellen Auswärtige fest: „Die Organisation der Spiele, das Reichssportfeld mit seinen vielen neuen Gebäuden, die sportlichen Leistungen des deutschen Teams, die glanzvollen Empfänge, die vielen kleinen und großen Aufmerksamkeiten […] ‚Diese konzentrierten und willensstarken Leute lassen uns wie eine drittklassige Nation aussehen‘, schreibt ‚Van‘ [Sir Robert Vansittart, engl. Spitzendiplomat, Anm. d. Verf.] in seinem streng vertraulichen Bericht an das Foreign Office in London“, so Oliver Hilmes in „Berlin im August 1936“. Zur propagandistischen Inszenierung des Auftakts der Olympischen Spiele in Berlin 1936 gehören neben der Ankunft des ersten olympischen Fackellaufs vom griechischen Olympia unter anderem ein imposanter Lichtdom und Vorführungen der Hitler-Jugend. Dass zu diesem Zweck eine passende musikalische Untermalung gehört, versteht sich von selbst. Strauss’ Olympische Hymne erklingt, bejubelt nicht nur von Goebbels („Komponieren kann der Junge“), sowie als letzter Programmpunkt der Eröffnungsfeier Händels Messias, „… und er regiert auf immer und ewig, Herr der Herrn, der Welten Gott. Halleluja!“. Wenn das mal keine Anspielung ist? Zumindest der polnische Botschafter befürchtet Schlimmes: „Wir müssen auf der Hut sein vor einem Volk, das so zu regieren versteht […]. Eine Mobilmachung […] wird genauso reibungslos funktionieren.“ Und Beethoven? Dessen dritte Sinfonie sowie der Schlusssatz der Neunten wissen den Spielen einen äußerst festlichen passenden Rah121

men zu verleihen, und zudem passen er und seine monumentalen Werke wunderbar in die nationalsozialistische Ideologie, gelten „geradezu als Synonyme für deutsche Kultur und deutsches Wesen“79. Egal ob Hitler Geburtstag feiert oder Parteitage stilvoll musikalisch umrahmt werden sollen, immer wieder greifen die Nationalsozialisten Werke Beethovens auf, nicht nur die 9. Sinfonie, gleich an drei Geburtstagen des Führers (1937, 1942, 1944) aufgeführt sowie anlässlich der Weltausstellung 1937 in Paris, sondern auch den Fidelio (1934 und 1938), der etwa in Wien anlässlich des Anschlusses von Österreich den Rahmen der zentralen politischen Kundgebung bildet. Doch warum gerade Beethoven? Seine Sinfonien, insbesondere die 5. (→ Schicksalssinfonie) oder die 9., gelten als Schicksalsdramen, als musikalische Erzählungen des ewigen Dramas um Leid und Erlösung, zugespitzt von Niederlage zum Triumph, als Weg durch die Nacht zum Licht (von c-Moll nach C-Dur). Auf der Tradition des langen 19. Jahrhunderts basiert das ideologische Denken der Nationalsozialisten auch hier. In Szene gesetzt wird das Gefühl des „Heroischen“, „Erhabenen“ und „Monumentalen“! So will man – auch musikalisch – beeindrucken, beeinflussen, Menschenmassen in den Bann ziehen! Und ist nicht gerade dies das Besondere an Beethovens Werken, die natürlich Liebhaber klassischer Musik in ihren Bann zu ziehen vermögen, aber ihre Wirkung nicht zuletzt durch ihre rhythmische Kraft, die oft schon im Anfangsmotiv eindrücklich in Erscheinung tritt, auch auf Menschen zu entfalten, die ansonsten kaum der klassischen Musik zugeneigt sind? So schwärmt etwa Arnold Schering von der 5. Sinfonie als einem Werk „nationaler Erhebung“ und vergleicht sie mit dem „Bild des Existenzkampfes eines Volkes, das einen Führer sucht und endlich findet“.80 Und erst Beethoven selbst: Ist er nicht der „ureigenste“ Heldentypus, der durch und in seinen großen Werken den Kampf gegen das ihn immer wieder bedrängende Schicksal aufgenommen hat (→ Krankheit → Taubheit)? Ein starker Wille, ein ethischer Heroismus wird ihm unterstellt und man spricht von der „Tiefe“ seiner „deutschen Musik“, in der er dem „Deutschtum“ einen prägnanten Ausdruck gegeben habe. 122

Sowohl Beethoven als auch seine Werke, aber auch die sie aufführenden Dirigenten werden bewusst vereinnahmt von den Nationalsozialisten, doch schadet das auf Dauer weder Dirigenten noch Komponisten: Trotz Verstrickung in den Nationalsozialismus gelinge es etwa Wilhelm Furtwängler auf besondere Weise, den Bekenntnischarakter der Werke Beethovens hervorzuheben: seine Ideenkunst, die den Hörer für das Edle und Bessere gewinnen wolle, was sie für den Totalitarismus anfällig mache. Und die entsprechende Umsetzung durch einen Dirigenten wie Furtwängler, der in der Lage ist, dieses Etwas in seinen Aufführungen lebendig werden zu lassen, kann Hörern eben mitten im Krieg Trost spenden – etwa im Zuge einer Aufführung der 5. Symphonie mitten im zerbombten Berlin. So fasst der Biograf Geck 2017 zusammen: „Unpolitisch ist Beethovens Musik, weil sich ihre autonomen Züge politischer Inanspruchnahme letztlich entziehen.“– Kurz gesagt: Musik, Beethovens insbesondere, ist so viel mehr, als die Nationalsozialisten aus ihr gemacht haben! Zum Glück. (YZ)

Natur Da rennt einer durch die Felder, in der Nähe eines kleinen Bauerndorfes namens Gneixendorf … staunend beobachten ihn Bauern: Er schreit, agiert mit den Händen, geht einmal sehr langsam, dann wieder sehr schnell oder bleibt plötzlich stehen und schreibt in eine Art Taschenbuch … Was für ein Narr! So einem geht man lieber aus dem Wege – und genau das ist es, was sich ein leidender Komponist wohl erhofft bei seinen Wanderungen durch die Natur, der er oftmals gar keine Aufmerksamkeit schenkt, dieweil er in seinem Inneren mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist. Just in dem Moment, als ihn seine zunehmende Taubheit immer mehr ausgrenzt, ihn in die Isolation treibt (→ Heiligenstädter Testament), er befürchtet, missverstanden, gar bemitleidet zu werden, verschafft ihm das einsame Ausagieren in der Natur seelische Erleichterung. Demzufolge spielen momentane Natureindrücke – wenngleich sie ansonsten auch noch so erhaben scheinen mögen – bei der musikalischen Ideenfindung keine wesentliche Rolle? Es scheint 123

irrelevant, ob er sich auf den Wallanlagen der Stadt oder aber in der Sommerzeit in der freien Natur bewegt? Stopp! Ganz so einfach ist das nicht, schließlich sprechen wir hier von Beethoven. Erster Einwand, von Ludwig Rellstab, einem später bekannten Schriftsteller und Schüler Beethovens: „Es war Beethovens große Lust, auf einsamen, oft ungebahnten Pfaden durch Wald, Tal und Berg zu streifen. [...] Ich bemerkte, dass Beethoven innerlich sehr beschäftigt war und vor sich hin summte; aus Erfahrung wusste ich, dass er in solchen Augenblicken am mächtigsten zum Schaffen aufgelegt war, und hütete mich wohl, ihn zu stören, sondern ging stumm neben ihm hin.“ Auch der englische Musiker Charles Neate weiß von gemeinsamen Spaziergängen zu berichten: „Ich bin niemals mit einem Menschen zusammengekommen, welcher sich so an der Natur erfreute und eine solche Freude an Blumen, an Wolken, kurz an allem und jedem hatte, wie Beethoven; Natur war gleichsam seine Nahrung, er schien förmlich darin zu leben.“ Also doch lebens-, musik-notwendig? Den Sommer jedenfalls verbrachte Beethoven grundsätzlich auf dem Land, denn „Ruhe und Freiheit sind die größten Güter“ für das Schaffen. Reine Zweckrationalität? Bei Weitem nicht nur: Die Sehnsucht nach den Erscheinungen der Erhabenheit ergreift ihn – schon in frühen Jugendjahren und so viel mehr, als der von Taubheit Geschlagene nur noch einen Bruchteil dessen wahrzunehmen in der Lage ist, was er einst (auf dem Dachboden der elterlichen Mietwohnung über dem Bonner Bäckerhaushalt) beobachtete: Mit dem Blick durchs Fernrohr in die Ferne schweifend fing er Eindrücke des sich im Rhein spiegelnden und dahinter auftürmenden Siebengebirges ein – vor dem Hintergrund einer vielleicht blutrot untergehenden Sonne, die sich in imposant wolkenverhangenen Berggipfeln zur Ruhe niederlegt. Die innige Sehnsucht des Stadtkindes, das höchstens vom Wagen auf dem Weg zu Konzerten die Natur erleben konnte, sollte sich in den folgenden Jahrzehnten durch das Erlesen und Verinnerlichen von Schriften u. a. des Theologen Sturms intensivieren – ferner durch die Auseinandersetzung mit indischer und fernöstlicher Philosophie abstrahieren und ausdifferenzieren. Gerade dieser von religiösen Ansichten (→ Religiosität) geprägte und überformte Anblick ‚göttlicher‘ Naturerscheinungen ist es, der 124

Beethoven ins Grübeln kommen und in die Natur vordringen lässt – sei es durch ausgedehnte Wanderungen oder Beschäftigung mit Schriften. Und wenn Sturm konstatiert: „Keine Beschäftigung, von welcher Art sie auch sein mag, ist mit so mannigfaltigem Vergnügen, mit so abwechselnden Reizen verbunden, als die sorgfältige Betrachtung der Naturwerke […]. Dieses Vergnügen wird nun viel größer werden, je sorgfältiger wir den Absichten Gottes bei den Werken der Natur nachdenken“, so streicht Beethoven es in seinem von starken Gebrauchsspuren gezeichneten Exemplar der „Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres“ dick an und schwärmt in einem Brief an Therese Malfatti: „Ist es doch, als wenn jeder Baum zu mir spräche auf dem Lande: Heilig! Heilig! – im Wald entzücken, wer kann alles ausdrücken.“ Eigenhändig notiert er im Skizzenbuch auf dem Kahlenberg: „Ich bin selig, glücklich im Wald – jeder Baum spricht durch dich. O Gott, welche Herrlichkeit, in einer solchen Waldgegend, in den Höhen ist Ruhe – Ruhe ihm zu dienen.“ Und auch seine Krankheit führt ihn – dem medizinischen Stand seiner Zeit entsprechend im Zuge der Behandlung mit Naturheilverfahren – zur Natur: Krankheit als Störung des Gleichgewichts des körperlichen Spannungs- oder Säfteverhältnisses, welches durch gezielt ausgleichende Maßnahmen wiederhergestellt werden könne. Im Zuge der verordneten – leider immer erfolgloseren – Kuren mit kalten und warmen Quellenergüssen sowie vielseitigen anderen Maßnahmen wendet Beethoven sich der metaphysischen Seite der Vorstellung eines kosmologischen Zusammenhangs zwischen Krankheit und Natur zu, sucht darin Trost: „Ich muss mich in der unverdorbenen Natur wieder erholen und mein Gemüt wieder reinwaschen“. Sie ist laut Therese von Brunsvik „seine einzige Vertraute, seine Zuflucht“. Und so vollendete er seine letzten Kompositionen, nachdem er „täglich stundenlang übers freie Feld“ gestreift war: das Quartett F-Dur op. 135 und das neue Finale von op. 130. Wie in den Jahren nach 1820, als er nach schweren Krisen wie besessen die Vollendung seines Lebenswerks in Angriff nahm und alles seiner Arbeit unterordnete, sah man Beethoven wieder, „wie er bei unfreundlicher Witterung barhäuptig umherlief, während der Regen aus seinen langen grauen Haaren troff “. Nur für diese „kleinen Freuden des Lebens“ 125

erübrigte er Zeit … Die letzten Wochen seines Lebens müssen ihm unsagbar schrecklich gewesen sein; nicht etwa, weil Beethoven dem sicheren Tod ins Auge blickte, sein Sterben voller Schmerzen war, sondern weil seine Krankheit ihn zum Gefangenen seiner letzten Unterkunft, des Schwarzspanierhauses (→ Wohnungen), machte, ihn ans Bett fesselte, einen Menschen, für den Spaziergänge, die Natur so lebenswichtig waren. (YZ)

Neffe Karl Nun bin ich „vater einer armen Waise geworden“, berichtet ein ergrauender Beethoven stolz seinem Gönner Erzherzog Rudolph im Januar 1816. Und in genau dieser Äußerung spiegeln sich sämtliche Implikationen des Dramas wider. Der zehnjährige Karl, den Beethoven als Ziehsohn zu sich nimmt, ist nämlich gar nicht Vollwaise! Hat er doch, nach dem Tod des Vaters, Ludwigs Bruder Kaspar Karl (so wie einst die Mutter an Tuberkulose gestorben), zumindest noch seine Mama Johanna, die bis zuletzt heftig um ihren einzigen Sohn kämpft, von Karl heiß und innig geliebt wird. Obwohl Ludwigs Bruder seine Frau Johanna und Beethoven als gemeinsame Sorgeberechtigte einsetzte, entbrennt direkt nach seinem Tod ein heftiger Streit um den Jungen. Der weiß bald gar nicht mehr, wo er hingehört: Muss er wirklich für immer bei diesem furchteinflößenden, aufbrausenden, unordentlichen, strengen Komponisten-Onkel bleiben? Es scheint so, denn Beethoven lässt nicht locker! Zu keiner Gemeinheit und Niederträchtigkeit im Prozess, etwa der Verunglimpfung der Mutter vor Gericht als Betrügerin (sie ist vorbestraft wegen Unterschlagung), ist er sich zu schade, um sein Ziel zu erreichen: endlich einen – so stellt er es sich wohl zumindest vor – erziehbaren Nachkommen zu haben: „etwas besseres hervorzubringen als ich selbst“. Musik könnte er zu seinem Lebensinhalt machen, mein Sohn auch im Geistigen werden, mein Erbe antreten, mich überflügeln, denkt Beethoven sich wohl. Wie verhält man sich aber einem Menschen gegenüber, der einen einerseits mit Liebesbezeugungen überschüttet und andererseits – ohne Rücksicht auf Nöte mittelmäßiger, normaler Menschen, da 126

selbst Genie – maßlos streng beim kleinsten Versehen reagiert – kompromisslos, der die geliebte Mama als verdorben bezeichnet? Mehr schlecht als recht schlägt sich der kleine Karl die nächsten zwei Jahre durch: Vom elterlichen Haus wird er in ein unpersönliches Internat geschickt, wo man sich seine Stellung mühsam erkämpfen muss unter anderen mehr oder minder bemittelten Gleichaltrigen. Dazu nur äußerst selten Kontakt zur geliebten Mutter, dank des Einspruches seines Onkels. Im Januar 1818 muss er gar in das Haus des Furchteinflößenden einziehen, immerhin von zwei Haushälterinnen bemuttert und einem Hauslehrer unterrichtet, zur Vorbereitung auf das im Herbst aufzunehmende Studium am Gymnasium der Universität. Von Sehnsucht angetrieben versucht der mittlerweile 12-Jährige noch zur Weihnachtszeit desselben Jahres verzweifelt, sich zu seiner Mama durchzuschlagen, wird jedoch prompt aufgegriffen und mit Polizeigewalt zum Onkel zurückgebracht. Beethoven schickt den Neffen in ein anderes Internat, zunächst als externen, dann als internen Schüler. Hat auch das große Genie langsam die Schwierigkeiten satt, die der junge Bengel ihm andauernd bereitet, und das, obwohl er doch nur sein Bestes im Sinn hat? Beethoven tritt gar entnervt von der Vormundschaft zurück, nicht ohne jedoch sein Augenmerk darauf zu richten, dass es nur ja nicht die „verderbte“ Mutter ist, die dann den Sohn zurückbekommt. Nicht weniger heftig reagiert diese! Eine regelrechte Schlammschlacht wird von Mutter und Onkel auf dem Kopf des armen Kindes ausgetragen. Er setzt seinen Einfluss ein, den Wiener Magistrat Mathias Tuscher als Vormund zu bekommen, und alles daran, den Jungen auf ein fernes Internat außerhalb Wiens nach Landshut unter die Fittiche von Johann Michael Sailer zu schicken. Die Mutter hintertreibt dieses Vorhaben geschickt, indem sie darauf hinwirkt, dass kein Reisepass ausgestellt wird, ohne den das Kind nämlich nicht ins damalige Ausland reisen durfte. Und wieder ist ein Schulwechsel angesagt! Diesmal in das Wiener Erziehungsinstitut Blöchlingers, wo er bis 1823 bleibt. Unterdessen bekommt Beethoven stillschweigend die Vormundschaft nach Tuschers Rücktritt zurück und erst, als Johanna van Beethoven Klage einreicht, ist es so weit: Dem Einspruch der Mutter vor Gericht wird aufgrund Beethovens zunehmender Taubheit entsprochen. Der 127

Junge kehrt – endlich – zurück zur geliebten Mutter. Was für ein Fehlschlag für den großen Komponisten! Erneut prozessieren sie: Das Appellationsgericht soll aufgrund der Berufungseingabe Beethovens vom 7.1.1820 endgültig entscheiden. Beethoven ist sich – wie man ja auch von anderer Stelle weiß (→ Anekdoten → Schimpfwörter) – nicht zu schade, auch den tiefsten Dreck auszugraben: Bis ins Detail wird der schlechte Lebenswandel der Schwägerin angeprangert, während man sich selbst im Gegensatz dazu als vorbildlichen Erzieher mit hehren Idealen stilisiert (Denkschrift vom 18.2.). Er hätte es wohl konsequent genannt. Wie überzeugend Beethoven sein kann, zeigt die Entscheidung des Gerichts. Doch sollte man hinzufügen, dass die Entscheidung auch eine typisch zeitgenössische war: Welcher Mann, welches Gericht des bürgerlichen Jahrhunderts würde schon eine Frau mit Vorbestrafung einem anerkannten Komponisten vorziehen? Doch ob diese Entscheidung wirklich zugunsten des Kindes getroffen wurde? Karl selbst dürfte definitiv nicht dieser Meinung gewesen sein. Nach Jahren des Kampfes gegen den Titanen widersetzt er sich erstmals, bricht das Studium ab und beginnt eine kaufmännische Ausbildung in der Sektion des Polytechnikums in Wien, wohnend bei Mathias Schlemmer. Und doch scheint es gegen die Übermacht des Onkels nur einen verzweifelten Ausweg zu geben … Ja, Sie denken richtig: Am 6. August, mitten im Sommer des Jahres 1826 – Beethovens letztem Sommer (→ Tod) – versucht Karl tatsächlich, sich das Leben zu nehmen! Welche Manien, welche Depressionen, welche Minderwertigkeitskomplexe mögen ihn dazu bewogen haben, im Angesicht des übermächtigen beobachtenden Onkels, der sich auch nicht scheute, Freunde und Bekannte als Spione auf ihn zu hetzen? Was mag Karl zu dieser Verzweiflungstat getrieben haben? Vielleicht auch die Spielschulden, die der junge Mann angehäuft hatte, daraus resultierende finanzielle Engpässe, die man vor dem Onkel geheim halten musste. Die pure Hoffnungslosigkeit Karls spricht aus einem Polizeiprotokoll: „Ich bin schlechter geworden, weil mich mein Onkel besser haben wollte.“ Ein Gutes für Karl hat der verzweifelte Versuch. Stefan von Breuning, ein langjähriger Freund Beethovens, noch aus dessen Jugend, übernimmt die Vormundschaft: ein ruhiger zurückhaltender Mann, der dem jungen Karl eine Stelle beim 8. Mährischen Infanterie128

Regiment vermittelt. Er beginnt eine Offizierslaufbahn und wird seinen Onkel nie wieder zu Gesicht bekommen. Trotzdem wird er von ihm als alleiniger Erbe eingesetzt (Nachtrag zum Testament vom 23.3.1827 → Nachlass). Da Breuning kurze Zeit später stirbt, übernimmt als Letzter ein Verwandter der Mutter, Jakob Hotschevar, das Amt des Vormunds bis zur Mündigkeit des jungen Mannes. Schließlich wendet sich für Karl als offiziellem Nachkommen Beethovens am Ende alles zum Guten, und er führt nach dem Abschied vom Militär auf eigenen Wunsch ab 1830 ein normales Leben in Wien, heiratet Karolina Barbara Naske und bekommt fünf Kinder mit ihr. (YZ)

→ Familie

Neunte Wien, 7. Mai 1824. So etwas hat man noch nie gesehen! Nicht einer – nicht zwei – nein: gleich drei Dirigenten stehen an diesem Freitagabend auf dem Podium des Kärntnertortheaters. Der eine, Michael Umlauf, hat die Gesamtleitung inne, der zweite, Konzertmeister Ignaz Schuppanzigh, dirigiert das Orchester, unklar jedoch erscheint die Rolle des Dritten, der, in Frack und schwarzseidenen Kniehosen, schräg hinter Umlauf Position bezogen hat und, wie es die Anschlagzettel verkünden, „an der Leitung des Ganzen Antheil nehmen“ wird: Es ist Ludwig van Beethoven, der Schöpfer dieses neuen Werkes, höchstpersönlich. – Doch die Musiker sollen und werden nicht auf den tauben Komponisten achten, der das Getuschel, Geraschel und Geräusper des Publikums, das jetzt einsetzende Stimmen der Instrumente längst nicht mehr hören kann … Zweitausend Menschen sind anwesend bei diesem denkwürdigen Ereignis: der Uraufführung der Neunten. Die Spannung ist groß, seit Wochen schon spricht man in Wien darüber, mehr als zehn Jahre hat man keine neue Beethoven-Sinfonie hören können! So lange hat er pausiert in dieser Gattung, und nun in nur neun Monaten (zwischen Mai 1823 und Februar 1824) dieses Werk zu Papier gebracht, das ihn gleichwohl schon viel länger beschäftigt hat (→ Arbeitsweise) – Skizzenbücher aus den Jahren 1815/16 zeugen bereits von den ersten Ideen: dem „Embryo eines Themas“81, auf dem später das Scher129

zo aufgebaut wird, vage erkennbar sind auch die Anfangstakte des Kopfsatzes, der Beethovens mächtigster Sinfoniesatz werden sollte, in dem die Dimensionen vom Kopfsatz der Dritten und „die lakonische Wucht“ vom Kopfsatz der Schicksalssinfonie „zu elementarer Gewalt“ zusammengezwungen scheinen.82 Das Publikum des Kärntnertortheaters kann sich, nachdem dieses Allegro zum ersten Mal erklungen ist, noch zurückhalten; doch schon nach dem anschließenden Scherzo sieht Beethoven, der aufs Höchste konzentriert die Tempi angibt sowie mit teils wilden Gebärden dem ihn ignorierenden Orchester den nötigen Ausdruck abzufordern versucht, unter den Musikern wohl viele freudig-überraschte, teils verlegen lächelnde Gesichter und mag sich über die ungewöhnlich tief gesenkten Bögen der Streicher wundern – denn ein Beifallssturm ist, für ihn unhörbar, hinter ihm losgebrochen. Die Altistin Caroline Unger bringt ihn dazu, sich umzudrehen, um die verfrühten Huldigungen der Zuhörer entgegenzunehmen. Nach dem freudebrausenden Chorfinale der Sinfonie scheint der Saal gar zu explodieren, das Publikum tobt vor Begeisterung, und man schwenkt – um die Taubheit des Komponisten wissend – Hüte und Taschentücher. In stoischer Ruhe nimmt der Maestro, der nicht weniger als fünf Mal nach vorn gerufen wird, den frenetischen Beifall entgegen. Gefühle zeigt er erst zu Hause, als ihm der Kassenrapport überreicht wird. Beethoven muss entsetzt feststellen, dass ihm von den Einnahmen nur 420 Gulden geblieben sind – und bricht zusammen (→ Schimpfwörter). Das trostlose Ende eines Tages, der ihm einen der größten Triumphe seiner Karriere beschert hat; eines Tages, der heute „zu den rot eingekreisten Daten im kulturgeschichtlichen Kalender der westlichen Welt“83 gehört, nahm am 7. Mai 1824 doch der Siegeszug der Neunten seinen Anfang, ihres – so Esteban Buch – „politisch erfolgreichsten Musikwerks“.84 Die Freuden-Melodie aus dem Finale der Neunten wurde 1971 zur Europahymne, die UNESCO nahm das Berliner Autograf des Werkes im September 2001 ins Weltdokumentenerbe auf. Rund um den Globus erklingt Jahr für Jahr die wohl berühmteste Sinfonie der Musikgeschichte, vor allem dann, wenn festlich gefeiert wird, in Konzertsälen und heimischen Wohnzimmern.85 Doch leider wurde kein Stück der Musikgeschichte so kommerzialisiert, trivialisiert, verkitscht und 130

verschlagert86 und – viel schlimmer noch – „von totalitären Regimen so sehr missbraucht“87 wie Beethovens Neunte, sicher auch weil kaum ein Werk die Herzen der Menschen so berührt wie sie, Trost und Zuversicht an dunklen Tagen zu spenden vermag (→ Mythos Beethoven). So blieb dem deutschen Dirigenten Günter Wand eine legendäre Aufführung der Neunten in der Nachkriegszeit unvergesslich, als sie unter seinen Händen zum ersten Mal Anfang des Jahres 1947 in den Trümmern Kölns, in der eiskalten Universitäts-Aula erklang: „Es war eigentlich zunächst mal ein Überleben von einem Tag auf den anderen“, erinnerte sich Wand. „Man kann sich gar nicht vorstellen, welchen Hunger wir gelitten haben, wie wir gefroren haben … Die Fenster waren ja nicht dicht, die Flure der Universität, die Fenster alle offen, und diese zwei Winter, 1945/46 und 1946/47, die waren ja entsetzlich in ihrer Not. Einer der größten Eindrücke, die ich gehabt habe in diesem zweiten fürchterlichen Winter, war die Aufführung von Beethovens neunter Sinfonie. Da waren die Leute nicht nur im Saal, die standen in den ganzen Gängen der Universität, in dem eiskalten Winter, ohne Fenster, und sie standen und froren, um diese neunte Sinfonie zu hören.“ Es ist die Tragik dieser Sinfonie, dass dasselbe Werk nur wenige Jahre zuvor mehrfach zu Ehren Adolf Hitlers in Deutschland aufgeführt worden war; des Mannes, der so viel Leid über Beethovens Heimat und die Welt gebracht hatte. (→ Nationalsozialismus) (HGK)

→ Werk → Zehnte

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Politik Von Staatskünstlern und Staatskünstlern

Als Staatskünstler – als politisch interessierter Bildungshungriger (→ Ausbildung) – schrieb Beethoven einst die „Sinfonia grande, intitolata Bonaparte“. Wie bitte? – könnte sich ein bildungsaffiner Leser fragen, er kenne ja gar keine Sinfonie dieses Namens. Recht hat er, denn unter diesem Namen existierte die Sinfonie lediglich bis ins Jahr 1804! Mit Napoleons Kaiserkrönung wurde von einem zornent131

brannten Beethoven persönlich sorgfältig die dem Kaiser geltende Widmung des Titelblatts der bekannten 3. Sinfonie, der „Eroica“, ausrasiert, die Napoleon als Staatskünstler durch den Staatskünstler ein musikalisches Denkmal setzte (Näheres im Artikel über Napoleon). – Ganz typisch zeigt sich hier die konsequente Widersprüchlichkeit des beethovenschen Charakters: Glaubte er zunächst doch in Napoleon einen Gleichgesinnten – ein dem Fortschritt zugewandtes Genie – zu erkennen, der (wie er selbst) nach Vollendung in Leben und Fähigkeit (Musik vs. Staatskunst) strebt: auf der Höhe der Zeit als aufgeklärter Mensch um den Fortgang seiner Gesellschaft bemüht. In Anlehnung an platonische Ideen (Philosophie → Religion) sieht er Napoleon als um den idealen Staat bemüht, in dem Geist und Kunst zum Besten der Menschen regieren. Beethoven geht so den Weg von der philosophischen Aufklärung in Abgrenzung von der eigentlichen Revolution hin zur Bewunderung der Etablierung der fortschrittlichen napoleonischen Gesellschaftsordnung. Sein politisches Engagement kristallisiert sich zudem in der Einschreibung an der Bonner Universität just im Revolutionsjahr 1789 heraus. Den sich offen zu den Idealen der Französischen Revolution bekennenden, aus Württemberg kommenden Philosophieprofessor Eulogius Schneider scheint er besonders geschätzt zu haben, subskribiert er doch Schneiders Sammlung politischer Gedichte aus dem Jahr 1790 (→ Ausbildung → Jugend → Kindheit). Beethoven misst – ebenso extrem in seiner Bewunderung wie in enttäuschender Absage – aktuelles Tagesgeschehen an dem Kriterium, ob es große Ideen fördert oder hemmt: Er will den „revolutionären Gestus“ aufgreifen „als Gestus des Heldischen – als Inbegriff von ‚Ethos‘ und ‚Pathos‘ […]: entschlossen im Kampf, triumphal in der Festfreude, würdig im Tod“88 – so Martin Geck über das Politische der ersten drei Sinfonien. In Napoleons Selbstkrönung erblickt Beethoven die Abweichung Napoleons vom ehrbaren heroischen Weg: Der Würdigung ist er so nicht mehr wert, hat er doch nach den strengen Maßstäben des Künstlers sein Ziel aus den Augen verloren. Das kann der auch von Freimaurern wie seinem Lehrer Neefe beeinflusste, an das System eines aufgeklärten Absolutismus, der bürgerliche Freiheiten gewährt, glaubende Beethoven nur schwer verdauen. Verlangt er doch auch 132

von sich selbst nichts weniger als das Größte. Da ist Napoleons Erhebung über den Staat eine persönliche Beleidigung! In Bausch und Bogen werden nun mit Napoleon alle Franzosen verteufelt (→ Anekdoten), wobei sein Patriotismus sich durchaus schon früher zeigt: Etwa 1797 im „Abschiedsgesang an Wiens Bürger“ (WoO 121) zur Begleitung des Auszugs der österreichischen Freiwilligen ins Feld. Die verschollene Erstvertonung der „Ode an die Freude“ (→ Europahymne) ist in diesem Kontext als politisches Werk zu sehen. Deutlich ist weiter Beethovens Weigerung, den in seinen Augen anachronistischen Wunsch des Verlegers Hoffmeister im Jahre 1802 zu erfüllen, eine „Revolutionssonate“ zu schreiben: Nachdem „sich alles wieder ins alte Geleis zu schieben sucht, Bonaparte mit dem Papst das Konkordat geschlossen – so eine Sonate? […] in diesen neu angehenden christlichen Zeiten – hoho! – da laßt mich aus, da wird nichts daraus“ – keine reaktionäre Musik, bitte, von einem Prometheus der Musik (→ Mythos) … (YZ)

R

Reisen „[I]ch muß mich nun noch wacker herumtummeln, wäre mein gehör nicht, ich wäre nun schon lang die halbe Welt durchgereißt“, schreibt Beethoven seinem Freund Wegeler am 16.11.1801, zu einem Zeitpunkt, an dem er die einzige echte Tournee seines Lebens längst erfolgreich hinter sich gebracht hat. Begonnen hatte er diese im Februar des Jahres 1796 mit der Reise in die Musikerstadt Prag, einem Konzert im bekannten Konviktssaal (1798), in Gesellschaft und auf Anraten des Fürsten Karl von Lichnowsky (→ Mäzene). Auf dieser äußerst erfolgreichen Reise, die ihn im Folgenden hauptsächlich durch deutsche Kulturstädte wie Leipzig, Berlin und Dresden führte, spielte er vor der Crème de la Crème der Gesellschaft: dem Kurfürsten Friedrich August III., seiner Frau Amalie und dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm II., dem er die in Berlin vorgetragenen Cellosonaten op. 5 widmete. Wiederum in den Osten, nach Preßburg (Bratislava) und Pest, zog es ihn im November desselben Jahres, ebenfalls von seinem Gönner inspiriert. 133

Dass Beethoven als Musiker sich zudem den Gepflogenheiten der höheren Gesellschaft anpasste, wenn er für den Sommer Wien verließ, erklärt die häufigen Wohnungswechsel (→ Wohnungen) innerhalb der Stadt. So war es nämlich in Bezug auf die Sparsamkeit des eigenen Lebensunterhalts sehr viel günstiger, eine Wohnung direkt aufzulösen, mit Sack und Pack dem Adel im Sommer auf das Land hinterherzureisen und sich dort zu erschwinglichen Preisen neu einzumieten oder auf einer Sommerresidenz Unterschlupf zu finden, als über den Sommer zwei Haushalte zu unterhalten. Auch darum mutet die Einrichtung Beethovens so spärlich, ja spartanisch an, gar wie „aus dem Koffer“ lebend (→ Nachlass). Doch leider sollten sich Beethovens hochgestochene Reisepläne als solche zwar vorhanden und angestrebt, jedoch als undurchführbar erweisen, ebenso der Plan, nach Paris überzusiedeln. Grund dafür war seine angegriffene Gesundheit: Seine Krankheiten führten ihn nun regelmäßig aus Wien heraus zu zum Teil gar halbjährigen Kuren. Ab 1800 finden sich unter den Reisezielen immer häufiger Kurbäder, Orte mit Kuranlagen, Thermal- oder Schwefelbädern, die Möglichkeiten zur Behandlung seiner chronisch wiederkehrenden Entzündungen, zunehmenden Taubheit boten. Beethoven hoffte, seine Leiden, wenn schon nicht zu kurieren, so doch zu lindern. Natürlich nutzte er die Aufenthalte, die zeitweise bis zu einem halben Jahr andauerten, auch intensiv für seine Kompositionstätigkeit! So taucht etwa der heute eher unbekannte Ort Mödlingen mit seiner landschaftlich attraktiven Umgebung wiederholt (1799, 1818–1820) als Ziel von Sommeraufenthalten auf: Kompositions-Spaziergänge inbegriffen (→ Natur). Als Arbeitsaufenthalte lassen sich jedoch diejenigen in Hetzendorf (1805, evtl. 1801 u. 1804, gesichert 1823), wo er etwa die Oper Fidelio niederschrieb, und Döblingen (1803,1824), einem Ort, dem wir etwa einen Teil der „Eroica“ verdanken, klassifizieren. Dort befindet sich sogar das heute noch zu besichtigende Eroica-Haus in der Döblinger Hauptstraße 9. Oder aber die winzige Dachgeschosswohnung in der Badener Rathausgasse Nr. 19, einem Ort, an dem sowohl Teile der wunderbaren Missa solemnis als auch der einzigartigen Neunten entstanden. Hier fühlte sich Beethoven endlich ungestört. 134

1811 reist der Kranke auf Anraten seines Arztes Malfatti nach Teplitz, im Folgejahr abermals, und weiter nach Karlsbad, Franzensbrunn sowie nach Teplitz zurück – nun auf Verordnung Dr. Staudenheims. Es folgen Kuren in Baden, Franzensbad und die Fortsetzung der Behandlung in Heiligenstadt (→ Heiligenstädter Testament). Zahllose Daten, zwölf behandelnde Ärzte mit unterschiedlichen Ansätzen nennt das Beethovenlexikon für Kuraufenthalte in Baden und Heiligenstadt, was bestimmte örtliche Vorlieben des Komponisten wohl belegen dürfte. Im letzten Sommer seines Lebens weilt er allerdings nicht in einem Kurort, sondern auf dem Gut „Wasserhof “ seines Bruders Johann, von wo er Anfang Dezember, bereits schwer erkrankt, nach Wien zurückkehrt (→ Tod). (YZ)

Religiosität „Gott ist immateriell, deswegen geht er über jeden Begriff; da er unsichtbar ist, so kann er keine Gestalt haben. Aber aus dem, was wir von seinen Werken gewahr werden, können wir schliessen, dass er ewig, allmächtig, allwissend und allgegenwärtig ist. Was frei ist von aller Lust und Begier, dass ist der Mächtige, er allein. Kein Grösserer ist als er …“ – schreibt das jemand, der sich von der Kirche – vom Glauben abgewandt hat? Anton Schindlers Behauptung, dass Beethovens letzte Worte beim Empfang der Sterbesakramente „Plaudite amici, comoedia finita est“ („Freuet euch, Freunde, die Komödie hat ein Ende“) gewesen seien, können vor diesem Hintergrund wohl wahrlich ins Reich der Fantasie verwiesen werden. Woher kommen solche Gerüchte über einen Menschen, der zahlreiche Gebete niederschrieb (→ Heiligenstädter Testament → Tagebücher), der die Missa solemnis und den Heiligen Dankgesang eines Genesenden in lydischer Tonart komponierte? Wenn das mal kein Lobgesang zu Ehren des Höchsten ist – Ausdruck auch tiefen Glaubens, ohne den ein solches Werk nicht vollbracht werden kann. Da ist es eher sein Querdenkertum, das Zeitgenossen wie Berichterstatter in die Irre führte (→ Anekdoten → Charakter → Schimpfwörter). Aber woran glaubte der dereinst in der Bonner St.-Remigius-Gemeinde römisch-katholisch getaufte „bei den Jesuiten erzogen[e]“ Querdenker? 135

Wenn Beethoven Gott als „immateriell“ und „über jeden Begriff “ gehend beschreibt, kommen darin sowohl Leidenschaft für Hinduismus als auch orientalische Mystik zum Ausdruck, ebenso eine äußerst unorthodoxe Verbindung seiner ursprünglich katholischen Konfession mit einem protestantischen Pietismus württembergischer Prägung („ewig, allmächtig, allwissend und allgegenwärtig ist“ er) – eine im Übrigen für das Zeitalter der Romantik im frühen 19. Jahrhundert durchaus nicht untypische Verknüpfung! Suchten doch auch die Romantiker nach religiöser Weisheit im Traum, fühlten Sehnsucht nach innerer Erfüllung auf der Suche nach der blauen Blume, Mittelalterromantik und fernöstliche Ideen einbeziehend. Auch der von Beethoven verehrte Goethe schrieb sich mit seinem „West-östlichen Divan“ die Sehnsucht vom Herzen; und der Komponist nahm nicht nur zahlreiche Anstreichungen vor, sondern führte gar ein monologisches Zwiegespräch mit dem Dichterfürsten: Bescheidenheit sei durchaus eine Art mit Verstellung verknüpfte Schmeichelei, die dem Empfänger ein wohliges Selbstwertgefühl vermittle, doch mitnichten – „nego“ – entstehe aus wachsender Verneinung seiner selbst eine gute Gesellschaft, so Beethovens zu Goethe konträre Sicht. Die Bescheidenheit sollte eine der Haupttugenden sozialer Wesen sein! Beethovens Lektüren entfalteten geradezu therapeutische Bedeutung, etwa die erlesene religiöse Erbauungsliteratur aus katholischer (Johann Michael Sailer) wie protestantischer (Christoph Christian Sturm) Feder. Naturverbundenheit und Pantheismus spiegeln sich in Beethovens Selbstdefinition als schicksalhaft eingebunden in eine kosmologische Ordnung, in der sich Gott in Erscheinungen der Natur manifestiert. Dies zeigt sich sogar in der Einrichtung seiner Wohnung in Form von zwei altägyptischen Tempelinschriften. Selbst von Hand kalligrafiert und eingerahmt dienen sie nicht nur der Dekoration, sondern zeugen von tiefer Religiosität: „Ich bin, was da ist. Ich bin alles, was ist, was war und was sein wird, kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben“ und „Er ist einzig. Von ihm selbst und diesem Einzigen sind alle Dinge ihr Dasein schuldig.“ Obwohl Beethoven einige Entwicklungen der Kirche, etwa das Konkordat, heftig kritisierte, betete er mit seinem Neffen Karl regelmäßig, sorgte dafür, dass Letzterer nach seinem Selbstmordversuch 136

schnellstmöglich durch eine Beichte in den Schoß der Kirche zurückkehrte, und unternahm erhebliche Anstrengungen, ihn zum Studium an den berühmten katholischen Theologieprofessor Johann Michael Sailer zu vermitteln, obgleich diese Bemühungen zu Beethovens Leidwesen vom Vormundschaftsgericht unterbunden wurden. Von solchem im Alltag gelebten Glauben zeugt neben der strikt eingehaltenen Regel, am Freitag nur Fisch zu sich zu nehmen (→ Essen und Trinken), eine Anekdote: Der Komponist habe sich im Verlangen nach Absolution vor dem gerade in die Steinersche Verlagsbuchhandlung eintretenden Abbé Stadler auf die Knie geworfen, woraufhin der zur allgemeinen Erheiterung nichts Besseres zu sagen wusste als: „Nutzt’s nix, so schadt’s nix“ … (YZ)



Roll over Beethoven You know my temperature’s risin’ and the jukebox blows a fuse My heart’s beatin’ rhythm and my soul keeps on singin’ the blues Roll over Beethoven and tell Tchaikovsky the news I got the rockin’ pneumonia I need a shot of rhythm and blues.



Dieser Song des US-amerikanischen Sängers, Gitarristen und Komponisten Chuck Berry (1926–2017) ist zum Inbegriff des Rock ’n’ Roll geworden, dem man, so der Text, unweigerlich mit Leib und Seele verfallen muss; wie einem Fieber, einer Krankheit – und überwältigend hat diese neue, rebellische, wilde Musik in der Tat gewirkt auf die Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts. Doch obwohl in „Roll over Beethoven“ wie in kaum einem anderen Song „das musikalische Selbstverständnis der sich in den USA damals auf dem Höhepunkt befindenden Rock’n’Roll-Begeisterung einen provokanten Ausdruck“89 fand, war der Single – man wundert sich – bei ihrer Veröffentlichung im Mai 1956 zunächst nur ein äußerst moderater Erfolg beschieden, nämlich Platz 29 in den USPopcharts, und wurde an Popularität erheblich übertroffen von den Versionen der Beatles (1964) und des Electric Light Orchestra (1973). Eines jedoch ist Chuck Berry nicht mehr zu nehmen: Sein Original ist „die erste explizite Referenz auf Ludwig van Beethoven im 137

Umfeld der Popmusik“90, wobei der Bezug allein im Text erfolgt und die Musik des Meisters – anders als etwa bei der Version des Electric Light Orchestra oder Miguel Ríos’ „Song of Joy“ (→ Neunte) – unangetastet bleibt. Der größte Teil des Textes ist übrigens nicht Beethoven, sondern vielmehr Lucy, der Schwester Berrys, gewidmet, die in der frühen Jugend zu Hause das einzige Piano für ihre Übungen in klassischer Musik in Beschlag nahm, sodass Chuck das Nachsehen hatte und in dem Song diese Erfahrungen reflektierte. Beethoven (und Tschaikowsky) stehen stellvertretend für die Klassik, die, da der Rock ’n’ Roll die Musik der Gegenwart sei, überholt seien … Seit über vierzig Jahren bereits ist auf einer vergoldeten Kupferschallplatte (warum eigentlich?) nicht „Roll over Beethoven“, sondern ein anderer Song Chuck Berrys, nämlich „Johnny B. Goode“, mit zwei Stücken Beethovens friedlich vereinigt auf dem besten Weg in ferne Galaxien, um eines fernen Tages gemeinsam vielleicht auch außerirdische Ohren (bzw. Vergleichbares) zu erfreuen (→ Beethoven im All). (HGK)

S

Schicksalssinfonie „Man gab an jenem Tag die fünfte Sinfonie von Beethoven. Ich war mit meinem Bruder und dem Leutnant S… zusammen“, erinnert sich der französische Schriftsteller Marcel Proust, der in der Musik „die weiteste und allgemeinste Schönheit des Lebens und des Todes, des Meeres und des Himmels“ hörte, im Jahr 1885 an einen „Sonntag im Conservatoire“ zurück, der seiner „essayistischen Erzählung“ ihren Titel geben sollte. Auf unnachahmlich-eindrucksvolle Art und Weise schildert Proust hier die Wirkung der sogenannten „Schicksalssinfonie“ auf ein Konzertpublikum – zugleich eine der wohl schönsten Liebeserklärungen an dieses Werk Ludwig van Beethovens: „Obwohl alle diese im Alltagsleben wahrscheinlich friedlichen Personen bequem in den Sesseln saßen und gekleidet waren, wie man es ist, wenn man vorhat, sich mit friedlichen, schicklichen und gesellschaftlichen Genüssen zu vergnügen und zu beleben, atmeten ihre Gesichter abwechselnd träge Wollust und fast kriegerische Leb138

haftigkeit. Von Zeit zu Zeit umschattete Traurigkeit ihre Augen, nach und nach aber gaben sie sich den Versprechen eines Trostes hin, der sie alsbald aufheitern würde. Dann schienen alle aufmerksam einer Erörterung von unbeugsamer Logik und zugleich von unvermutetem Reiz zu lauschen. Jetzt mussten die Münder einfach lächeln, die Köpfe wiegten sich leicht auf den Schultern und enthielten sich kaum noch eines anmutigen Grußes wie im Verlauf eines eleganten Promenierens oder beim Tanzen eines Menuetts. Voller Erregung schienen alle wie von einer Festungsmauer herab den aufwühlenden Peripetien der Ereignisse zu folgen, die sich abspielten und die gleichzeitig eine Schlacht mit ungewissem Ausgang sein mussten, ein Ball bei Hofe, Liebesschwüre, die eines jeden Herz gewannen, Begräbnisfeierlichkeiten und ein Sonnenaufgang. Ein unverständliches, aber kräftiges Band vereinte jetzt all diese Personen, die sich eben noch so fremd gewesen waren. […] Auf den Kämmen der Klangwogen dahintreibend, in einer Strömung, die mich in das tausendfache Getöse des Sturmes hineinriss, spürte ich, wie mein Atem schneller wurde. Gleich einem Herzen, das in diesem Augenblick an der Stelle meines Herzens schlug, verlangsamte oder beschleunigte die Musik nach Belieben den Pulsschlag des Blutes in meinen Adern – so sehr, dass ich manchmal glaubte, bewusstlos zu werden […]. Da die Musik unablässig in einem jeden von uns Einheit schuf, indem sie uns bald Bangen, bald heroische Glut, bald Furcht einflößte, alles andere vertreibend und uns ganz erfüllend, realisierte sie jene indessen auch unter unseren Herzen. Werde ich je vergessen können, was ich empfand: Wie die tausend Münder des Windes, um ein Boot ins Meer zu stoßen, sich an alle Einsatzstücke des Segels pressen, so schwellten und spannten sich während des Andantes der c-Moll-Sinfonie so viele Herzen wie ein einziges Segel in einer unendlichen Hoffnung! […] Wir alle, die wir ihnen [den wollüstigen oder schrecklichen Suggestionen der Musik] erlegen waren, kamen nur zögernd wieder zu Atem, als wir uns nach dem Konzert wieder im Freien befanden, und unsere Herzen waren für einen Augenblick freigeräumt von allem, was sie hinderte, die Wahrheit und die Schönheit zu sehen. Wolken warfen wie Palmen ihre Schatten auf die glühenden Gärten des 139

Himmels, legten dann behutsam sich nieder wie junge Mädchen, denen der Wind den Gürtel löste, wurden kleiner und schienen inkrustierten rosa Muscheln gleich, die das Meer an einem unermesslichen Strand zurückgelassen hat, um dann – durch einen ebenso raschen harmonischen Wechsel wie der Wechsel der Tonart in einer Sinfonie – wie Schärpen zu flattern, wie Kränze zu welken und wie Klagen einen Augenblick lang noch lächelnd zu verharren. […] Und jenseits der nebligen Hügel und Täler des Himmels fasste gegen Sonnenaufgang ein grauer und zarter Nebel den Horizont mit einer Mattigkeit, die leidenschaftlicher schien als ein Auge voller Liebe. Schon füllten sich unsere Augen, wie sieam Himmel die ebenso reichen, doch besänftigten Erregungen der Musik wiederfanden, mit Tränen.“91 Tränen in den Augen dürften auch so manchem gestanden haben, der über ein halbes Jahrhundert vor Proust gerade in den Genuss der Fünften gekommen war und kopfschüttelnd das Theater an der Wien verließ – Tränen der Wut. Denn die Uraufführung dieses Werkes am 22. Dezember 1808 im Rahmen einer Akademie ging als Katastrophe in die Konzertgeschichte ein. Zweitrangige Musiker hatten zu wenig proben können, im Saal herrschte sibirische Kälte, und das Programm war wahrlich umwerfend: Neben der Fünften wurde, man kann es heute kaum glauben, nicht nur die komplette sechste Sinfonie geboten, sondern auch (unter anderem!): das vierte Klavierkonzert, die Konzertarie „Ah! Perfido“, das Gloria und Sanctus aus der C-Dur-Messe, eine freie Improvisation des Komponisten, die Chorfantasie op. 80 … Beethoven hatte diese Akademie, in der er selbst als Dirigent wirkte (und zum letzten Mal öffentlich als Pianist auftrat), lange herbeigesehnt, wollte partout eine repräsentative Auswahl aus seinen Werken der letzten Jahre bieten – und vergaß dabei völlig die Beschaffenheit des Sitzfleisches und Nervenkostüms des Wiener Publikums, das – immerhin mit einer Pause – fast vier Stunden Musik zu verarbeiten hatte: „Da haben wir denn auch in der bittersten Kälte von halb sieben bis halb elf ausgehalten“, berichtete ein Besucher, „und die Erfahrung bewährt gefunden, dass man auch des Guten – und mehr noch, des Starken, leicht zu viel haben kann.“ 140

Dem Siegeszug der Fünften, deren Größe alsbald begriffen wurde, konnte diese Pleite jedoch nicht im Wege stehen; denn der Hörer wird förmlich „von den anstürmenden Klängen mitgerissen. Das hauptsächlich rhythmische ‚Klopfmotiv‘ wird endlos wiederholt und treibt die Sinfonie auf obsessive Weise voran. Der Eindruck ist so überwältigend, dass man fast nur noch das Ganze wahrnimmt, während die Details in den Hintergrund geraten, man vergisst, auf die abrupten Übergänge, plötzlichen Modulationen und klanglichen Eruptionen zu achten. Ausführende und Hörer geraten in eine Art Rauschzustand; ‚man möchte fürchten, das Haus fiele ein‘, soll Goethe gesagt haben.“92 Doch warum „Schicksalssinfonie“? Beethoven selbst hat sie nie so genannt, soll jedoch – angeblich – auf die Frage, was das berühmte Klopfmotiv, das „Ta-ta-ta-taa“, zu bedeuten habe, geantwortet haben: „So klopft das Schicksal an die Pforte!“ Dies ist gewiss ebenso ins Reich der Anekdoten zu verweisen wie die nette Geschichte, der Meister habe beim Spazierengehen im Wienerwald das Motiv von einem Specht vorgeklopft bekommen … Nein: Man darf getrost annehmen, dass dieser Geniestreich, der – sofern möglich – selbst einen Außerirdischen eines fernen Tages nicht ganz kalt (oder warm) lassen dürfte (→ Beethoven im All), gänzlich ohne gefiederten Beistand gelang. (HGK)

Schimpfwörter Was bildet sich dieser Lümmel, dieser Wolanek, eigentlich ein? Ihm, Ludwig van Beethoven, so etwas und dann auch noch so zu schreiben? Beethoven tobt. Am liebsten würde er den Brief augenblicklich zu einem Papierknäuel verarbeiten. Doch er greift stattdessen zum Bleistift: „Dummer eingebildeter eselhafter Kerl“ – Das reicht noch nicht! „Lumpenkerl“ – „Schreibsudler“ – „Dummer Kerl! […] mich belehren zu wollen […] das ist gerade, als wenn die Sau die Minerva lehren wollte.“ Vorder- und Rückseite des Schriftstücks müssen schließlich herhalten, bis ein Wutentbrannter sich einigermaßen ausgetobt hat. Der Kopist Ferdinand Wolanek, der sich von Beethoven ungerecht behandelt fühlte und sich 1825 eines ziemlich arroganten 141

Tons befleißigte, war nur einer von unzähligen Zeitgenossen, die den Unmut des Komponisten erregten und ihn zu wenig Feinem „inspirierten“. Denn wenn Ludwig van Beethoven so richtig in Wallung geriet, was häufiger der Fall sein konnte (→ Charakter), war er um treffende Begrifflichkeiten wahrlich nicht verlegen. Das ihm zu Verfügung stehende Repertoire muss beeindruckend gewesen sein, und glücklicherweise haben diverse Dokumente einen Teil davon überliefert. Insbesondere während der privaten und gerichtlichen Auseinandersetzung mit seiner Schwägerin Johanna (diesem „Ungeheuer“, diesem „Scheusal“, dieser „pestartigen Mutter“, „Bestie“ und „alten Hexe“) um die Vormundschaft seines Neffen Karl legte der Meister auch in dieser Hinsicht eine beachtliche Kreativität an den Tag. Und Beethoven benachteiligte auch ansonsten niemanden: Es traf Familienangehörige („mein eselhafter H. Bruder“), Beamte, Behörden, Gerichte, ganz Wien und seine Einwohner („verflucht, verdammt, vermaledeites Wienerpack“). Dass Beethoven es verstand, auch seinem Zorn musikalisch weitaus liebenswürdiger Ausdruck zu verleihen, davon zeugt womöglich – unter anderem – ja sein Klavierstück „Wuth über den verlorenen Groschen“ … (HGK)

Schindler Zumindest eine höchst zwielichtige Person ist er, dieser Anton Felix Schindler (1795–1864), wenn nicht gar „der Inbegriff des Kriechers, eine ekelhafte Kreuzung aus Schmeichler und Parasit“, wie Jan Caeyers befindet, besessen von dem Wunsch, „als eine Art Beethoven-Gefährte, wenn nicht zu dessen Lebzeiten, dann wenigstens danach, den Sprung aus der eigenen Bedeutungslosigkeit zu schaffen“.93 Der ehemalige Chorknabe94 Schindler macht im Jahr 1814 die Bekanntschaft Ludwig van Beethovens und steht ab 1820 in engerem Kontakt zu dem Meister, erledigt Sekretärsarbeiten für ihn, bis es im Mai 1824 nach der Uraufführung der Neunten zum Bruch kommt, da Beethoven ihn und andere in Zusammenhang mit den Abrechnungen des Betrugs verdächtigt. Erst als der Komponist im Dezember 1826 schwer erkrankt, versöhnt er sich wieder mit Schindler, 142

der bis zu dessen Tod in engem Kontakt mit ihm bleibt. Er ist an der Pflege des Kranken beteiligt und regelt mehr oder weniger selbstlos zahlreiche von dessen Angelegenheiten, was man ihm fraglos zugutehalten muss; wie auch seine 1840 erstmals erschienene „Biographie von Ludwig van Beethoven“, die „allen späteren Darstellungen zur Grundlage gedient“ hat,59 obschon ihre Korrektheit und Verlässlichkeit seit Langem umstritten ist. Denn mit der Wahrheit hatte es Schindler ohnehin nicht immer genau genommen. So zählte er gewiss nicht, wie er behauptete, zu den Freunden des Komponisten, und dieser hat ihm daher wohl kaum etliche seiner Manuskripte, Skizzenbücher sowie persönliche Gegenstände geschenkt, über die Schindler noch mehrere Jahre nach Beethovens Tod verfügte. Dass der selbst ernannte „Ami des Beethoven“ mehrere Einträge in den Konversationsheften, die er ebenfalls an sich genommen hatte, nachweislich mit dem Ziel fälschte, die eigene Person in ein besseres Licht zu rücken, rundet das obskure Bild eines Menschen ab, dem hier immerhin ein eigener Artikel beschert worden ist – was ihn, auch wenn dieser wenig schmeichelhaft ausgefallen ist, vermutlich dennoch eher erfreut als verärgert hätte. (HGK)

Soziale Stellung Im schmutzigen Kittel, mit bloßen Füßen, verstrubbeltem Kopf und Dreckfingern steht ein kleiner, knapp Zehnjähriger vor Cäcilia Fischer, der Tochter des Vermieters, und verkündet ihr ob der Rüge über sein verwahrlostes Aussehen trotzig: „Was liegt daran! Wenn ich einmal ein Herr werde, dann wird mir das keiner mehr ansehen!“(→ Kindheit) – Ein großes Wort für den Kleinen, der sich gesellschaftlich gesehen höchstens als gehobene Dienerschaft verorten lässt, dazu noch mit einer Mutter, die „nur“ Tochter eines höfischen Küchenmeisters ist (im Rang weit unterhalb der Hofmusiker mit ihrer relativ gut besoldeten Spitzenposition). Ein- und Unterordnung? Nein danke!, denkt er, und zwar sein Leben lang. Doch auch, wenn man seine Lebensgeschichte vom Ende her beginnt, hat er bloß einen durchschnittlichen bürgerlichen Lebensstandard erreicht. Beethoven wäre gar in arge finanzielle Bedrängnis gekommen aufgrund seiner Krankheiten 143

und der schwierigen wirtschaftlichen Situation, hätte ihn nicht ausgerechnet die Londoner Royal Philharmonic Society (britische Konzertgesellschaft für klassische Orchestermusik, im viktorianischen Zeitalter prägend für die Musikgeschichte) finanziell unterstützt (ganz im Gegensatz zur Gesellschaft der Musikfreunde Wiens). Und doch erhält der gefeierte Komponist ein wahres Staats-Begräbnis. Und damit ist man mitten im Dschungel gesellschaftlicher Beziehungen und Strukturen des beginnenden 19. Jahrhunderts: Sozialer Status, gesellschaftliche Anerkennung und materieller Wohlstand sind drei verschiedene Paar Schuhe – und Salonkultur etwas ganz anderes als der Hof eines Herrschers. Der junge selbstbewusste Mann stellt sich schon früh auf dieselbe Stufe wie der ebenso anerkannte wie berühmte Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe! Sein saloppes Verhältnis zur Etikette – lässige Kleidung, teilweise rüde Umgangsformen – wird belächelt vonseiten höherer Gesellschaft, jedoch auch als ungebildet, von subalterner gesellschaftlicher Position wahrgenommen. Und doch pflegen höchstgestellte Persönlichkeiten zwanglosesten Umgang mit ihm, lassen sich Unhöflichkeiten, gar Ausfälle gefallen. Haydn etwa lässt Beethovens rüden Ton im Unterricht als Kavaliersangelegenheit erscheinen, sich von seinem Schüler im Anschluss zum Kaffee einladen. Fürst Lichnowsky nimmt einen typischen „Raptus“ Beethovens hin – ohne ihm sein Salär zu kürzen (worauf der Komponist existenziell angewiesen ist). Anders reagieren die Damen und Herren jedoch, wenn das Genie aus der ihm zugeeigneten, ihn verpflichtenden Stellung als Salonmusiker auszubrechen sucht, etwa durch eine Weigerung, vorzuspielen, oder es gar wagt, den Erzherzog Rudolph besonders hart ranzunehmen im Unterricht, als dieser den Komponisten tatsächlich einmal hatte warten lassen: Solch rüdes Gebaren geht zu weit, sorgt für Eklats. Von anderer Seite betrachtet zeigen diese Machtproben und die gleichwohl fortwährende Unterstützung durch seine Mäzene (auch als er aufgrund seiner stärker werdenden Taubheit gar nicht mehr als Pianist und Dirigent öffentlich auftreten kann), dass ein Beethoven eben doch in der Lage war, gesellschaftliche Hierarchien auf den Kopf zu stellen: vielleicht ebenso durch seine Genialität, seinen unbedingten Glauben daran, wie durch die internationale Anerkennung. Sein Leben lang ist er abhängig von Mäzenen, die ihm jedoch durch 144

ein ausgehandeltes Leibrentenmodell – nach zugegebenermaßen mühsamem Beginn (→ Broterwerb) – ein relativ sorgenfreies Leben ermöglichen, abgesehen von den hohen finanziellen Aufwendungen aufgrund seiner Krankheiten (vgl. oben). Doch eines ist für Beethoven klar: Wenngleich er vielleicht auch wirtschaftlich bzw. finanziell abhängig sein mag, musikalisch kann ihm keiner das Wasser reichen: Hier nimmt Beethoven den höchsten Rang ein – und keiner macht ihm diesen streitig! Auch kein Erzherzog, wie sich im Erstlingswerk und gleichzeitig auch seiner letzten Komposition, einer Variationenfolge, im Titel zeigt: „Aufgabe von Ludwig van Beethoven gedichtet, Vierzig Mahl verändert und ihrem Verfasser gewidmet von seinem Schüler R. E. H.“ Beethoven ist – wenn schon kein Gutsbesitzer – so doch „Hirnbesitzer“, wie er einmal seinem Bruder gegenüber zu äußern pflegte, und als dieser einmalig, was er auch hochrangigsten Menschen unter die Nase zu reiben wagt: „Fürst! Was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt. Was ich bin, bin ich durch mich. Fürsten hat und wird es noch Tausende geben. Beethoven gibt’s nur einen!“ Aber so berühmt und anerkannt Beethoven auch sein mag, sein reales Leben hat er dadurch nicht verändern bzw. seine Stellung sozial verbessern können. Eklatant zeigt sich dies im Scheitern seiner Heiratspläne, die nicht nur aufgrund seines Aussehens, Charakters oder seiner Taubheit missglücken, sondern insbesondere aufgrund der Standesunterschiede der für ihn (!) infrage kommenden Damen. Auch Beethovens Spiel mit dem „van“ in seinem Namen als Adelsprädikat ist bei der Vormundschaftsklage um seinen Neffen Karl nicht gut aufgenommen und seine Angelegenheit zurückverwiesen worden an die für die niederen Stände zuständige Gerichtsbarkeit. Einmal mehr zeigt sich der Widerspruch zwischen Idee und Realität, zwischen ideellem Wert und gesellschaftlicher Wirklichkeit: Einerseits erfährt Beethoven höchste Ehrungen, national wie international, ist gefeierter Staatskünstler, andererseits ist er in Bezug auf seinen Lebensunterhalt, die Behandlung seiner Krankheiten auf Hilfe und Unterstützung angewiesen! (YZ)

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T

Tagebücher Am 10ten November 1792 Ein grauer Herbsttag. Neun Tage hat die Reise gedauert. Nun endlich bin ich in Wien angekommen. Wird dies, kann dies meine neue Heimat werden? Ob ich Bonn, meine Freunde, mein Lorchen jemals wiedersehen werde? Ich besitze nichts aus ihrer Hand – nichts was mich an sie erinnern könnte … Am 4ten Juli 1812 Es regnet, noch immer regnet es. Ich sitze in der Kutsche von Prag nach Teplitz, schreibe mit dem Bleistift, den J. mir geschenkt hat – mein Engel, mein alles, mein Ich! Leben kann ich entweder nur ganz mit ihr oder gar nicht. Das ist gewiß. Ich werde ihr schreiben, gleich wenn ich angekommen bin … Es muß eine Fügung des Schicksals gewesen sein, die uns gestern in Prag zusammengeführt hat, so plötzlich, so unerwartet …

Wie erhellend wäre es doch, wenn Obiges nicht gänzlich der Fantasie des Verfassers entsprungen (man möge ihm diese kleine Kujauerei verzeihen), sondern von Beethoven selbst so (oder so ähnlich) niedergeschrieben worden wäre! Dann wüssten wir vielleicht, wie tief seine Gefühle für Lorchen, seine Jugendliebe Eleonore von Breuning, wirklich waren (→ Frauen), wüssten vielleicht, was sich genau am Abend des 3. Juli 1812 ereignete, als Beethoven seiner unsterblichen Geliebten begegnete; womöglich würde sogar ihr mysteriöser Schleier gelüftet, das Rätsel um ihre Person gelöst … Doch bedauerlicherweise hat der Komponist sein Tagebuch nicht vordergründig „als Journal intime“ nutzen wollen, hat – anders als man sich wünschen würde – darauf verzichtet, „sein Innerstes in einem unmittelbaren Herzenserguss“ vor sich selbst auszubreiten und so Liebeskummer und Verlusterfahrung zu verarbeiten.95 Hierin hat ihm seine Musik fraglos die allerbesten Dienste geleistet. Doch welchen Zweck erfüllte dann überhaupt ein Tagebuch, das von Beethoven ohnehin nicht kontinuierlich geführt, jedoch in zwei für ihn bedeutenden Lebensphasen begonnen wurde? 146

Das sogenannte „Jugendtagebuch“ (ein blaues Notizbuch mit Pappeinband im Format 155 x 92 mm) setzt bei der zweiten und endgültigen Abreise des Komponisten nach Wien im November 1792 an und endet im Dezember 1795. Allerdings besteht es lediglich aus 25 Blättern, von denen nur 19 beidseitig beschrieben sind. Über das, was eigentlich interessant gewesen wäre, verrät es leider nichts, diente es doch in erster Linie als Buchführungsheft. Es ging Beethoven in keiner Weise darum, den damals populären Reisebeschreibungen nachzueifern, was allein der Umstand verdeutlicht, dass ein „derart außergewöhnliches Vorkommnis wie die Durchquerung des hessischen Heeres zwischen Koblenz und Montabaur nur deshalb erwähnt wird, weil es mit finanziellen Mehraufwendungen verbunden war“96. Der Kutscher hatte sich nämlich für seine waghalsige Fahrt eine zusätzliche Aufwandsentschädigung verdient … Das dann erst in Wien fortgeführte Jugendtagebuch, dort den Charakter eines Haushaltsbuches übernehmend, zeugt immerhin davon, dass Beethoven sich gewissenhaft auf seine neue Rolle in der höheren Gesellschaft vorbereitete (investierte er doch in Perücke, Puder, Pomade, Seidenstrümpfe, Tanzunterricht) und um die Regelung seiner oftmals angespannten finanziellen Lage („Freitag den 6ten nicht gegessen“) bemüht war. Häusliche Ausgaben werden penibel festgehalten, ein „Elementarbuch der kaufmännischen Rechenkunst“ wird zurate gezogen. Die Kaffeehausbesuche in der Freizeit finden lediglich als Kostenfaktor Erwähnung, ohne weiter kommentiert oder gar geschildert zu werden. Äußerst rar sind Einträge, die dem Wesen eines Tagebuchs entsprechen, wie der (auf Blatt 12) formulierte Vorsatz zum neuen Lebensjahr: „25 Jahr sind da, dieses Jahr muß den völligen Mann entscheiden.“ Zu einem solchen war Beethoven längst gereift, als er – fast zwei Jahrzehnte später, im Frühjahr 1812 – zum zweiten und letzten Mal damit begann, Tagebuch zu führen. In privater Hinsicht war er an einem Tiefpunkt seines Lebens angelangt: Seine Heiratspläne hatten sich erneut zerschlagen, und es war zudem zur Entfremdung von vormals intimen Freunden wie Stephan von Breuning oder der Gräfin Marie Erdödy gekommen. Dieses spätere Tagebuch erfüllte, im Gegensatz zu dem frühen, nun eine Vielzahl von Funktionen. Zwar half auch dieses bei der 147

Regelung finanzieller und häuslicher Angelegenheiten, jedoch nehmen Literaturexzerpte nun den größten Raum ein, die zum einen der Planung von Kompositionsprojekten, zum anderen der privaten Lektüre (→ Freizeit) dienten, aber auch die Suche nach geeigneten Therapien (→ Krankheiten) dokumentieren. Daneben finden sich aber auch einige Passagen, die, „maßgeblich durch Lektüre, also die Verinnerlichung fremder Gedanken vermittelt“97, über Beethovens Innenleben Auskunft geben, wobei wohl auch eine Sammlung lateinischer Sprichwörter eine Rolle spielt. Bis auf zwei beidseitig beschriebene Blätter ist das Autograf des Tagebuchs verschollen. Mehrere, auf eine 1827 angefertigte, als vollständig und zuverlässig geltende Abschrift zurückgehende Kopien sind glücklicherweise erhalten. Man nimmt an, dass Beethoven für das Original – vermutlich eine Loseblattsammlung – auch bereits benutztes Papier verwendete; dies würde erklären, wieso zahlreiche Einträge offenkundig Teile von Gesprächen (→ Konversationshefte) bzw. Anweisungen an Bedienstete enthalten: „Schuhbürsten zum Abputzen, wenn Jemand kommt“ (Eintrag 19) – „Beim Quartier den alten Ofen wegräumen auf den Boden tragen“ (Eintrag 23). Weitaus bedeutender als Schuhbürsten und des Komponisten alter Ofen ist eine, wohl auf die zweite Hälfte des Jahres 1812 zu datierende, tiefe Verzweiflung zum Ausdruck bringende Aufzeichnung in dem Tagebuch, die in engem Zusammenhang mit dem Rätsel um die unsterbliche Geliebte gesehen wird. Dort heißt es: „Du darfst nicht Mensch sein, für dich nicht, nur für andre: für dich gibt’s kein Glück mehr als in dir selbst, in deiner Kunst – o Gott! gib mir Kraft, mich zu besiegen, mich darf ja nichts an das Leben fesseln.“ Und dann kommt ein kurzer Satz, der zweifellos auf eine Frau Bezug nimmt: „Auf diese Art mit A geht alles zu Grunde.“ Verbirgt sich hinter dem Initial „A“ womöglich die mysteriöse unsterbliche Geliebte Ludwig van Beethovens, der er im Sommer dieses Jahres den vielleicht berühmtesten Liebesbrief aller Zeiten schrieb? (HGK)

→ Heiligenstädter Testament

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Taubheit „O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misanthropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache […], aber bedenket nur daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, […] sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub“, schrieb Beethoven im Angesicht größter Qual, schlimmsten Leidens für einen Musiker im Jahr 1802 (→ Heiligenstädter Testament). 149

Ein Leiden, das das Ende seiner Laufbahn als gefeierter Pianist (→ Klavierspiel) bedeutete, das nicht nur eine Einschränkung der Lebensqualität, sondern eine existenzielle Bedrohung darstellte, war nicht zuletzt Klavierunterricht eine der wichtigen Einnahmequellen. Kein Wunder, dass Beethoven so lange schwieg. Doch mit fortschreitender Verschlechterung des Gehörs wurden die Anzeichen so eindeutig, dass sie niemandem mehr entgehen konnten: Mit von gelber Flüssigkeit vollgesogenen Baumwollpfropfen in den Ohren empfing der knapp dreißigjährige Komponist etwa einen Besucher, dessen Sohn er auf dem Klavier unterweisen sollte. Doch es gelang keinem der vielen Ärzte, die der Verzweifelte aufsuchte, eine Ursache zu finden, eine Genesung herbeizuführen oder wenigstens eine nicht nur vorübergehende Linderung zu verschaffen. Dies hatte natürlich gravierende Konsequenzen für seine Lebensführung: Alles, was ihm wichtig war, mied er wegen fortschreitender Ertaubung. Er, der einst so gern in Gesellschaft war, konnte keinem Gespräch mehr folgen. Beim Konzert hörte er zunächst hohe Töne, später gar die Holzbläser insgesamt nicht mehr. Dennoch ein Konzert zu dirigieren, indem er nur auf die Musizierenden und ihre Gebärden schaute, das war Beethoven! Noch 1822 leitete er so die Proben zur Oper „Fidelio“ (→ Dirigent), dirigierte 1819 enthusiastisch seine 7. Sinfonie selbst und soll sogar – trotz seines so schlechten Gehörs – auf feinste Nuancen im Spiel des Wunderkinds Wilhelm Karl Rust hingewiesen haben, so Caeyers in seiner Biografie. Auch sein Schüler Czerny bezeugt, dass der große Komponist nach wie vor zu äußerst präzisen Korrekturen im Spiel seiner Schüler fähig war. Doch nachdem das rechte Ohr vollkommen ertaubt war, das linke ebenfalls immer schwächer wurde, kam es am 11.4.1814 zum letzten Kammermusikkonzert und im darauf folgenden Januar (25.1.1815) zum letzten öffentlichen Auftritt als Klavierbegleiter (→ Klavierspiel). Bei seinem letzten öffentlichen Dirigat im Jahr 1824 wurde ihm ein Assistent an die Seite gestellt. Schon viel früher jedoch fielen die Lautstärke und Überempfindlichkeit des Musikers unangenehm auf, was in Unkenntnis der Ursache wohl mancher Anekdote Anlass gab; der hört ja gar nicht richtig hin, was für ein zerstreuter Komponist! Kein Wunder, dass Beethoven sich lange nicht traute, sein Leiden nicht nur Ärzten, sondern 150

auch Freunden anzuvertrauen ... Welch diebische Freude für Gegner, Kritiker und Neider: Hatten sie es nicht immer schon gewusst und gesagt: verworrene Werke mit bizarren Melodien – kein Wunder, der Arme ist ja taub! Die deprimierende Bilanz eines zunehmend ertaubenden Beethoven: Dank des Jahresgehalts seines Mäzens Lichnowsky sowie durch den Verkauf seiner Kompositionen verdiene er gut, bekomme gar mehr Aufträge, als er annehmen könne, würde außerdem von fünf, sechs Verlagen gleichzeitig umworben, die seine Werke veröffentlichen wollten. Ja, man könnte ihn mit Rockstars von heute vergleichen, womit er wohl ausgesorgt hatte für die Zukunft. Ausgerechnet hier, am Höhepunkt des Ruhms, international bekannt, lassen ihn sein Gehör und seine Gesundheit im Stich. Doch er wäre nicht Beethoven, würde er nicht dagegen ankämpfen, in der ihm eigenen trotzenden Resignation: Gerade die in völliger Taubheit entworfenen Kompositionen wie die Diabelli-Variationen entwerfen eigene Universen, gelten als großartigste Werke der Musikgeschichte. Ihm ist es möglich, trotz Taubheit die komplizierteste Musik zu hören, denn sie ist in ihm: Die Welt der Töne entfaltet sich im Inneren gleich der Landschaft auf dem Porträt; er komponiert, ohne zu hören, es reicht, Noten zu sehen, sie aufzuschreiben, hat er doch ohnehin nie – bzw. äußerst selten – am Klavier komponiert, sondern seine Ideen – oft unterwegs – in Skizzenbüchern notiert und Stück für Stück bis zur Vollendung ausgearbeitet (→ Arbeitsweise). Auch auf andere Weise kämpft Beethoven verzweifelt gegen sein Schicksal an: Er lässt sich Hörrohre entwerfen von Johann Nepomuk Mälzel und Trichteraufsätze fürs Klavier vom Klavierbauer Johann Streicher. Um mittels Knochenleitungshilfen Resonanzen vom Klavier zu übertragen, wie er in einer Fachpublikation Chladnis über Akustik gelesen hatte, lässt Beethoven sich einen Holzstab anfertigen, mit dem er eine Verbindung zwischen seinem Gebiss und dem Klavier herstellt. Es bleibt nichts unversucht; er schreckt auch vor Bädern in kaltem Donauwasser nicht zurück, Ohrbehandlungen mit verschiedensten Mitteln, Armwickeln oder Experimenten mit Galvanismus, die ihm zum Glück jedoch als zu gefährlich erschienen. Doch kann ihm keiner helfen … bestenfalls sind Ärzte in der Lage, sein Leid kurzfristig zu lindern (→ Krankheiten). 151

Der Ursprung dieser schwerwiegenden Gehörerkrankung liegt, wie so vieles in Beethovens Leben, wieder einmal im Bereich der Spekulation. Tatsächlich war jedoch zu dieser Zeit Schwerhörigkeit, vorübergehende oder dauerhafte Ertaubung, durchaus keine Seltenheit.98 Doch die Erforschung der Ursachen von Beethovens Taubheit hat nicht nur Zeitgenossen, sondern auch Generationen von Forschern bis heute beschäftigt. Das Resultat: Sich immer wieder teilweise enorm widersprechende Theorien stechen einander aus! Schon direkt nach seinem Tod wurde bei der Obduktion dem Hörorgan besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Eine krankhafte Veränderung insbesondere in Form von extrem gut durchbluteten Verdickungen in verschiedenen Bereichen des Organs wurde festgestellt sowie eine verdickte Gehörschlagader und eine Verkümmerung der Gehörnerven, die linksseitig stärker war, auch als Schallempfindungsschwerhörigkeit definiert. Eine Nervenatrophie muss folglich Ursache gewesen sein. Darüber hinaus ist alles spekulativ: Die zahlreichen Hypothesen lassen sich in nicht weniger als zwanzig verschiedene Kategorien zusammenfassen! Sie reichen von Alkoholismus, Amyloidose, Arteriosklerose über Fleckfieber und Labyrinthitis, Schalltrauma bis hin zu Tuberkulose und anderen Krankheiten, wie der englische Wissenschaftler Davies ausführt.99 Wahrscheinlich kam, so Caeyers, Beethovens gut informierter Arzt und Freund Dr. Weißenbach der Wahrheit ziemlich nahe, als er 1816 einen Zusammenhang zwischen einem verjährten Fleckfieber und der Taubheit herstellte, wusste man doch, dass sich bei etwa fünfzehn Prozent aller an diesem Fieber erkrankten Menschen neurologische Komplikationen ergaben, die zum Teil eher harmlos waren, aber auch bis hin zu halbseitigen Lähmungen reichten. Beethoven hat offenbar mit dem Schlimmsten gerechnet, überzeugt aber dennoch in „traurige[r] resignation“ seinen treuen Freund Wegeler von seiner Entschlossenheit zum Kampf gegen das Leid: „ohne dieses übel, o die welt wollte ich umspannen von diesem Frey, meine Jugend – ja ich fühle es, sie fängt erst jezt erst an, war ich nicht immer ein siecher Mensch, meine körperliche Kraft – nimmt seit einiger Zeit mehr als jemals zu, und so meine Geisteskräfte jeden tag gelange ich mehr zu dem Ziel, was ich fühle, aber nicht beschreiben 152

kann, nur hierin kann dein B. leben, nichts von ruhe“, und verfasst in einem Höhenflug, inspiriert auch durch seine aufgehende Liebe zur schönen Giulietta Guicciardi (→ Mondscheinsonate), die er zu heiraten gedachte, in Unterdrückung gesundheitlicher Sorgen eine Reihe wichtiger Kompositionen: ein Streichquartett für den Grafen Fries, einen Violinsonaten-Zyklus u. a. – So ist und bleibt er eben – Beethoven: Ungeachtet gesundheitlicher oder anderer Probleme – im Angesicht einer Taubheit, die alles, was ihn ausmacht, geradezu auf den Kopf stellt, entwirft er die größten und schönsten Werke, die die Herzen ihrer Zuhörer bis heute erreichen, tief in sie eingehen; und er lebt weiter mit, in und durch seine Musik! (YZ)

Tod An einem frostigen Tag im Herbst 1826, an dem auch die Sonne am leicht verhangenen Himmel keine Wärme mehr spendet, bricht Beethoven von Gneixendorf, vom Gut seines Bruders, zurück in die Stadt auf. Für den auf dem offenen Milchwagen mitfahrenden Passagier, um dessen Gesundheit es schon lange nicht sonderlich gut steht (→ Krankheiten), ist es zu kalt: Er hat mal wieder nicht die für solch einen Tag passende feste, wärmende Reisekleidung an. Auch im Dorfgasthof brennt kein gemütliches Feuer, Beethoven muss in einem – wahrscheinlich auch noch leicht verwanzten – ungeheizten Gasthofzimmer nächtigen. Dass dies mindestens ein Fieber nach sich ziehen dürfte, eine fiebrige Erkältung nämlich, wird auch ein medizinischer Laie bestätigen. Und genau diese Erkältung ist es, die sich nur scheinbar und kurzfristig bessert. Nach seiner Ankunft im Schwarzspanierhaus in Wien (→ Wohnungen) verlässt Beethoven zwar nach einer Woche schon das Bett zum Schreiben und Lesen, doch es kommt umso schlimmer: Das Fieber bricht erneut aus. Dazu gesellen sich Brechdurchfälle und eine Verstärkung jener Gelbsucht, die bereits 1821 erstmals diagnostiziert wurde. Der Gesundheitszustand des Leidenden verschlechtert sich dramatisch: In der dritten Woche verabschiedet sich fast seine Leber, schränkt ihre Arbeit so stark ein, dass sich eine schwere Bauchwassersucht einstellt. Überdies führen die für die Zeit üblichen mangel153

haften Umstände seiner Pflege dazu, dass der Arme zusätzlich zu seinen körperlichen krankheitsbedingten Qualen von Wanzenstichen geplagt und sich wund liegen wird. Über zwei Monate versuchen seine drei Lieblingsärzte mit allen Mitteln (zwei Punktionen zur Entwässerung etwa im Dezember und im Februar, bei denen mehr als 7 bzw. gar mehr als 14 Liter Wasser entnommen werden), das Leiden des großen Komponisten, der zusehends schwächer wird, einzudämmen. Ein kleiner Lichtblick scheint die von seinem Arzt Malfatti verordnete „Punsch“- und „Obstgefrorenen“-Kur zu sein, zumindest kann der Schwerstkranke nach ein wenig Alkoholgenuss seine Gäste wie etwa Luigi Cramolini und dessen Frau, die ihm ein Genesungsständchen bringen, sowie seine Freunde und Genesungswünsche der Wiener Honoratioren im Sessel sitzend empfangen. Und so glaubt man fast, dass es ihm wieder besser gehen könnte, hat er sich doch in seinem Leben so oft durch die schwersten Krankheiten gekämpft. Doch diesmal ist es anders: Obwohl sich seine Freunde rührend kümmern, gar Champagner und Kirschkompott mitbringen, Beethoven im März noch eine letzte Testamentsänderung vornimmt, indem er den Neffen Karl als Universalerben einsetzt und seinen Freund Stephan von Breuning als dessen Vormund, noch einen weiteren einschränkenden Zusatz verfügt und letzte Briefe diktiert, verfällt er im letzten Drittel des Monats in bewusstlose Agonie. Nicht bevor er zu der gerade eingetroffenen Lieferung eines hochwertigen 1806er Rüdesheimer Bergweins (12 Flaschen) „Schade, schade – zu spät“ ausgerufen haben soll. Breuning (→ Jugend → Freunde) und Anton Schindler wechseln sich mit der Haushälterin Sali bei der Betreuung des Bewusstlosen ab, und es ist Letztere, die zusammen mit dem eben eingetroffenen Anselm Hüttenbrenner am Nachmittag des 26. März, als eines der bekanntesten Gewitter über Wien niedergeht, Beethovens letztes Aufbäumen bei einem Blitz, das trotzige Hochstrecken seiner Faust, beobachtet, bevor er endgültig stirbt. Doch seine Ruhe hat Beethoven damit noch lange nicht, hat er doch verfügt, dass nach seinem Tod eine Obduktion stattfinden soll, um seiner Taubheit auf den Grund zu gehen. Und das nehmen sowohl die Zeitgenossen als auch spätere medizinische Generationen äußerst ernst. Bereits in den Abendstunden des nächsten Tages haben 154

die Pathologen und Ärzte herausgefunden, dass Beethoven an einer Leberzirrhose starb, und haben auch in seinem deutlich dehydrierten Gehirn die Felsenbeine ausgesägt, um eine Atrophie der Hörnerven festzustellen, die der Grund für Beethovens Taubheit gewesen sein muss. Nach der Obduktion kam es bereits zum ersten Verlust: Die Felsenbeine sind bis heute verschwunden. Doch damit ist es längst nicht genug: Gar der ganze Kopf Beethovens wurde in späteren Jahren bei zwei Exhumierungen (1863, 1888) von seinem Rumpf getrennt, untersucht und auch gesondert vom Körper bestattet, ohne dabei jedoch wirklich neue Erkenntnisse zu gewinnen. Noch im Oktober des Jahres 2000 veröffentlichte „Der Spiegel“ einen Artikel, in dem erläutert wird, wie Forscher der Universität San Jose mittels einer Haaranalyse nun glauben, nachweisen zu können, dass Beethoven ursächlich an einer Bleivergiftung gestorben sein soll; doch wurde diese Vermutung in den folgenden Jahren widerlegt zugunsten der Brucellose-Theorie (→ Krankheiten). Ein Spurenelementexperte desselben Beethovenzentrums in San Jose äußerte sich in diesem Zusammenhang respektvoll über Beethoven und seine Musik: „Wir wissen, dass Beethoven Zeit seines Lebens sehr krank war und dass das Blei eine der Ursachen seiner schrecklichen Beschwerden war. Man kann sagen, dass Beethoven in seiner Musik das Leiden diskutiert, das so sehr zum menschlichen Leben gehört. Und Beethoven kannte Gram nicht nur aus der Theorie, sondern aus der eigenen Erfahrung von Leid und Schmerz.“100 (YZ)

→ Begräbnis

Totenmaske Ludwig van Beethoven auf dem Totenbett: alle bekannten Darstellungen101 dieses traurigen Motivs stammen von dem Wiener Maler, Grafiker und Zeichner Josef Franz Danhauser (1805–1845), der sich – einem von seinem Bruder 1888 verfassten Bericht zufolge – am 27. März 1827, also am Tag nach dem Tod des Komponisten, frühmorgens in dessen letzte Bleibe, das Schwarzspanierhaus (→ Wohnungen) begab, um einen Gipsabdruck vom Gesicht des Verstorbenen herzustellen. 155

Das Originalnegativ, das der Künstler offenbar bis zu seinem eigenen Tod bewahrte und danach im Besitz des Wiener Porträtmalers Eduard Cramolini gewesen sein soll, gilt heute als verschollen. Erhalten geblieben ist ein besonders früher, grau getönter Gipsausguss aus dem Nachlass Franz Liszts (Stiftung Weimarer Klassik, Goethe Nationalmuseum Weimar). (HGK)

→ Aussehen → Lebendmaske 156

U

Umgangsformen Dieser van Beethoven hat ja vielleicht ein Benehmen! – Frau von Bernhard, ihres Zeichens feine Wiener Salondame, ist wahrlich „not amused“ … Der steckt doch tatsächlich erst den Kopf durch die Tür, bevor er eintritt! Und wie gewöhnlich er sich auszudrücken beliebt! (Was ist das – nebenbei bemerkt – überhaupt für ein scheußlicher Dialekt?) Nein, höchst unmanierlich, das Gebaren dieses Mannes, der bei alledem auch noch so stolz aufzutreten wagt! Das tatsächlich so überlieferte Urteil dieser vornehmen Dame ist hart, ist schonungslos, erweckt den Eindruck, als seien Umgangsformen grundsätzlich ein Fremdwort für Beethoven gewesen. Zahlreiche Anekdoten erzählen überdies von seinem teils aggressiven, teils nachlässigen Auftreten. Ein Enfant terrible der Wiener Gesellschaft! Brüskiert die rheinische Frohnatur bewusst die distinguiertkonservativen Wiener mit seinem auf der Zunge getragenen Herzen oder geht ihm einfach nötiges Taktgefühl ab, vielleicht weil er es nicht gelernt hat? Der eingangs zitierten Meinung stehen Berichte gegenüber, die ihn durchaus als gesellschaftsfähigen Kavalier beschreiben: In seiner ersten Zeit in Wien zeichnet Beethoven sich sehr wohl durch elegante Kleidung und kavaliersmäßiges Verhalten aus, investiert in Perücke, Puder, Pomade und engagiert gar einen Tanzmeister – wohl aus dem Wunsch heraus, in adligen Abendgesellschaften nicht unangenehm aufzufallen, fällt es dem recht unbeholfen wirkenden Komponisten doch schwer, so einigermaßen im Takt zu tanzen. Man darf ferner getrost davon ausgehen, dass Ludwig van Beethoven schon in seinem Elternhaus (seine Familie stand immerhin in dritter Generation in gehobenen höfischen Diensten) gelernt hat, wie man sich in höheren Kreisen zu benehmen pflegte, spätestens jedoch von der Familie von Breuning (→ Freunde) in entsprechende Umgangsformen eingeweiht wurde. Wahrscheinlich ist jedoch im heimatlichen Bonn die Etikette weitaus freier gehandhabt worden als im kultivierten Wien. Während Rheinländer wie die von Breunings sein offenherzig-selbstbewusstes Verhalten als „lustig […] bis zur Ausgelassenheit“ empfinden, erscheint solche „Lustigkeit“ in den Augen 157

vornehmer Wiener Zeitgenossen wie Frau von Bernhard ungehobelt. Und zwar insbesondere dann, wenn er – wie der Dichter Grillparzer zu berichten weiß – ein ums andere Mal Späße macht, die „so ganz aus der Art des gesellschaftlichen Lebens“ hinausschlagen. Wieder und wieder fühlt sich die feine Wiener Gesellschaft von Beethovens Verhalten brüskiert, durch sein unverblümtes Schimpfen über Politik oder seine Ticks, etwa sich die Zähne mit der Serviette abzuwischen oder Lampenputzer als Zahnstocher zu verwenden. Er setzt sich – ähnlich wie in seiner Musik – über geltende Normen und Werte einfach hinweg, wenn es um die eigene Bequemlichkeit geht: Ein Beethoven zieht eben die „Einfachheit der englischen Sitten“ jedem manieristischen Verhalten vor! Ein ganz eigenes Verständnis von Umgangsformen, das eben auch einmal – vielleicht doch eher ziemlich oft – von standesgemäßem Verhalten abweicht, je nachdem, wie es ihm gerade zupasskommt – was ihn, wie manche Anekdoten überliefern, durchaus auch in unangenehme Situationen bringt. Legt er exzentrische Umgangsformen zum Teil vielleicht ganz bewusst an den Tag, um seinen Ruf als „ungeleckter Bär“ (als solchen sah ihn sein Komponistenkollege Cherubini an) mit voller Absicht – als Markenzeichen – zu kultivieren und zugleich sein Selbstbewusstsein zum Ausdruck zu bringen (→ Soziale Stellung), etwa bei dem berühmten Spaziergang mit Goethe in Teplitz, der Begegnung mit der Kaiserin von Österreich? Es kann nicht verwundern, dass auffällig viele Anekdoten, die von Beethovens Skurrilität oder gar Menschenfeindlichkeit berichten, in die Zeit zunehmender Taubheit fallen. Der einstmals lebhafte Gesprächspartner wird mürrisch, wortkarg – und vor allem einsam. Nur enge Freunde gesellen sich in der Öffentlichkeit noch zu dem als überlaut wahrgenommenen schimpfenden Rüpel (→ Schimpfwörter), der grob wird, wenn ein nichts ahnender Fremder es wagt, sich im Gasthaus zu ihm zu setzen … Doch gibt es neben dem Griesgram noch einen anderen Beethoven, der einen Besucher, der sich von den um den Komponisten rankenden Erzählungen nicht abschrecken lässt und zu ihm vorzudringen wagt, überrascht: ein freundlicher, warmherziger Mensch, der in seiner überschwänglichen Art sogar einem wildfremden Menschen, nämlich Alexander Boucher, lediglich ausgestattet mit einem 158

Begleitschreiben von Goethe, ungeniert um den Hals fällt; der – sei es naiv oder ein bewusstes Ausloten von Grenzen – verheiratete Frauen wie Marie Bigot auf Kutschfahrten einlädt oder länger als ziemlich auf der Straße begleitet, wie die Frau seines Freundes Stefan von Breuning. Ein äußerst emotionaler Mensch, dieser Beethoven, der, von seinen Gefühlen überschwemmt, die Etikette außer Acht lässt. Doch um diesem widerspruchsvollen Menschen genauer auf die Spur zu kommen, sollte man sich ein wenig genauer mit seinem Charakter auseinandersetzen. (HGK/YZ)

Unsterbliche Geliebte 27. März 1827. Schwarzspanierhaus, Wien. Beethoven ist tot; seine Geliebte unsterblich: ein Engel, ein Mythos, eines der größten Rätsel der Musikgeschichte. Am Tag zuvor hatte der große Komponist den letzten Weg beschritten, und nun ist es an der Zeit, sich um den Nachlass zu kümmern. Die Schublade des Sekretärs klemmt. Mit ein bisschen Druck gibt sie nach und offenbart ihr Geheimnis: ein Geheimfach, darin ein Brief – einer der berühmtesten und romantischsten Liebesbriefe aller Zeiten. Ein Schreiben, in dem Beethoven seine Liebe offenlegt wie nie mehr in seinem Leben, ein Dokument von unvergleichbarer Offenherzigkeit und Sehnsucht nach seiner unsterblichen Geliebten, seinem Engel. Ein Brief, der eine Spurensuche auslöste, die bis heute andauert. Denn Beethoven verschweigt etwas zweifelsohne für ihn nicht Wesentliches, nämlich Jahr und Ort der Niederschrift – und wichtiger noch: ihren Namen! Erst ein Jahrhundert später gelingt es Forschern, zumindest den Umständen auf den Grund zu kommen: Diesen Brief verfasste der Komponist im Juli 1812 in Teplitz – aufgrund des Schlechtwetters Zwischenstation auf der Weiterreise nach Karlsbad, wo sich auch Goethe befand und von Regen schrieb. Im Aufruhr seiner Gefühle muss er an die unverhoffte Begegnung mit ihr zurückgedacht haben, die er am Freitagabend vor seiner Abreise in den nächtlichen Straßen Prags erlebte. Ein Ereignis von solcher Unfassbarkeit, dass er dafür eine wichtige Verabredung sausen ließ.102 Gerichtet ist der Brief an 159

eine Empfängerin in K. – Karlsbad – oder war dies nur eine Station des Briefs und er sollte noch weiter befördert werden, etwa ins benachbarte Franzensbad? Befremdet bemerkt der Beethoven-Forscher Martin Geck, dass er den großen Wirbel um die unbekannte Adressatin eines einzigen Briefs des Komponisten nicht nachvollziehen könne.103 Noch dazu habe sich dieser in Beethovens Nachlass befunden und die verehrte begehrte Empfängerin wahrscheinlich nie erreicht. Dann verweist er diesen „Engel“ dorthin, wo er seiner Ansicht nach hingehöre, nämlich ins Reich des „Mythos Beethoven“, und lenkt den Blick seines Lesers auf die „Essenz“ des Briefes selbst, Beethovens eigene Verfassung. Diese ziehe sich von der Sehnsucht über religiös anmutende Ergebenheit (→ Religion) und Heilserfahrung in sowie durch die Natur hin bis zum Verzicht. – Es liest sich wie die Geschichte des Goethe’schen Werthers. Aber genügt dies einem Leser, der doch so gern erfahren möchte, wie es um die Liebe im Leben des großen Komponisten bestellt ist? Man möchte doch zu gern wissen, welche von fast einem Dutzend infrage kommender Frauen gemeint ist. Wen bezeichnet Beethoven in seinem im böhmischen Kurort Teplitz am 6. oder 7. Juli 1812 verfassten Liebesbrief enthusiastisch-sehnsuchtsvoll als „mein Engel, mein Alles, mein Ich“, wem schreibt er: Es kann „nie eine andre mein Herz besitzen“, „leben kann ich entweder nur ganz mit dir oder gar nicht, ja ich habe beschlossen in der Ferne so lange herum zu irren, bis ich in deine Arme fliegen kann, und mich ganz heymatlich bey dir nennen kann“. Ist es vielleicht doch die Gräfin Josephine von Deym, geb. Brunsvik, oder Antonie Brentano? Auch Giulietta Guicciardi, der Beethoven längere Zeit Klavierunterricht gab und die berühmte Mondscheinsonate (dort mehr zu ihr) widmete, ist lange Zeit favorisiert worden. „Ich wurde von ihr geliebt und mehr als je ihr Mann“, ist aus einem Abstand von zwanzig Jahren sinngemäß von Beethoven selbst aus einem durch die Konversationshefte dokumentierten Gespräch auf Französisch mit Anton Schindler zu erfahren. Und doch bleibt die Neugier unbefriedigt, Giulietta überzeugt nicht, man wendet sich, wie Geck eben auch, noch einmal anderen wichtigen Frauen in Beethovens Leben zu. Dass sie, die Frauen, nämlich durchaus keinen geringen Einfluss auf Beethovens Schöpfertum ausübten, indem sie 160

ihm zur Quelle der Inspiration und manchmal eben auch der Qual, des Leids, der Sehnsucht oder aber auch ein Ärgernis (man denke nur an die Schwägerin, die er als leichtfertige Frau ansieht) werden, wird durch eigene Äußerungen Beethovens immer wieder bestätigt. Wenden wir uns einer der für viele Beethoven-Kenner aussichtsreichsten Kandidatin zu: Antonie Brentano. – Warum gerade sie? Was macht sie zu jemand derart Besonderem für Beethoven, dass sich vermuten lässt, sie könne die Gesuchte sein? Ihr Lebenslauf ähnelt demjenigen des Komponisten auf frappante Weise, hat auch sie schon in jungen Jahren sowohl den Verlust der geliebten Mutter als auch der Heimat zu verkraften, sollte sie in einer fernen großen Stadt, Frankfurt, sterben. Auch durch ihre immer wieder stark angegriffene Gesundheit, die sie – neben der Veräußerung des väterlichen Erbes nach dessen Tod – ab 1810 zu einem dreijährigen Aufenthalt in ihrer Heimat Wien veranlasste, bevor ihr Ehemann aufgrund der Geschäftsführung auf einer Heimreise nach Frankfurt bestand, rückt sie dem Komponisten nahe. Caeyers beschreibt sie als zart und überlastet, melancholisch, kränkelnd sowie von stetem Heimweh nach der Vaterstadt Wien befallen. Welch interessanter Zufall ist es zudem, dass auch sie ihre Zuflucht so gerne in der Natur und in der Musik sucht, die an ihre Schwägerin Bettine Worte schreibt, die geradeso auch aus der Feder des Komponisten hätten fließen können: „Lebe wohl […], gedeihe wie eine Blume, auch in Regen und Gewitterluft und wenn die Nacht dich überfällt so sei es eine Sternennacht, der das beste Morgenrot folgt – Lasse nie mehr Dämmerung einfallen in deiner Liebe verkünde mir dein Wohlergehen, und wenn ich heute zu viel in Allegorien sprach so verzeihe, es bezieht sich ja alles auf Gott, die Natur, die Musick, dich und mich –“, und er: „blick in die schöne Natur und beruhige dein Gemüth“. Und wie gut er wirklich dazu beiträgt, wenn es ihr einmal schlecht geht, zeigt ein anderer Brief an Bettina aus dem Jahr 1811: „Beethoven ist mir einer der liebsten Menschen geworden […] sein ganzes Wesen ist einfach, edel, gutmüthig, und seine Weichherzigkeit würde das zarteste Weib zieren, es spricht für ihn daß ihn wenige kennen, noch weniger verstehen [aber Antonie tut es offensichtlich]. Er besucht mich oft, beinahe täglich […], und er fühlt, daß er es mit seinen himmlischen Tönen vermag [Leiden zu mildern]“. Auch ihrem Tagebuch vertraut sie sich mit Sätzen an, 161

die wie das Pendant zu Beethovens Brief anmuten: „Es gibt eine Gemeinschaft zwischen Menschen von Geist und Herzen, die nicht vorbereitet zu werden braucht. Sie verstehen sich im Augenblick. Ihr Leben hat verwandte Berührungen, noch ehe sie sich kannten. Menschen und Ereignisse haben gleiche Betrachtungen in ihnen erweckt. Nachdenken über sich selbst zu gleichen Überzeugungen und Resultaten geführt, die nicht ausgesprochen zu werden bedürfen. In solche Gemeinschaft gehen Alltagsmenschen nicht ein, […] fassen diese Wahlverwandtschaft nicht.“ – Es offenbart sich eine Verfassung, die sich von der Sehnsucht über religiös anmutende Ergebenheit bis hin zur Heilserfahrung in sowie durch die Natur (in der Metaphorik des Briefs an die Schwägerin angelegt) zieht – oh, wie bekannt das vorkommt. Warum also nicht Antonie? Immerhin können die Forscher ihren Aufenthalt in Karlsbad zur fraglichen Zeit nachweisen, wohnte sie doch mit ihrem Mann und den Kindern im selben Hotel wie er. Und wenn nun Caeyers eine lückenlose Argumentation vorlegt, warum es nicht zu einem ekstatischen Stelldichein gekommen sein kann, so mag man sich vielleicht die Gedanken Gecks vor Augen führen: nämlich dass Beethoven eben – wie ja auch an anderer Stelle deutlich wird (→ Arbeitsweise → Umgangsformen) – zu Extremen neigt und übertreibt, was im Übrigen nach vorangegangener Charakterisierung auf Antonie ebenso zutreffen mag, sodass eine kurze Begegnung eben im Nachhinein hochstilisiert wird von einem, der den romantischen Topos von der „unendlichen Sehnsucht“ verkörpert wie wenige andere. „Sinnlicher Genuß ohne Vereinigung der Seelen ist und bleibt viehisch, nach selben hat man keine Spur einer edlen Empfindung, vielmehr Reue“, heißt es an einer Stelle im Tagebuch (→ Tagebücher). Es muss schon eine wirkliche Seelenverwandte sein, wenn Beethoven selbst sie seine „unsterbliche Geliebte“ nennt. So rückt als die wahrscheinlichere Kandidatin Josephine Brunsvik in den Blick, wird sie doch in seinen Briefen aus dem Frühjahr 1805 als „einzige Freundin“ und „einzige Geliebte“ bezeichnet, die Einzigartigkeit ihrer Liebe vom Meister höchstpersönlich unterstrichen: „Lange – Lange – Dauer – möge unsrer Liebe werden – sie ist so edel – so sehr auf wechselseitige Achtung und Freundschaft gegründet“. (Mehr und Näheres ist in dem Appassionata-Artikel zu erfahren.) Beethoven 162

schreibt ihr Liebesbriefe, 14 an der Zahl, doch wird die Liaison von den Schwestern mit Sorge betrachtet: „Was soll daraus werden? Sie soll auf der Hut sein!“ Der Druck wird so stark, dass sie sich auf eine zweite Heirat einlässt. Doch auch diese steht unter keinem glücklichen Stern, verlässt doch auch Baron Stackelberg seine Frau einige Wochen vor besagtem Zeitpunkt des Treffens in Prag und sie ihre Heimatstadt Wien. Und ist es nicht bezeichnend, dass Josephines siebtes Kind, ihre Tochter Minona von Stackelberg, am 8. April 1813, genau neun Monate nach der Begegnung des Tondichters mit seiner unsterblichen Geliebten, das Licht der Welt erblickt? Deutlich ist jedenfalls die übergroße Sehnsucht des großen Komponisten nach Liebe und Leidenschaft, nach der „großen Liebe“, so groß geschrieben, dass er in dem mysteriösen Brief eine solche sich vielleicht, so die Vermutung Gecks, sogar bewusst „herbei phantasierte, wie er es sonst in seiner Kunst tat“ – und die Angebetete möglicherweise dieser Begegnung, in welchem Rahmen sie auch immer am 3. Juli 1812 stattgefunden haben mag, eine vielleicht geringere Bedeutsamkeit beimaß als der – auch in der Liebe – Entgrenzung zu erfahren suchende Beethoven: ein Klassiker offenbar, der also nicht nur musikalisch der Romantik den Weg bereitet hat. Und die Frage nach seiner Adressatin bleibt für alle, die an dem Menschen Beethoven interessiert sind, fesselnd. Zwei aussichtsreiche Kandidatinnen, doch eines ist gewiss: Die unsterbliche Geliebte verhüllt weiterhin ihr Gesicht im Nebel der Geschichte(n). Was bleibt, ist unzweifelhaft die Sublimierung in Kunst: So ist zu beobachten, dass der große Komponist nach seiner Begegnung mit der „unsterblichen Geliebten“ dem Heroischen eine weitgehende Absage erteilt und sich den Lebensthemen „Liebessehnsucht, befreiende Naturerfahrung, Gottergebenheit und Verzicht“ zuwendet, nun den einzelnen Menschen, etwa den Erzherzog und Bischof Rudolph in der Missa solemnis, statt, wie in den „heroischen“ Sinfonien, die Menschheit anspricht. Empirisch-biografisch kommt man ihm bzw. seiner Geliebten zwar nicht auf die Spur, doch in der Musik ist zumindest sein Herz bis heute klarer denn je zu spüren: „Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehn!“ (YZ)

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W

Werk Bei allen, die sehr viel komponiert hätten, wie Haydn oder Schubert, gebe es stärkere und schwächere Stücke, „und zwar eine große Anzahl schwächerer Stücke“, meint der deutsche Sänger und Dirigent Dietrich Fischer-Dieskau. – Das sei bei Beethoven anders. Bei ihm gebe es „kein wirklich missratenes Stück. Die kleinste Bagatelle, die Variationswerke, die unendlich vielen Kammermusiken“, alles sei überragend. Es stecke in jedem Werk „ein Funke des Neuerertums, und das Neue werde eben angeschnitten, ausprobiert“.104 Was nur sollte nun ein gänzlich unerfahrener Hörer, der sich Beethovens Musik nähern will und vor dem sich dessen Werk wie ein gewaltiges Gebirgsmassiv auftürmt, angesichts dieses Befundes zuerst „ausprobieren“? Welchen Weg sollte er beschreiten, wenn doch jedes Werk auf seine Weise „überragend“ sein soll? Auch wenn die Geschmäcker verschieden, die Pfade zum Gipfel (wo auf manche die Neunte, auf andere die Missa solemnis, der Fidelio oder eines der späten Streichquartette wartet) ganz individuell sein mögen und die folgende kleine „Wegbeschreibung“ vermutlich auf Widerspruch stoßen wird: Ganz falsch kann es gewiss nicht sein, mit der Klaviermusik zu beginnen, vielleicht ja mit einer der Bagatellen, von denen Fischer-Dieskau spricht. Das Komponieren dieser „musikalischen Kleinigkeiten“ (so die von Beethoven bevorzugte Bezeichnung) erstreckt sich, wenn auch mit großen zeitlichen Lücken, über seine gesamte Schaffenszeit – die Sechs Bagatellen op. 126 wurden sein letztes wichtiges Werk für Klavier und wären, da die zu zweifelhafter Berühmtheit gelangte Für Elise gewiss bei Weitem nicht deren Rang erreicht, ein guter Einstieg (alternativ: op. 33 oder op. 119), um mit den (zu Recht oder Unrecht) berühmtesten der insgesamt 32 Klaviersonaten – dem „Neuen Testament“ für dieses Instrument, wie Hans von Bülow befand105 – fortzufahren: der Appassionata, der „Sturm“-, „Waldstein“- oder Mondscheinsonate, der „Pathétique“, der „Hammerklavier“, „Les Adieux“. Letztlich haben jedoch alle 32 Sonaten ihren individuellen Charakter und Reiz – es lohnt daher sehr, sie (und – nicht zu vergessen – die Diabelli-Variationen!) nach und nach in sein Leben zu nehmen. 164

Wie zweifellos auch die umfängliche Kammermusik Ludwig van Beethovens, der man sich nun zuwenden könnte: einigen der zehn Sonaten für Violine und Klavier etwa, darunter die großartige Kreutzersonate sowie die ähnlich beliebte „Frühlingssonate“, der fünf Sonaten für Violoncello und Klavier, der zehn Klaviertrios (die drei glänzenden Trios op. 1 des erst 23-jährigen Beethoven waren ein echter Verkaufsschlager, neben diesen seien auch das „Geister“- und „Erzherzog“-Trio besonders ans Herz gelegt). Mit seinen 16 Streichquartetten führte der Komponist eindrucksvoll vor Ohren, welche musikalischen Undenkbarkeiten möglich waren, die Quartette der letzten Lebensjahre sprengten, die Interpreten vor höchste Anforderungen stellend, vollends die harmonischen und formalen Grenzen; vor allem die „Große Fuge“ op. 133 schockierte ein damaliges Publikum geradezu. Ein wenig erfahrener Hörer dürfte sich vielleicht am besten über das „Rasumowsky“-Quartett Nr. 1, op. 59/1, dessen „Adagio molto e mesto“ als einer der ergreifendsten langsamen Sätze Beethovens gilt, die zauberhafte Cavatina (den 5. Satz des Streichquartetts op. 130) oder den Heiligen Dankgesang die Welt der Streichquartette erschließen. Sogar „Klassikzauderer“, meint der bedeutende Musikkritiker Joachim Kaiser, müssten der „Coriolan“-Ouvertüre op. 62 eine Chance geben, die – „Genie und Größe pur“ bietend – für sie zum „Schlüsselerlebnis“ werden könne106, um sich über weitere hochbedeutende Ouvertüren Beethovens, wie etwa den „Leonoren“-Ouvertüren op. 72 und op. 72a (→ Fidelio) oder der „Egmont“- Ouvertüre, dem Orchesterwerk zu nähern: den fünf Klavierkonzerten (das dritte, vierte und vor allem fünfte gelten als Gipfelwerke dieser Gattung, aber auch die ersten beiden sind nicht zu verachten), dem Violinkonzert (ja, Beethoven hat leider nur eines komponiert, das vielen Bewunderern als „Konzert aller Konzerte“ gilt), dem charmanten Tripelkonzert – und natürlich den neun Sinfonien, in denen Beethoven demonstrierte, was er sich unter Revolution vorstellte. Spätestens seit er mit seiner Dritten, der „Eroica“ (→ Napoleon), ein Werk von rund einer Stunde Aufführungsdauer präsentierte, „mussten die Zuhörer spüren, dass die Zeit der unterhaltsamen Nettigkeiten endgültig vorbei war. Die Fünfte [→ Schicksalssinfonie], die ‚Pastorale‘ […] und schließlich die 165

Neunte mit ihrem alles bisher Dagewesene sprengenden Chorfinale – sie sind Stationen, an denen sich die geradezu explosive Entwicklung besonders deutlich ablesen lässt.“107 Beethovens Sinfonien, meint Hellmut Kühn, „geben jedem, der sie anzuhören bereit ist, eine optimistische Stimmung, erheben ihn aus Einsamkeit, Trauer, bündeln seine im alltäglichen Leben zerstreuten Kräfte und lassen ihn ahnen, wozu er eigentlich geboren wurde.“108 Ob und in welchem Maße dieses wunderschöne Urteil zutreffend ist, mag ein jeder für sich selbst herausfinden. Spätestens dann, wenn man zum ersten Mal von der Größe des Chorfinales der Neunten überwältigt worden ist, wird man sich auch der einzigen Oper Beethovens, dem Fidelio, sowie der mächtigen Missa solemnis zuwenden und auch die Lieder Beethovens kennenlernen wollen, die berühmten Goethe-Vertonungen etwa oder den Liederkreis „An die ferne Geliebte“ op. 98, in dem Beethoven, wie man vermutet, das Ende aller Hoffnungen auf ein gemeinsames Leben mit der Frau seiner Träume, der unsterblichen Geliebten, musikalisch verewigte. Wahrhaft ergreifend ist es, wenn ein so großartiger Interpret wie Fischer-Dieskau die Anfangszeilen des letzten Stückes singt:



Nimm sie hin denn, diese Lieder, Die ich dir Geliebte sang …



Könnte man diesen Artikel (noch) schöner beenden? (HGK)

Widmungen „Widmungen als einträgliches Geschäft“ müsste eigentlich treffender als Überschrift dieses Artikels gewählt werden, denn genau dies ist der Kern und Hintergedanke fast aller Zueignungen der Werke Beethovens. Dabei handelt es sich zudem nicht nur um einzelne Werke, nein, eigentlich ist fast das gesamte Werk, beinahe jede Schöpfung des Künstlers mit einer Dedikation versehen, wie der geneigte Leser im Beethovenlexikon oder aber entsprechenden Biografien nachschlagen mag: Bei nahezu sämtlichen Kompositionen des Musikers handle es sich um sogenannte „Auftrags-“ und „Widmungskompositionen“. 166

Wie früh sich das Genie bereits als tüchtiger Geschäftsmann zu behaupten weiß, zeigen Widmungen aus seiner Kindheit, der Bonner Zeit, als er eine seiner ersten Kompositionen etwa dem Kölner Kurfürsten Max Friedrich ausdrücklich widmet: „meinem gnädigsten HERRN gewidmet und verfertiget von Ludwig van Beethoven alt eilf Jahr“ (WoO 47) oder aber die bis heute unter dem Namen 167

seines Gönners bekannte „Waldsteinsonate“ komponiert, die, bekannt als eine der ältesten Widmungen, sich an ebenjenen frühen Mäzen, den Grafen von Waldstein, richtet, zudem auch ein früher Freund des Komponisten. Damit kommen Werke ins Spiel, die für den vielschichtigen Beethoven bei entsprechenden Anlässen und Personen gleichfalls Motive für Widmungen sein können: Freundschaft und Dankbarkeit. Hier könnte man etwa „Meeresstille und glückliche Fahrt“ für den berühmten Dichterfürsten von Goethe anführen. Wobei natürlich nicht unerwähnt bleiben sollte, dass sich auch dieser Ausdruck oftmals pekuniär rentierte – große Namen bürgen ja oftmals auch für entsprechende Verkaufszahlen, sind diesen zumindest jedoch nicht abträglich – oder aber eine Entlohnung für Beethoven geleistete Dienste war. So sind zum Beispiel auch Widmungen an Ärzte zu verzeichnen, die den stetig kränker werdenden (→ Krankheiten) bzw. von zunehmender Taubheit geplagten Menschen unterstützten. Das dem Arzt Anton Georg Braunhofer gewidmete „Abendlied unterm gestirnten Himmel“ wäre ein entsprechendes Beispiel für ein „Honorar“ in Form einer Dedikation. Am wichtigsten bleiben jedoch die Widmungen an seine Mäzene, wie etwa – neben elf anderen Kompositionen – der Missa solemnis an den Erzherzog Rudolph zu Ehren seiner Ernennung zum KardinalErzbischof von Olmütz, wenngleich sie erst ein wenig zu spät fertig geworden ist (doch ist das eine andere Geschichte), an die Grafen Lichnowsky und Lobkowitz sowie viele berühmte und hochgestellte königliche Personen, unter denen sich sowohl zwei preußische Herrscher (Friedrich Wilhelm II., III.) als auch der russische Zar Alexander und natürlich der österreichische Herrscher samt seiner Frau befinden. Im Übrigen wäre Beethoven nicht Beethoven, wenn er sich nicht auch der Damenwelt (→ Frauen) in gebührendem Maße widmend zugewendet hätte, vornehmlich den Gattinnen seiner Mäzene. „Für meine kleine Freundin Maxe Brentano zu ihrer Aufmunterung im Klavierspielen“, widmet Beethoven einerseits 1812 der achtjährigen Tochter des befreundeten Dichterpaars ein Klaviertrio, wenngleich ebendieses Klaviertrio WoO 39 erst 1830 veröffentlicht wurde, und zeigt hier – wie eher selten bei seinen Widmungen – seine Zuneigung auf musikalische Weise, während er andererseits vornehm168

lich knallhart kalkuliert – ohne Rücksicht darauf, Freunde vor den Kopf zu stoßen: „da Sie, wie es scheint eine Dedication von mir wünschen, wie gern willfahre ich ihnen lieber als dem größten großen Herrn entre nous“, schreibt Beethoven an Ferdinand Ries in London, widmet dann jedoch seine Neunte lieber – da lukrativer – dem preußischen Herrscher Friedrich Wilhelm III.! – Welch große Enttäuschung für den fernen Freund Ries! Und dies ist nicht der Einzige, den Beethoven vor den Kopf stößt: „Noth zwang mich die Sinfonie, die für sie geschrieben, und noch eine andere dazu an jemand anderen zu veräußern“, verteidigt sich Beethoven gegenüber Reichsgraf von Oppersdorff, als er die Sinfonie Nr. 5 op. 67 gewinnbringend an die Verleger Breitkopf & Härtel verkauft statt wie versprochen dem Reichsgraf übergibt, entschuldigt sich jedoch – schließlich sollte man sich mit einem Gönner guthalten – mit einer anderen Komposition (Sinfonie Nr. 4 op. 60). Geschäft bleibt eben Geschäft! (YZ)

→ Marketing

Wien Im November 1792 erlebte ein junger Mann zum zweiten Mal den Schock urbanen Großstadtlebens einer bereits jahrtausendealten109 Weltmetropole, nicht ahnend, dass er niemals wieder in seine geliebte, um ein Zwanzigfaches kleinere heimatliche Residenzstadt Bonn zurückkehren würde. Die Stadt des Kölner Kurfürsten Maximilian Franz, dem Onkel des just im Sommer zum deutschen Kaiser gekrönten Wiener Herrschers Kaiser Franz II. Was für ein erschlagendes Erlebnis für den Neuankömmling, in die faktische Haupt- und Residenzstadt des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation sowie Residenzstadt der in Personalunion regierten habsburgischen Erbländer, unter anderem Ungarn und Böhmen, mit ihrem pulsierenden Leben einzutauchen. Von Nordwesten kommend überschritt Beethoven nach zahlreichen Vororten zunächst den sogenannten Linienwall, eine Verteidigungsanlage, die 1809 ein letztes Mal gegen die anrückenden Franzosen zum Einsatz kam. Sodann musste der junge Musiker 34 Vorstädte durchqueren, die zu jener Zeit ebenfalls bereits seit fast einhundert Jahren kontinuierlich zusammenwuchsen. Einen 169

Seitenarm der Donau überschreitend, bestaunte er wahrscheinlich die sich auf dem „Glacis“ wohl auch Ende November noch tummelnden mutwilligen Spaziergänger, so geschätzt war diese freie Fläche für erbauliche Promenaden. In naher Zukunft würde man hier auch einen jungen Beethoven mit Notizbüchern und Stift sich an der frischen Luft ergehen sehen, in Gedanken versunken an Kompositionen arbeitend, Mensch und Welt um sich herum vergessend (→ Natur → Arbeitsweise). Schließlich gelangte er durch eines der zwölf Stadttore in der monumentalen, von Basteien durchsetzten sowie von einem Stadtgraben eingefassten Mauer in die „Innere Stadt“ der Metropole, die zum Ende des 18. Jahrhunderts bereits mehr als 265.000 Einwohner zählte. Und auch hier konnte man sich der überwältigenden Eindrücke nicht erwehren: kolossale prunkvolle öffentliche wie private Gebäude in vielzähligen mit Kopfsteinpflaster gepflasterten schmalen Gassen, aber auch ebenso viele breite prächtige Straßen – von Handel und Gewerbeproduktion nur so pulsierend. Eine mitteleuropäische Hauptstadt ersten Ranges ist es, von der aus ein Reich verwaltet wird, das insgesamt vom Bodensee bis nach Siebenbürgen und Weißrussland, von Oberschlesien bis Oberitalien und auf den Balkan reichte. Und erst die Menschen: Verschiedenste Nationalitäten, von reichen einheimischen wie ausländischen und fremdsprachigen Adeligen über Botschafter bis hin zu Handel- und Gewerbetreibenden und – nicht zu vergessen – emanzipierten Juden, auch im Politischen spiegelt sich das multikulturelle Prinzip wider, Toleranz ist grundlegende Maxime, auch in der Legislative durch Kaiser Joseph II. und später ergänzend durch Kaiser Franz I. bestätigt. Die entstehende Kanalisation und Straßenreinigung ebenso wie die Verdrängung der Friedhöfe aus der Stadt, eine angemessene medizinische Versorgung sowie die gut erschlossenen Naherholungsgebiete, die auf den begrünten Basteien und dem Glacis begannen und bis zu den Grün- und Waldflächen des Praters und Augartens reichten, trugen ihr Übriges zum Flair der modernen Weltstadt bei, deren Lebensqualität von Zeitgenossen in höchsten Tönen gelobt wurde. Manchmal jedoch scheint es, Fröhlichkeit und Amüsement würden vielleicht etwas übertrieben, ist doch die Anzahl unehelich geborener Kinder kaum kleiner als die der ehelich geborenen, und in 170

zahllosen Kaffeehäusern und Bierhallen, in denen man sich zu Tanz und sonstigen Vergnügungen trifft, mischen sich verschiedenste Schichten. Kaiser Joseph II. wird gar die Errichtung öffentlicher Bordelle vorgeschlagen. Dann muss er jedoch mit Bedauern konstatieren, die Kosten einer Bedachung wären ja ungeheuer, müsse man doch ein Dach über die ganze Stadt spannen. Zur besonderen Attraktivität einer Weltstadt gehört natürlich das entsprechende kulturelle Angebot: Allein fünf große kontinuierlich bestehende Theater konnte ein junger Beethoven bei einem Rundgang durch die Stadt zählen – sogar mit jeweils eigenem Orchester, dazu noch unzählige kleine mit wechselnder Bestandsdauer, jedoch ebenfalls weitgehend mit eigenen Musikern. Ein Traum für engagierte Komponisten – doch kein Wunder, hatte sich die Weltstadt mit ihrem reichen Musikleben längst zum europäischen Zentrum für Musikverlagswesen entwickelt. Es wurden mehr Musikalien als in jeder anderen Stadt Europas produziert wie exportiert. Neben London wuchs Wien nun im Instrumentenbau insbesondere des Pianofortes zur ersten Adresse heran: Wien, ein Mekka europäischer Musik. Das zieht die bedeutendsten Komponisten an: Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn oder eben auch Ludwig van Beethoven, wobei natürlich auch viele Einheimische ihr hohes Talent unter Beweis stellten, wie etwa Franz Schubert. Waren zunächst Hof und Adel bedeutendste Auftraggeber und Mäzene, entwickelten sich seit einem halben Jahrhundert bürgerliche Einrichtungen wie etwa die 1771 gegründete „Tonkünstlersozietät“, die jährlich zwei musikalische Großveranstaltungen inszenierte. Das öffentliche Konzertwesen blühte: In der Regel in Theatern, Mehrzwecksälen als Begleitung zum Essen oder als Open Air, doch auch in Form von Eigenveranstaltungen der Komponisten, auf eigenes Risiko – und natürlich auch (hoffentlich) zu ihrem Vorteil. Da mischte auch Beethoven gerne mit, trotz der beträchtlichen zusätzlichen Arbeit veranstaltete er mehrere sogenannte „Akademien“, von Beginn an das Seinige zur kulturellen Blüte beitragend. Zunächst jedoch eroberte er mit seinem virtuosen Klavierspiel die Stadt im Sturm: Als Musiker vergleichbar höchstens mit dem berühmten Mozart, war ihm sein Ruf vorausgeeilt, und die Adeligen, Waldsteins Empfehlungsschreiben in ihren Köpfen bewegend, rissen sich um 171

dieses junge Genie, das so anders auftrat als andere: äußerlich kühl, zurückhaltend, schlank, doch breitschultrig im dunkelgrünen Frack mit schwarzen Seidenstrümpfen – welch Eleganz, welch Wohlgefallen für die edelglänzende faszinierte Wiener Damenwelt (→ Aussehen)! Schon vier Jahre nach seiner Ankunft wird ihm die Ehre zuteil, in Schönfelds Jahrbuch aus dem Jahr 1796 – rein sachlich – als musikalisches Genie beschrieben zu werden, das „allgemein wegen seiner besonderen Geschwindigkeit und wegen den außerordentlichen Schwierigkeiten bewundert [wird], welche er mit so vieler Leichtigkeit exequiert.“ Taktisches Geschick beweist er mit der Widmung von Klaviersonaten an die Direktorenfrau Josephine von Braun (→ Widmungen), wodurch er für seine erste eigene Akademie am 2. April 1800 gleich die erste Adresse, nämlich das „National-Hof-Theater nächst der Burg“, anmieten konnte. Und was hat Beethoven nun den interessierten Wienern geboten? Laut Anschlagzettel eine Sinfonie von Mozart, zwei Stücke aus Haydns „Schöpfung“ sowie verschiedene eigene Stücke (vermutlich die Klavierkonzerte Nr. 1, op. 15, das Septett op. 20 und die 1. Sinfonie op. 21). Für den Erfolg, auch den finanziellen, spricht ein enthusiastischer Brief Beethovens an seinen Jugendfreund Wegeler aus dem Folgejahr, in dem er seine Hoffnung

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äußert, nun alle Jahre das bedeutende Theater für seine Akademie zu erhalten. Das Beethoven-Haus Bonn konstatiert jedoch, dass Beethoven in den ihm in Wien noch verbleibenden 26 Jahren lediglich acht weitere Konzerte gegeben habe, wovon auch leider nur die Hälfte einen finanziellen Erfolg verbuchen konnte, was vielleicht der sich bereits ankündigenden Taubheit geschuldet sein könnte.110 Ferner reichte es, als Briefeschreiber „Beethoven, Wien“ als Adresse anzugeben: Und man stelle sich vor, trotz mehr als 265.000 in Wien lebendender Menschen und über 25 Umzügen Beethovens (→ Wohnungen) fand ein solcher Brief seinen Bestimmungsort! Kein Wunder, dass die Wiener Beethoven, auch wenn sie seine Musik bisweilen äußerst kontrovers kommentierten, bereits 1815 zu einem Bürger ehrenhalber ernannten, ihn mit einem Staatsbegräbnis ehrten und ihn gleich drei adelige Mäzene schließlich mit einem sogenannten Rentenvertrag existenzieller finanzieller Sorgen enthoben, damit er für die Wiener und die Welt ungestört komponieren möge (→ Soziale Stellung). (YZ)

Wohnungen Waren Sie schon einmal in Wien? Dann haben Sie ja vielleicht auch den vom Wiener Tourismusverband empfohlenen „Beethoven-Spaziergang“ genossen und dabei einen Abstecher in das von Tourismusführern empfohlene und am Weg gelegene Restaurant „Ludwig van“ in dem denkmalgeschützten Haus in der Laimgrubengasse 22 gemacht. Es befindet sich ein paar Schritte stadtauswärts, Beethoven logierte hier von Oktober 1822 bis März 1823 in einer Hofwohnung (Gedenktafel), arbeitete hier unter anderem an der Missa solemnis, an seiner Neunten und an der Klaviersonate c-Moll op. 111 (→ Werk). Eineinhalb Stunden sind eingeplant, um geneigten Besuchern Wohn- und Gedenkstätten, Orte der Triumphe und Verzweiflung Beethovens vorzustellen. Und das sind wahrhaftig nicht wenige: Sage und schreibe 29 Wohnungen an 26 verschiedenen Adressen sind es insgesamt, die Beethoven in nur drei Jahrzehnten, die er in Wien lebt, „verbraucht“. 173

Doch warum zieht Beethoven um und um und wieder um? Vielleicht, weil ihm die Wohnung sowieso nicht sonderlich gefällt, vielleicht aber auch, weil der von den umwohnenden Mietern wiederholt aufgeforderte Vermieter ihn, dem Hausfrieden zuliebe, besonders „nett“ darum gebeten hat (→ Umgangsformen)? Es gab vielschichtige Gründe, diesem eigensinnigen und sonderbaren Mieter einen Auszug nahezulegen, wie etwa im Hause des Barons Pasqualati, in der Mölker Bastei 8 gelegen, heute als „Pasqualatihaus“ bekannt und zu besichtigen. Zwischen 1804 und 1814 wohnt Beethoven hier mehrmals. Wie gern hätte der Musiker aus seinem an der Außenmauer gelegenen Hauptzimmer, das er hier im vierten Stock bewohnte, die Aussicht auf den Wiener Wald genossen bei der Arbeit am Fidelio oder an Für Elise, dem wohl seiner unglücklichen Liebe Therese Malfatti gewidmeten und mit bekanntesten Werk. Und da Beethoven nun einmal Beethoven ist, lässt er flugs Handwerker kommen, um ein Loch in die Außenwand zu brechen, wo der Erbauer leider versäumt hatte, ein Fenster mit Perspektive auf dieses Panorama einzufügen. Vom Geräusch des Handwerkers angelockt, erfasst ein entsetzter Baron augenblicklich die Lage – und wird laut. Das kümmert Beethoven nicht, der lediglich an seiner Aussicht interessiert ist. Und so muss er sich – wieder einmal – mit Sack und Pack in eine neue Unterkunft begeben. Das Leben meint es wahrlich nicht leicht mit einem Menschen, der als hochsensibel gelten muss (→ Charakter), extrem reagiert auf Kälte, Hitze, Gerüche und auch Krach. Manchmal hält er es über ein Jahr in einer Wohnung aus, dann wieder nur ein paar Monate – oder gar Wochen und Tage. Und wieder zieht er um, mit seinen leicht zu transportierenden Möbeln, schwarz gestrichenen Bücherregalen, die sich gut zerlegen lassen, einem schlichten Bett sowie handlichen kleinen Tischen, bei Trödlern erstandenen Stühlen (→ Nachlass). Und ähnlich spartanisch, wie diese Aufzählung sich gibt, kann man sich die Wohnungseinrichtung vorstellen. Besucher müssen wortwörtlich die Nase gerümpft haben, wenn sie sich denn trauten, dem absonderlichen Genie einen Besuch abzustatten. So auch der Komponist Carl Maria von Weber, der am 6. Oktober 1823 angemeldet ist. Sein Sohn Max erinnert sich: „[…] 174

das öde, fast ärmliche Zimmer […], das der große Komponist bewohnte […], war in der größten Unordnung. Musik, Geld, Kleidungsstücke auf dem Boden, auf dem unsauberen Bette Wäsche gehäuft, der offen stehende Flügel mit dickem Staub bedeckt, zerbrochenes Kaffeegeschirr auf dem Tische […]“. Einer anderen Beschreibung zufolge bestätigt sich in Bezug auf eine andere Zweizimmerwohnung die merkwürdige, mehr als junggesellenhaft anmutende Wohnsituation: Betritt ein Besucher diese Wohnung, so muss er zunächst aufpassen, nicht über zwei oder gar drei Klaviere mit abgesägten Beinen zu stolpern, auf denen entweder Essensreste liegen oder die besudelt sind mit ausgelaufener blauer Farbe aus einem vor Wut hineingeworfenen Fass Tinte. Da flattert dem Besucher vielleicht ein kleiner Einkaufszettel (im Wert von 74.000 €, so die Versteigerung im Jahr 2011) entgegen, der verrät, dass Beethoven ein kleines Problem mit Mäusen hatte. Und auch weiterhin ist Vorsicht geboten: Lebt Beethoven doch aus einem großen Koffer, der einfach auf dem Fußboden geparkt wird, denn Schränke gibt es nicht. Daneben stapeln sich Notenblätter, verstreut herum liegen Geld- und Kleidungsstücke, auf einem wackeligen Tischchen stapelt sich teilweise zerbrochenes Kaffeegeschirr. Über allem flirrt der Staub. Ach ja, und da gibt es noch einen wackeligen Stuhl mit lediglich drei Beinen, auf dem wohl nur äußerst abenteuerlustige Zeitgenossen Platz nehmen … Und wer sich jetzt wirklich noch in das zweite Zimmer traut, erblickt ein von Kleidungsstücken überhäuftes Bett, weitere Kleidungsstücke, die in der Nässe auf dem Boden liegen. Beethoven hat die Angewohnheit, sich während stundenlangen Komponierens immer wieder an der mit Wasser bis zum Rand befüllten Waschschüssel zu bedienen, die sich auf einem Tannentisch neben dem Bett befindet. Erfrischung muss schließlich sein, weshalb er sich der Einfachheit halber den ganzen Zuber über dem Kopf ausschüttet, um ja nicht zu lange vom Komponieren abgehalten zu werden. Als darunter wohnender Mieter muss man sich einfach über das tatsächlich durch die Decke tropfende Wasser beschweren! Ganz zu schweigen von gelegentlichen lautstarken, legendären Wutausbrüchen des Komponisten … (→ Anekdoten → Charakter → Schimpfwörter) Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch die Schwarzspanierstraße Nr. 15, in der heute nur mehr eine Gedenktafel an Beethovens 175

Sterbehaus erinnert. Dies ist die einzige Wohnung Beethovens, die keinen untermöblierten Eindruck vermittelt, sondern sich als eine sehr geräumige, helle Wohnung erweist, von Beethoven im Oktober 1825 bezogen. Im zweiten Stock mit Blick auf die Stadt gelegen zeugt sie von durchaus erlesenem Geschmack: ein besonderer Sekretär mit Geheimfach (in dem man nach seinem Tod zwei Frauenbildnisse, das Heiligenstädter Testament und den Brief an die unsterbliche Geliebte fand) und ein Reiseschreibpult (heute im Bonner BeethovenHaus zu besichtigen) sowie einige Kunstgegenstände, wie etwa das Beethoven sein Leben lang begleitende Porträt seines verehrten Großvaters (→ Familie), ein Selbstbildnis, das ihn mit Lyra vor dem Hintergrund einer griechischen Landschaft mit Tempel darstellt. Auch zwei eigenhändig hergestellte und gerahmte Kalligrafien mit altägyptischen Weisheiten (→ Religiosität) schmücken die Wände dieser Wohnung, in der er in seinen letzten Wochen von guten Freunden wie Breuning umsorgt wird. Er, der „noch so vieles schreiben“ wollte, „die zehnte Sinfonie, auch ein Requiem […] Musik zu Faust, ja auch eine Klavierschule […]“, schließt jedoch im letzten Aufbegehren bei einem ungewöhnlichen Gewitter am Nachmittag des 26. März 1827 im alten Schwarzspanierhaus für immer die Augen (→ Tod). (YZ)

Z

Zehnte „Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe.“ Dies schrieb Arnold Schönberg im Jahr 1912 in einer Gedenkrede auf Gustav Mahler, dabei all die großen Komponisten im Sinn habend, die wie Mahler nach ihrer Neunten keine weitere Sinfonie mehr vollenden konnten: Anton Bruckner111, Antonín Dvořák, Franz Schubert – und natürlich Ludwig van Beethoven; sein Schicksal war 176

es, das allen Sinfonikern nach ihm die Zahl Neun als magisch, geradezu angsteinflößend erscheinen lassen sollte. Noch acht Tage vor seinem Tod äußerte er die Hoffnung, der Nachwelt eine zehnte Sinfonie schenken zu können, mit deren Planungen er in seinen letzten Lebensmonaten begonnen hatte. Doch sind es nur etwa 350, hauptsächlich dem Kopfsatz zuzuordnende Takte, die Beethoven letztlich hinterließ; so weiß man immerhin, dass es ein Werk – wohl in Es-Dur – geworden wäre, das mit einem lyrischen Andante in dieser Tonart anhebt, das nach einem c-MollAllegro wiederkehrt … Auch wenn selbst dieser erste Satz der Zehnten nie vom Meister selbst vollendet wurde, so kann man sich zumindest einen Eindruck von der Idee Beethovens verschaffen; denn der englische Musikwissenschaftler Barry Cooper rekonstruierte auf Grundlage der erhaltenen Skizzen den inzwischen mehrfach auf CD eingespielten ersten Satz und brachte diesen im Oktober 1988 in London zur Uraufführung. Mehr als sechs Jahrzehnte zuvor war bereits Gustav Mahlers unvollendet gebliebene zehnte Sinfonie zum ersten Mal in der Öffentlichkeit erklungen. – Er, der so Abergläubische, hatte gehofft, dem Schicksal ein Schnippchen schlagen zu können, indem er nach seiner Achten „Das Lied von der Erde“, ein symphonisches Werk für Alt, Tenor und Orchester, ohne Zahlenangabe komponierte, es insgeheim jedoch als seine Neunte ansah; doch das Schicksal ließ sich nicht überlisten: Die Vollendung seiner „richtigen“ Neunten war Mahler noch vergönnt; doch er starb, dem Jenseits schon zu nahe stehend, am 26. Juni 1912 über der Arbeit an der Zehnten. „Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst“, heißt es in Schönbergs Gedenkrede schließlich, „wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe. Und das soll wohl nicht sein.“112

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(HGK)

→ Neunte

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Danksagung Ganz herzlich danken wir unserem ehemaligen Kollegen Thomas Gersch aus Winterberg für sein kritisch-konstruktives Gegenlesen der Manuskriptfassung und seine Verbesserungsvorschläge, die wir selbstverständlich „net ignorieren“ konnten!

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Anmerkungen 1

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Sollte dieses Wesen die Musikstücke auf der Schallplatte, die deren vierten und letzten Abschnitt bilden, der Reihe nach abspielen, so würde es zunächst den ersten Satz aus Johann Sebastian Bachs zweitem Brandenburgischen Konzert zu hören bekommen, womit die Menschheit gewiss auch keinen schlechten Eindruck hinterlassen dürfte (→ Beethoven im All). Heute Opava, Tschechien. Nach Beethovens Tod hatte Anton Schindler, der eine Zeit lang dessen Adlatus gewesen war und einen bedeutenden Teil seines Nachlasses besaß, gemeinsam mit Ferdinand Ries und Franz Gerhard Wegeler die Aufgabe übernommen, eine Biografie zu verfassen. Nach langwierigen Vorarbeiten kam es 1837 jedoch zum Streit und zur Trennung. Im Jahr darauf publizierten Ries und Wegeler ihr Werk „Biographische Notizen über Ludwig van Beethoven“, Schindler folgte mit seiner „Biographie von Ludwig van Beethoven“ 1840. Beide Werke zählen zum Grundbestand der BeethovenBiografik. Die erste Beethoven-Biografie erschien bereits 1827, im Todesjahr des Komponisten, und stammte von dem um 1790 geborenen Johann Aloys Schlosser, einem Buchhändler und Verleger, der Beethoven allerdings kaum gekannt hatte und dessen Leben „nur knapp und zudem fehlerhaft auf der Grundlage ihm zugänglicher Berichte“ (BL, S. 122) darlegte. Eine andere, ähnlich köstliche Rubinstein-Anekdote sei (hier hinten) erzählt: Bei einem Konzert im Rathaussaal der englischen Universitätsstadt Oxford, das um 20.15 Uhr begann, spielte Rubinstein zunächst Bachs C-Dur-Toccata, es folgte die Appassionata. „Mitten im letzten Satz“, so erinnert sich der Pianist in seinen Memoiren, „rannte ein junger Student aufs Podium und gebot mir Einhalt. Ich war verdutzt. Nun schlug die Rathausuhr neun, und zwar so dröhnend wie Big Ben am Londoner Parlamentsgebäude. Anschließend forderte der Student mich lächelnd auf, weiterzuspielen. Ich begann den Satz von vorn. Man sagte mir später, die Pause werde möglichst immer vor neun angesetzt, doch diesmal war mein Programm dafür zu lang. Ich fürchtete sehr, ins Zehnuhrschlagen zu geraten, wurde zum Glück aber zwei Minuten früher fertig.“ Besonders am Herzen lag sie, warum auch immer, Wladimir Iljitsch Lenin, der nach eigener Aussage lieber sein Lieblingsstück, die Appassionata, hören und den Menschen die Köpfe streicheln würde, statt sie auf ebenjene schlagen zu müssen.

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BL, S. 40. Kurioses am Rande: Das im ersten Satz der „Appassionata“ (ab Takt 10) erscheinende „Klopf “-Motiv ist jenem des Beginns der fünften Sinfonie, der (erst 1808 uraufgeführten) Schicksalssinfonie, verwandt, das Beethoven zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits im Kopf hatte. Wer diese Liebesgeschichte in aller Ausführlichkeit nachlesen möchte, dem sei Jan Caeyers‘ Biografie oder das Buch „Beethoven und seine ‚Unsterbliche Geliebte‘ Josephine Brunswick“ von Marie-Elisabeth Tellenbach empfohlen. Tellenbach, S. 209. Eine Schilderung seiner Entstehung verdanken wir Ferdinand Ries: Bei einem langen Spaziergang habe Beethoven die ganze Zeit Fragmente eines neuen Themas vor sich hin gebrummt und sei – kaum daheim angekommen – noch in Mantel und Hut ans Klavier geeilt, um wie in Trance seine Einfälle weiterzuentwickeln. Erst nach einer Stunde habe er erstaunt bemerkt, dass sein Schüler Ries in einer Ecke saß und zuhörte. (→ Arbeitsweise) Caeyers, S. 357. Caeyers, S. 59. Schon der Großvater war ein Kollege von Louis van Beethoven, der auch dessen Kinder, besagten Franz als Geiger und die Sängerin Anna, als Spitzenmusiker in das Bonner Orchester aufgenommen hatte. Des Geigers Sohn Franz Anton Ries sollte die wohl wichtigste Stütze des jungen Beethoven in Bonn werden, als der sich mit seinen jungen Jahren der Verantwortung als Familienoberhaupt stellen musste, nachdem sein Vater nicht mehr dazu in der Lage war. Caeyers, S. 56. Beethoven war als Kind an den Pocken erkrankt. BL, S. 64. BL, S. 89. Dieser liegt auf dem Äquator des Planeten (zwischen den Längengraden 740 und 1440) und hat einen Durchmesser von 610 km. Das genaue Geburtsdatum Beethovens ist nicht mit letzter Gewissheit zur klären. Da er am 17.12.1770 getauft wurde, vermutet man, dass er am Tag zuvor zur Welt gekommen war. (→ Kindheit → Jugend) Ebenda. Die Autorin des Briefes wurde als Tochter des Oberbürgermeisters Johann Hermann Hüffer (1842–48), der in seiner zweiten Ehe 1827 Julia

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Kaufmann heiratete, 1814 in Münster geboren. Oft besuchte Marie ihren Onkel Leopold Kaufmann, der 1851 bis 1875 Bonner Oberbürgermeister war. Bei einem solchen Besuch entstand der Brief Maries an ihre Stiefmutter Julia, die nach der Heirat mit nach Münster gezogen war. Die Auszüge aus dem Brief, den man im Beethoven-Haus in Bonn einsehen kann, sind zitiert nach: http://www.buergerfuerbeethoven.de/start/Home/news/EinenBrief-vom-15-August-1845-der-die-Ereignisse-des-ersten__7416. html?xz=0&cc=1&sd=1&ci=7416. Konnte Alexander von Humboldt die Situation des verkehrt herum stehenden Denkmals und der Verwunderung des Preußenkönigs („Ei, er kehrt uns ja den Rücken!“) noch mit dem Hinweis retten, Beethoven sei lebenslang ein grober Kerl gewesen, brüskiert Liszt im Zuge seiner Ansprache zum Festessen im „Goldenen Stern“ die anwesenden Franzosen mit Berlioz an der Spitze derart, dass es zu Tumulten kommt. Auch die spanische Tänzerin Lola Montez, die berühmt-berüchtigte Geliebte König Ludwigs I. von Bayern, der später ihretwegen abdanken musste, soll an diesem Tag wild über die Tische wirbelnd eine skandalumwitterte Gastrolle gegeben haben, wie in der Bonner Stadtchronik nachzulesen ist. Zitiert nach: http://www.bonn.de/familie_gesellschaft_bildung_soziales/ stadtarchiv/stadtchronik/11824/index.html?lang=de. Vielleicht genießen Sie ja einmal eines der zahlreichen guten Konzerte, die hier regelmäßig stattfinden. Er kam 1854 mit schwerer Krankheit nach Bonn, wo er kaum zwei Jahre später in der damaligen Heilanstalt in Endenich starb. Natürlich liegen aufgrund der ortsansässigen Rheinischen FriedrichWilhelms Universität auch viele Bonner Professoren auf dem Friedhof begraben: Ernst Moritz Arndt (1860), August Wilhelm von Schlegel (1845), sowie der ehemalige Rektor der Universität Clemens-August Freiherr Droste zu Hülshoff (1832), Vetter der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848). Das dürfte in etwa nur die Hälfte des Beethovenschen Schriftverkehrs ausmachen, rechnet man die verschollenen Briefe hinzu, manche Forscher sprechen gar von 10.000 Schriftstücken. Und seine Hilfe gilt nicht nur Freunden und Verwandten in Not: Es ist bezeichnend, dass schon die ersten öffentlichen Auftritte im Jahr 1795 Benefizkonzerte (eines „zum Besten der Witwen der Tonkünstlergesell-

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schaft“) sind. Im Jahr 1812 gibt Beethoven ein Wohltätigkeitskonzert für die Opfer des Stadtbrandes in Baden. BL, S. 174. Klemm, Hans-Georg: Beethoven. Wagner. Mahler. Genial und hochsensibel. Darmstadt 2012. Darunter so bekannte, arrivierte Komponisten wie Schubert, Czerny, Hummel und Moscheles, aber auch vielversprechende jüngere wie das Wunderkind Franz Liszt oder Mozarts Sohn Franz Xaver. Kaiser, S. 441. BL, S. 200. Dialektale Bezeichnungen für normale, Mohn- und Sesambrötchen; als Kölner Urtypen auch Figuren im Puppentheater. BL, S. 215. BL, S. 226. Ebenda. Buch, S. 295. Ebenda, S. 305. Wen der für Beethoven wichtige Zusammenhang zwischen Bäckern und Musikern interessiert, der setze er sich mit seiner Ausbildung auseinander. Berüchtigt insbesondere bezüglich des um ihn entbrennenden Sorgerechtsstreits zwischen Beethoven und der von ihm gehassten Schwägerin Johanna, Karls Mutter. Doch das ist eine andere Geschichte, die ihren eigenen Artikel verdient – ebd. Wörtliche Übersetzungen dieses Wortes (aus dem Englischen, Portugiesischen oder Niederländischen (!)) lauten von „geschwollen“ über „besitzen“ bis hin zu „nötig sein“, interpretiere der geneigte Leser diese eventuelle Anspielung selbst. Caeyers, S. 528. „Die geniale Verbissenheit, mit der Beethoven an der ‚Fidelio‘-Oper gefeilt, korrigiert, heftige Änderungen vorgenommen hat, erbrachte eine aberwitzige Konsequenz: Es existieren nicht weniger als vier Ouvertüren! Die erste, zweite und dritte ‚Leonoren‘-Ouvertüre, die Beethoven wie im Perfektionsrausch niederschrieb, verrieten ihm wohl zu viel vom Folgenden. Darum beginnt die Oper in ihrer endgültigen Fassung mit einer relativ harmlosen, schönen E-Dur-Ouvertüre.“ (Kaiser I, S. 298) Einer Anekdote zufolge soll Beethoven im Sommer 1805, mit Josephine gemeinsam in dem ländlichen Ort Hetzendorf weilend, unter einer Eiche

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sitzend Schlüsselszenen der Oper komponiert haben, während sie darauf wartete, die schönsten Passagen als Erste hören zu dürfen. Caeyers, S. 371. Der Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler berichtet übereinstimmend: „In Wien war Beethoven, wenigstens so lange ich da lebte, immer in Liebesverhältnissen und hatte mitunter Eroberungen gemacht, die manchem Adonis, wo nicht unmöglich, doch sehr schwer geworden wären.“ In jungen Jahren erhielt Beethoven Privatstunden von einem Jugendfreund, dem Gymnasiasten Zambona, der ihn in Latein, Französisch und Italienisch unterrichtete. Es handelt sich um ein 16 Takte langes Notat im Skizzenbuch zur Pastorale. Möglicherweise war Beethoven aufgefallen, dass die „geradezu obsessiv wiederkehrenden“ Töne e-dis-e-h als Tonbuchstaben im Namen Therese vorkommen, wenn dis als es gelesen wird. (BL, S. 275) Caeyers, S. 352. Knischek, Stefan (Hg.): Lebensweisheiten berühmter Philosophen: 4000 Zitate von Aristoteles bis Wittgenstein. Berlin8 2009, S. 150. Rousseau ist auch bekannt für seine schlagkräftigen Gedanken zum Thema Erziehung in seinem bahnbrechenden Werk „Emile oder über die Erziehung“ (1762), womit er als Wegbereiter der Aufklärung eine neue interessante Perspektive auf die Erziehung von Kindern, aber auch auf die Familie wie die Gesellschaft der Menschen insgesamt öffnete. Inwiefern er auch von den Beethovens gelesen worden ist, verbleibt jedoch im Dunkel der Geschichte. Maria, geborene Keverich, verwitwete Leym, hat ihrem ersten Mann Johann Leym ein erstes Kind zur Welt gebracht, das jedoch das erste Lebensjahr nicht vollendet hat, was für diese Zeit durchaus nicht untypisch ist, beträgt doch die Sterblichkeitsrate von Neugeborenen und Kindern 40 Prozent. Erst mit dem Beginn der Industrialisierung und Weiterentwicklung der Medizin, besonders in Bezug auf die Erkenntnis der Bedeutsamkeit der Einhaltung gewisser hygienischer Standards, sollte sich diese hohe Rate allmählich ändern und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Bevölkerungswachstum führen. Beethoven soll eine (damals unterdurchschnittliche) Körpergröße von etwa 1,62 m gehabt haben (→ Aussehen), Goethe maß ca. 1,69 m. Caeyers, S. 470. Ihre Authentizität wird bezweifelt. Möglicherweise hat eine gemeinsame Bekannte Beethovens und Goethes – Bettina Brentano, die wichtigs-

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te Quelle dieser Geschichte – die Anekdote ausgeschmückt, wenn nicht ganz erfunden. Geck, Martin: „Beethoven & Goethe: Das Treffen in Teplitz“. In: ZEIT ONLINE (2012), S. 6/8. „Ein drastisches Beispiel dafür ist das zumeist große, runde, fast erotisch geschwungene ‚B‘ für die verhasste Schwägerin Johanna.“ (BL, S. 311) (→ Neffe Karl → Schimpfwörter) BL, S. 318. BL, S. 322. Eindrücklich schildert Klemm in seiner Beethoven-Biografie das Verhalten dieser resoluten Frau beim sog. Eisgang, die man heute wohl als „tough“ bezeichnen würde, gerade auch im Vergleich zu ihrem eher gebrochen erscheinenden Mann. So kam Beethoven in Bonn in den Genuss von Vorlesungen des juristischen Professors Bartholomäus Fischenich, einem Bekannten Schillers, der seine Natur- und Völkerrechtsvorlesungen regelmäßig mit der Rezitation von Schillergedichten würzte, unter anderem etwa mit der „Ode an die Freude“. Die Folgen dürften bekannt sein, es sei auf die Artikel zur Europahymne und Neunten verwiesen. Vgl. Caeyers, S. 94. Wenngleich beide Schwägerinnen von Beethoven abgelehnt wurden, hat er doch immer den Kontakt zu seinen Brüdern aufrechterhalten, und man hat sich gegenseitig geholfen (→ Familie). Warum die Beethovens einst überhaupt aus dieser Wohnung ausgezogen sind, wie sie eingerichtet gewesen ist und einige andere erwähnenswerte Umstände des Beethovenschen Wohnens in Bonn erfährt der interessierte Leser im Artikel Elternhaus. Caeyers, S. 157. BL, S. 397. 137 werden in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz aufbewahrt, zwei im Bonner Beethoven-Haus; Einzelblätter befinden sich außerdem in verschiedenen Institutionen sowie in Privatbesitz. Kaiser I, S. 186 f. Für die Literaturfreunde sei angemerkt, dass die niederländische Autorin Margriet de Moor im Jahr 2002 einen Roman veröffentlichte, der den Titel „Kreutzersonate. Eine Liebesgeschichte“ trägt. Im Jahre 1887 hatte Tolstoi von dem Schauspieler V. N. Andréjev die wahre Geschichte gehört, dass eine Frau von ihrem Mann aus Eifersucht

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umgebracht worden sei. Dies regte T. zum ersten Entwurf der „Kreutzersonate“ an. In der endgültigen Fassung ist der Liebhaber der Ehefrau ein Geiger, und sie begehen den Ehebruch unter dem Einfluss von Beethovens Werk, das sie zusammen spielen. Ein Impuls zum Schreiben dieser Novelle könnte auch gewesen sein, dass Tolstois Sohn Sergéj zu jener Zeit mit dem Geiger Ljasota die Kreutzersonate auf dem Landgut des Schriftstellers, Jasnaja Poljana, spielte. Wer mehr erfahren möchte, lese den erwähnten Artikel: Vratz, Christoph: Klassik Kanon Folge 37: Beethovens „Missa solemnis“. Olympischer Kraftakt. In: Fono Forum. Januar 2011, S. 23f. Diese Abschrift scheint „die Funktion einer Skizze“ zum ersten Satz der Mondscheinsonate zu erfüllen, „und zwar aufgrund der der Tatsache, dass sie eine in Achteltriolen aufgelöste akkordische Begleitung im mittleren Register hat“ (BL, S. 511). Als Indiz hierfür sieht man auch den in dieser Sonate von Beethoven erstmals notierten Gebrauch des Pedals in den beiden Außensätzen und die differenzierte Verwendung des Arpeggios (eines Akkords, bei dem die einzelnen Töne nicht gleichzeitig, sondern – in kurzen Abständen – nacheinander erklingen) (BL, S. 511). Kaiser I, S. 342 f. „Frühere Bezeichnungen wie ‚Raketensonate‘ (bezogen auf den 3. Satz) und ‚Laubensonate‘ (auf Beethovens Liebe zur Widmungsträgerin anspielend) sind heute unbekannt.“ (BL, S. 509) Es ist unklar, ob es sich bei diesen Pistolen womöglich um jene handelt, mit denen der Neffe Karl einen Suizidversuch unternommen hat, oder aber um Fidelio-Requisiten. Nur Joseph Haydn und Antonio Salieri, die allerdings deutlich älter als Beethoven wurden, haben in der Kategorie der Komponisten und Kapellmeister wesentlich größere Vermögen hinterlassen. (Caeyers, S. 720) Damit radikalisiert er Schillers berühmte Ode an die Freude, in der es heißt: „Bettler werden Fürstenbrüder“. Vgl. Geck I, S. 20. BL, S. 530. Arnold Schering: „Zur Sinndeutung der 4. und 5. Symphonie von Beethoven“. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft. 16, 1934, S. 85. Caeyers, S. 685. BL, S. 550.

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Caeyers, S. 677. Buch, aus dem Klappentext. Übrigens passt auf eine CD mit ihrem Durchmesser von zwölf Zentimetern ziemlich genau die 74 Minuten dauernde Einspielung Wilhelm Furtwänglers (wobei 33 Sekunden übrig bleiben). Dies ist, wenn man einer sich in Fachkreisen hartnäckig haltenden netten Geschichte Glauben schenken will, kein Zufall: Ihr zufolge soll sich die Gattin eines Vizepräsidenten der japanischen Firma Sony (nach einer anderen Version: dieser selbst) vor der Einführung der CD Anfang der 1980er-Jahre gewünscht haben, dass eben diese Furtwängler-Aufnahme auf ihr Platz finden soll, um sie ohne Wechsel des Tonträgers genießen zu können. Womöglich hätten unsere heutigen CDs einen kleineren Umfang, wäre die Wahl auf die nur 66 Minuten dauernde Neunte Herbert von Karajans gefallen. Das populärste Beispiel hierfür ist fraglos der auf einer Adaption des Schlusschores basierende Titel „Song of Joy“ des spanischen Sängers Miguel Ríos, der, in seiner englischen Fassung 1970 (zu Beethovens 200. Geburtstag) produziert, nahezu auf der ganzen Welt zum Hit wurde, sich auch in Deutschland mehrere Wochen auf Platz 1 der Charts behaupten konnte und schon im Erscheinungsjahr mehrere Millionen Dollar einspielte. Das Urheberrecht läuft auf den (mit dem Sänger nicht verwandten) argentinischen Komponisten Waldo de los Ríos, der den Schlusschor in das 32-taktige Vers-Refrain-Schema „eines StandardPopsongs gepresst und mit neuem poptauglichen Text“ (BL, S. 705) versehen hatte („Hörst du das Lied der Freude …“). Wenn das Schiller und – vor allem – Beethoven erahnt hätten … (→ Schimpfwörter) BL, S. 552. Geck II, S. 15. Ebenda, S. 621. Ebenda. Zit. nach: Fiebig, S. 169 ff. Caeyers, S. 421 f. Caeyers, S. 20. In Meedl bei Neustadt/Mähren geboren, geht Schindler 1813 nach Wien, um Jura zu studieren, arbeitet 1817–1822 in der Kanzlei eines Advokaten, beendet dann jedoch seine juristische Tätigkeit und widmet sich der Musik. Er wird u. a. Konzertmeister des neugegründeten Josephstädter Theaters, 1825 Dirigent am Kärntnertortheater, 1831 städ-

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tischer Musikdirektor und Domkapellmeister in Münster/Westfalen. 59 BL, S. 651. BL, S. 751. Ebenda. BL, S. 752. Das lässt sich aus der medizinischen Literatur der Zeitgenossen erschließen, so Caeyers, S. 260. Davies, Peter J.: Beethoven in Person. His Deafness, Illness and Death. Westport/London, 2001, S. 137f. Wildermuth, Volkart: Die Leiden des Ludwig van Beethoven. Wissenschaftler entschlüsseln das Rätsel um den frühen Tod des Komponisten. In: Forschung Aktuell. Deutschlandfunk vom 7.12.2005. Zit. nach: http:// www.deutschlandfunk.de/die-leiden-des-ludwig-van-beethoven.676. de.html?dram:article_id=22997. Neben der Totenmaske handelt es sich hierbei um eine (in nur wenigen Exemplaren überlieferte) Lithografie sowie drei Ölstudien (heute alle im Bonner Beethoven-Haus): Zwei zeigen das Gesicht des Toten, die dritte die Hände. Beethoven wollte eigentlich den Offizier Karl August Varnhagen von Ense vor seiner Abreise besuchen, um sich bei ihm für sein Engagement bezüglich ausstehender Pensionen vonseiten Fürst Ferdinand Kinskys zu bedanken. Vgl. Geck I, S. 176. Fischer-Dieskau, S. 25. Als das „Alte Testament“ sah von Bülow das „Wohltemperierte Klavier“ Johann Sebastian Bachs an. Kaiser II, S. 329 f. Hoogen, S. 26. Kühn, S. 160. Immerhin können Forscher mittels archäologischer Funde nachweisen, dass bereits seit der Alt- und Jungsteinzeit kontinuierlich Menschen im Gebiet Wiens lebten … Vgl. zu den Informationen über die Akademien Beethovens: http://www. beethoven-haus-bonn.de/sixcms/list.php?page=museum_internetausstellung_seiten_de&sv%5binternetausstellung.id%5d=31559&skip=11. Nachdem Anton Bruckner den dritten Satz, das Adagio, vollendet hatte, befand er: „Ich habe auf Erden meine Schuldigkeit getan, […] wäre mir doch vergönnt, meine neunte Symphonie zu vollenden […]. Der Tod

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wird mir hoffentlich die Feder nicht früher aus der Hand nehmen.“ Sein Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. Bruckner starb über der Arbeit am Finale seiner letzten Sinfonie, die „Dem lieben Gott gewidmet“ ist. Dimitri Schostakowitsch war der erste bedeutende Komponist, dem es Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gelang, die Magie der Neun zu durchbrechen.

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Beethoven / Radierung, unbez. (akg-images) Beethoven, Mondscheinsonate / Handschr. (akg-images / Beethoven-Haus Bonn) Beethoven Composing / Engraving (?) (ClassicStock / akg-images / Charles Phelps Cushing) Beethoven-Denkmal Bonn / Foto 1992 (akg-images) Beethoven, die Mondscheinsonate komponierend (akg-images) Beethovenhaus Bonn / Foto (akg-images) Beethoven, Fidelio / Theaterzettel 1815 (akg-images) Begegnung Beethoven – Goethe 1812 (akg-images) Beethoven, Brief an seinen Bruder Johann (akg-images) Cismoll Sonate, Adagio (akg-images) Ludwig van Beethoven (1770-1827), 1790s. Artist: Anonymous (Heritage Images / Fine Art Images / akg-images) Beethovens letzter Flügel (akg-images) Ludwig van Beethoven / Maske von Klein (akg-images / Erich Lessing) Beethoven / Hörrohr / Foto (akg-images) Ludwig van Beethoven, Totenmaske frontal (akg-images / Beethoven-Haus Bonn) Beethoven, Sinfonie Nr. 9 / Titelblatt (akg-images / Beethoven-Haus Bonn) Beethoven-Haus in Baden bei Wien, Innenansicht, Foto (akg-images)

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