25 Jahre Arndt – Gymnasium und Richtersche Stiftung, 1908–1933 [Reprint 2022 ed.] 9783112623367

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25 Jahre Arndt – Gymnasium und Richtersche Stiftung, 1908–1933 [Reprint 2022 ed.]
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25 Jahre

Rrndt = Gymnasium und

Nichtersche Stiftung 1908=1933

dargeftellt von

Dr. Bruno Wachsmuth

1933

Walter de Gruyter L Co., Berlin und Leipzig

Nrchlo - Nr. 3*25 33

Johannes Richter

Martin kremmer

Inhaltsverzeichnis Seite

Vorwort

5—6

Einleitung: Erziehungsgeschichtliches und Grundsätzliches

7—16

Vie Gründung des Arndt-Ggmnasiums und des Schülerheims

17—34

Vie Ausbaujahre von 1908-1913

35—44

Vie Schule im Weltkriege 1914-1918

45-60

Schule und heim bis 1933 Ehrentafel der fürs Vaterland Gefallenen

61—87

Liste der angestellten Lehrer

Verzeichnis der bisherigen Hausvater des Schülerheims

88-89

90—92 93

Vorwort Die (Eule der Minerva pflegt aufzusteigen, wenn das Lebendige zu Jahren gekommen oder schon vergangen ist. (Oder um es schlichter und weniger huma­ nistisch zu sagen: hat eine wertvolle Sache genug ausgehalten, bemächtigt

man sich ihrer mit Tinte und Zeder. Und je ferner zeitlich der zu betrachtende Gegenstand liegt, desto stiller hält er den sezierenden Schnitten der gedank­ lichen Erfassung und der Einordnung in allgemeinere Zusammenhänge. In dem Sinne ist unsere Anstalt noch nicht genug bedeckt mit jenem edlen

Staube, in dem zu kramen die besondere Lust des historischen Derlangens ist. was Dahlem ist und sein will, davon zeugen die Erinnerungen und das Augen­ blicksgefühl der Lebendigen, und noch nicht — wenn wir hier von unseren

wenigen Gedächtnissttstungen absehen — der Nachlaß der Derstorbenen und vergilbte Dokumente. Die Jahrgänge, die in den vor 25 Jahren neu erbauten

Häusern wohnten und auf den frischen Bänken saßen, sind noch da, soweit nicht ein vorzeitiger Tod oder der Krieg sie als (Opfer gefordert hat. Selbst der Gründer des Heimes, der langjährige erste Direktor der Schule und die

meisten Lehrer aus den ersten Jahren der Anstalt leben noch und sind zum

größten Teil noch im Amt. Sie alle tragen ihr persönliches Bild von Dahlem mit sich.

Und wenn es möglich wäre, so müßte aus diesem Lrlebnisbereich

die Geschichte der ersten 25 Jahre geschrieben werden, denn er enthält die un­

mittelbarste Wirklichkeit. Lebt doch eine jede Institution nicht in ihren äußeren Tatsachen und Sichtbarkeiten, sondern in den herzen derer, die sie beseelten, ihren Sinn trugen und verkörperten. Und was für ein buntes Bild würde auf

diese weise entstehen können!

Sind doch die Schulerinnerungen aus der

eigentlichen Erziehungszeit des Ulenschen immer farbenprächtig und voll

starker Gefühlstöne, auch da, wo ihre ursprüngliche Gegenwart einst nicht reine Zreude war. Es ist ein Prüfstein für die gesunde Kraft einer Seele, wie

weit sie rückschauend ihr Jugendland zu besonnen vermag. Jener persönlichste Bezirk ist dem Lhronisten verschlossen, wir haben hier ein Stücklein Geschichte zu schreiben, und die Historie malt, wie alles Theo-

retische, grau in grau, hier ist nur ein allgemeines Bild erlaubt, es kann die Wirklichkeitsfülle des Gnzelnen nur nennend andeuten.

So mutz denn jeder

alte Dahlemer diese Zeilen in der Weise lesen, datz er seinen individuellen Kommentar hinzufügt, indem er jene Lichter setzt, über die er nur selbst verfügt.

Sind 25 Jahre einer Institution für das geschichtliche fluge auch noch kein Zeitraum, in dem recht zu schwelgen sich lohnt, denn es fehlt an Entfernung für die perspektivischen Linien, so haben sie doch für die unmittelbar Betei­

ligten ihre hohe Bedeutsamkeit.

Spätere Jubiläen mögen mehr historischen

Nimbus um sich haben und jene würde, die nur das Mer gibt. Aber in ihnen sonnt sich der mehr oder weniger zufällige Erbe, der da erntet, wo er nicht gesät hat, der beschenkt auf -er Leistung der Vorväter sitzt, vergessen ist hier

die Not des Wagnisses, die kllühe des Beginns, das Geheimnis des schöpfe­ rischen Msprunges aus Plan und Idee in ihre Verwirklichung,

hier ist die

Vergangenheit zum stolzen Hintergrund geworden, zum Schmuckstück ge­ lehrter Beziehungen, und wenn es hoch kommt, zum fromm gefühlten Respekt

vor der überindividuellen Dauer menschlicher Leistung und vor der würde

der Tradition.

Aber die ersten 25 Jahre — das ist noch der Feiertag derjenigen, die dabei­ gewesen sind, die noch erinnernd das Ganze umspannen.

Ihre Teilnehmer

vereint die gemeinsame Freude über das erfolgreich vollbrachte und die Dankbarkeit über vergönntes Gelingen.

Die ersten 25 Jahre — das ist der

entscheidende Abschnitt, wo die Kraft der Gründergeneration sich gestaltend auswirkt,

hier versucht sich der Grundcharakter eines Werkes und prägt sich

aus, hier vollzieht sich die Belastungsprobe für seine Daseinsberechtigung. Darum sind sie Anlaß genug, auf dem Wege zu halten, das Gewordene zu betrachten und rückschauend zu berichten, „wie es gewesen ist".

Einleitung Lrziehungsgeschichtliches und Grundsätzliches Will man in tieferem Sinne verstehen, unter welchen pädagogisch-zeit­ geschichtlichen Bedingungen die Gründung unserer Anstalt, Arndtggmnasium

und heim, erfolgt ist, was sie also zu ihrer Zeit bedeutete und inwiefern das neue Werk an seinem bescheidenen Teil selbst eine vorwärtstreibende päda­ gogische Kraft geworden ist, dann must man zunächst einmal ein Stück in die

Geschichte der Pädagogik, insbesondere der Alumnatspädagogik zurückgehen und mutz vor allem bei den pädagogischen Verhältnissen verweilen, die bei

der Entstehung am Lharakter der Anstalt in §ür und Wider mitwirkten und es in gewissem Grade bis zur Gegenwart getan haben. Manchem Leser unserer Zeitschrift, so fürchtet der Verfasser, mag dieses Kapitel allerdings zu „theoretisch" vorkommen. Der, dem das so scheint, fürchte nicht, daß unser ganzes Büchlein so weitergeht, und mache ruhig zu­

nächst einmal einen Sprung zum nächsten Abschnitt (Seite 17) hinüber, der die Überschrift trägt: „Die Gründung des Arndtggmnasiums und des Schüler­ heims". Dielleicht kehrt er später doch noch einmal zu den vorliegenden Aus­

führungen allgemeiner Art zurück.

Sind dem an der Sache innerlich inter­

essierten Leser nämlich erst einmal die konkreten Probleme, die bei der Gestal­

tung unserer Anstalt zu lösen waren, lebendig geworden, so kann es leicht sein, daß er sich gern auch über die historischen Hintergründe unterrichten möchte, und datz er alsdann das vorliegende Kapitel durchaus nicht mehr

gar so theoretisch finden wird.

Die Gründung unserer Schule und

unseres Schülerheims fällt in die

Jahre, die man wohl als das Gründungsjahrzehnt des neuen deutschen Internats bezeichnen kann. — Das alte deutsche Internat auf protestantischem Loden ist eine Schöpfung der Reformationszeit. Diese sogenannten „Zürsten-

schulen" oder „Klosterschulen" wie das Joachimsthalsche Gymnasium, Schul-

pforta u. a. haben ihre hervorragende Bedeutung für die Geschichte unseres

Erziehungswesens. Sie leisteten mehr, als die ursprüngliche Absicht vorsah, nämlich brauchbare Kirchen- und Staatsdiener heranzubilden, die „zu erhaltung

und fortpflanhung reiner Lehr, auch heglsamer Justih und Gottseeligen ruhigen Erbahren Wehsens" geschickt wären1).

Sie wurden Musterschulen der Gelehrsamkeit, und viele der besten Köpfe unseres Geisteslebens gingen aus ihrer strengen Lernzucht hervor. Doch blieben

sie immer im Schatten der Universitäten und fanden ihren Stolz darin, Stätten

bester Vorbereitung auf die Hochschule zu sein.

Nichts war sonst an ihnen,

wodurch sie Jugend hätten rufen können und wollen. Sie matzen sich keinen pädagogischen Selbstzweck bei.

Sie wollten keine pädagogische „Provinz"

sein für Heranwachsende Menschen mit der Weite eines Bildungsgedankens,

der noch andere Weite umfatzte als Frömmigkeit, Zucht und edles Wissen aus dem Borne der alten Sprachen. Was die allgemeine Erziehung betraf,

mutzte man oft zufrieden sein, wenn der Zustand erreicht war, wo Sitte und Drdnung der Anstalten äutzerlich unverletzt blieben.

Die Geschichte der alten

Internate in ihren früheren Jahrhunderten zeigt, wie grotze, oft vergebliche

Mühe das kostete. Jugend aller Zeiten bleibt sich verhältnismätzig gleich. Sie will Autorität und Disziplin, aber sie verlangt auch nach Freiheit und Lebensäutzerungen, die ihr gemätz sind. Wo sie nicht Raum dafür fand, nahm sie den Kampf auf und war um Mittel nicht verlegen, sich hinter der äutzeren

Fassade erduldeter Strenge in heimlicher Rebellion ihr Recht zu sichern. — Der asketischen vita contemplativa wollten diese Schulen dienen, jener Hal­

tung, die den Geist über die Tat setzt. Wer sich dieser Einstellung zur Wett

nicht hinreichend unterwerfen konnte, weil andere Gewalten in seiner Natur ihn riefen, war hier nicht am Platze. Sie blieben da bis in die Anfangsjahre

unseres Jahrhunderts immer einseitiger, lebensärmer als ihre etwa gleich­ altrigen englischen Schwestern, die das Jungsein nicht nur einhüllen wollten mit dem Gewand klösterlicher Gelehrsamkeit, sondern auch mit dem fröhlichen,

die Wett gewinnenden Sittenkleid des ehemaligen Ritters, der nun zum gentleman geworden war.

Die Ritterregel jenes englischen Bischofs, der am

Ende des 14. Jahrhunderts ein Internat in Winchester gründete und ein

*) Dgl. Erich Wetzel, Die Geschichte des Königlich Ioachimsthalschen Gymnasium 1607 bis 1907, Halle 1907, 5.7.

College an der Universität Dxford, „Manners makyth man“, formte das

Gesicht der englischen Schulen nicht weniger als der Ursprung dieser Schulen im geistlichen Lebensstil.

Dos rückte diese Internate in England näher dem

Interesse jener sozialen Schichten, die von ihnen für ihre Söhne mehr die

manners verlangten als die litterae, die sich ihre Söhne als zukünftige Männer des praktischen Lebens wünschten und nicht als Gelehrte oder als Inhaber von Berufen mit akademischer Vorbildung.

Die meisten dieser Schulen —

Eaton und harrow seien nur als die bekanntesten Beispiele genannt — stiegen auf zu gesellschaftlicher Macht und Geltung.

Es war für die wichtigsten und

einflußreichsten Zamilien des Landes eine Selbstverständlichkeit, ihre Söhne

dorthin zu schicken. Diese Schulen prägten sich aus zum Idealtgp der englischen

Schule und machten in ihrem Lande das Internat zu mehr als zu einem An­ hängsel oder gar zu einem unangenehmen Zubehör der Unterrichtsveran­

staltung, sie empfingen vielmehr das Vorrecht ihrer pädagogischen Spitzen­ stellung aus der Tatsache, daß sie eben Internate waren.

Daß dagegen in

Deutschland noch bis vor etwa 30 Iahren die pädagogische Beurteilung des Inter­ nates vielfach eine ganz andere war, ist allgemein bekannt. Der Möglichkeit ständischer Absonderung aber begegneten die englischen Internatsschulen durch kluge soziale Maßnahmen, unterstützt durch eine glückliche innerpoli­

tische Entwicklung des Landes, und verkörperten so in eins, was sich in den Jahrhunderten, von denen hier die Rede ist, bei uns in Klosterschule, Ritter­ akademie, Kadettenanstalt und Privatpension getrennt entwickelt hatte.

Der

Staatsmann wie der Universitätsprofessor, der Leiter wirtschaftlicher Welt­

unternehmungen wie der Verwaltungsbeamte und Gffizier irgendwo im

britischen Imperium, sie alle waren in ihrer Jugend in der Regel in der gleichen pädagogischen Atmosphäre als Alumnen der Public Schools auf­

gewachsen.

Ein englischer Geschichtschreiber behauptet von der Bedeutung

solcher Schulen, daß außer dem Königtum und der Gesetzgebung nichts so sehr die öffentliche Meinung und die Geschichte Englands beeinflußt habe,

wie die Erziehungsleistung dieser Anstalten. In Deutschland blieb den Schulen jeder §orm eine gleich hohe gesellschaft­

liche Anerkennung versagt.

Denn nach ftüherer deutscher Auffassung leistete

jede Schule im Grunde nur kulturelle Hilfsarbeit. Das Vollgültige fehlte ihr. Ihre Tätigkeit schien nicht gleichrangig und gleichwerftg den andern allgemeinen

Funktionen kulturerhaltender Art, dem Rechtsprechen, verwalten, heilen,

predigen. Roch um die letzte Jahrhundertwende, als der preußische philo-

logenstand um seine finanzielle Gleichstellung mit den Juristen rang, war

unter den Gründen, die Zinanzminister Miquel gegen eine solche Regelung vorbrachte, auch der, daß der Lehrer kein „Imperium" habe. Die Schule stand gewissermaßen im Winkel.

Man erinnerte sich ihrer bei festlichen Gelegen­

heiten, man sagte wohl auch mal, daß der preußische Schulmeister die Schlacht bei Röniggrätz gewonnen habe.

Im übrigen war meistens jeder fioh, wenn

er mit ihr nichts weiter zu tun hatte. Man erkannte ihre tüchtige Arbeit an, jedoch in der Regel so, wie man die Heilkraft einer bewährten aber bitteren,

unangenehmen Medizin gutheißt.

Die Schule, das war die Stätte, wo man

so klein, so geringwertig, so ohnmächtig gewesen war, wo man die mannig­ fachen Bescheinigungen der Unfertigkeit und Unzulänglichkeit erhalten hatte,

wo man so sehr Objekt des Mißttauens gewesen war. Ein Purgatorium fürs Leben war sie, und einer solchen Einrichtung gewaltsamer Läuterung hängt

man keine erhebende Empfindung an, was natürlich nicht auszuschließen braucht, daß man gern die gleiche Rur auch seinen Rindern wünschte, weil

man sie zu den unvermeidlichen hätten des Lebens rechnete.

Ihre Eüren,

Mauern und Zensier weckten im Dorübergehenden eher Unbehagen, Scheu

und Peinlichkeit, als Zuttaulichkeit und das natürlich quellende Bekenntnis

des Zugehörens. wir haben hier nicht zu entscheiden, ob die oben kurz gekennzeichnete öffent­ liche Meinung über die Schule zu recht bestand, oder bloß ein ttaditionsgemäß

weitergegebenes Dorutteil war. Tatsache war aber ein anderes.

Die Schule

vor 1900 beschränkte sich als Lebenswirklichkeit zu ausschließlich auf den Dor­ gang des Lehrens und Lernens, was nicht mit Buch und Wissenschaft zu tun hatte, galt nichts in ihren hallen. Alle sonstigen Äußerungen und Bedingt­

heiten jugendlichen Daseins wurden übersehen oder verbannt.

Daß jede

Schule auch das Problem der Gemeinschaftsbildung in sich schließt, daß Rindheit und Jugend nicht bloß den Zustand des geistig Unfertigen sondern auch

Andersartigen darstellen, daß ihre Rörperlichkeit mehr Rücksicht und Lebens­ raum verlangen als nur die einer Pausenordnung und Turnstunde, das beun­

ruhigte ernstlich noch nicht,

wir haben es heute fast vergessen, wie damals

in der Rarikatur unserer Witzblätter der „Einjähttge" immer erschien als der Soldat mit der Brille, der Denkerstirn und den ungelenken, schlappen Glied­ maßen. Diese Übertreibung enthielt soviel Wahrheitskern, wie er zu jeder guten Rarikatur gehört.

Die deutsche Schule hatte immer in ttefflicher Weise den Teil ihrer Erzie-

hungsaufgabe erfüllt, der mit dem eigentlichen Lernvorgang zusammenhing.

Zleiß, Sorgfalt, Gründlichkeit, versammeltheit, kurz die mehr passiven Tu­ genden, wie sie besonders der wissens- und Erkenntnisbildung zugute kommen, waren in Verbindung mit einem soliden wissen gepflegt und als vildungsziel

im allgemeinen auch erreicht worden, über außerhalb der allein vom Lern­ prozeß geschaffenen Beziehungen bestand gleichsam ein pädagogisches Vakuum

zwischen Lehrer und Schüler.

(Es war natürlich immer etwas -«gewesen,

-essen eigentlicher Platz sich in diesem Vakuum befand, nämlich die individuelle Natur des Schülers. Aber die Dienstauffassung von damals wollte alles per­

sönliche bewußt ausgeschieden wissen. Man sah die Sachlichkeit der Ansprüche bedroht, wenn man so schwer faßbares, wie es die Individualität mit ihren

besonderen charakterlichen Umständen ist, berücksichtigen wollte.

Menschliche

Vertraulichkeit und Wärme vertrugen sich schwer mit einer solchen pädagogischen

Haltung. Drohten sie doch den Anspruch des Lehrers auf unbedingte Leistung aufzuweichen und unsicher zu machen» die nachweisbaren „Erfolge" in §rage

zu stellen.

Soweit die Schule nur eine Stätte der wissens- und Erkenntnis­

bildung sein sollte, waren die Bedenken wohl berechtigt, wollte sie aber bas Wagnis eingehen, wie es als neue pädagogische Zorderung etwa seit der

Jahrhundertwende erhoben wurde, hinter dem Lernenden irgendwie den

ganzen Menschen mitzuerfassen und in ihrer Haltung miteinzusehen, so brauchte

sie noch einen breiteren Lebensboden der Beziehungen als jene schmale Brücke zwischen Katheder und Schulbank. Damit aber würde sie dann gewissermaßen den pädagogischen Rubikon überschreiten, an dem sie so lange Haltgemacht hatte.

Sie würde ein Neuland zu betreten haben, für das die bisherigen Kompaßrichtungen des handelns und Beurteilens allein nicht mehr ganz wegsicher waren.

Die Person des Lehrers mußte nun in eine Verantwortung treten,

die keine Dienstanweisung mehr erfassen und umschreiben konnte, seine Pflicht

hier die Sphäre der Vorschrift, des Leamtenhasten verlassen. Sie reichte nun

so weit, wie der Lehrer Gabe, Kraft und Liebe hatte, den Schüler tief innerlich anzusprechen und sich von ihm ansprechen zu lassen, zu jener persönlichen

Verbindung hin, in deren undefinierbarem Bannkreis das Geheimnis för­ dernder Wechselwirkung sich vollzieht.

So etwa sah man um 1900 die neue

pädagogische Aufgabe. Dies meinten auch damals Allhoff und Adolf Matthias, die regierenden Pädagogen im Kultusministerium, wenn sie vom „Imperium"

des Lehrers sprachen. Dann, so wollten sie es, werde in der Erziehung neben der Strenge auch die Warmherzigkeit ihr Recht haben, werden die persönlichen

werte, die Kräfte des willens neben der bloßen Intelligenz des Schülers

zur Anerkennung kommen *). Pädagogische Entwicklung pflegt sich nicht zuerst dadurch zu vollziehen, datz bestehende Einrichtungen reformiert, sondern daß neue Beispiele geschaffen werden.

Ist in den neuen versuchen echter Ausdruck der Zeit enthalten, so

geht von ihnen der Anstoß aus, der sich dann den alten Gebilden mitteilt und wiederum von diesen als Gegengabe die Korrektur erhält, ohne die es nicht abgeht.

gültiges.

Denn auch auf dem Selbe der Erziehung gibt es Ewiges, Immer­ Der Unterschied von „alt" und „neu" ist hier kein Gegensatz, der

einander ausschließen müßte, er hat den Lharakter der gegenseitigen Ergänzung.

Auf dieser maßvollen und klar erkennenden Abschätzung dessen, was an den neuen pädagogischen Sorberungen bedeutsam sei, wurden heim und Schule in Dahlem 1908 gegründet und immer belassen,

pädagogische Entwicklung

ist nur die wachsende Bereicherung an Möglichkeiten pädagogischen Verhaltens. Es gibt kein Allheilmittel.

Die verschiedenarttgkeit der Handlungsweise

T) wie die oberste Unterrichtsbehörde schon damals bemüht war, der neuen pädagogischen Entwicklung zu folgen, beleuchtet in interessanter weise auch ihr Verhalten zur „Wander­ vogels-Bewegung, die in jenen Tagen das Sammelbecken jugendlichen, kulturkritischen Eigenwillens war. Der Wandervogel war ein Zusammenschluß von Schülem ohne die vorgeschriebene Aufsicht durch einen Lehrer als Protektor. Damit verstieß er gegen den Erlaß vom 29. Mai 1880 über Schülerverbindungen. Das liefe Mißtrauen der Behörde gegen solche freien Vereinigungen von Schülern beruhte darauf, daß sie hinter ihren Zu­ sammenkünften Kneipveranstaltungen vermutete. Zahrhundertalte Erfahrungen berech­ tigten nur zu sehr zu dieser Befürchtung. Diejenigen Zugendlichen aber, die sich im „Wandervogel" zusammenschlossen, waren in ihren Bestrebungen eine solche Neuheit, daß einfach alle bisherigen Maßstäbe des Verbotes von Schülerverbindungen versagen mußten. An der Sprache der Verfügungen kann man verfolgen, wie die Behörde der neuen Er­ scheinung jugendlichen Lebens gerecht zu werden sucht. Zn einer vertraulichen Minister­ verfügung vom 6. November 1908 wurden die provinzialschulkollegien ermächtigt, „von einer formalen und engherzigen Auffassung des Erlasses vom 29. Mai 1880 abzusehen", und den Direktoren wurde anheimgegeben, „der Eigenart des jedesmaligen Falles Rechnung zu tragen". Als auf die Anfrage vom Oktober 1911 von den Direktoren im allgemeinen günstige Berichte eingehen, heißt es mit Berufung darauf am 19. Dezember 1911, „daß eine vorsichtige Forderung dieser Bestrebungen „der Wandervögel" unter gleichzeitiger Kontrolle gerechtfertigt erscheint", wir stehen hier — und das nötigt zu ihrer geschicht­ lichen Erwähnung — an der Quelle einer Erscheinung jugendlichen Lebens, die später von großer Bedeutung werden sollte. Neben Elternhaus und Schule sind die mannig­ fachen Formen jugendlicher verbände getreten als wichtige Miterzieher für den Heran­ wachsenden Menschen. Aus der ursprünglichen „Zugendbewegung" im engeren Sinne mit einer bloß kulturellen Zielsetzung sind die „Bünde" geworden, die sich politische Auf­ gaben stellten und die nationale Entwicklung der letzten Zahre mit vorbereiten halfen.

nimmt zu, damit aber auch die Schwierigkeit der richtigen Entscheidung.

Nur im Bereich der Schlagworte wird scheinbar die pädagogische Wirklichkeit eindeutiger, unkomplizierter, spannungsloser, wer verantwortlich zu handeln

hat und Gewissen genug besitzt, erlebt, daß das Gegenteil der Soll ist.

Das

Wertgebiet der Erziehung gleicht einem Instrument, dessen tönende Saiten­

zahl von Zeit zu Zeit vermehrt wird. Man mag entzückt sein über die neuen Klänge. Aber die Sülle der pädagogischen Situationen verlangt, daß man in

alle Saiten zu greifen versteht. was wir am Eingang unseres Kapitels das Gründungsjahrzehnt des neuen

deutschen Internats genannt haben, ist die Zeit von 1898—1908.

Der Zeit­

raum ist pädagogisch dadurch gekennzeichnet, daß man das Ideengut der vorhin kurz angedeuteten „Reformbewegung" in neuen Schulgründungen verwirklichen wollte.

Dies Gedankengut war noch vielfach bereichert durch

schöngeistige Bemühungen, die in den Kunsterziehungstagen ihren Ausdruck

fanden, durch neue kulturkritische Bestrebungen, die als ein erstes Erschrecken über die Zivilisationserscheinungen der Großstädte auf Lebensreform drängten. Diese zehn Iahre sind nur ein erster Abschnitt der Bewegung.

Sie hat bis

zum Kriege und unter seinem Einfluß nachher noch zu mannigfachen weiteren

Derwirklichungen geführt und hat vor allem dann auch das öffentliche Schul­ wesen durchdrungen, doch das ist allgemein bekannt. — Ienes Iahrzehnt

beginnt mit der Eröffnung des ersten „Landerziehungsheims" bei Ilsenburg a. h. 1898 durch Hermann Lieh, der dann seinem Schultgp mit den Anstalten in haubinda und Bieberstein die volle Ausgestaltung gab. Aus diesem Stamme

gingen, zum Teil als „Sezessionen" ursprünglicher Mitarbeiter, weitere

Internatsschulen hervor.

Gemeinsam war der Gruppe von Anstalten die

entschiedene Ablehnung der bestehenden öffentlichen Schule, eine Ablehnung,

die damals durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.

Die öffentliche Schule mit

dem vom Staate streng gehüteten Dorzug der „Berechtigungen" fühlte sich so leistungsüberlegen und war es in bezug auf die reinen Lehrerfolge auch,

daß für sie alles Kurpfuscherei war, was nicht in ihrem Rahmen geschah.

Die neuen prioatschulen wiederum gebärdeten sich, als wenn sich der heilige Geist der Erziehung allein auf sie herabgelassen hätte.

Unabhängig von

diesen Beispielen hatte Professor Kühne in Godesberg b. Bonn und in herchen a. d. Sieg neue Wege der Internatserziehung beschritten.

Am Ende dieses

Jahrzehnts steht die Gründung von heim und Schule in Dahlem, wo ein Teil der damals modernen pädagogischen Gedanken zum erstenmal grund-

sätzlich in einer öffentlichen Anstalt mit den wertvollen und bewährten Tra­

ditionen der öffentlichen höheren Schule verschmolzen wurde.

Erfahrungen

positiver und negativer Art an mehreren der hier angeführten Anstalten, wie sie der Gründer unseres Schülerheims teils durch Mitarbeit, teils durch längere Besuche gesammelt und in sich kritisch verarbeitet hatte, kamen den Plänen für

Dahlem 1908 zugute, hiervon wird das nächste Kapitel, genannt „Die Grün­ dung des Arndt-Gymnasiums und des Schülerheims", ausführlich berichten.

Cs war eine eigenartig bewegte pädagogische Zeit, jene 15 Jahre vor dem Kriege.

Wir heutigen kennen alle die große Unruhe und die grenzenlose

Erwartung, von der das Gebiet der Erziehung gleich nach dem Kriege be­

troffen wurde, von so expressionistischer Aufgeregtheit war das pädagogische

Leben vor dem Kriege noch nicht, wo alle Dinge noch fester standen.

Es

empfing seine Anstöße aus stilleren Bereichen als aus einem Weltkriege und den sozialen Erschütterungen, die ihn begleiteten. Der Antrieb kam überhaupt

weniger von außen, die Problematik war bodenständiger, sie wuchs mehr aus dem pädagogischen Vorgang selbst heraus. Um was ging es? Um etwas,

das heute so selbstverständlich, so sehr Bestand der allgemeinen Meinung geworden ist, daß man glauben könnte, es sei schon immer so gewesen: die

andere seelische Einstellung de? Erwachsenen zum jungen Menschen.

Die

Praxis im Elternhause wird heute genau so bestimmt wie die der Schule.

Und doch kann man den Ursprung nicht sicher erklären. (Es gibt natürlich der

Gründe manche, man müßte aber schon ins Metaphysische zu greifen ver­ suchen, wollte man deuten, wie es kam, daß der Erwachsene den alten hohen Thron unbedingter Autorität und Überlegenheit verließ und Kindheit und

Jugend mit andern Augen ansah und als neues Bild vor sich stellte,

wir

haben hier nicht von den mannigfachen Begleiterscheinungen der Entartung und der unwürdigen Ohnmacht zu sprechen, die dieser Vorgang zuweilen mit sich brachte, uns geht nur das wesentliche an, das andere Bild und was

sich daraus ergab. Der Erwachsene begann zu glauben, daß er sein Verhältnis zum jungen Menschen ändern müsse.

schienen ihm im neuen Licht.

Vas Kind und der Jugendliche er­

Sie wurden ihm Altersformen des Lebens mit

eigenem Recht, mit eigenem Verhalten zur Welt.

Mangel sein, noch nicht ein Erwachsener zu sein.

Es sollte nicht länger ein Eine §rau, Ellen Key,

hatte hierfür das die Sache einengende und mißdeutende Schlagwort geprägt

vom „Jahrhundert des Kindes", man muß es richtiger benennen „das Jahr­ hundert der Jugend".

Vie Andersartigkeit, die besondere Schönheit jugend-

licher Seelenverfassung wurde entdeckt, zum Teil nur wieder neu entdeckt, aber

zum erstenmal wirklich in die praktische Verhaltensweise des Erwachsenen

übernommen. Vie Dichter kamen, fühlten sie nach und falteten sie aus. Und

da man schwerere Sorgen damals nicht hatte, wurde es ein literarischer Lieb­ lingsstoff, Nöte und (Quakn der Jugend darzustellen, deren Ursachen allein aus dem harten, verständnislosen Verhalten der Großen herrühren sollten. Jugend „unter'm Rad" der ihr fremden, feindlichen Erwachsenenwelt. Was sich in der Dichtung vielfach in Sentimentalität überspitzte und in Einseitigkeit verzerrte, bewahrte in der Pädagogik trotz der üblichen Über­

treibungen seinen gesunden Sinn.

(Es wurde mehr vertrauen, mehr Nähe

möglich zwischen dem Erwachsenen und dem jungen Menschen.

Die Wurzeln

-er Wissenschaften brauchten nicht länger so mit Furcht und Zwang gekostet zu werden. In die Schulenzog etwas vom Geiste ftohen, jugendgemäßeren Lebens.

Auf den Vorgang der Erziehung fiel ein neuer Schein menschlicher Wärme,

wichtiges von -em, was nach dem Kriege die Schulreform wollte, war nur die staatliche Anerkennung und Forderung -essen, was hier und da schon vor dem Kriege in den Heimgemeinschaften und Schulstunden aufgeblüht war. Es war ein im tiefsten Sinne individualistischer Gedanke, mit dem in der

Erziehung zum erstenmal ernst gemacht wurde. Sein Recht reicht so weit» wie die Natur ihn selbst durch Anlage und lebendiges Entwicklungsgesetz im

Einzelnen bestimmt hat. Venn sie selbst, als sichtbare (Ordnung Gottes, hat es so gewollt, daß Individualität von allen Menschenzügen der unauslösch­

lichste ist, den nicht der Höhenflug des menschlichen Geistes anmaßend kon­ struierte, sondern die Natur als Erbgut und damit als persönliches Schicksal

des Werdens zu Förderung oder Last, zu Segen oder Verhängnis verliehen wissen wollte.

Sie ist darum die unwiderrufliche Instanz, die diesem Ge­

danken auch seinen Platz auf der Tafel -er pädagogischen Pflichten be­

stimmte.

Indem wir die Pflicht zu erfüllen, oder bescheidener gesagt, zu

berücksichtigen versuchen, folgen wir nicht einer vergänglichen Zeitströmung, sondern horchen in der Pädagogik auf die Stimmen -er Macht über uns, die das Lebendige nach ihrem Geheimnis und Willen ruft und gestaltet.

Vie Geltungsgrenze jenes Gedankens aber beginnt, wo wir der andern Elementartatsache menschlichen Seins ins Auge schauen, nämlich der, daß

wir immer zu einer Gemeinschaft, zu einer moralisch sozialen Drdnung gehören.

Familie, Volk und Staat sind ihre erhabensten Formen und Namen. Sie sin­ der andere Pol der zwiefachen Naturbedingtheit des Menschen, sie sind der hort

der sittlichen und geistigen Lebensmachte. Aus ihrem überindioiduellen Wesen folgt, daß hier das Individuelle sich dienend fügen mutz unter Autorität in Ehrfurcht und Gehorsam.

Zwischen der Spannung dieser beiden nie aufhebbaren Ordnungen wächst der einzelne Mensch empor. sie.

Jede rechtgelebte christliche Zamilie verkörpert

ver Lharakter des Zeitkaufs wie auch der Zufall der Stunde wird mal

die eine, mal die andere mehr erleben und betonen, und wir alle wissen, nach

welcher Seite heute in uns der Zeiger weist. Ideale Wirklichkeit wäre der Aus­ gleich von beiden,

höchste pädagogische Sortierung für die reale Wirklichkeit

ist, sie beide im praktischen handeln als Gebote stets im Bewußtsein zu tragen und jeweils richtig zwischen ihnen zu wählen. Nicht etwa zu dem Ziele hin, daß Erziehung zur „Persönlichkeit" zu bilden

imstande sei. Sie kann es weder der Zeit noch den Mitteln nach. Persönlichkeit ist kein beliebiger Lildungswunsch, sondern ist Gnade, ist führendes Menschen­

tum durch Vorbild und Leistung. (Es ist für den, der die Geschichte und den Lharakter unserer Anstalt kennt, nicht schwer zu entdecken, daß man hier immer im treuen Dienst dessen stehen

wollte und gestanden hat, was wir vorhin als die beiden Ordnungen bezeich­ neten. Unsere Anstalt ist darum heute ebenso jung und gegenwartsverbunden

mit dem edelsten Streben unserer Zeit, wie sie es vor 25 Jahren in einer

anders beschaffenen Gegenwart war.

Nur scheinbar gehören alle diese Bemerkungen nicht zum Thema. Sie bilden, wie im Eingang zu diesem Kapitel gesagt wurde, den Hintergrund zu unserer

eigentlichen Geschichte, sie bestimmen den geistigen Standort der Schule im pädagogischen Geschehen der vergangenen Zeit, sowohl der ferneren Ver­

gangenheit als auch der von der Schule selbst durchlebten. Letztere liegt zwar nicht weit zurück, ist aber voll Bewegung und Änderung gewesen. Ein Schul­ haus ruht auf festen Fundamenten, und seine dicken wände wirken, als wären

sie die Verkörperung des wandellosen.

Aber eine Schule ist keine geistige

Insel, und die hier leben und tätig sind, haben teil am §luß der Zeit, tragen das

Streben ihrer Gegenwart mehr oder weniger bewußt mit sich.

In jenen

wenigen Jahrzehnten ist aus pädagogischem Gebiete mehr geschehen als

vorher in Jahrhunderten, wir sagen das nicht als Lob. pädagogische Arbeit braucht Stille und Stetigkeit. Sie hat durch die Unruhe nicht immer gewonnen.

Aber niemand kann es verhindern, wenn die Gegenwart an die Schultüren pocht. Und mit welcher Wucht schlug sie seit 1914 hinein.

Das klmätgymnasium

Die Gründung des klrndt-Gymnasiums und des Schülerheims Den späteren Künstler, Gelehrten oder Techniker von besonderen Graden

erkennt man schon im Knaben, hier zeigen die selbsttätigen Lebensäutzerungen frühzeitig die zukünftige Entfaltung an.

Wer aus innerer Berufung zum

Erzieher bestimmt ist, erfährt dies erst später und meistens nicht ohne Zufall. Das hat die pädagogische Betätigung gemeinsam mit all den anderen, die auf ein direktes Einwirken auf Menschen und auf dem Umgang mit ihnen hinzielen, also im tiefsten Sinne sozialer Natur sind. §ür eine solche Tätigkeit

mutz man erst selbst ein gutes Stück ins Menschliche hineingewachsen sein,

um dann zu ahnen, wo man hingehört. Niemand hätte dem Manne, der unser heim gegründet und geformt und auch unserer Schule bereits bei ihrer

Geburt bestimmte, innerlich und äutzerlich charakteristische Gesichtszüge aus­ geprägt hat, Johannes Richter, in seiner Jugend zu prophezeien vermocht,

datz er sich einmal mit der Pädagogik befassen würde, höchstens könnte man sagen, der traditionelle Beruf innerhalb seiner Zamilie, nämlich der des Pfarrers, hätte eine solche Möglichkeit offengelassen. Auch die Eindrücke seiner eigenen Schulzeit, die noch in die Ara der reinen Lern- und Lehrschule

fiel, waren keineswegs der Art, datz sie ihn zu dieser Tätigkeit hätten verlocken

können.

So haben wir uns denn zunächst mit der biographischen Tatsache

abzufinden, datz ein junger Jurist eines Tages den Akten- und Gerichtsstuben

und damit einer gesicherten Berufslaufbahn den Rücken kehrte und zur Pä­

dagogik hin ausbrach, zum Schrecken der Zamilie. In den Augen der Nächstbetroftenen hatte ein solcher Entschlutz mit Dernünstigkeit nichts zu tun.

Und sucht man nach der Ursache für eine solche Flucht aus der begonnenen Bahn, so ergibt sich die für Johannes Richters Wesen charakteristische Tatsache,

datz sie nicht aus der Theorie, sondern aus der lebendigen Praxis herrührte. Denn von allen außerhalb seiner Berufsstudien liegenden wissenschaftlichen

und weltanschaulichen Fragen, mit denen er sich in seiner Jugend ernstlich

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und eigenwillig auseinandersetzte, hatte ihn gerade die Theorie der Pädagogik am wenigsten angezogen.

Da kam er, noch als Rechtsstudent und zunächst

keineswegs aus pädagogischer Neigung, nach herchen an der Sieg und wurde

für eineinhalb Jahr Hilfslehrer an dem dortigen Pädagogium, der kleinen ländlichen Zweiganstalt der Nühneschen Internatsschule in Godesberg. Und

hier entdeckte er, innerlich stark gefördert durch einen neugewonnenen, in­ zwischen längst verstorbenen Zreund sein pädagogisches herz.

deutete aber noch keineswegs einen Wechsel des Berufes.

Das be­

Während der

herchener Zeit hatte er sich auf die juristischen Prüfungen vorbereitet, nach

deren Ablegung er in den Referendardienst eintrat.

Aber seit herchen hatte

er keine innere Ruhe mehr, er litt an Heimweh nach der wett der Jugend

und wußte, er werde kein glücklicher Mensch werden, es sei denn, daß er un­ mittelbar unter der Jugend leben und an ihr arbeiten könne. Auch jetzt noch hatte ihm die pädagogische Theorie wenig zu sagen, aber er suchte und fand

Zühlung mit Menschen, die auf diesem Gebiete gerade in jenen Jahren

Pionierarbeit leistetet«», insbesondere in den neuen Landerziehungsheimen. Mit Urlaub des Gerichts verbrachte er wiederholt Monate in diesen Anstalten,

sich als Lehrer und Erzieher betätigend, kritisch schauend und sich in lebendigem Meinungsaustausch und oftmals Meinungskampf mit -en Männern der Praxis auseinandersetzend,

wie kritisch er sah, obschon das seiner glaubens­

frohen Begeisterung oft sehr wehe tat, mutz den Chronisten angesichts der

Jugend des Urteilenden in Erstaunen setzen.

So reiste in ihm langsam und

wie selbstverständlich ein klares Bild dessen heran, wie nach seiner Ansicht eine

Alumnatsschule auf deutschem Loden gestattet sein sollte. Roch aber verfiel er nicht der Gründerkrankheit, die in jenen Zeiten unter den pädagogischen

Neuerern selbst recht jugendlichen Alters so verbreitet war, und die durch den allgemeinen wirtschaftlichen Aufstieg jener Epoche einen so günstigen Nähr­

boden fand, wenn auch selbst damals aus den ungezählten Samenkörnern, die die Gründer ausstreuten, nur in ganz seltenen Zöllen lebensfähige Pflanzen

oder gar kräftige Bäume erwuchsen. Idealismus, der sich nicht mit kritischem Wirklichkeitssinn paart, war autzerhalb der Literatur schon damals ebenso unftuchtbar, wie er es heute ist. Johannes Richter wutzte, wie viel ihm noch

fehlte, er wollte Schritt vor Schritt gehen, und das erste war ihm ein ordnungsmätziges Studium zur wissenschaftlichen Dorbereitung auf den Lehrerberuf» wozu er sich die Mittel selbst erwerben mutzte.

Mitten in dieses Studium

hinein kam nun ein Ruf seines oben erwähnten, wesentlich älteren herchener

Freundes an ihn mit dem Inhalt: „Mr wird von pädagogisch interessierten Leuten im Teutoburger Walde ein Anwesen angeboten, das mir zur Errichtung eines Landerziehungsheims höchst geeignet scheint,

hilf Du mir, leih mir

Deine kritischen Augen, schließe gegebenenfalls einen vernünftigen Beitrag!"

Richter kam zu seinem Freunde, wie er glaubte, nur für einige Tage. Schnell erkannte er die Schwächen des zur Erörterung stehenden Projektes, gewann

aber bei dieser Gelegenheit — und zwar durchaus für seine Person — das Interesse eines reichen Geldgebers.

Da dieser schnelle Taten sehen wollte

und offenbar schwankenden Gemütes war, hieß es, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. So kam Richter, früher als er selbst gewollt, zu Dersuchen,

für seinen Freund und sich eine eigene Anstalt zu begründen, wobei er ganz von

selbst alsbald der führende Kopf wurde. Ls folgte nun eine Zeit voll roman­ tischer Hoffnungen, die in mehrfacher Folge von bitteren Enttäuschungen

abgelöst wurden, ohne doch den Wagemut zu brechen. Diese Erlebnisse wurden für Richter eine ebenso harte wie nutzbringende Lehrzeit, sie stählten seinen

willen, verstärkten seine Fähigkeit, Menschen und Dinge zu durchschauen und standfesten Bau von romantischer Luftschloßarchitektur zu unterscheiden. Zu ernsthaften, zum Teil fast abschlußfertigen Derhandlungen kam es in der Nähe Osnabrücks, am Gberrhein bei Sädingen, im Schwarzwald, unweit

Stuttgart, in Lippe und endlich an zwei Stellen im weiteren Bannkreise

von Berlin, aber noch nicht in Dahlem. Don dieser eben im ersten Entstehen befindlichen Gartenstadt auf dem Gebiete der Staatsdomäne Dahlem hörte Johannes Richter zum ersten Male, als er im November 1905 den Ministerial­

direktor im preußischen Landwirtschaftsministerium Exzellenz Thiel aufsuchte

mit der Bitte, ihm zu einer Pachtung eines staatlichen Waldgeländes in der

Mark zu verhelfen.

Thiel fand Gefallen an den pädagogischen Plänen, die

der junge Mann ihm entwickelte, und erwähnte so nebenbei, er sei -er Dor­ sitzende der Königl. Dahlemkommission.

Dielleicht sei Dahlem der geeignete

Grt für die Errichtung einer solchen Anstalt. Richter stagte: „was ist Dahlem?

wo liegt es?", warf einen Blick auf die Landkarte in Thiels Zimmer und —

lehnte dankend ab, weil ihn ein anderer Plan in landschaftlich reizvollerer

Gegend noch ganz im Banne hielt. Damit schien der Schicksalswink aus Dahlem erledigt zu sein. Aber es sollte anders kommen.

Der Plan, dessen Ausführung ihm zur Zeit seines Besuches bei Thiel besser schien als eine Gründung in Dahlem, zerschlug sich ebenfalls.

Nicht daß er

überhaupt unausführbar gewesen wäre, so war es weder in diesem noch in

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manchem früheren Falle. Aber es wäre nicht die Erfüllung dessen geworden,

was Richter sich zum pädagogischen Ziel gesetzt hatte, und er verharrte auch

hier auf seinem oft behaupteten Standpunkt, datz er lieber auf alles — auch die Sicherung seiner persönlichen Existenz — verzichten wollte, als ein pädago­ gisch unzulängliches Stückwerk schaffen.

3n diesem Augenblick, es war im

Januar 1906, trat ein Ereignis ein, das die entscheidende Wendung bringen sollte.

Der Ministerialdirektor Exzellenz Dr. Friedrich Althoff, der einfluß-

reichste Mann im Kultusministerium, trat mit Dr. Richter in Verbindung.

Althoff hatte umfassende, großzügige Pläne für Dahlem, aus dem er ein „Deutsches Dxford" 0, eine einzigartige Heimstätte der Wissenschaft machen

wollte. In diesem Rahmen paßte für ihn, der auch einer Reform des Alumnatswesens warmes und weitblickendes Interesse entgegenbrachte, der Richter-

sche Plan als dienendes Glied bestens hinein. Althoff hatte die Kgl. Kommission zur Aufteilung der Domäne oft gedrängt: „Gründet eine höhere Schule,

denn die Kinder der Gelehrten, die ich in Dahlem in meinen wissenschaftlichen Instituten ansiedeln will, brauchen sie!"

Vie vahlemkommission erwiderte:

„Vas möchten wir gern tun, schon in unserm eigenen Interesse, um die Aus­ schließung unseres Geländes zu fördern, aber der Finanzminister verweigert

uns die Mittel für eine Schule in Dahlem, die auf lange Zeit hinaus fast ohne Schüler sein würde." Darauf Althoff: „So laßt uns eine Alumnatsschule *) von diesen Plänen ist ein beträchtlicher Teil verwirklicht worden. Ts begann mit der Verlegung des Botanischen Gartens aus der Potsdamer Straße nach vahlem. Seine Eröffnung war 1906. Einige verwandte wissenschaftliche Institute waren inzwischen bereits in der Nähe des neuen Botanischen Gartens angesiedelt worden: die Staatliche Lehr- und Zorschungsanstalt für Gartenbau, die Biologische Reichsanstalt für Land- und Zorstwirtschaft, das pharmazeutische Institut der Universität Berlin. Klthofss Absicht, die ganze Universität und andere Hochschulen, fast alle akademischen ZorschungrstStten der Reichs­ hauptstadt nach vahlem zu verlegen und neu entstehende Institute dieser Art grundsätzlich in vahlem zu errichten, fand eine Teilerfüllung erst nach seinem Tode, als 1911 nach dem Plan von Exzellenz von harnack und Ministerialdirektor Dr. Schmidt-Dtt, dem späteren Kultusminister, und unter weitestgehender Förderung durch den Kaiser die „Kaiser lvilhelmGesellschast zur Förderung der Naturwissenschaften" gegründet wurde. Diese Gesellschaft erstrebt« di« Errichtung und Unterhaltung solcher Zorschungsinstitute, für die im Rahmen der Lehraufgaben der Hochschulen kein Raum war. Zugleich aber wollte sie dem hohen Ziel dienen, die führende Stellung der deutschen Naturwissenschaften mit sichem zu helfen, hatte doch z. 8. schon Amerika mit den Spenden seiner Milliardäre die großen LarnegieRockfeller-Institute für den gleichen nationalen Zweck geschaffen, von den bisher 33 In­ stituten der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft steht ein großer Teil in Vahlem. Es seien genannt: 1. Institut für Chemie (1912). 2. Institut für physikalische Themie und LIektro-Lhemie (1912) (im letzten Kriege die wichtige Zorschungsstätte für Garkampf

gründen; damit ist (Euern Interessen gedient und meinem Dahlemer Kultur«

Programm. Den geeigneten Mann dafür habe ich, Dr. Richter, nun verhandelt Ihr mit ihm und gebt ihm die zur Schaffung einer gediegenen Sache erforder­

lichen Mittel, Ihr habt sie ja!»

Das war der Anfang.

Althoff hatte sich Richters Ideen vortragen lassen

und billigte sie, aber -en Kampf mit der Dahlemkommission um die Aus­ führung und alle (Einzelheiten -er zu schaffen-en Organisation überließ er

Richter völlig; er wußte, daß ein pädagogisches Werk aus einer Persönlichkeit herauswachsen muß, und daß man diese Persönlichkeit nicht einengen darf. Althoff selbst trat in dieser Sache nun für mehr als zwei Iahre in den Hinter­ grund, für zwei Iahre, die von einem unendlich schweren, zähen Ringen

zwischen Richters Ideen und den Interessen und Bedenken der drei betelligten

Staatsverwaltungen (es waren das Landwirtschaftsministerium, das §inanzministerium und die Schulreferenten des Kultusministeriums) erfüllt waren.

Gft waren diese drei Machtfaktoren untereinander uneins, manchmal auch alle drei einmütig gegen gewisse §orderungen Richters, von denen er nicht lassen wollte.

(Es ist für den, der die (Einzelheiten kennt, ein merkwürdiges

Schauspiel, wie Richter, der zu Beginn dieser Kampfjahre ganze 24 Jahre zählte, diesen hohen Staatsbeamten in niederdeutscher Zähigkeit unbeugsam

gegenüberstand, obwohl schon damals seine Gesundheit nicht immer zuverlässig war. (Er hat in einem früheren Jahrgang der Dahlemer Blätter dieses Ringen,

das mehr als einmal dicht vor einem ergebnislosen (Ende stand, wenigstens andeutungsweise beschrieben, hier wollen wir aus eine Schilderung des ver­ wirrenden Auf und Ab verzichten und nur die große Linie festhalten. Doch

möchten wir — denn das ist bestimmt in Richters Sinne — an dieser Stelle und Gasschuhwesen). 5. Institut für Metallforschungen, als Abteilung des staatlichen Materialprüfungsamtes (1923). 4. Institut für Biologie mit seinen 6 Unterabteilungen (1915). 5. Institut für Fajerstoffchemte (1920). 6. Institut für Silikatforschung (1926). 7. Institut für Biochemie und Tabakforschung. 8. Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (1927). 9. Institut für Zellphgsiologie (1931). 10. Das harnackhous als Wohnhaus für ausländische Forscher und als Klubhaus der Angehörigen der Kaiser Wilhelm-Institute (1928). Außerdem wurden vom Staate noch folgende Sonderinstitute in Dahlem erbaut: das staatliche astronomische Recheninstitut (1912), die staatliche Landes­ anstalt für Wasser-, Boden- und Lufthggiene (1913), das Geheime Preußische Staats­ archiv (1924). Auch dem Fernstehenden vermag diese kurze Aufzählung etwas von dem besonderen Eharakter Dahlems anzudeuten, das noch etwas anderes ist als bloß eine Kolonie vor­ nehmer Landhäuser, schöner Plätze und Anlagen.

nicht ungesagt lassen, daß er an die verständnisvolle, fast väterlich-freund­

schaftliche Hilfe in tiefer Dankbarkeit zurückdenkt, die er in diesen Jahren bei zwei Männern fand, das war Exzellenz Thiel, der längst verstorben ist, aber in vahlemer Namen (Thielallee, Bahnhof Thielplatz) fortlebt, und ganz

besonders Dr. Eberhard Ramm, damals Geheimrat im Landwirtschafts­ ministerium und zugleich „Gutsvorsteher" in Dahlem, nachmals Staats­

sekretär, der noch heute als ältestes Mitglied dem Kuratorium der „Richterschen

Stiftung" angehört. Um was ging es dem Gründer unserer Anstalt? hier mutz man sich der

pädagogisch-geschichtlichen Ausführungen des vorigen Kapitels erinnern, um es voll zu würdigen, wie Dr. Richter — trotz seiner Jugend, die doch gemeinhin

dem Extremen und dem Allerneuesten nachzujagen pflegt — mit sicherem Blick für seelische vauerwerte das Gute der alten Pädagogik mit dem Guten der aufsteigenden neuen Pädagogik zu verbinden strebte, wie recht er daran

getan hat, zeigt die Entwicklung der letzten 25 Jahre, heute stehen wieder weite, und man darf sagen beste pädagogische Kreise auf dem Standpunkt,

der ihm damals vielfach verdacht und als „altmodisch" ausgelegt wurde, und die §olge ist, daß sein Werk im Jubiläumsjahre fast „moderner" und innerlich

lebensfähiger ist als zur Zeit der Gründung.

was war nun Richters Programm? 1. Vie Anstalt sollte möglichst naturnah und jedenfalls fern der großstädtischen Steinwüste liegen, aber doch so, daß die wertvollen Kulturgüter der Stadt himeichend leicht erreichbar waren, um erzieherisch ausgenutzt werden zu können. Immerhin wäre es Richter lieber gewesen, die Domäne Dahlem —

damals freilich noch meilenweites reines Ackerland — wäre noch ein gutes Stück weiter draußen gelegen gewesen, aber die übrigen Vorteile in Dahlem

waren überwiegend.

Und der voraussehbaren künftigen Entwicklung des

Grtes trug er Rechnung durch die Zorderung, die Anstalt müsse an dem Punkte Dahlems erbaut werden, der auch für die späte Zukunft Anschluß an den Dauerwald behalten würde. So geschah es; aber schon dabei waren

Schwierigkeiten zu überwinden. Vas Zorstland, wo wir jetzt wohnen, gehörte

noch nicht zum Gebiet der aufzuteilenden Domäne. Es bedurfte erst einer besonderen Kabinettsorder des Königs, um uns an dieser Stelle die Bau­

erlaubnis zu verschaffen.

Sie kam so spät, daß die Anstalt, die mit ihren

ersten drei Häusern (Zollern, Staufen und Zähringen) eigentlich schon Gstern

1907 eröffnet werden sollte, knapp zu Gstern 1908 fertig wurde. (Vas eigene

Schulhaus wurde sogar erst 1909 vollendet.)

Sodann beanspruchte Richter

für den Heimgarten und die sportlichen Anlagen, darunter die Spielwiese,

ein Gelände von so beträchtlicher Größe, daß er damit Schrecken erregte. Angesichts der hohen Lodenwerte in Dahlem, für die man in der Zukunft

noch eine ganz außerordentliche Steigerung erwartete, war es natürlich kein geringes Dpfer, was damit der vahlemkommission zugemutet wurde. Aber

es wurde gebracht. Endlich betrieb er die Errichtung einer anstaltseigenen

Schwimmanstalt mit Luftbadeplatz am nahen Grunewaldsee.

Zur Ver­

wirklichung dieses Planes verhalf ebenfalls ein persönliches Eingreifen des Königs. 2. Vas pädagogische Herzstück seines Alumnates sollte nach Richters Plan

das deutsch-christliche Familienhaus sein.

Das Rlassenalumnat lehnte er

in jeder Gestalt entschieden ab, sowohl in der Form, wie es durch die alten

Kloster- und Fürstenschulen oder die Kadettenanstalten dargestellt wurde, wie

auch in derjenigen, die er in den Landerziehungsheimen kennengelernt hatte,

wo zwar eine Einteilung in Kameradschaften — ebenfalls „Familie" ge­ nannt — zu finden war, aber keine getrennten Lebensgemeinschaften dieser Kameradschastsgruppen.

Doch auch das getrennte wohnen der Zöglings­

gruppen in je einem Einzelhaus wäre ihm noch nicht genug gewesen, wenn darin ein Lehrer nur als aufsichtsführender „Inspektor" dienststundenweise in die Erscheinung trat, bestenfalls unterstützt durch eine, dem Inspektor nicht

familiär angehörige „Hausdame",

was Richter wollte, war vielmehr in

jedem Einzelhause ein Lehrer-Ehepaar, das seine gesamte Kraft aus warm­

herziger Hingabe an diese Aufgabe seinen Zöglingen widmete und ganz mit ihnen lebte, so daß in anspruchsvollstem Sinne des Wortes „Pflegeeltern"

eine Schar von „Pflegekindern" zu betreuen hatten, und zwar unter Aus­

schaltung aller materiellen Interessen, die bei Prioatpensionen unvermeidlich

eine Rolle spielen. Er brauchte also — um an dieser Stelle zunächst nur von

den Ledürfnissen des Schülerheims zu reden — Männer, die zugleich tüchtige, begeisterte und opferbereite Erzieher waren und dabei als Gattin eine zur

„Hausmutter" geeignete Frau haben mußten. Die Voraussetzung für diesen Plan war selbstverständlich, daß die Möglichkeit gegeben würde, aus einem

großen Kreis von Bewerbern eine sehr sorgfältige, auf gute Menschenkenntnis gestützte Wahl zu treffen, und zwar völlig frei von jeder behördlichen Ein­ engung. Die „fachmännische" Kritik erklärte, selbst unter diesen Ledingungen

werde es nicht gelingen, geeignete Männer und Frauen in genügender Anzahl

zu finden. Richter setzte diesen Unkenrufen seinen unerschütterlichen Glauben an

ideal gesinnte Menschen entgegen, und er vermochte, worauf es ja ankam, diesen Glauben auf die Herren, mit denen er zu verhandeln hatte, zu übertragen.

3. 3m Einzelhause mit seinen traulich-persönlichen Verhältnissen sollte der

Hausvater im kleinen Rahmen ein möglichst großes Maß von Eigenverant­ wortung haben, die ja die (Quelle hingebender Arbeitsfreudigkeit ist.

hier

sollte die eigentliche, individuelle Erziehungsarbeit geleistet werden an Rindern, die freilich sorgsam so ausgesucht werden mußten, daß sie für eine solche, auf

rein seelische Mittel, auf unverbrüchliches gegenseitiges vertrauen abgestellte

Erziehungsart geeignet waren. Auch an diesem Punkte stand Richter also vor einer Menschenfrage, diesmal im Hinblick auf die Zöglinge.

Sollten

§amiliengruppen im deutsch-christlichen Geist gebildet werden, so konnten dafür nur Rinder ausgenommen werden, die die entsprechenden Grundwerte aus ihren Rinderstuben mitbrachten.

Daraus ergab sich von selbst, daß die

Aufnahme von Rnaben jüdischer Herkunft vermieden werden mußte.

Die

Durchführung dieses Grundsatzes, die Richter schwerste Anfeindungen zuzog,

war damals und namentlich später in den Notzeiten des Krieges und der In­ flation keine Kleinigkeit. Der für seine Zwecke als Normalfall erwünschteste

Zöglingstgp mußte, das war Richter klar, das Rind vom Lande, der Sproß der mit ungebrochenen christlich-deutschen und vaterländischen Traditionen erfüllten landsässigen tzamilien sein. Seiner gesamten Werbearbeit gab

Richter diese Richtung.

Der, freilich schief gesehene, Dorwurf einer „un­

liberalen" Aufnahmepolitik schreckte ihn ebensowenig wie der, daß er eine

„Standesschule" schüfe.

Die wütenden gegen ihn gerichteten Presseangriffe

nutzte er geschickt für seine positive Propaganda aus. Er wußte, daß alles

darauf ankam, zunächst einmal einen Stamm von Zöglingen zu schaffen, wie

er ihn haben wollte. Das würde dann nicht nur dem Alumnat, sondern auch der ganzen Schule zugute kommen.

4. So sehr, wie oben gesagt, das familienhafte Einzelhaus das Herzstück

seines pädagogischen Planes bilden sollte, erkannte Richter doch, daß hier nicht alle Aufgaben gelöst werden konnten. Gewisse erzieherische Leistungen

innerer und äußerer Art, als sinnfälligstes Beispiel sei eine intensive Pflege

des Sportes genannt, können nur in einer größeren Gemeinschaft vollbracht

werden. Deshalb wollte Richter eine ganze Reihe von Einzel-Zamilienalumnaten zu einer lebendigen, von einem Geist getragenen Gemeinschaft in §orm

einer geschlossenen Siedelung zusammenfassen.

Diesem Plan wurde von sehr angesehenen Theoretikern des Alumnats­

wesens entgegengehalten, daß in einer solchen Siedelung, insbesondere wegen der tätigen Mitarbeit der Gattinnen der Hausväter, sehr bald ein Krieg aller

gegen alle entbrennen würde. Richter aber liefe sich in seiner Zuversicht nicht erschüttern, sondern erwiderte, es werde alles auf die Auswahl der richtigen

Menschen ankommen, des richtigen Leiters und der richtigen Hauseltern. Im übrigen liefee sich auch organisatorisch manches tun, um drohende Reibungs­

flächen zu beseitigen. Zu diesen äufeerlichen und doch sehr wichtigen Mafenahmen gehörte z. B. die Einrichtung einer Zentralküche, aus der die einzelnen

Zamilientische gleichmäfeig versorgt werden sollten.

Vie günstigen folgen

einer solchen Einrichtung würden sein — und sind tatsächlich geworden — die

sichere Kontrolle der Gberleitung über die Verpflegung, völlige Ausschaltung der berechtigten oder unberechtigten Behauptung der Jungen, das Essen sei

verschieden gut in den Einzelhäusern, und endlich als wichtigstes, die Ent­ lastung der Hausmütter von Mrtschaftssorgen zugunsten ihrer erzieherischen Aufgaben, wodurch dann auch die Auswahl der Hauselternpaare erleichtert

sein würde. 5. Die Schule und das Alumnat sollten eine organische Einheit bilden, äufeerlich und innerlich. Schon dafe das Schulgebäude räumlich unmittelbar

an das heim, das seinerseits an den Dauerwald gebunden war, grenzen sollte, war eine Forderung Richters, die er erkämpfen mufete, denn dem Interesse der künftigen Einwohnerschaft des Drtes hätte es selbstverständlich mehr entsprochen, wenn die Schule im Zentrum Dahlems erbaut worden

wäre. Auch bei der Ausarbeitung des Bauprogramms für das Schulgebäude

und der Auswahl unter den eingegangenen Entwürfen beanspruchte und erhielt Richter gewichtigen Linflufe mit dem Ergebnis, dafe der Plan der

Gebrüder Hennings zur Ausführung kam, der am stärksten den gewünschten

ländlichen Lharakter trug. Aber Lage und Gestalt des Schulhauses waren, wenn auch nicht ganz unwichtig, so doch Aufeerlichkeiten. 6. Der Kernpunkt aber, um den Richter die schwersten, den gesamten Plan

um Haaresbreite zum Scheitern bringende Kämpfe führte, war der innere

Eharakter der Unterrichtsanstalt. Damit meinte er nicht in erster Linie den

Lehrplan.

Die konservative Grundeinstellung seines erzieherischen Wollens

mufete ihn zum Freunde des humanistischen Gymnasiums machen. Im übrigen war es, wollte man insbesondere die Söhne der ländlichen Grundbesitzer für

das heim heranziehen, in jenen Zeiten auch selbstverständlich, dafe dieser

Lehrplan gewählt werden mutzte, denn er galt traditionsgemätz damals noch

als der einzig „standesgemätze". weit wichtiger noch als der Lehrplan schien

Richter für den inneren wert der Schule allerdings eine andere Zrage zu sein. Er war sich dessen bewutzt, datz die erzieherische und wissenschaftliche Leistung und das „pädagogische Klima" einer Schule in unbedingt erster Linie ab­

hängig ist von den Menschen, die in der Virektorstube, auf den Lehrstühlen

und auf den Schulbänken sitzen. Wohl war, wie im vorigen Kapitel aus­ geführt wurde, der Lehrer in jener Zeit ganz allgemein schon jugendnäher

geworden, als in den Jahrzehnten zuvor. Aber das genügte Richter noch nicht.

An der Vahlemer Schule sollten nur solche Lehrer tätig sein, denen Er­ ziehung und Unterricht dermatzen Herzenssache wäre, datz sie am liebsten

ihr ganzes Leben mit der Jugend teilen möchten.

Dafür aber war allein

Gewähr gegeben, wenn bei jeder Berufung eines Lehrers an das vahlemer

Gymnasium zur Vorbedingung gemacht wurde, datz er nach Befähigung und Neigung auch für das Hausväteramt geeignet sei. Line Lehrerauswahl nach

solchem Gesichtspunkt aber konnte nicht von irgendeiner autzenstehenden Stelle getroffen werden, sondern nur von der Heimleitung, späterhin selbst­ verständlich in engster Fühlungnahme mit dem künftigen Gymnasialdirektor. Diese Forderung Richters nach matzgebendem Einflutz auf die Ltellenbesetzung

entsprang also, das ist scharf zu betonen, nicht dem Gedanken, datz das Alumnat

über die Gründungszeit hinaus eine Art „Primat" über die Schule haben

sollte, sondern der Erkenntnis, datz nur auf diesem Wege zwei wichtigste Ergebnisse erzielt werden konnten, nämlich erstens die Gewinnung von ausschltetzlich innerlich jugendnahen Lehrern für die Schule, zweitens die innere

Einheit von Schule und heim durch Personalunion zwischen dem Amt des Lehrers und Hausvaters. 7. Richter strebte, trotz der grötzeren Bewegungsfreiheit einer privatschule, nicht diese Rechtsform an, sondern diejenige der Staatsschule, allerdings nur unter der Voraussetzung, datz er auch für eine solche matzgebenden Einflutz

auf die Stellenbesetzung erhalten konnte, so datz ein jugend-freundliches Lehrer­ kollegium und die Möglichkeit der Personalunion zwischen Schule und heim

gewährleistet war. Im übrigen erblickte er grotze Vorzüge der Staatsschulform im folgenden. Eine staatliche Unterrichtsanstalt legt — auch wenn ihre Lehrer

sich der Jugend innerlich verbunden fühlen—dank der Tradition und der obrig­ keitlichen Kontrolle einen strengen Matzstab der Pflichterfüllung und der

soliden Leistung an Lehrer und Schüler an, sie besitzt die Abiturientenprüsungs-

berechtigung (welche damals noch ein Privileg der staatlichen und städtischen

Schulen war), und sie verfügt über einen festen Stamm beamteter, also

lebenslänglich angestellter Lehrkräfte, während an den meisten Prioatanstalten

ein dauernder Durchfluß junger, ost sehr unruhiger Köpfe stattfand. Richter wollte, bei allem herzenswarmen JugendoerstSndnis der Lehrer, das—für eine Staatsschule selbstverständliche — respektvolle Verhältnis des Schülers gegen­

über dem Lehrer gewahrt wissen, wie auch in seinem Alumnat Autorität und

Pietät nach dem Muster der innerlich gesunden Zamilie herrschen sollten. Er lehnte also den in manchen Landerziehungsheimen geübten übertriebenen „Kameradschaftsgeist" ab, der — sehr gegen den Instinkt gesunder Jugend — jeden Gradunterschied zwischen Lehrer und Schüler zu vermischen trachtete, während doch in Wahrheit ein herzliches vertrauen des Zöglings zum Er­

zieher ganz andere Voraussetzungen hat. Damit haben wir Richters Programm in wesentlichen Zügen umrissen und

müssen nun noch — soweit wir das nicht für Einzelheiten vorausgenommen haben — wenigstens in ganz kurzen Zügen schildern, wie es ihm gegen viel­

fältigen widerstand und nach manchen Zwischenlösungsoersuchen schließlich gelang, es vollständig durchzusetzen. Daß ihm dies gelang, kann einen wohl in

Erstaunen setzen, wenn man bedenkt, daß die vahlembehörden, nämlich das Landwirtschasts- und Finanzministerium, als eigenes Interesse doch nur die Schaffung eines Alumnates überhaupt, also irgendeines beliebigen Alum­ nates haben konnten, das ihnen bis auf weiteres als Zubringer von Schülern

dienen konnte für eine Schule, die ihrerseits den Zuzug von Grundstücks­

käufern erleichtern sollte. Ein Alumnat schlechthin aber, dem bei etwas weit­

herziger Aufnahmepolitikinder Nähe Berlins gewiß die erforderliche Schülerzahl

nicht gefehlt haben würde, hätte die vahlemkommission sehr viel billiger und einfacher haben können. Daß trotzdem Richters umfassender, anspruchsvoller und kostspieliger Plan zur Ausführung kam, ist nur daraus zu erklären, daß

der begeisterte und an seine Sache glaubende junge Mann es fertigbrachte, allmählich alle die hohen Herren, mit denen er zu tun hatte, innerlich mit-

zureißen. wir wollen in dieser Festschrift, wie schon oben gesagt, nicht das verwirrende

hin und her des zweieinhalbjährigen Vertragskampfes in zeitlicher Folge

schlldern, so dramatisch sich die Aufzeichnungen Richters darüber lesen, sondern versuchen, die Probleme, um die es sich handelte, kurz und klar heraus­

zuarbeiten.

Line der zu behandelnden Fragen betraf den Rechtscharakter des Alum­

nates. Daß der Landwirtschaftsfiskus den Grund und Loden hergeben und die Alumnatshäuser errichten sollte, war glücklich durchgekämpft und stand

fest. Wer aber sollte das Rechtssubjekt, der Inhaber des Alumnates werden?

Richter wünschte, der preußische Staat solle es sein, und zwar nicht die Unter­ richts- sondern die Landwirtschaftsverwaltung, allerdings unter Bewilligung

weitestgehender Verwaltungsvollmachten an den Leiter.

Zur Erteilung

solcher Vollmachten an Richter und gegebenenfalls an seine Nachfolger wäre man bereit gewesen, aber der Finanzminister erklärte, der Staat könne deshalb nicht „Inhaber" des Alumnates werden, weil das Betriebsrisiko für ihn zu

groß sei. Angesichts der Tatsache, daß fast alle Alumnatstheoretiker erklärten,

Richters Plan sei bezüglich der Mitarbeiterfrage zu ideal gedacht und werde

wahrscheinlich in Kürze zum Zusammenbruch führen, müsse er, der Finanzminister, trotz seines eigenen Vertrauens zu Richters Vorhaben, immerhin mit der Möglichkeit eines schlechten Ausganges rechnen. Der Hinweis Richters

darauf, daß die Einzel-Alumnatshäuser, die er aus pädagogischen Gründen

brauchte, derart seien, daß sie im Fall eines Mißerfolges als prioatoillen ver­ äußert werden könnten, daß also das Risiko des Staates nur gering sei, ent­

kräftete die Sorge des Finanzministers nicht völlig.

Man hielt dem ent­

gegen, das für die inneren Einrichtungen und für die Letriebsführung erforder­ liche Kapital würde im Falle der Lebensunfähigkeit des neuen, noch uner­ probten Alumnatssgstems verloren sein, zum mindesten dieses Kapital könne

daher nicht vom Staate gegeben werden, sondern müsse aus Privathand kommen, die es auf Gewinn und Verlust hergäbe. Richter solle also für diesen

Zweck eine Gesellschaft gründen, und zwar — so war damals die Lage — müsse diese in zwei Wochen fertig sein.

Richter glaubte auf seinen alten

Geldgeber aus dem Teutoburger Walde, der ihm bis dahin durch alle Pro­

jekte und Enttäuschungen hindurch treu geblieben war, zurückgreifen zu können;

aber gerade in diesem kritischen Ausblick versagte sich ihm dieser Mann, weil

er sich anderweitig festgelegt hatte oder hoffnungsmüde geworden war. Trotz der Kürze der Zelt aber gelang es Richter, neue Kapitalisten, die freilich

aus bestimmten Gründen nicht alle ganz seinen Wünschen entsprachen, heran­

zuziehen und mit ihrer Hilfe die „vahlemer Schulgesellschaft m. b. h." zu gründen, deren alleiniger, mit sehr weitgehenden Vollmachten ausgestatteter Leiter er wurde.

Diese damals unvermeidliche Lösung befriedigte Richter

von vornherein nicht, es schien ihm ein nicht würdiger Zustand zu sein, daß

die Inhaberin seines Alumnates eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung

sein sollte, die ihrer juristischen Natur nach zur Klasse der „Erwerbsgesell-

schaften" zählte. Schon damals reiste in ihm der Entschluß, diese Gesellschaft

so bald wie irgend möglich durch eine gemeinnützige Stiftung zu ersehen. Zreilich standen zwischen diesem Wunsch und seiner sieben Iahre später erfolgten Ausführung ganz große Schwierigkeiten, von denen wir später am gegebenen Drt zu sprechen haben werden.

So war die vorläufige Rechtsform für die Schülerheim-Siedelung gegeben,

wie aber sollte die Schule rechtlich gestaltet werden? Theoretisch standen

zwei Tgpen zur Verfügung, und zwar, wie alle an den Verhandlungen Be­ teiligten lange Zeit glaubten, nur diese zwei Tgpen, nämlich entweder ein „Königliches Gymnasium", also eine Anstalt, die in jeder Hinsicht allein vom Kultusminister bzw. vom provinzialschulkollegium abhängig war, oder ein

prioatgymnasium, das nur unter einer gewissen Aufsicht der Unterrichtsver­

waltung stand, in allen inneren Angelegenheiten aber stet war. va Richter,

wollte er sein Programm nicht völlig verfälschen, mit Zähigkeit an zwei Forderungen festhalten mußte, nämlich der Einheit von Schule und Alumnat

(Personalunion zwischen Lehr- und Hausvateramt) sowie dem maßgebenden Einfluß der Alumnatsleitung auf die Wahl des gesamten Lehrkörpers, so schien zunächst nur der Typ des privatggmnasiums in §rage zu kommenJ). Vas für ein Kgl. Gymnasium zuständige provinzialschulkollegium hätte nämlich nach damaligen Begriffen niemals die Lehrerwahl aus der Hand geben können

zugunsten irgendeiner anderen Stelle, am wenigsten zugunsten einer minde­ stens der §orm nach privaten Gesellschaft.

Das provinzialschulkollegium

selbst aber hätte, da es die Besetzung der Lehrerstellen an königlichen Anstalten nach ganz anderen Gesichtspunkten vornahm, niemals die Gewähr dafür

bieten können, daß nach Dahlem nur Lehrkräfte kamen, die erstens tüchtige und jugendverbundene Lehrer waren, zweitens Eignung und innere Neigung zum Hausvateramt hatten und drittens in der Weise verheiratet waren, daß ihre

Eheftau zur „Hausmutter" im Alumnat paßte. Das provinzialschulkollegium hatte sogar dagegen Bedenken, den Lehrern eines Kgl. Gymnasiums grund­

sätzlich und im voraus auch nur die Erlaubnis zur „nebenamtlichen" Betäti­ gung im Alumnat zu geben, war also ein Königliches, vom provinzialschul*) Das drückte sich auch darin aus, daß in der Satzung der Dahlemer Lchulgesellschaft m. b. H. als Zweckbestimmung angegeben wurde: „Betrieb einer höheren Lehranstalt mit Internat."

kollegium nach dessen normalen Grundsätzen allein beherrschtes Gymnasium

mit Richters Grundforderungen unvereinbar, so erhob sich die Frage, ob man

ein prioatggmnasium juristisch so gestalten könne, wie es für die Zwecke aller Beteiligten nötig war. Einheit zwischen Schule und heim, sowie souveräne Beherrschung der Personalien waren in dem Falle ohne weiteres gegeben, wenn die Dahlemer Schulgesellschaft sowohl Inhaberin des Alumnates wie

des alsdann privaten Schulbetriebes wurde. Es war aber, damit eine Auswahl­

lehrerschaft herangezogen werden konnte, ferner nötig, datz den Lehrkräften lebenslängliche Stellungen mit beamtengleichen Sicherungen für Gehalt und Ruhegehalt geboten werden konnten.

Dieses Ziel vermochte eine privat-

gesellschast ihrer Natur nach nicht aus eigener Kraft sicherzustellen, doch konnte

es dann erreicht werden, wenn der vahlemfiskus sich entschloß, alle diese Bezüge der Gesellschaft und damit mittelbar ihrer Angestellten zu garan­

tieren. Die ganze Schule ging dann tatsächlich auf Kosten des vahlemfiskus,

und sie war nur der Form nach eine Privatschule der Schulgesellschaft. Es gelang Richter wirklich, die Zustimmung der Dahlembehörden zu dieser als prioatschule getarnten domänenfiskalischen Schule zu erlangen; und die

Anstalt wäre in dieser Form ins Leben getreten, hätte der Kultusminister

nicht erklärt, selbst dieser Privatschule könne er, obschon er anerkenne, daß

sie nur formell eine solche sei, nicht die Berechtigung zur Abiturientenprüfung geben, denn er müsse es vermeiden, sich einen in seinen Folgen unabsehbaren

Präzedenzfall zu schaffen. (Später nach dem Kriege nahm die Unterrichts­ verwaltung in dieser groge einen ganz anderen, die prioatschulen begünsti-

genden Standpunkt ein.) Das war ein tödlicher Schlag für unser Projekt der privat getarnten fiskalischen Schule, denn die Berechtigung zum Abiturium

konnte man selbstverständlich nicht entbehren. Es schien nun, es werde nichts anderes übrig bleiben, als die Errichtung eines normalen Königlichen Gym­

nasiums und eines davon völlig getrennten Alumnates.

Das aber wäre

weder ein Schülerheim nach Richters Programm geworden, noch ein Ggmnasium mit den gewünschten Lehrern. Richter erklärte, lieber völlig zurück­ treten zu wollen, als durch dieses Kaudinische Joch zu gehen, wie stark die

Dahlembehörden schon unter dem Einfluß von Richters Ideen standen, zeigt sich darin, daß sie ihn in diesem kritischen Augenblick nicht fallen ließen, sondern dem folgenden Vorschlag zustimmten, den er selbst als eine Notlösung empfand

und bezeichnete.

Die Schulgesellschaft sollte hiernach Inhaberin des Alum­

nates und auch eines im obigen Sinn als Prioatschule getarnten domänen-

fiskalischen Gymnasiums werden, aber diese Schule sollte nur von Sexta bis

Untersekunda reichen.

Darauf sollte dann, damit auf diesem Umwege die

unentbehrliche Abiturberechtigung erreicht werde, ein Kgl. Ggmnasium nur mit den Klassen von Gbersekunda bis Gberprima gesetzt werden. In diesem

Gberggmnasium würden also Lehrer, die das provinzialschulkollegium allein aussuchte, und die weder alumnatsfreundlich gesinnt zu sein brauchten, noch

für eine „nebenamtliche" Tätigkeit im heim überhaupt in Frage kamen, den Unterricht übernehmen. So erstaunlich es ist, diese organisatorische Mißgeburt

wurde nach unendlich schwierigen Verhandlungen wirklich zum Gegenstand eines rechtsgültig abgeschlossenen Vertrages zwischen den vahlembehörden und der Schulgesellschaft. Und nachdem schließlich auch die drei Minister und der König die erforderlichen Genehmigungen des Vertrages erteilt hatten,

begann man auf dieser Grundlage alle Vorarbeiten zur Errichtung der Lauten für Schule und heim.

Aber wirklich beftiedigt war keiner -er Beteiligten

durch diese Lösung, und in den Presseoeröffentlichungen über die kommende

Anstalt überging man geflissentlich diesen konstruktiven Schönheitsfehler mit Schweigen. Als nun aber gar die Räte des Kultusministeriums erklärten, die

beiden Schulteile könnten keinen gemeinsamen virektor erhalten, und die Schüler -er „Privatschule" müßten beim Übergang auf das Kgl. Dberggmnasium eine Aufnahmeprüfung machen, packte den Vertreter des Finanzministeriums

in der vahlemkommission die Verzweiflung, und er beantragte, man müsse den mit Richters Gesellschaft geschlossenen Vertrag „umstoßen", ein normales

Kgl. Ggmnasium von Sexta bis Gberprima errichten und daneben, völlig getrennt, ein Alumnat. Vas sei zwar etwas gänzlich anderes, als was Richter

gewollt habe, aber er müsse eben auf seine Ideale verzichten oder überhaupt verschwinden,' die Interessen der vahlemkommission vertrügen keine andere

Lösung. Richter erwiderte darauf dem Sinne nach: „Vas ginge wohl, Herr Geheimrat — wenn es kein Kammergericht gäbe in Berlin!" Aber er be­

schränkte sich in dieser völlig verfahrenen Lage nicht auf das Neinsagen,

sondern schlug dem Vorsitzenden der vahlemkommission, Exzellenz Thiel, vor,

mit ihm nochmals zu Althoff zu gehen und diesem überragenden Manne per­

sönlich die Schwierigkeiten oorzutragen, nachdem der Vertreter des Finanz­ ministeriums erklärt hatte, seine versuche, die Referenten des Kultusmini­

steriums in irgendeinem Punkte nachgiebig zu machen, seien völlig vergeblich gewesen. Althoff empfing beide Herren, und binnen einer Stunde war eine

Lösung gefunden, die alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumte. Es wurde

weder ein „königliches" Ggmnasium errichtet noch ein getarntes privat-

ggmnasium, sondern folgender Plan erdacht.

Oer Landwirtschastsminister

sei, so führten Thiel und Richter aus, vertreten durch seinen Geheimrat Dr. Ramm „Gutsvorsteher" des fiskalischen Gutsbezirks Dahlem. Ein Guts­

bezirk sei nun zwar keine „Gemeinde", er könne aber in Rechtsanalogie als eine solche behandelt werden. Eine „Gemeinde" aber könne ein gemeind­ liches Gymnasium (int Normalfall ein „Städtisches" Gymnasium) errichten

und habe dabei das vorschlagsrecht für die Besetzung der virektorstelle und der Lehrerstellen.

Also könne der vomänenfiskus in seiner Eigenschaft als

Gutsoorsteher in vahlem ein quasi-städtisches Gymnasium errichten, und

der Landwirtschaftsminister könne zwar nicht die Schulgesellschast, wohl aber Dr. Johannes Richter für seine Person mit der tatsächlichen Bearbeitung der Patronaisgeschäfte, insbesondere mit den Vorschlägen für die Stellenbesetzung

beauftragen, die Richter dann im Sinne seines Programms machen könne. Althoff stimmte über die Bedenken seiner Räte hinweg dieser sehr eigen­ artigen und juristisch reichlich kühnen Lösung zu und genehmigte ferner im

voraus die „nebenamtliche" Beschäftigung der Lehrer dieses Gymnasiums im

Alumnatsdienst. Damit war alles erreicht, ein Alumnat innerlich und äußer­ lich so organisiert, wie es Richter wollte, und in pädagogischer Einheit damit ein mit allen Berechtigungen ausgestattetes „öffentliches" Gymnasium mit

der Jugend aufgeschlossenen Lehrern von Beamteneigenschaft.

Das war die Schulorganisation, die Richters eigentlichen, von vornherein gehegten, aber lange Zeit unerreichbar scheinenden wünschen entsprach. Rur der „juristische Dreh" war erst zuletzt in höchster Rot gefunden.

Ein neuer

Vertrag in diesem Sinne war in wenigen Wochen fertiggestellt und genehmigt.

Und nun konnte, während draußen die Maurer schon längst tätig waren»

Richter in seiner doppelten Eigenschaft als patronatsbeoollmächtigter des Landwirtschastsministeriums für das domänenfiskalische Arndtgymnasium und als Leiter der „vahlemer Schulgesellschaft" ans Werk gehen, das heißt

für die Gewinnung der ersten Lehrer und der ersten Zöglinge Sorge tragen. Aus der Sülle der sich aus allen Teilen Deutschlands zur Mitarbeit meldenden

Lehrer suchte er auf zahlreichen Reisen die ihm ant meisten geeignet erscheinen­ den aus, vor allem aber galt seine Sorge natürlich der Gewinnung eines

hervorragenden Gymnasialdirektors.

Wohl waren die gesinnungsmäßigen

und pädagogischen Grundlinien auch für die Unterrichtsanstalt nun bereits festgelegt und der Charakter der erstrebten, besonders jugendnahen Schule

durch die Art -er Lehrerberufung für den Anfang und für später gewährleistet, also, um bildlich zu reden, der pädagogische Orgelbau war fertig, nun aber

mutzte der Mann kommen, der imstande war, dieses Instrument meisterhaft zu spielen und ihm im Laufe der Entwicklung immer neue klingende Register

hinzuzufügen.

Viesen Mann fand Richter, von Geheimrat Mathias, dem

angesehensten Pädagogen des Kultusministeriums, aufs glücklichste beraten, in Dr. Martin Klemmer.

Seine starke Verbundenheit mit den Ziagen der

Jnternatrerziehung, denen er als Leiter des evangelischen paulinums in Posen acht Jahre praktischer Arbeit gewidmet hatte, seine Liebe für das

Leben auf der ländlichen Scholle, dem auch seine heimatkundlichen Studien

galten, sein unerschütterlicher Gottesglaube, alle diese Erfahrungen, Nei­

gungen und Eigenschaften waren verheitzungsvolle Voraussetzungen für den

virektor einer Schule, die in Ernst Moritz Arndt ihren Ramenstrager sehen wollte.

vatz gerade Ernst Moritz Arndt zum „Schutzpatron" -er Schule erwählt

wurde» war äutzerlich gesehen das Ergebnis eines glücklichen Augenblicks­ einfalles.

Vie Absicht, -em „vahlemer Gymnasium" einen besonderen

Namen zu geben, bestand ursprünglich nicht.

Im Verlauf einer Sitzung im

Landwirtschaftsministerium gab einer der Herren die Anregung dazu, und man fragte Richter, welchen Namen er vorschlüge,

va machte er, ganz aus

dem Stegreif, den Vorschlag, Ernst Moritz Arndt zum Paten zu nehmen, und fügte eine kurze Begründung hinzu. Der Gedanke fand allgemeine Billigung, und in das Protokoll wurde ausgenommen „Vas Arndt-Gymnasium zu Dahlem".

Der Chronist aber mutz noch einen Augenblick bei diesem Einfall

aus dem Stegreif verweilen, denn er hat innere Notwendigkeit an sich, hier schuf sich der unbewutzte pädagogische Wunsch mit einem Schlage seinen

symbolischen Ausdruck. Er verdichtete und veranschaulichte in diesem Namen deutlicher als in langen grundsätzlichen Ausführungen, was man eigentlich

wollte. Und nur wer eine schwere Zeit die Idee einer Sache durch alle Winkel

und Stimmungen seiner Seele geschleift hat, dem wird so ein erlösendes Wort geschenkt.

Der Name Arndt bezeichnete einmal den Jungenschlag, den man

sich wünschte. Es sollten Landkinder sein, die von ftüh an verwurzelt waren

in allem erdhaften Geschehen und sicher in jenen Elementarerfahrungen des Lebens ruhten, die weder durch die Weisheit des Luches noch durch grotzstädtische Aufgewecktheit ersetzt werden können.

Er drückte zum andern ein

Bekenntnis aus zur Erziehungsmacht der §amilie.

Sie war für Arndt die

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Urform aller Pädagogik, die durch kein ausgeklügeltes System ersetzbar war, sondern in jeder pädagogischen Organisation immer wieder nachgeahmt werden mutzte.

(Et sah in der Mutter „das Bild des Seins", im Vater „das

Bild -es wirkens" und sagte von beiden: „Durch die Verbindung dieser Gegensätze wird die Wett, so wird der Mensch." Solche Beziehungen zu Arndt zu verspüren, lag im Jahre 1908 weniger nahe als heute.

Denn es war die

Zeit, wo man alle menschlichen Dinge von -er Stadt aus dachte und planen wollte. Das Land stand im Schatten der Stadt. Sein Dasein erschien zurück­

geblieben, etwas hinterwäldlerisch.

Arndts Bemerkungen über den Wesens­

unterschied von Stadt und Land empfand man als unwichtig, und seine

Mahnungen an den Staat rochen nach Rückständigkeit,

heute aber sind wir

bereit, uns ernstlich etwas darunter vorzustellen, wenn er dem Staate rät,

er müsse immer „drei viertel (Erde als Ballast erhalten", als Gegengewicht zum städtischen Geist „des wandelbaren und Neusichtigen".

Mochte er um

1908 gern gerühmt werden „als treudeutscher Mann", in den hohen Stegen

des Geistes hielt man ihn doch nur für zweitklassig, heute ist er noch etwas mehr als dieses. (Er ist ein Kündet von den ewigen menschlichen Grünungen,

die ein Volk nicht verlassen darf» wenn sein Leben als Ganzes nicht in Gefahr kommen soll.

Zlugzeugbild dec Anstalt Jm Docdergrunde links das Zchulhaus, Im Walde die tzelmhduser

Die klusbaujcchre von 1908 bis 1913 Als Gstern 1908 heranrückte, waren die drei ersten Heimhäuser fertiggestellt.

30 Zöglinge zogen mit Beginn des Schuljahres ein. Sie wurden die Pflege­ kinder des Kurators in Haus Staufen und des Oberlehrers Dr. Goehe in Haus Zollern.

Diese beiden Manner schufen nun in herzlicher Verbundenheit und

frischer Begeisterung die ersten richtunggebenden Traditionen -es Heimlebens. — So verlockend es sein möchte, hiervon ausführlicher zu erzählen, so könnte doch nur eine Wiederholung dessen gegeben werden, was im „Hauptbericht"

-er Richterschen Stiftung in grundsätzlichen Ausführungen für jedermann zugänglich dargelegt ist. 3n ihm findet man auch eine eingehende Beschrei­ bung der^ Heimhäuser nach Anlage und Einrichtung und einen Anhang mit

über 100 Bildern aus dem Anstaltsleben. als Ergänzung verwiesen werden. —

Auf den Bericht mutz daher hier

Schon bis zum herbst des Jahres 1908 war die Zahl -er Anmeldungen

so gestiegen, datz auch Haus Zähringen unter Oberlehrer Genhen eröffnet werden konnte.

Gleichzeitig befanden sich, so zuversichtlich sah der Kurator

der Zukunst entgegen, schon die Häuser Wittelsbach und wettin im Bau1).

Das stolze Schulgebäude, dessen Vollendung erst übers Jahr zu erwarten war,

stand Ostern 1908 noch als mächtiger Torso dar. vielleicht werden die anrückenden jungen Bewohner das damals nicht ohne

Befriedigung wahrgenommen haben.

Sie waren alle in jenem herzhaften

Jungenalter, die ältesten waren Obertertianer, wo man den Unterricht für eine störende Unterbrechung der kindlichen Spielwelt hält.

Und zu spielen

war hier herrlich. Alles war noch im Werden und lockte die jugendliche phan*)