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German Pages 506 [542] Year 1985
1935 New York 1937
Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
1935 NewYork 1937 Reden und Dokumente der Schriftstellerkongresse Herausgegeben und eingeleitet von Eberhard Brüning
Akademie-Verlag • Berlin 1984
Übersetzer: Helmut T. Heinrich (Kongreß 1935:2, 4, 5, 6, 8, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20,21, 22, 23, 25, 26, 27, 29, 30. Kongreß 1937: 1 - 7 , 9 - 1 8 . ) Eva Plietzsch (Kongreß 1935: 1, 3, 7, 9, 24, 28) Brigitte Leuschner: Diskussionsbeiträge. Kongreß 1937: 8
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © der deutschsprachigen Ausgabe Akademie-Verlag Berlin 1984 Lizenznummer: 202 • 100/186/1984 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 5820 Bad Langensalza Schutzumschlag: P. Fischer Sternaux Fotos: ADN-Zentralbild und Archiv des Herausgebers Lektor: Alfred Gessler LSV: 8067 Bestellnummer: 754 107 4 (6686) 03200
Inhalt
Einleitung Zu dieser Ausgabe
9 31
1935 Referate 1 Waldo Frank Vom Wert des revolutionären Schriftstellers
37
2 Friedrich Wolf (Ansprache in Amerika)
44
3 Earl Browder Kommunismus und Literatur
47
4 Moishe Nadir Jiddische Sprache und proletarische Literatur
52
5 Langston Hughes Ein Wort an farbige Schriftsteller
55
6 Joseph Freeman Die Tradition der amerikanischen revolutionären Literatur
57
7 Kenneth Burke Revolutionäre Symbolik in Amerika
64
8 Harry F. Ward Die Rolle des Schriftstellers im Kampf gegen den Krieg
71
9 Jack Conroy Der Arbeiter als Schriftsteller
75
10 Edwin Seaver Der proletarische Roman
79
11 Isidor Schneider Proletarische Dichtung
84
12 Edward Dahlberg Der Faschismus und die Schriftsteller
89
13 Eugene Gordon Soziale und politische Probleme des Negerschriftstellers
96
14 John Howard Lawson Künstlerische Technik im Drama
100
15 Michael Blankfort und Nathaniel Buchwald Soziale Tendenzen im modernen Drama
104
16 Mendel LeSueur Proletarische Literatur und der Mittelwesten
110
17 James T. Farrell Die Kurzgeschichte
114
18 Clarence Hathaway Die revolutionäre Presse und der Schriftsteller
124
19 Matthew Josephson Die Rolle des Schriftstellers in der Sowjetunion
126
5
20 Eugene Clay Der Neger in der jüngeren amerikanischen Literatur 21 Joseph North Die Reportage 22 Moissaye J. Olgin Der erste Allunionskongreß sowjetischer Schriftsteller 23 Malcolm Cowley Was die revolutionäre Bewegung für einen Schriftsteller tun kann 24 Granville Hicks Die Dialektik in der Entwicklung der marxistischen Kritik 25 Henry Hart Das heutige Verlagswesen und der revolutionäre Schriftsteller 26 Alexander Trachtenberg Die Veröffentlichung revolutionärer Literatur 27 Louis Aragon Vom Dadaismus zu Rotfront 28 John Dos Passos Der Schriftsteller als Fachmann 29 Henry Hart Einführung 30 Henry Hart Diskussionen und Sitzungsberichte 1935 Diskussionsbeiträge aus New Masses und Partisan
133 141 144 150 156 161 163 165 170 174 182
Review
Edward Dahlberg Waldo Frank und die Linke Matthew Josephson Für eine literarische Einheitsfront Edwin Barry Burgum Zum proletarischen Roman Isidor Schneider Zur proletarischen Lyrik Wallace Phelps und Philip Rahv Zur marxistischen Literaturkritik Newton Arvin Zur marxistischen Literaturkritik James T. Farrell Zur marxistischen Literaturkritik
211 215 220 223 226 236 239
1937 Referate 1 Archibald MacLeish Spanien und die amerikanischen Schriftsteller 2 Donald Ogden Stewart Das abschreckende Beispiel 3 Earl Browder Der Schriftsteller und die Politik
6
245 249 256
4 Ernest Hemingway Der Schriftsteller und der Krieg 5 Kenneth Burke Die Beziehung von Literatur und Wissenschaft 6 Newton Arvin Die demokratische Tradition in der amerikanischen Literatur 7 Benjamin A. Botkin Regionalismus und Kultur 8 Malcolm Cowley Die sieben Krisenjahre 9 Martha Gelhorn Schriftsteller kämpfen in Spanien 10 Frances Winwar Literatur im Faschismus 11 Harry Slochower Die Dialektik der Kultur unter dem Nazismus 12 Carlton Beals Lateinamerikanische Literatur 13 Albert Rhys Williams Milliarden Bücher 14 Henry Hart Die Tragödie der literarischen Verschwendung 15 Eugene Holmes Die gesellschaftlichen Verpflichtungen eines Schriftstellers 16 Granville Hicks Der amerikanische Schriftsteller stellt sich der Zukunft 17 Joseph Freeman Den vierziger Jahren entgegen 18 Henry Hart Diskussionen und Sitzungsberichte
260 263 271 277 287 296 298 305 309 316 319 328 332 341 355
Programme der Schriftstellerkongresse 1935 Vorwort zu „American Writers Congress" New York 1935 Brief Friedrich Wolfs 1937 1939 1941
397 399 400 404 409 419
Anhang Anmerkungen Biographische Erläuterungen Personenregister
425 463 477
7
Einleitung
Je größer der historische Abstand geworden ist, um so deutlicher und eindeutiger markiert sich der singuläre Charakter eines Zeitabschnittes in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, der für den nationalen kulturellen und literarischen Prozeß solche Beinamen wie Red Decade, Rebel Thirties, The Years of Protest, The Years of Political Commitment oder The Years of Social Significance erhalten hat. Etikettierungen dieser Art — gleich welche politisch-ideologischen Nuancen sie unterschwellig zum Ausdruck bringen — lassen zumindest übereinstimmend erkennen, daß der so bezeichnete Epochenabschnitt, die 30er Jahre unseres Jahrhunderts, von einem weltanschaulichen „Ruck nach links", von der Annäherung eines nicht geringen Teiles des geistig-kulturellen Lebens der USA an den Marxismus und die Klassenkampfpositionen der proletarisch-revolutionären Kräfte gekennzeichnet ist. Diese Tatsache ist inzwischen auch von der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung und Kulturkritik akzeptiert worden, nachdem eine Generation lang das gesamte hochinteressante Jahrzehnt unter dem Druck und den Nachwirkungen der McCarthy-Ära als faktisch nicht existent und für jede seriöse akademische Untersuchung als „unberührbar" erklärt worden war. Natürlich „neuentdecken" die bürgerlichen Literatur- und Kulturwissenschaftler die 30er Jahre auf ihre Art und nicht zuletzt mit tatkräftiger Unterstützung der „Erinnerungen" ex-kommunistischer oder ehemals bürgerlichprogressiver Veteranen dieses bewegten und bewegenden Jahrzehnts. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der Literaturprofessor Daniel Aaron mit seiner bereits 1961 erschienenen Untersuchung IVriters ort the Left — ein Buch, das, zwar reich an Faktenmaterial, aber prononciert antikommunistisch und antisowjetisch, noch heute diesseits wie jenseits des Atlantiks an westlichen Universitäten als „StandardNachschlage- und Einführungswerk für die dreißiger Jahre" aus der Hand eines „unglaublich objektiven Kenners der Periode" angepriesen wird. 1 David R. Peck schrieb zu Recht in seinem Aufsatz,.Blütezeit der Apologie' — Die gegenwärtige Neudeutung der Literatur der dreißiger Jahre: „Aaron hat die Mythen über die dreißiger Jahre verewigt. Er hat diese Zeit aus der gleichen formalistischen, antimarxistischen Sicht beurteilt wie die Memoirenschreiber, und seine Schlußfolgerungen sind von derselben Verachtung getragen. Wir sehen uns weiterhin ihren Entstellungen und Verfälschungen gegenüber ohne ein neues Verständnis für die Literatur und die literarischen Aktivitäten dieser einzigartigen Periode." 2 In einem Ausmaß und einer Intensität wie noch nie zuvor bestimmten innenu n d außenpolitische Ereignisse das geistig-intellektuelle Profil einer Berufsgruppe, die im öffentlichen Bewußtsein der USA stets als realitätsfremd, exzentrisch, naiv oder einfach apolitisch fixiert war. Die große Wirtschaftskrise von 1929 bis 1933 mit 9
ihren verheerenden sozialen Folgen bis zum Ende des Jahrzehnts hatte aber vor allem zahlreiche bürgerliche Schriftsteller aus der Illusion vom amerikanischen „Exzeptionalismus", für den ihnen der relative Wohlstand der „goldenen Zwanziger" eine augenfällige Bestätigung erschien, mit Nachdruck in ein neues Bewußtsein, ein neues Beziehungsverhältnis vom Ich zur Gesellschaft geschockt. Matthew Josephson, zeitgenössischer Schriftsteller und Freund Ernest Hemingways, verallgemeinerte im Vorwort zu seinem Erinnerungsbuch über die 30er Jahre (1967) die neue Situation aus der Sicht eines bürgerlich-progressiven Literaten wie folgt: „Wenn man versucht, eine gedrängte Darstellung des Unterschiedes zwischen den 20er und den 30er Jahren zu geben, so würde ich sagen, daß vor dem Oktober 1929 die Amerikaner einfach in den Tag hinein lebten, ohne sich allzuviel Gedanken über die Zukunft zu machen, im Glauben, sie wären die bevorzugten Kinder des Glücks. Aber nach dem ,Großen Zusammenbruch' begann das amerikanische Volk wirklich nachzudenken . . . In Wirklichkeit war die Große Wirtschaftsdepression durchaus nicht depressiv im moralischen Sinne. Die mageren Jahre des New Deal wurden zu einer Periode produktiver Unruhe. Die alten Zentren der Macht waren stark erschüttert worden; neue Möglichkeiten eröffneten sich für jene, die fähig und bereit waren, sie zu ergreifen. In der Tat, die 30er Jahre haben eine außerordentliche Belebung des politischen Denkens gebracht . Selbst jene aus dem Bereich von Literatur und Wissenschaft, die in der Vergangenheit sich nur mit ihren geistigen Spezialdisziplinen beschäftigt hatten, entsagten der Studierstube und engagierten sich in den Kämpfen des gemeinen Mannes." 3 Zudem war die weltweite Ausbreitung des Faschismus, insbesondere sein Machtantritt in Deutschland, und die sich damit verschärfende Gefahr eines erneuten Weltkrieges ein weiteres unübersehbares Signal, das den Blick jedes ehrlichen, um die Wahrheit und den Menschen bemühten Künstlers auf jene Kräfte im In- und Ausland zwang, die in Theorie und Praxis überzeugende Alternativen zu faschistischer Kulturbarbarei und Kriegsbedrohung zu bieten wußten. Das Bekenntnis des namhaften bürgerlichen Autors Malcolm Cowley aus dem Jahre 1935 ist durchaus repräsentativ: „Ich glaube, daß die Interessen meiner eigenen Klasse aufs engste mit denen des Proletariats verbunden sind, und ich glaube ferner, daß Schriftsteller besonders von diesem Bündnis profitieren können." 4 Es war daher nur folgerichtig, daß die ideologischen und ästhetischen Positionen und Erfahrungen gleichgesinnter Schriftsteller des Auslandes sowie deren kollektive literarische und außerliterarische Aktivitäten bei den amerikanischen Schriftstellern mehr und mehr Aufmerksamkeit erregten und an Attraktivität gewannen. Zum ersten Mal in der amerikanischen Literaturentwicklung begriff sich der Schriftsteller als a k t i v e r Teil der i n t e r n a t i o n a l e n Literaturgesellschaft, fühlte er sich eingebettet in ein weltweites Beziehungsgefüge humanistischer und progressiver kultureller Bestrebungen — internationalistisches Denken und Handeln stellten sich ein. Die großen, zum Teil weltumspannenden und bereits seit der zweiten Hälfte 10
der 20er Jahre äußerst wirksamen internationalen Verbände wie die Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller, der Internationale Arbeiter-TheaterBund, die Internationale Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur mit ihren Publikationen, Kongressen, Veranstaltungen und Beratungen wurden nun auch für einen großen Teil der amerikanischen Autoren zu maßgeblichen Orientierungspunkten und Feldern der Mitarbeit. Vor allem die kulturellen und literarischen Vorgänge und Organisationen in der Sowjetunion und in Deutschland fanden ein starkes Interesse in den USA und haben auf wichtige Teilprozesse der kulturellen amerikanischen Szene in den 30er Jahren stimulierend bzw. sogar trendbestimmend gewirkt. Agens und Ferment für diese bemerkenswerte Entwicklung war die kleine Gruppe der seit 1929 in den John Reed Clubs zusammengeschlossenen proletarisch-revolutionären Künstler und Autoren. Gemeinsam mit der vitalen, marxistisch orientierten kulturpolitischen Zeitschrift New Masses gelang es ihr, den durch die gesellschaftliche Situation im In- und Ausland beförderten Radikalisierungs- und Umdenkungsprozeß zu beschleunigen und viele bürgerliche Schriftsteller in die antifaschistische, antimilitaristische und antimonopolkapitalistische Einheits- und Volksfrontpolitik der revolutionären Weltbewegung jener Zeit einzubeziehen. Kein Jahrzehnt in der amerikanischen Geschichte weist eine auch nur annähernd vergleichbare Breite, Fülle und Vielschichtigkeit literarisch-künstlerischen Lebens auf wie die 30er Jahre. Es ist schwer, nicht in eine Aufzählung von Erscheinungsformen zu verfallen, die alle mit dem Prädikat „neu" bzw. „einmalig" für das kulturelle Leben Amerikas zu versehen sind. Allein schon das amerikanische Theater bietet zu dieser Aussage viele beredte Beispiele, wie die das ganze Land umspannende Arbeitertheaterbewegung mit weltweiter Ausstrahlung, das massenwirksame Federal Theatre Project als erstes und einziges staatlich gestütztes Theaterunternehmen in der amerikanischen Geschichte, das professionelle Arbeitertheater Theatre Union und das bürgerlich-progressive Group Theatre, die als kollektiv geleitete, nicht profitorientierte Ensembles im New Yorker Theaterzentrum, aber auch auf Bühnen und improvisierten Spielstätten in vielen Orten der Vereinigten Staaten mit großem Erfolg proletarisch-revolutionäre und sozialkritische Dramatik inszenierten und dabei auch zum Teil neuartige, bislang dem amerikanischen Publikum unbekannte Bühnenformen (Agitprop, Mass Chant und Living Newspaper) anwendeten. Die durch die große Wirtschaftskrise verursachten sozial-ökonomischen Zwänge (besonders die unmittelbare persönliche Existenzbedrohung), das so offenkundig gewordene Versagen des kapitalistischen Systems in allen gesellschaftlichen Bereichen und der Aufschwung der Arbeiterbewegung (einschließlich der Arbeiterkultur) im eigenen Lande sowie die weltpolitischen Ereignisse und deren internationale Auswirkungen lösten eine regelrechte Kettenreaktion im Denken, Fühlen und Handeln der amerikanischen Schriftsteller aus, die zum überwiegenden Teil aus der Mittelklasse stammten. Thesenartig verkürzt läßt sich summieren: Ihr gesamtes intellektuelles Gefüge 11
geriet ins Wanken, und sie wurden zur grundsätzlichen Überprüfung ihres weltanschaulichen Standortes gezwungen. Ihr gleichsam „eiserner" Bestand an Ideen und Vorstellungen, bewährten Klischees, Arbeitsmaterialien und -methoden schien angesichts einer so total veränderten Realität fragwürdig geworden zu sein. Alte Leitbilder brachen zusammen; neue, bisher nicht beachtete oder gar verachtete Adressaten und Zielgruppen für die literarische Produktion wurden „entdeckt", d. h., man fand ein neues Publikum, das zum Teil aus Arbeitern bestand, die sich ihrer historischen Rolle bewußt waren, zum Teil aus desillusionierten Mittelklassenschichten, die das Bündnis mit der Arbeiterklasse suchten. Die Darstellung des Arbeiters und des Arbeitslebens sowie die Gestaltung der Mittelschichten im Zwischenfeld des verschärften Klassen- und Daseinskampfes wurden zum anerkannten und zeitweise sogar dominierenden künstlerischen Problem; die realistische Gesellschaftsanalyse erreichte eine neue Qualität, und die Annäherung an Positionen des sozialistischen Realismus verstärkte sich. Schlagartig und erstaunend erkannten viele bürgerliche Schriftsteller, in welch grenzenloser gesellschaftlicher Isolierung sie sich befunden hatten, und freudig, ja geradezu gierig ergriffen sie die Gelegenheit, aus ihrer Vereinzelung herauszutreten; sie suchten die Gemeinschaft und entwickelten ein vorher nie gekanntes Solidaritätsgefühl, das sie zu vielfaltigen kollektiven Aktionen und Reaktionen veranlaßte, das fast zur modischen Attitüde gewordene „Verlorensein" der sogenannten „Lost Generation" erwies sich als Anachronismus, das ständige Suchen nach dem „belonging", der Zugehörigkeit hatte eine Antwort gefunden. In Anlehnung an jene gesellschaftlichen Kräfte, die über ein historisch begründetes Perspektivbewußtsein verfügten, begannen sie zugleich sich selbst als Teil einer langen progressiven und humanistischen Traditionslinie zu sehen und ein dialektischmaterialistisches Geschichtsbewußtsein zu entwickeln, das ein Gefühl des Stolzes auf die nicht unbeträchtlichen fortschrittlichen Elemente der nationalen Vergangenheit implizierte. Ganz neu war auch im eigenen Bewußtsein des Schriftstellers wie in dem der Öffentlichkeit (bis hin zu den Regierungskreisen) die Erkenntnis über den hohen moralischen und politischen Stellenwert des Schriftstellers und Künstlers innerhalb der nationalen wie internationalen Literaturgesellschaft — Schriftsteller wurden zu „Sprechern der Nation" und als solche empfunden; die amerikanischen Schriftsteller wurden „politisiert". Als Michael Gold, der Nestor der proletarischen Literatur in den USA, auf dem letzten Amerikanischen Schriftstellerkongreß 1941 rückblickend das vorangegangene Jahrzehnt zusammenfaßte, sprach er berechtigt von einer „demokratischen Renaissance" und einer „zweiten Entdeckung Amerikas" durch die Literatur. 5 Sucht man nach historischen Knotenpunkten oder herausragenden Ereignissen, die die spezifischen Wesensmerkmale dieses Jahrzehnts markieren, so stößt man unweigerlich auf die New Yorker Schriftstellerkongresse, von denen wir gleich vorab erneut den Einmaligkeitscharakter für die Vereinigten Staaten hervorheben müssen. 12
Von den insgesamt vier, im jeweiligen Abstand von zwei Jahren durchgeführten nationalen Konferenzen verdienen der Erste Amerikanische Schriftstellerkongreß vom April 1935 und der Zweite Amerikanische Schriftstellerkongreß vom Juni 1937 besondere Beachtung. Beide haben sowohl einen im Rahmen der zeitgenössischen internationalen Anstrengungen zur Bewahrung humanistischer und progressiver kultureller Werte kaum zu überschätzenden Beitrag geliefert als auch einen bis zur Gegenwart hin spürbaren Langzeiteffekt im nationalen Literaturprozeß ausgelöst. Auf beiden Veranstaltungen bestimmten — im wesentlichen von allen Teilnehmern akzeptiert — die revolutionären Kräfte und die Kommunistische Partei unübersehbar Inhalt und Verlauf der Diskussion und der Konferenzaktivitäten, dominierte das marxistische Welt- und Kunstverständnis bei Autoren proletarischer wie bürgerlicher Herkunft gleichermaßen. Diese Feststellung verliert auch nicht an Aussagekraft durch die Tatsache, daß sich schon wenige Jahre später eine ganze Anzahl von zum Teil ehemals recht wortreichen Befürwortern des Fortschritts komplizierteren Situationen nicht gewachsen zeigte, politisch verstummte oder in das Lager des Antikommunismus und Antisowjetismus hinüberwechselte und dabei nicht selten die einstigen ideologischen Bindungen wie eigenen künstlerischen Leistungen zu verleugnen versuchte. Als sich im Dezember 1965 eine Gruppe solcher renommierter Renegaten (Kenneth Burke, Malcolm Cowley, Granville Hicks und William Phillips) unter Leitung des „Moderators" Daniel Aaron zu einer Diskussionsrunde zusammenfand, um nach dreißig Jahren ihre Memories of the First American Writers' Congress aufzufrischen, da mußten sie nolens volens eingestehen: „Zweifelsohne war dieser Kongreß von der Kommunistischen Partei organisiert bzw. initiiert worden. Das Beeindruckende ist natürlich, daß die Kommunistische Partei damals in der Lage war, einen Kongreß zu organisieren, an dem die amerikanischen Schriftsteller so zahlreich teilnahmen und der darüber hinaus von noch viel mehr von ihnen begrüßt und gebilligt wurde . . ,6 Nur die radikale Bewegung, insbesondere die Kommunistische Partei, war überhaupt in der Lage, eine solche große Versammlung von Schriftstellern zu organisieren" (Cowley).7 An dem Ersten Amerikanischen Schriftstellerkongreß im Jahre 1935 nahmen 216 Schriftstellerdelegierte aus 26 amerikanischen Bundesstaaten sowie 150 Schriftsteller als Gäste (unter ihnen Delegierte aus Mexiko, Kuba, Deutschland und Japan) teil. Mehr als viertausend Menschen besuchten die Eröffnungsveranstaltung und bezeugten damit ein öffentliches Interesse an Literatur- und Kulturfragen in einem Ausmaße, von dem am meisten die Schriftsteller selbst überrascht waren. Das außerordentlich Bedeutsame dieses Ereignisses für die amerikanische Situation lag eben darin, daß erstmalig in einem Lande, das in seiner Geschichte keinerlei Bekundung staatlichen Interesses an Kunst und Literatur oder ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Schriftsteller kannte, eine für die Nationalliteratur durchaus repräsentative kollektive Diskussion über Schaffensprobleme, 13
literaturtheoretische Fragen, weltanschauliche Positionen und das Verhältnis zur Gesellschaft unter Autoren unterschiedlicher sozialer Herkunft und verschiedenster literarischer Strömungen und Genres stattfand und sich zudem ein nationaler Schriftstellerverband (League of American Writers) formierte. Der Meinungsaustausch und die Meinungsbildung waren bei der heterogenen Zusammensetzung und den unterschiedlichen Temperamenten der hier erstmals so zahlreich versammelten Autoren trotz weitgehender Übereinstimmung in Grundfragen politischer und sozialer Natur gewiß nicht problemlos, sondern nuancenreich, hin und wieder auch kontrovers, insbesondere bei Einzelfragen der marxistischen Ästhetik und künstlerischen Schaffensmethode. Bestes Beispiel dafür — und das ist vor allem dem Diskussionsprotokoll ablesbar — war die ausführliche und von einigen Teilnehmern sehr engagiert geführte Debatte im Zusammenhang mit Kenneth Burkes Beitrag über die „Revolutionäre Symbolik". Der angesehene linksbürgerliche Literaturkritiker und -theoretiker Kenneth Burke, der sich gerade in den 30er Jahren in starkem Maße um das Beziehungsverhältnis von Kunst und Gesellschaft bemühte, offenbarte in seinem Vortrag allerdings ein gerüttelt Maß an Konfusion und Widersprüchlichkeit — etwa wenn er gleich zu Beginn unterschiedslos und ahistorisch revolutionäre, primitive, religiöse und reaktionäre Symbolik pauschal als „nonsense" abtut und dann aus massenpsychologischen Gründen vorschlägt, „in der Wertskala unserer Symbole statt ,der Arbeiter' lieber ,das Volk' ganz oben rangieren zu lassen". Dies konnte selbstverständlich nicht unwidersprochen bleiben. Natürlich war eine solche Zusammenkunft wie dieser erste Schriftstellerkongreß in den USA nicht spontan zustande gekommen. Eine intensive Vorbereitung war vorangegangen. Die kommunistische Tageszeitung Daily Worker brachte allein in den ersten drei Aprilwochen des Jahres 1935 fünf Beiträge (von Jack Martin, Isidor Schneider, Myra Page, Jacob Kainen und John Woward Lawson) zum angekündigten Kongreß, und das Publikationsorgan des „John Reed Club" von New York, Partisan Review, füllte das April/Mai (1935)-Heft fast ausschließlich mit Meinungsäußerungen vorbereitenden Charakters. Zur Thematik What Is a Proletarian Novel meldeten sich Edwin Seaver, Edwin B. Burgum, Henry Hart und James T. Farrell zu Wort; über Criticism diskutierten Wallace Phelps, Philip Rahv, Newton Arvin, Granville Hicks und Obed Brooks; der Schwerpunkt Poetry fand Widerhall bei Edwin Rolfe, Isidor Schneider, Alfred Hayes, Stanley Burnshaw und Ruth Lechlitner; Horace Gregory nahm Stellung zur Problematik Revolution and the Individual Writer. Insbesondere die um die Mitte der 30er Jahre stark auf die Mittelschichten und die Intelligenz orientierte Wochenschrift New Masses nahm nach ihrer Veröffentlichung des Aufrufs für einen Amerikanischen Schriftstellerkongreß am 22. Januar 1935 jede Möglichkeit wahr, in ihren Spalten die Notwendigkeit und die Ziele eines Kongresses zu propagieren. Dazu dienten ausführliche Buchbesprechungen wie die von Edward Dahlberg über den vielbeachteten Roman The Death and Birth of David Markand aus der Feder des späteren ersten Präsidenten der 14
League of American Writers, Waldo Frank 8 , ebenso wie eine Reihe von längeren Artikeln, die grundsätzliche Fragen der Arbeit des bevorstehenden Kongresses und des zu gründenden Schriftstellerverbandes berührten. So unterstrich Matthew Josephson in seinem Aufsatz For a Literary United Front die „politische Verpflichtung der Schriftsteller angesichts der gegenwärtigen Weltkrise" und forderte ein Minimalprogramm zur Verteidigung der Menschenrechte und Bekämpfung des faschistischen Barbarentums. Dabei komme man an dem Marxismus nicht vorbei, denn „die Philosophie von Marx beeinflußt die Literaturentwicklung umfassend und berührt sie nicht nur oberflächlich oder ephemer. In einer beeindruckenden Weise hat sie gerade jetzt auf eine ganze neue Generation von Schriftstellern stimulierend gewirkt — und zwar nicht nur in Amerika, sondern auch in England und Frankreich." 9 Der afroamerikanische Autor Eugene Clay verdeutlichte in einem anderen Artikel — The Negro Writer and the Congress —, worin er und seine Rassegenossen den Sinn ihrer Beteiligung am Kongreß sahen: „Unsere Hauptanliegen werden darin bestehen, die verzerrten Vorstellungen und Klischees vom Negervolk, die die amerikanische Literatur und das amerikanische Theater beherrschen, zu beseitigen und darauf hinzuwirken, daß eine Literatur entsteht, die das Ringen der schwarzen Massen um ihre Befreiung widerspiegelt. . . Indem wir an diesem Kongreß teilnehmen, wollen wir aber zugleich unseren Anteil leisten beim Kampf gegen den Faschismus." 10 Sehr aufschlußreich sind auch die Überlegungen, die Meridel Le Sueur, eine regionalistische Schriftstellerin aus dem mittleren Westen („gleichsam ein weiblicher Walt Whitman" — Nelson Algren) 11 , beisteuerte. Ihr geht es um die bürgerliche Position der sogenannten Objektivität eines Schriftstellers. Sie fordert, daß der bürgerliche Schriftsteller sich entschieden von der alten, toten Ideologie seiner Klasse freimachen müsse, räumt aber ein, daß es nicht leicht ist, sich in eine neue Klasse, d. h. in das Proletariat, voll zu integrieren. Wolle man jedoch als Künstler neue Wege beschreiten, dann müsse man allerdings diesen Schritt mit ganzer Konsequenz tun. „Der Kunstschaffende", so schreibt sie in ihrem Beitrag (The Fetish of Being Outside), „wird keine neue Formen der Kunst oder Literatur hervorbringen . . ., wenn er nicht willens ist, den ganzen Weg zu gehen . . . Man kann nicht eine Trompete blasen, indfem man sie nur halb ansetzt oder sie auch nur einige Millimeter von den Lippen entfernt hält. Man kann eine Trompete nur dann richtig blasen, wenn man sie vollständig an die Lippen bringt." 12 Kongreß und Organisation leiteten auch eine neue Etappe in der Entwicklung der progressiven Literatur der USA ein. Ihre proletarisch-revolutionäre Phase, mit der „kommunistischen und linken Pioniertätigkeit" (Michael Gold), 13 war hineirigewachsen in eine breite literarische Volksfront. Die zum Teil sektiererische Abkapselung der Arbeiterschriftsteller und auch die gelegentlichen Proletkulttendenzen waren im wesentlichen abgebaut. Bei proletarischen wie bürgerlichprogressiven Schriftstellern hatte sich die Einsicht durchgesetzt, die Merle Colby in seiner Meinungsäußerung zu dem Aufruf für einen Amerikanischen Schriftstellerkongreß so formulierte: „Wir alle wissen, daß es an der Zeit ist, end15
lieh unsere provinzielle, individualistische Isolation ad acta zu legen und unseren Standpunkt als eine Gruppe zu vertreten." 14 Die erfolgreichen Bemühungen um die Überwindung von Provinzialismus und Isolation gingen synchron mit dem Eingliederungsprozeß in den weltweiten antifaschistischen Kampf zur Verteidigung der Kultur. Schon die im Aufruf dargelegten Grundsätze und Zielstellungen für Kongreß und zu gründenden Schriftstellerverband lassen ein klares marxistisch-leninistisches Programm in Übereinstimmung mit jenen der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller erkennen. Hier manifestiert sich durchaus ein Stück internationalistische Gesetzmäßigkeit. Nicht zufällig lagen ja der Erste Amerikanische Schriftstellerkongreß und die Gründung der League zeitlich gesehen zwischen zwei weiteren bedeutenden Ereignissen der progressiven Weltliteratur: dem I. All-Unionskongreß der Sowjetschriftsteller im Herbst 1934 und dem Internationalen Schriftstellerkongreß für die Verteidigung der Kultur vom Juni 1935 in Paris. Deutlich spiegelt sich die Generallinie des I. All-Unionskongresses, auf dem Maxim Gorki die Aufgaben des sozialistischen Realismus entwickelte und die Verbindung der Sowjetschriftsteller mit den progressiven Autoren der ganzen Welt akzentuiert wurde, in den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen des Amerikanischen Schriftstellerkongresses wider. In einem weiteren Vorbereitungsartikel der New Masses (A Task for the Writers' Congress) war bereits von Robert Gessner — einem amerikanischen Teilnehmer am sowjetischen Schriftstellerkongreß — unter der Fragestellung „Was kann der Amerikanische Schriftstellerkongreß, der in Kürze in New York abgehalten wird, von dem jüngsten Sowjetischen Schriftstellerkongreß lernen?" der Hinweis auf die neuen, zur Beratung anstehenden Themenkreise erfolgt: den sozialistischen Realismus, die Bündnisfrage und das Verhältnis zur humanistischen Weltliteratur. 15 Gerade in der Einstellung zur Sowjetunion und zur Sowjetliteratur sowie in der schöpferischen Auseinandersetzung mit ihren Maßstäbe setzenden Werken des sozialistischen Realismus zeigte sich die neue Qualität des internationalistischen Verhaltens amerikanischer Schriftsteller. So gesehen ist es eben signifikant, daß der bürgerliche Autor Matthew Josephson seinen Plenarvortrag The Role of the Soviet Union mit den programmatischen Sätzen eröffnete: „Mir scheint, daß eine Zusammenkunft wie diese, dazu bestimmt, Fragen und Probleme der Zeit in dem Maße zu erörtern, wie sie amerikanische Schriftsteller beeinflussen, dem Beispiel und der Erfahrung Sowjetrußlands zweifellos die größte Aufmerksamkeit widmen muß. Sowjetrußland liefert uns im bestimmten Maße — den Unterschied von Entwicklung, Klima, Vorgeschichte immer zugestanden — einen Vorgeschmack dessen, wie künftige Gesellschaften aussehen können; es legt uns auf anschauliche Weise nahe, welche künftigen Einrichtungen möglich sind, welche Rolle zum Beispiel Schriftsteller darin spielen werden." 16 Und 1937 auf dem Zweiten Amerikanischen Schriftstellerkongreß kommt Granville Hicks, der allerdings gegen Ende des Jahrzehnts zum politischen Renegaten wurde, in seinem Referat The American 16
Writer Faces the Future auf Grund der Analyse der zeitgenössischen Situation zu dem Schluß, „daß der Kommunismus früher oder später in der ganzen Welt begründet werden wird und daß mit seiner Begründung eine neue Ära der Menschheitsgeschichte beginnen wird — ja mit der Gründung der Sowjetunion bereits begonnen hat" 1 7 . Wie sich diese Haltung in bezug auf die Rezeption konkreter Kunstwerke des sozialistischen Realismus ausdrückte, mag ein Beispiel verdeutlichen, das überdies einen Eindruck von dem Stand der marxistischen Literaturkritik in den USA jener Zeit vermittelt. 1934 war im New Yorker Verlag A. Knopf der erste Teil von Michail Scholochows Roman Der stille Don (And Quiet Flows the Don) erschienen. Die amerikanische Schriftstellerin Josephine Herbst, die schon 1930 am II. Internationalen Kongreß der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller in Charkow teilgenommen hatte und zu den Initiatoren des Ersten Amerikanischen Schriftstellerkongresses gehörte, hat diesen Roman den Lesern der New Masses vorgestellt. Herbst kommt ohne Umschweife auf das Wesentliche des Buches zu sprechen und betont, daß es sich keineswegs um einen „Bauernroman" mit exotischem und folkloristischem Anstrich handelt, sondern daß hier höchst eindrucksvoll der Epochenkonflikt gestaltet wird. „Dem außergewöhnlichen Strom von Menschen und Ereignissen", so schreibt die Amerikanerin, „wird Einheit und Gewicht verliehen durch den einen alles durchziehenden roten Faden der keimenden, sich entfaltenden und schließlich kämpferisch voll durchsetzenden Revolution . . . Jeder in unserem Land, der auch nur ein wenig Kontakt mit der Arbeiterbewegung oder den aufbegehrenden Farmern hat, wird feststellen, wie überraschend vertraut und der eigenen Situation angepaßt die Zweifel und die Argumente der Kosaken sind, die angewidert vom Krieg und Verrat ihrer Regierung gerade für die sogenannte Propaganda ein so brennendes Interesse zeigen, das für den bequemen Mittelklassen verstand so schwer verständlich i s t . . . Dieses Buch entspricht im höchsten Maße den Lebensinteressen, den inneren und äußeren Triebkräften unserer Zeit, und wenn ich sage unserer Zeit, so meine ich damit nicht etwa nur das Heute in Sowjetrußland, sondern in jedem anderen Land der Welt auch." 18 Ein weiteres wichtiges Prüffeld für die Reife internationalistischen Denkens und Handelns amerikanischer Schriftsteller dieser Zeit war die Solidarität mit den antifaschistischen Schriftstellern Deutschlands. In der Tat, die Anstrengungen und Erfolge der amerikanischen Berufskollegen waren beträchtlich. So hat ja auch der Erste Amerikanische Schriftstellerkongreß zum ersten Male auf dem Boden einer kapitalistischen Weltmacht d a s große Forum geschaffen, auf dem gemeinsam antifaschistische, bürgerlich-demokratische Schriftsteller der USA und exilierte antifaschistische Schriftsteller Deutschlands die Weltöffentlichkeit mit aller Deutlichkeit auf das faschistische Kulturbarbarentum aufmerksam machen konnten. Allein schon die Tatsache, daß der deutsche Dramatiker Friedrich Wolf als erster Gastdelegierter in New York sprach, dem Kongreß die Grüße des Internationalen Arbeitertheaterbundes und der emigrierten deutschen Schrift2
New York 1935/37
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steller überbrachte und „sich die fünftausend Zuhörer zu einer minutenlangen überwältigenden Kundgebung für die in den Konzentrationslagern und in der Emigration weiterkämpfenden deutschen Schriftsteller" erhoben, 19 spricht für sich selbst. Der aus dem Kongreß hervorgegangene Schriftstellerverband (League of American Writers) widmete gerade der Frage der aktiven Solidarität mit den vom Hitler-Deutschland verfolgten proletarisch-revolutionären wie bürgerlichen Autoren besondere Aufmerksamkeit. Er organisierte „speaking tours" durch die USA u. a. für Friedrich Wolf, F. C. Weiskopf, Alex Wedding und Ludwig Renn, half Autoren bei der Flucht aus Europa und der Einreise in die Vereinigten Staaten. 20 Ein Exiled Writers' Committee gewährte auch finanzielle Unterstützung für in Not geratene Flüchtlinge. Die klare antifaschistische und internationalistische Position des Kongresses ist um so beachtenswerter, wenn man sich vergegenwärtigt, daß um die Mitte der 30er Jahre sowohl die Regierungskreise der USA als auch die von der Großbourgeoisie kontrollierten Massenmedien eine offizielle Stellungnahme in diesem Sinne sorgfaltig vermieden, um jeder möglichen „Verstimmung" der Führung des „Dritten Reiches" und des faschistischen Italien aus dem Wege zu gehen. Immer mehr amerikanische Schriftsteller begannen um die Mitte der 30er Jahre die Dialektik von Nationalem und Internationalem zu begreifen. So wie der erste amerikanische Nobelpreisträger für Literatur — der scharfe Beobachter der gesellschaftlichen Realität und unerbittliche Zeitsatiriker Sinclair Lewis — eben nicht von ungefähr gerade 1935 der Öffentlichkeit seinen Roman It CarCt Happen Here vorlegte, in dem er, beunruhigt durch den Faschismus in Deutschland und Italien und durch faschistoide Erscheinungen in den USA, das Zukunftsbild eines faschistischen Amerika entwarf, um seine Landsleute zu warnen, so zogen auch viele andere bürgerliche Schriftsteller ihre Schlußfolgerungen aus den bedrohlichen Vorgängen außerhalb ihres Landes und gingen nicht selten in scharfer Selbstkritik mit sich ins Gericht. Der Romanautor Edward Dahlberg z. B. beschäftigte sich in seinem Kongreß-Beitrag Fascism and Writers mit den unterschiedlichen Reaktionen bürgerlicher Autoren auf die weltweite Bedrohung der Kultur durch den Faschismus und kam zu der Feststellung, daß nur ein Bündnis mit der Arbeiterklasse eine sichere Investition für die Zukunft sein könne. Mit dem Verweis auf deutsche antifaschistische Schriftsteller, wie Plivier, Neukrantz, Marchwitza, Mühsam, Becher, Heinrich Mann und Brecht, die sich mit dem Proletariat verbündet hatten, forderte er seine amerikanische Schriftstellerkollegen auf, diesem Vorbild zu folgen, d. h. ebenfalls endlich „die Reihen zu schließen" und „festen Fuß zu fassen." 21 In der Tat, Dahlberg war mit dieser Aufforderung durchaus kein einsamer Rufer in der Wüste geblieben. Die Erkenntnis von der aktivierenden gesellschaftlichen Potenz des Schriftstellers und seiner gesellschaftlichen Verantwortung hatte sich durchgesetzt, so daß Friedrich Wolf in seinem Aufsatz Kulturfront in Amerika (1935) feststellen konnte: „Der Erste Amerikanische Schriftstellerkongreß war organisatorisch und ideologisch ein voller Erfolg. Die Einheitsfront 18
aller linken, antifaschistischen Schriftsteller der USA wurde geschmiedet." 22 Nach der faschistischen Machtübernahme in Deutschland und der zunehmenden faschistischen Bedrohung anderer kapitalistischer Staaten in Europa sowie auf Grund der relativ günstigen Wirkungsbedingungen unter der Roosevelt-Administration war den fortschrittlichen Autoren in den USA eine neue Verantwortung und sogar Führungsrolle für die demokratischen Kräfte in den Nationalliteraturen der kapitalistischen Welt zugefallen. Die progressiven und sozialistischen Kulturschaffenden der ganzen Welt blickten Vertrauens- und erwartungsvoll auf die literarisch-kulturelle Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Nicht ohne Grund bemerkte Friedrich Wolf in seiner Begrüßungsansprache auf dem Ersten Amerikanischen Schriftsstellerkongreß: „Ich bin über so viele Meilen hinweg zu Ihnen gekommen, weil wir alle von Ihrem beginnenden großen Fortschritt an der Theater- und Kulturfront gehört haben. Es wurde uns deutlich, daß in der ganzen kapitalistischen Welt die amerikanischen Schriftsteller einer der wichtigsten Vorposten im Kampf gegen Krieg und Faschismus sind, entschlossen, wie unser Kamerad Anatole France sagte, ,das Gewissen der Welt zu sein'." 23 Diese Erwartungshaltung und Zuversicht der progressiven und humanistischen Schriftsteller des Auslands gegenüber ihren amerikanischen Berufskollegen sollte sich in der zweiten Hälfte der 30er Jahre noch verstärken. Das drückt sich sich u. a. überzeugend in Louis Aragons Bericht an den Dritten Amerikanischen Schriftstellerkongreß von 1939 aus. Aragon sprach als Mitglied des Sekretariats der Internationalen Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur, der die League of American Writers affiliiert war, und er unterstrich nachdrücklich die symbolische Bedeutung der Wahl eines amerikanischen Schriftstellers — Theodore Dreisers — zum Präsidenten des Pariser Kongresses von 1938. „Den Schriftstellern", so sagte Aragon, „stehen r - zumindest nicht zur gegenwärtigen Zeit — weder die materiellen Mittel dieser Welt noch die Auszeichnungen, die Regierungen berühmten Männern an die Brust heften, zur Verfügung. Deshalb kann die Ehrung, die sie für geboten hielten, der amerikanischen Literatur in Gestalt Dreisers angedeihen zu lassen, nur die Funktion einer tieferen Bedeutung haben. Sie soll damit zum Ausdruck bringen, daß in der Stunde der größten Bedrängnis der Kultur, in der alles Wahre, alles Schöne, alle echte Größe, ja das menschliche Leben selbst von den ausgemachten Feinden des Geistes und des Fortschritts mit den Füßen getreten werden, die ganze Welt ihre Augen auf das große Land, in dem wir jetzt sind, richten und in ihm eines der wesentlichen Elemente sehen, die den Menschen zur Hoffnung berechtigen, den modernen Ansturm des Barbarentums zu überleben, nicht unterzugehen in dem neuen schwarzen Mittelalter, in dem unheilvolle Flammen dicht bei dicht die Bücher der französischen Enzyklopädisten und des sanften Heine und Tolstois und Walt Whitmans, dessen Poesie den Männern des Hakenkreuzes ein Dorn im Auge ist, verschlingen." 24 Gerade ein so hervorragender Repräsentant der humanistischen Weltliteratur wie Theodore Dreiser ist ein beredtes Beispiel für die neue Qualität gesellschaftlichen Bewußtseins und Engagements amerikanischer Schriftsteller in den 30er 2*
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Jahren. Von seinem Eintreten für die streikenden Bergarbeiter von Harlan County, Kentucky, und der Befürwortung der Kommunisten Foster und Ford als Präsidentschaftskandidaten zu Beginn des Jahrzehnts spannt sich der Bogen bis hin zu seiner Reise nach Barcelona im Jahre 1938 und der dem Präsidenten F. D. Roosevelt persönlich vorgetragenen Bitte um humanitäre Hilfe für die durch die faschistische Aggression notleidende Bevölkerung Spaniens. In einem Brief Dreisers an die in Moskau herausgegebene Zeitschrift International Literature (12/1937) heißt es: „Ich bin dem Roten Marx und dem Roten Rußland zu Dank verpflichtet, und ich glaube schon, daß ich trotz der gegenwärtigen Situation den Sieg der marxistischen Gerechtigkeit auch dort noch erleben werde, wo sich jetzt in Europa, Asien, Afrika und Südamerika die antisozialistischen Kräfte breitmachen und drohend ankündigen . . ," 25 Der spanische revolutionär-demokratische Bürgerkrieg war dann jenes weltpolitische Ereignis der 30er Jahre, das wie kein anderes je zuvor die amerikanischen Schriftsteller zu einem kollektiven Engagement veranlaßte. Das fand seinen überzeugendsten Ausdruck auf dem Zweiten Amerikanischen Schriftstellerkongreß vom Juni des Jahres 1937, der ganz im Zeichen der Vorgänge in Spanien stand und zu einem überwältigenden Bekenntnis zur gerechten Sache des spanischen Volkes wurde. Neue Kräfte, ja selbst Autoren, die bisher als die großen „Einzelgänger" und Gegner jeglicher politischen und kollektiven Aktion galten oder ein solches Image bewußt gefördert hatten, schalteten sich ein und suchten nach einer „auf Vernunft gegründeten Erkenntnis des verbrecherischen Wesens des Faschismus und der Art und Weise, wie man ihm Widerstand leisten kann" (Ernest Hemingway)26. Ein weiteres zentrales Thema des Kongresses, das auch oft in engstem Zusammenhang mit der antifaschistischen Thematik behandelt wurde, war das Verhältnis zum fortschrittlichen, demokratisch-humanistischen Erbe in der Literatur und Kultur. Gerade angesichts des Mißbrauchs und der totalen Negierung demokratischer Traditionen durch die faschistische Ideologie und der Verfolgung und Vertreibung ihrer berühmtesten zeitgenössischen Repräsentanten und Bewahrer durch Hitler-Deutschland und andere faschistisch regierte Staaten wurde die Aufmerksamkeit progressiver amerikanischer Intellektueller und Schriftsteller verstärkt auf das eigene nationale Erbe und die unvergänglichen humanistischen Schätze der Weltkultur gelenkt. Dieser „demokratische Selbstbesinnungsprozeß" war für die progressiven amerikanischen Schriftsteller ein zum Teil komplizierter Vorgang. Er bedeutete Überwindung einer gewissen Enge des Blickfeldes und den Vorstoß zur Erfassung gesamtnationaler und internationaler Entwicklungsrichtungen. Der Beitrag von Newton Arvin The Democratic Tradition in American Letters gibt ebenso ein anschauliches Bild von diesen neuen Bemühungen wie das einleitende Kapitel zum Sammelband der Konferenzmaterialien (The Writer in a Changing World, 1937), das aus der Feder von Joseph Freeman stammt. Sicherlich ist nicht zu übersehen, daß entscheidende Impulse für diese Konferenzthematik in New York von dem Pariser Kongreß zur Verteidigung 20
der Kultur ausgegangen sind, auf dem ja die Diskussion über das kulturelle Erbe einen breiten Raum einnahm. Dort hatte vor allem Johannes R. Becher ausführlich über die Aufnahme des nationalen Erbes und der Errungenschaften der humanistischen Literatur der Welt im Schaffen der sozialistischen Dichter gesprochen und die Lüge widerlegt, daß die mit der Arbeiterklasse verbundenen Schriftsteller das nationale Erbe mißachteten. Die Vorstellung, daß Isolationismus verderbenbringend sei und man den Faschismus überall in der Welt — in Europa wie in Amerika — bekämpfen müsse, gewann an Boden und wurde zum akzeptierten Leitgedanken des Kongresses und der League of American Writers. „Es hat keinen Zweck, sich an die Theorie von der,Demokratie in einem Lande' zu klammern", so formulierte Malcolm Cowley in seinem Beitrag, „denn in Wahrheit wird Demokratie und Bildung nicht nur in Europa, sondern auch hier bei uns zu Hause bedroht." 27 Und Archibald MacLeish, gleich Hemingway ein arrivierter „Neuling" im Kreise der progressiven engagierten Autoren, nannte in seiner bewegenden Rede Spain and American Writers den Spanischen Bürgerkrieg einen Testfall, d. h. den Auftakt zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Fortschritts und der Reaktion. In Spanien werde vom spanischen Volke eine Schlacht für die Bewahrung der Demokratie geschlagen, die auch Amerika zugute komme und deshalb — so wörtlich — „in diesen Krieg, diesen spanischen Krieg auf spanischer Erde, sind wir, die für die Freiheit kämpfenden Schriftsteller, ob wir es wollen oder nicht, selbst verstrickt" 28 . Eine Resolution des Kongresses legte schließlich auch fest, daß Malcolm Cowley — nunmehr einer der Vizepräsidenten der League of American Writers — die amerikanischen Schriftsteller als offizieller Delegierter auf dem Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur im Juli 1937 in Valencia und Madrid repräsentieren und der Volksfront in Spanien „uneingeschränkte und tiefempfundene Unterstützung" zusichern sollte.29 Dieser antifaschistische Tenor, diese Einmütigkeit in der Frage des proletarischen'Internationalismus, die auch nicht durch die Provokationsversuche einer kleinen trotzkistischen Spaltergruppe beeinträchtigt werden konnte, hat Außenstehende immer wieder in Erstaunen versetzt. Sehr bezeichnend heißt es in einem Leitartikel der renommierten amerikanischen Wochenzeitschrift The New Republic wenige Tage nach dem Kongreß: „Es ist für uns einfach ein Wunder; wie Schriftsteller jemals mit Erfolg eine solche Veranstaltung wie ihren Nationalkongreß, der am 6. Juni zu Ende ging, organisieren konnten. Sie sind doch Angehörige einer Berufsgruppe, die aus den denkbar größten Individualisten besteht. Sie sind gewöhnt, in totaler Vereinzelung zu arbeiten; Börsenmakler von der Wall Street sind im Vergleich zu ihnen geradezu rote Kollektivarbeiter . . . Es steckte soviel ernsthaftes Bemühen in diesem Kongreß, so daß er sich zielgerichtet vorwärts bewegte und mit dem gemeinsamen Gefühl endete, daß etwas erreicht wurde . . . Die konkreten Ergebnisse werden sich möglicherweise erst fünf Jahre später einstellen und dann vielleicht auch auf ganz unerwarteten Gebieten. Mittlerweile aber läßt sich als unmittelbares Ergebnis ein Wachstum an beruflicher Solidarität 21
unter den Schriftstellern verzeichnen sowie die Gründung einer neuen Organisation, die sich für die Verwirklichung der Ziele einsetzen wird, die die meisten von ihnen befürworten." 30 Die neue Organisation, von der hier die Rede ist, war die folgerichtige, den neuen Bedingungen angepaßte Weiterführung der alten League of American Writers, deren Namen sie auch beibehielt. Die konsequente Volksfrontpolitik und die vielen schöpferischen Impulse, die vom ersten großen nationalen Schriftstellertreffen ausgegangen waren und sich auf das ganze Land erstreckten (so fanden z. B. bis zum zweiten Kongreß noch drei bedeutende regionale Konferenzen statt: Midwestern Writers' Conference im Frühjahr 1936 in Chicago, der Western Writers' Congress vom November 1936 in San Francisco und die Southwest Writers' Conference vom Mai 1937 in Oklahoma City), hatten die Mitgliederzahl beträchtlich anwachsen lassen und durch die Bildung von Regionalkomitees das Abrücken von einem gewissen New-York-Zentrismus bewirkt. Der Zweite Amerikanische Schriftstellerkongreß hatte zugleich ein Sieben-Punkte-Programm für den Schriftstellerverband angenommen. Darin heißt es an erster Stelle, die League of American Writers setzt sich als „eine nationale kulturelle Organisation" zum Ziel, „Schriftsteller aus allen Teilen der Vereinigten Staaten in ihre Reihen aufzunehmen, die für Frieden und Demokratie und gegen Faschismus und Reaktion sind" 31 . In dem Jahresbericht 1938 des National Council konnte der Exekutivsekretär (Franklin Folsom) bereits auf einen Mitgliederstand von 630 verweisen. Welche Breite und Bedeutung die Arbeit dieser in der Geschichte der Vereinigten Staaten einzigartigen, progressiven Schriftstellervereinigung vor allem gegen Ende der zweiten Hälfte der 30er Jahre annahm, ist schon äußerlich an der Namensliste seines auf dem Dritten Amerikanischen Schriftstellerkongreß von 1939 gewählten Präsidiums ablesbar. Ehrenpräsident der League of American Writers war der damals im amerikanischen Exil lebende Thomas Mann, und dem Präsidenten Donald Ogden Stewart standen als Vizepräsidenten solche namhafte amerikanische Autoren wie Van Wyck Brooks, Louis Bromfield, Malcolm Cowley, Dorothy Canfield Fisher, Ernest Hemingway, Langston Hughes, Georges Seldes, Vincent Sheean, Upton Sinclair und John Steinbeck zur Seite. Sogar der Präsident der Vereinigten Staaten, F. D. Roosevelt, war 1938 Ehrenmitglied der League. Als Donald Ogden Stewart die Ergebnisse des Dritten Amerikanischen Schriftstellerkongresses zusammenfaßte, unterstrich er am Schluß seiner Dokumentation Fighting Words (1940) noch einmal die Verantwortung des Schriftstellers für die Erhaltung und Weiterführung der progressiven und humanistischen Kultur sowie den zutiefst internationalistischen Charakter aller Anstrengungen der amerikanischen Schriftsteller auf diesem Gebiet. Denn, so heißt es, „das Problem ist kein nur nationales. Der amerikanische Schriftsteller ist auch nicht allein. Schriftsteller aijs vielen anderen Ländern führen diesen Kampf gemeinsam; viele sind zu diesem Kongreß gekommen, um ihre Hilfe anzubieten. Thomas Mann aus Deutschland, Eduard Benes aus der Tschechoslowakei, Louis Aragon aus Frankreich, 22
Sylvia Townsend Warner aus England und sogar eine Delegation von den fernen Philippinen. Alle sind gekommen, um Zeugnis abzulegen für die Tatsache, daß die Verteidigung der amerikanischen Kultur synonym ist mit der Verteidigung jeglicher Kultur, und daß der Feind nicht irgendeine Nation ist, sondern ein böser Geist in jeglicher Nation, der versucht, die Stimmen der vielen im Interesse der Stimmen der wenigen zu ertränken. Aber es gibt eine Internationale Armee, und die marschiert vorwärts im Kampf um das Wissen, daß die Verteidigung der Kultur zugleich die Verteidigung der ganzen Menschheit ist." 32 Der Vierte Amerikanische Schriftstellerkongreß von 1941 brachte noch einmal einen Wechsel in der Leitung des Schriftstellerverbandes. Der progressive Kriminalschriftsteller Dashiell Hammett wurde einstimmig zum Präsidenten der League of American Writers gewählt. Er war damit Nachfolger von Donald Ogden Stewart, der nunmehr zusammen mit John Howard Lawson, Meridel Le Sueur, Albert Maitz, Georges Seldes, Erskine Caldwell und Richard Wright als Vizepräsident amtierte. Theodore Dreiser wurde zum Ehrenpräsidenten gewählt und erhielt den Randolph-Bourne-Preis für hervorragende Verdienste im Kampf für eine demokratische Kultur und die Bewahrung des Friedens. Die League of American Writers, die nach dem dritten Kongreß ihren Höchststand von 830 Mitgliedern hatte, konnte allerdings unter den veränderten inneren und äußeren Bedingungen der Kriegsjahre nicht mehr funktionsfähig gehalten werden. In der zweiten Hälfte des Jahres 1942 nahmen die Schwierigkeiten bebeträchtlich zu. So wurde u. a. in dem Congressional Record, der die Proceedings and Debates des 77. Kongresses der USA enthält, von dem Vorsitzenden des House Committee on Un-American Activities (Martin Dies) die Schriftstellervereinigung als kommunististische, regierungsfeindliche Organisation diffamiert und scharf attackiert. 33 Der geplante The Writers Win-the-War Congress mußte abgesagt werden, und die seit 1935 erfolgreich arbeitende und beliebte Writers School für Nachwuchsschriftsteller wurde nicht zuletzt aus finanziellen Gründen im November 1942 liquidiert. Kurze Zeit darauflöste sich die League selbst auf. Wie auch immer die Entwicklung der League of American Writers in den späten 30er Jahren verlief, eines ist unübersehbar, das Programm der League und die Thematik der Schriftstellerkongresse von 1935 und 1937 hatten die entscheidenden Akzente für die Hauptlinien des literarischen Prozesses bis weit in die 40er Jahre hinein gesetzt. Es erfüllte sich das, was Waldo Frank, erster Vorsitzender des amerikanischen Schriftstellerverbandes, in seinem Vorwort zu der Buchveröffentlichung der Kongreßmaterialien von 1935 antizipierte, als er abschließend schrieb: „Der wahre Ertrag dieser Versammlung schöpferischer Kräfte Amerikas wird sich — wenn auch nicht immer vordergründig sichtbar, so doch entscheidend — in den Werken Hunderter von amerikanischen Schriftstellern produktiv niederschlagen und durch sie zu einem bleibenden Erlebnis des amerikanischen Volkes werden." 34 Einige Beispiele mögen diese Feststellung erhärten. Da ist Carl Sandburgs poetisches Bekenntnis zur amerikanischen Arbeiterklasse, der Gedichtband 23
The People, Yes (1936) ebenso zu nennen wie die Living Newspaper Editions des Federal Theatre Project (1936—39), die Klassenkampf- und Streikdramen Waiting for Lefty (1935) von Clifford Odets, Marching Song (1937) von John Howard Lawson und The Cradle Will Rock (1937) von Marc Blitzstein, die Antikriegsstücke Bury the Dead (1936) von Irwin Shaw und Johnny Johnson (1936) von Paul Green oder die auch im Nachkriegseuropa viel gespielten antifaschistischen Dramen Watch on the Rhine (1941) von Lillian Hellman und Tomorrow the World (1943) von James Gow/Arnaud d'Usseau. Die Erzählbände Kneel to the Rising Sun (1935) von Erskine Caldwell, The Way Things Are (1938) von Albert Maitz, Uncle Tom's Children (1938) von Richard Wright und Salute to Spring (1940) von Meridel Le Sueur sind nicht minder Zeugnisse der schöpferischen Weiterführung der großen amerikanischen Tradition sozialistischer realistischer Epik wie die Romane The Big Money (1936) von John Dos Passos, No Paseran! (1937) und Dragon's Harvest (1945) von Upton Sinclair, The Underground Stream (1940) und The Cross and the Arrow (1944) von Albert Maitz, Native Son (1940) von Richard Wright, The Last Frontier (1941) und Freedom Road (1944) von Howard Fast, You Can't Go Home Again (1940) von Thomas Wolfe, Grand Crossing (1943) und The Great Midland (1948) von Alexander Saxton oder The Naked and the Dead (1948) von Norman Mailer. Die künstlerisch reifsten und aussagestärksten Werke von John Steinbeck, der freilich später im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg eine antihumanistische Position bezog, sind gerade mit dieser Zeit und ihren sozial relevanten Problemen verbunden: der Streikroman In Dubios Battie (1936), die tragische Erzählung vom Leben heimatloser, ausgebeuteter Landarbeiter, Of Mice and Men (1937), der Kurzgeschichten-Zyklus The Long Valley (1938) und allem voran das bewegende Epos vom großen Treck expropriierter Farmer Oklahomas nach Kalifornien in den Jahren der großen wirtschaftlichen Depression, The Grapes of Wrath (1939). Gerade der zuletzt genannte Roman fand in der Sowjetunion einen außerordentlich positiven Widerhall. Der Literaturkritiker P. Balasov schrieb 1940: „Steinbeck hat zu den fundamentalen menschlichen Eigenschaften gefunden — dem Gefühl der menschlichen Würde und dem Glauben an die Humanität." 35 Das Erstaunliche und Besondere dieser 30er Jahre ist das neue Verhältnis von Schriftsteller und Gesellschaft, manifestiert nicht nur im Werk einzelner, isoliert existierender Persönlichkeiten, sondern in massenhafter, kollektiver und organisierter Form. Die Literaturwissenschaft hatte tatsächlich aufgehört, sich auch nur den Anschein geben zu wollen, unabhängig und autonom zu sein. Sie hatte für Fortschritt und Humanität plädiert. Zugleich waren die Autoren von der Kontemplation zur Aktion übergegangen. Das eben beunruhigte die reaktionären Kräfte, ließ sie nach immer raffinierteren Wegen suchen, die antifaschistische und demokratische Einheits- und Volksfront der Schriftsteller aufzubrechen und das neugewonnene gesellschaftliche Bewußtsein der amerikanischen Schriftsteller als ein von der Kommunistischen Partei und von Moskau gesteuertes — als im Grund „unamerikanisches" — zu diffamieren. Das beste Beispiel dafür ist Ernest Hemingway. 24
Hemingway, ein Lieblingskind der formalästhetischen bürgerlichen Literaturkritik, der mit seinen frühen Werken ganz der Vorstellung vom großen Einzelgänger und Individualisten, vom illusionslosen, apolitischen, nur ins Schreiben vernarrten Autor-Playboy zu entsprechen schien, war wie kaum ein anderer namhafter bürgerlicher Autor neben ihm als Künstler und Mensch von den politischen Ereignissen und der progressiven literarisch-kulturellen Bewegung dieses Jahrzehnts nachhaltig und dauerhaft beeinflußt und geprägt worden. Er ist zudem ein aussagestarker Beleg für die Vitalität und Originalität der amerikanischen Literatur in den 30er Jahren sowie für die weitreichenden ästhetischen und ideologischen Impulse, die von den ersten beiden amerikanischen Schriftstellerkongressen und der nationalen Schriftstellerorganisation ausgegangen sind. Von der engen Verbundenheit Hemingways mit der League of American Writers zeugt auch die freudig akzeptierte Wahl zu ihrem Vizepräsidenten im Juni 1939,36 nachdem er sich mit großem Bedauern die Teilnahme am Dritten Amerikanischen Schriftstellerkongreß versagt hatte. In einem Brief vom 9. April 1939 an den Sekretär der League, Franklin Folsom, heißt es höchst aufschlußreich: „Ich befinde mich in völliger und begeisterter Übereinstimmung mit den Zielen der League of American Writers ebenso wie mit den Zwecken und Absichten des Kongresses. Dennoch muß ich Sie bitten, mich als Redner und Leiter der Arbeitsgruppe Schöpferisches Gestalten aus dem folgenden Grund zu entschuldigen. Es gibt wirklich nur diesen einen Grund: Ich schreibe gerade an einem Roman, und die einzige Art und Weise, wie ich an einem Roman arbeiten kann, ist eben, daß ich jeden Tag daran schreibe, mit meinen Charakteren und der Handlung lebe und mich nicht von ihnen trenne sowie mich — wenn ich einmal daran sitze von nichts stören lassen darf, bis ich damit zu Ende bin. Den wichtigsten Beitrag, den ich für die amerikanische Literatur leisten kann, und meine Nützlichkeit als amerikanischer Schriftsteller sehe ich darin, einen wirklich guten Roman zu schreiben. Ich weiß aus Erfahrung, daß ich nicht meine Arbeit unterbrechen und dann einfach wieder aufnehmen kann. Andere können das, ich nicht. Es ist wichtig für einen Schriftsteller, seine Schwäche und seine Stärken zu kennen . . . Ich werde gern eine Grußadresse schicken, die auf dem Kongreß verlesen werden kann, und ich darf Ihnen versichern, daß ich liebend gern dabei wäre, um meine Solidarität mit allen jenen, die anwesend sein werden, zu bekunden . . . Bitte nehmen Sie meine besten Wünsche für einen erfolgreichen Verlauf des Kongresses entgegen." 37 Der sowjetische Hemingway-Spezialist I. Kaschkin skizzierte die neue Qualität in Leben und Werk des Autors während des Zeitabschnittes 1936—1939 treffend so: „Belebendes Gefühl einer Aufgabe, die ihm gemäß ist. Ausweg aus der menschlichen, wenn nicht gär schriftstellerischen Vereinsamung. Viele Konventionen und Tabus werden aufgegeben, die Bremsen gelöst." 38 Nicht nur die Tatsache, daß Hemingway nunmehr auch in der marxistischen Zeitschrift New Masses veröffentlichte, sondern vor allem sein literarischer 25
Schaffensprozeß in der zweiten Hälfte der 30er Jahre vermag diese Feststellung eindrucksvoll zu bestätigen. 1936 publizierte er die Erzählung The Snows of Kilimanjaro. Der Held dieses viel gerühmten Meisterwerkes amerikanischer Kurzprosa ist ein im Sterben liegender Schriftsteller, der sich bei der Großwildjagd in der ostafrikanischen Steppe eine Verletzung zugezogen hat. Während er im Gedächtnis noch einmal alles Erlebte und Niedergeschriebene durchgeht, kommt er zu der Schlußfolgerung: „Wenn man nicht dachte, dann war alles fabelhaft. Man war abgebrüht, so daß man nicht auf die Art und Weise in die Brüche ging wie die meisten, und man tat so, als ob man sich nichts aus der Arbeit machte, die man früher getan hatte, jetzt, wo man sie nicht mehr zuwege brachte. Aber zu sich selbst sagte man, daß man über diese Leute schreiben würde, über diese Schwerreichen, daß man nicht wirklich zu ihnen gehörte, daß man als Spion in ihrem Lande war, daß man weggehen und dann darüber schreiben würde und daß es dann endlich von jemand beschrieben würde, der wußte, worüber er schrieb." 39 Diese epische Gestalt Hemingways findet nicht den Weg vom Komfort und Reichtum zur wirklichen Literatur. Ihren inneren Zwiespalt löst der Tod. Aber mit den Lippen des Todes spricht sie noch das Interesse an den großen gesellschaftlichen Themen aus, zu denen sich nun auch der Autor in der zweiten Hälfte der 30er Jahre hinzuwenden begann. Schon der 1937 veröffentlichte Roman To Have and Have Not zeigt an, daß es Hemingway ernst war mit seiner Selbstüberprüfung und daß er gewillt war, einen neuen Weg einzuschlagen. Mag dieser schmale Band auch in manchen Passagen unausgeglichen erscheinen, so vermittelt er doch überzeugend des Verfassers Parteinahme für die „Habenichtse" und zugleich die bedeutsame Erkenntnis, daß der Mensch immer im gesellschaftlichen Bezugsfeld zu seinen Mitmenschen existiert und daß der individualistisch-nihilistische Einzelgänger keine reelle Chance hat, erfolgreich gegen soziale Ungerechtigkeit und Mißstände anzukämpfen. Deshalb ist es auch nur ein kleiner, logischer Schritt von den letzten Worten des sterbenden Harry Morgan dieses Romans — „Ganz egal wie, ein Mann allein hat keine verfluchte Chance nicht" — bis zu jenen Worten des englischen Dichters John Donne, die als Motto und Titel für Hemingways großen Spanienroman For Whom the Bell Tolls (1940) dienen: „Kein Mensch ist eine Insel, allein vollständig: jeder Mensch ist ein Stück des F e s t l a n d s , ein Teil des E r d r e i c h s . . . jedes Menschen T o d verringert mich, weil ich einbezogen bin in die M e n s c h h e i t ; und darum schicke niemals aus, zu erfahren, wem die S t u n d e schlägt; sie schlägt dir." Leicester Hemingway hat in seinem Buch My Brother, Ernest Hemingway (1963) mit großer Sachlichkeit auf diese neue Phase im Schaffensprozeß seines Bruders und auf die zeitgenössischen politischen und sozialen Zusammenhänge aufmerksam gemacht. Er schreibt: „Sein neues Buch (d. h. „Haben und Nichthaben" — Br.), das erste, in dem sich ein Wandel vom bloßen Genießen der Lebenserfahrung zur Rechtfertigung des eigenen Daseins zeigt, war — wie er mir erzählte — in vieler Hinsicht für ihn die wichtigste Erzählung, die er je geschrieben hatte. Denn in der Zeit davor hatte er 26
sich keine Sorgen über das Leben gemacht, solange er nur produktiv tätig sein konnte. Von nun an aber bemühte er sich wirklich ernsthaft um Verständnis der Lebensumstände anderer Menschen. In jenem Sommer (d. h. Juni 1937 — Br.) hatte ef in der Carnegie Hall vor dem Amerikanischen Schriftstellerverband gesprochen und damit das getan, von dem er sagte, es sei ,die einzige politische Rede, die ich jemals zu halten beabsichtige'. Er berichtete darüber, was er in Spanien gesehen und in welcher Weise es ihn innerlich berührt hatte sowie was er zu tun gedachte, um gegen den Faschismus wo auch immer aufzutreten. Das war eine sehr ernsthafte Rede, mit der er auch viel Aufsehen erregte. Ernest war immer dann am überzeugendsten, wenn er einmal eine schwierige Entscheidung gefallt hatte. Von diesem Zeitpunkt an widmete er sich dann ganz der Umsetzung seiner Überzeugungen. Gegen Ende des Sommers, als er wieder zurück in New York war und sich erneut für einen längeren Aufenthalt in Spanien vorbereitete, hatte er ganz allein mehr als 40000 Dollar an Vorschüssen von seinem Verleger und aus anderen Quellen zusammengebracht, die er der spanischen Regierung für die medizinische Hilfe spendete." 40 Die Anteilnahme Hemingways an diesem dramatischen Auftakt zum zweiten Weltkrieg, das persönliche Engagement für die antifaschistischen Kräfte waren in der Tat so etwas wie ein Jungborn, der ihn näher an das Leben, an die großen Probleme der Zeit heranführte und ihn als Künstler bereicherte. Es verblassen die bisher oft dominierenden Züge von Mutlosigkeit, Pessimismus, Zynismus — des „Verlorenseins". Eindeutiger tritt das humanistische Anliegen des Autors hervor. Zum ersten Mal erhielt ein Krieg für ihn einen Sinn, identifizierte er sich mit dem politischen Ziel dieses Kampfes: der Beseitigung des Faschismus — für ihn das Symbol der Inhumanität. „Faschismus ist eine Lüge", so hatte er in seiner Rede The Writer and War auf dem Zweiten Amerikanischen Schriftstellerkongreß gesagt, „wenn er beseitigt ist, wird er keine Geschichte haben, außer der blutigen Geschichte des Mordens." 41 Nachhaltig beeindruckt vom Widerstandswillen des spanischen Volkes und von der opferreichen Solidarität der Internationalen Brigaden, schrieb Hemingway in Madrid sein einziges Theaterstück: The Fifth Column. Als dieses Drama 1938 im Druck erschien, setzte sofort eine regelrechte Verleumdungskampagne gegen den Autor ein. Konservative und Antikommunisten registrierten mit Entsetzen, daß der so hoch gelobte Desillusionierte, Abgebrühte und Unpolitische, der zehn Jahre früher Worte wie „heilig", „ruhmvoll" und „Opfer" als obszön bezeichnet hatte (A Farewell to Arms), nun so unmißverständlich seine Parteinahme für den Fortschritt artikulierte. Und sie reagierten entsprechend. Der einflußreiche bürgerliche Kritiker Edmund Wilson versuchte überdies den Autor geradezu zu entmündigen und beklagte ihn als ein Opfer seiner grenzenlosen Naivität. So schrieb er u. a. in der Zeitschrift The Nation: „Die Kritiker Hemingways wußten wohl kaum, was er für sie bereithielt, als sie ihn vor ein paar Jahren aufforderten, sich doch mehr mit den Kernfragen der Gesellschaft zu beschäftigen. Mr. Hemingway durchlebte eine Periode des tiefen Unwillens, in der er die ,Weltver27
besserer' im Namen seiner Kunst und seiner Hobbys herausforderte und in der er die Unaufrichtigkeit der Pseudoradikalen aufs heftigste verspottete. Dann wurde er von dem Kampf der Loyalisten innerlich gepackt, und die Stalinisten nahmen ihn ins Schlepptau. Die ersten Resultate liegen nun vor . . . Die gegenwärtige politische Aktivität Hemingways hat somit zweifelsohne ihren höchst unglücklichen Aspekt. . ," 42 Dieser Gedanke, daß Hemingway um 1937 in die raffiniert gestellte Falle der Kommunisten gegangen sei und daß damit „unser liebenswerter Vagabund, der größte umherbummelnde Fischer aller Zeiten" 43 Schaden an seiner harmlosen Seele genommen haben könnte, beunruhigte seine amerikanischen Biographen, wie John Atkins, Carlos Baker oder Philip Young, immer wieder aufs neue. Sie möchten ihn gern von diesem „Makel" befreien und tun ihr Möglichstes, um die „linke Phase und die neuerworbene Vorstellung von einer gesellschaftlichen Verantwortung" 44 des Schriftstellers zu bagatellisieren, zu negieren oder zu entstellen. Young spricht davon, daß Hemingway nach seiner „Bekehrung in Spanien" nicht nur „Feuer und Flamme für die ,Loyalisten'" war, sondern auch mit seinem „Manifest", der „Abschlußbotschaft" Harry Morgans, dem Roman „Haben und Nichthaben" das Rückgrat brach, „so wie er auch nahezu sein eigenes gebrochen hatte". Der Held des nachfolgenden Bühnenwerkes aber sei ein „liederlicher Taugenichts, ein Journalist", der „bis über die Ohren im .loyalistischen', kommunistischen K a m p f steckt.45 Auf gleicher Seite heißt es außerdem: „Es (Die fünfte Kolonne — Br.) enthält wunderbare Gespräche, zeichnet sich aber durch eine primitive Handlung aus. Wir finden in ihm jedoch unseren Helden wieder, der nun Philip genannt wird und Spion für die stalinistische Untergrundbewegung in Madrid ist." 46 Eines der „wunderbaren Gespräche" in diesem Theaterstück — gewiß allerdings nicht eines, was Young im Sinne hatte — ist der kurze Dialog zwischen einem alten deutschen Antifaschisten und dem jungen amerikanischen Interbrigadisten. Als Philip am Sinn seiner Tätigkeit zu zweifeln beginnt und sagt: „Ich habe das schon so lange getan, daß es mich einfach anwidert. Ich meine: alles", da antwortet ihm Max: „Du tust es, damit j e d e r ein so gutes Frühstück haben kann, wie du jetzt. Du tust es, damit k e i n e r hungern muß. Du tust es, damit die Menschen nicht Krankheit oder hohes Alter zu fürchten haben, damit sie in Würde und nicht als Sklaven leben und arbeiten können." 47 Sätze wie diese verdeutlichen höchst anschaulich die Qualität der „neuerworbenen Vorstellung von einer gesellschaftlichen Verantwortung" bei Hemingway in diesen Jahren, die eben seinen bürgerlichen Biographen so unbegreiflich erscheint. Im Gesamtkontext der Dramenhandlung gesehen, widerspiegeln sie aber auch den erstaunlichen Reifegrad internationalistischen Denkens bei einem Schriftsteller, dem das nach Herkunft und Ausbildung nicht gerade in die Wiege gelegt war. Beeindruckend schließlich ist die Klarheit und die Unmittelbarkeit des Bekenntnisses zur Verantwortung für den Mitmenschen. Daß dies keine naive Verirrung eines einzelnen amerikanischen Schriftstellers war, ist schon angedeutet worden. Treffend formulierte die bürgerliche Erzählerin Dorothy Parker den „Zeitgeist" 28
dieser Periode, als sie auf dem Dritten Amerikanischen Schriftstellerkongreß 1939 sagte: „Ich glaube, das Beste an den heutigen Schriftstellern ist, daß sie innerlich schneller heranreifen. Sie wissen, daß man sich nicht selbst finden kann, wenn man nicht zu seinen Mitmenschen findet — sie haben erkannt, daß es nicht mehr nur das ,Ich' gibt, sondern daß da das ,Wir' ist. Sie haben erkannt, daß ein verwundetes Herz oder die Neugier über den Tod oder die Begeisterung für die Sichel des Mondes eine rein persönliche Angelegenheit ist. Aber es ist nicht länger die Zeit für rein persönliche Angelegenheiten — Gottseidank! Jetzt spricht der Dichter nicht nur mehr für sich selbst, sondern für uns alle — und deshalb ist seine Stimme vernehmlich geworden, und sein Lied wirkt fort." 48 Diese Entwicklung hat nicht angehalten. Uneinigkeiten und ideologische Konflikte im Zusammenhang mit dem sowjetisch-deutschen Vertrag und dem finnisch-sowjetischen Krieg ließen die in ihrer Stellung zum national-revolutionnären Krieg in Spanien noch so einmütigen Schriftsteller zu Beginn des zweiten Weltkrieges in verschiedene politische Lager auseinanderfallen. Hinzu kam das Versagen eines Teiles der revolutionären Führungskräfte, die unter dem damaligen Vorsitzenden der KPUSA, Earl Browder, die Selbstauflösung der Kommunistischen Partei betrieben. Der kommunistische Kulturpolitiker und Schriftsteller Victor J. Jerome hat in seiner programmatischen Rede auf der marxistischen Kulturkonferenz des Jahres 1947 in New York kritisch diese Zeit eingeschätzt und gesagt: „Der Browderismus unterhöhlte die Grundlagen der Kultur der Arbeiterklasse und des Volkes, als er die Führung den aufgeklärten' Monopolkapitalisten überließ . . . Mit der Perspektive auf Klassenfrieden, auf krisenlosen Kapitalismus und friedlichen Imperialismus, was muß da aus der theoretischen Front werden, aus dem Kampf der Klassen auf dem Gebiet der Ideen? Und was muß aus dem marxistischen Gedanken auf dem Gebiet der Kultur werden? Die Antwort ist, wie die Ergebnisse tragisch genug bewiesen: Liquidatorentum.' 149 Der unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg einsetzende Eishauch des „kalten Krieges" mit seiner innenpolitischen Variante des sogenannten McCarthyismus erstickte dann schließlich alle progressiven Tendenzen der Entfaltung der amerikanischen Kultur im Sinne der in den 30er Jahren vorgezeichneten Traditionslinie. Der weitaus überwiegende Teil der bürgerlichen Schriftsteller wurde zurück in die Vereinzelung getrieben und entsagte der kritisch-realistischen Gesellschaftsanalyse. Eingeschüchtert durch das Wirken der berüchtigten staatlichen Komitees zur Untersuchung „unamerikanischer Betätigung" und dem gewaltigen Druck der herrschenden repressiven Kräfte ausweichend, ergab er sich einer existentialphilosophischen Weltsicht, die die Realität als absurd und das menschliche Leben als sinnlos verstand. Es ist daher nicht verwunderlich, daß überall dort, wo in der Gegenwart nach echten Alternativen zu diesem spätbürgerlichen Kunstverständnis und dem ihm inhärenten endzeitlichen Welt- und Menschenbild gesucht wird, der Rückgriff auf die 30er Jahre erfolgt. So steht denn dieses Jahrzehnt wie ein einzigartiges 29
Denk- und Mahnmal in der neueren amerikanischen Literaturgeschichte, zu dessen massivem Fundament nicht zuletzt die Amerikanischen Schriftstellerkongresse von 1935 und 1937 beeindruckendes und dauerhaftes Material geliefert haben. Als die Veteranin der proletarischen Literaturbewegung Meridel Le Sueur auf dem ersten Schriftstellerkongreß in der Nachkriegsgeschichte der USA im Oktober 1981 in New York das Wort ergriff, da erinnerte sie bewußt und ausdrücklich an jene großen Zusammenkünfte von amerikanischen Schriftstellern und befreundeten Autoren aus dem Ausland in den 30er Jahren. „Unser gegenwärtiger Kongreß", so sagte sie, „ist nicht etwa dem Haupte des Zeus entsprungen. Schon jener Kongreß von 1935, der unmittelbar während des großen Zusammenbruchs der amerikanischen Wirtschaft, angesichts des Anwachsens der faschistischen Bedrohung und kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges in Spanien abgehalten wurde, hatte Schriftsteller und Künstler von Rang und Namen zusammengeführt, die von den schrecklichen Gefahren der Zeit alarmiert worden waren. Es war nur zu offenkundig geworden, daß Schriftsteller — und zwar nicht nur in Amerika, sondern in der ganzen Welt — sich organisieren und öffentlich bekennen mußten gegen die Verrohung und Barbarei sowie für das Leben und den Bestand der Menschheit auf dieser Erde." 50 Eberhard Brüning Leipzig, Februar 1982
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Zu dieser Ausgabe
Für die vorliegende Dokumentation wurden folgende Materialien benutzt: American Writers'1 Congress. Edited by Henry Hart. Martin Lawrence, LTD. London. Typography by Robert Josephy. Printed in the USA. This book is composed and printed by union labor (1.935). The Writer in a Changing World. Edited by Henry Hart. Equinox. Cooperative Press. Copyright 1937. By the League of American Authors. Produced by the Haddon Craftsmen. Set and printed in USA. By Trade Union Labor. Die Veröffentlichung in deutscher Sprache erfolgt mit freundlicher Zustimmung von International Publishers, New York. Bestände aus dem Friedrich-Wolf-Archiv, Lehnitz: Originaltyposkript von Wolfs Referat, Zeitungsausschnitte und Briefe; besonders Mappe 231 und Mappe 144. Bestände aus den Archives of the League of American Writers in The Bancroft Library der University of California, Berkeley: Artikel, Programme, Aufrufe, Briefe, Stellungnahmen zu den Kongressen 1935 und 1937; Protokoll des Kongresses 1937. Für die Erlaubnis zur Benutzung und zum Abdruck danken wir den genannten Institutionen. •In den beiden genannten Publikationen der Kongresse sind die Referate in einer vom Herausgeber Henry Hart vorgenommenen Anordnung gedruckt, die nicht der Reihenfolge entspricht, in der sie vorgetragen wurden. In vorliegender Dokumentation sind die Referate chronologisch angeordnet. Textgrundlage für den Kongreß 1935 bildet die Hart-Publikation mit Ausnahme der Ansprache von Friedrich Wolf, für die das Originaltyposkript herangezogen wurde (s. Anm. Kongreß 1935 Nr. 52). Die Referate von 1935 (1—26) werden in der Reihenfolge gebracht, die im Programm vorgesehen war (s. S. 397ff.). Aragon und Dos Passos, die beide nicht am Kongreß teilnahmen, hatten Beiträge gesandt, die jedoch nicht verlesen werden konnten, weil die Manuskripte nicht rechtzeitig eintrafen. Da sie auch nicht im Programm vorgesehen sind, werden sie nach den übrigen Referaten eingereiht (27 und 28). Im Anschluß daran ist die Einführung von Henry Hart (29) zu seiner Publikation gebracht, da es sich hierbei ebenfalls um einen nicht vorgetragenen, aber zum Thema des Kongresses gehörenden Beitrag handelt; danach folgt der Kongreßbericht (30). Einige der im Programm vorgesehenen Beiträge sind bei Hart nur innerhalb der Einführung (29) und des Kongreßberichtes (30) 31
referiert bzw. zitiert — offenbar hatten sie eher Diskussions- als Referatcharakter —, so daß sie auch in unserer Dokumentation nicht als Referate erscheinen; das betrifft: für den 26. April Beiträge von Malcolm Cowley, Josephine Herbst, Hays Jones, Michael Gold; für den 27. April von Corliss Lamont; für den 28. April von Albert Maitz. Als Ergänzung zu den vorgetragenen Referaten sind zwei in den New Masses und fünf in der Partisan Review erschienene Aufsätze angefügt, die vorbereitend einige zentrale Themen des Kongresses erörtern und unmittelbare Bezüge teils auf bestimmte Referate, teils auf bestimmte Äußerungen in den Referaten aufweisen. Die Reihenfolge der Referate von 1937 (1 — 16) entspricht dem Protokoll dieses Kongresses. Der von Freeman als Einleitung für die Hart-Publikation verfaßte Aufsatz (17) ist am Schluß der vorgetragenen Referate eingereiht. Darauf folgt der Kongreßbericht (18). Für den Kongreß 1937 wurde sowohl die Hart-Publikation als auch das Protokoll herangezogen, da weder bei Hart noch im Protokoll der Verlauf des Kongresses vollständig wiedergegeben ist. In der Hart-Publikation sind alle 16 Referate gedruckt. Im Protokoll sind 6 Referate nicht aufgezeichnet, da es sich in diesen Fällen um ausgearbeitete Vorträge handelte, die offenbar im Wortlaut fixiert vorlagen: Arvin, Botkin, Winwar, Slochower, Beals, Holmes. Die anderen 10 Referate sind für den Druck bei Hart — mehr oder weniger stark — stilistisch überarbeitet worden, ohne daß Inhalt und Tendenz wesentlich verändert erscheinen. Ein Vergleich der Protokoll- mit den Druckfassungen zeigt unterschiedliche Grade der Überarbeitung, die hier kurz charakterisiert werden sollen. Das Referat von MacLeish ist für den Druck nur wenig geändert worden. Bei Stewarts Referat dagegen ist eine durchgehende stilistische Überarbeitung festzustellen, die auch einige stärkere Kürzungen mit sich bringt. Browders Referat ist streckenweise stilistisch geändert und gekürzt worden. Bei Hemingway sind nur geringfügige stilistische Änderungen und Kürzungen festzustellen, die gegenüber dem etwas aufgelockerten mündlichen Vortrag eine stärkere Prägnanz zeigen. Burke hat, wie er selbst — laut Protokoll — berichtet, zwei Aufsätze über sein Thema verfaßt, die ihn beide nicht befriedigten. Seine Kongreßrede fußte auf beiden Niederschriften. Offenbar hat er für den Druck eine weitere Neufassung hergestellt (oder auf eine der älteren Fassungen zurückgegriffen), da es trotz gleicher Argumentation kaum Übereinstimmung zwischen Protokoll- und Druckfassung gibt. Das Referat von Cowley bildet einen Sonderfall: Die bei Hart gedruckte Fassung ist laut Anmerkung des Herausgebers aus unvollständigen Notizen rekonstruiert; offenbar hat Cowley sein Referat frei vorgetragen. Ein Vergleich mit der Protokollfassung ergibt, daß diese — die die einzelnen Ereignisse und Fakten darlegt und daraus, systematisch geordnet, Schlußfolgerungen ableitet — dem summarischen Überblick der Hart-Fassung unbedingt vorzuziehen ist und offenbar auch die Autorintentionen besser wiedergibt. Für unsere Dokumentation wird daher in diesem Falle die Protokollfassung zugrunde gelegt. Gelhorns Referat stellt in 32
der Druckfassung eine stark gekürzte und durchgängig stilistisch geänderte Fassung dar. Williams' Referat ist im ganzen stilistisch überarbeitet und leicht gekürzt. Harts Referat weist in der Druckfassung stilistische Änderungen, Tilgungen und Zusätze auf. Hicks' Referat stellt im Druck eine geänderte und erweiterte Fassung dar, bei der die konkrete politische Zielstellung deutlicher zum Ausdruck kommt. Mit Ausnahme von Cowley wird für unsere Dokumentation bei allen Referaten die bei Hart gedruckte Fassung zugrunde gelegt. Von den 34 Diskussionsbeiträgen und Grußbotschaften fehlen bei Hart vier: Henry Hart, Williams, Yakhontowy, Lish. Im Protokoll sind vier andere Grußbotschaften nicht aufgezeichnet, deren Verlesung vermerkt wird: Albert Einstein, Sylvia Townsend Warner, Ernst Toller, Thomas Mann. Ebenfalls nicht aufgezeichnet sind im Protokoll die Texte von vier Gedichten, die im Zusammenhang mit dem Diskussionsbeitrag von Humphries über diese Gedichte vorgetragen wurden. Ein Textvergleich zwischen Protokoll und Harts Kongreßbericht ergibt, daß die bei Hart vorhandenen Beiträge teils leicht verändert, teils weniger oder stärker gekürzt, teils nur referiert und auszugsweise zitiert sind. Die fehlenden Partien sind meist entbehrlich. In unserer Dokumentation ist für den Verlauf des Kongresses der Kongreßbericht von Hart (18) zugrunde gelegt. Eingeführte Ergänzungen aus dem Protokoll sind jeweils in den Anmerkungen nachgewiesen und begründet. Die Grußbotschaften von Einstein und Toller sind nach einer Abschrift der Originalbriefe in extenso wiedergegeben. Punkte im Text der Referate und Diskussionsbeiträge stammen von den Autoren, Punkte in eckigen Klammern [ ] vom Herausgeber. Die „Biographischen Erläuterungen" erstrecken sich auf die in beiden Kongreßmaterialien mit Hauptbeiträgen ausgewiesenen Autoren. Sie konzentrieren sich bewußt auf Tätigkeiten und Publikationen während der 30er Jahre. Über den Afroamerikaner Eugene Clay konnte nichts ermittelt werden.
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New York 1935/37
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1 Waldo Frank Vom Wert des revolutionären Schriftstellers Ich setze voraus — und das tut die Mehrzahl der hier versammelten Schriftsteller —, daß der Kommunismus kommen muß und daß um ihn gekämpft werden muß. Die Welt steht am Kreuzwege. Entweder schreitet sie vorwärts in die sozialistische Gesellschaftsordnung, oder die menschliche Kultur — nicht wie wir sie kennen, sondern wie wir sie uns zu schaffen wünschen — geht zugrunde. Ich sage nicht, daß der Weg nach vorn gewiß ist. Das Leben der Menschheit steht auf dem Spiel, und wenn es um den Menschen geht, ist zu allen Zeiten die Alternative Leben oder Tod gegenwärtig. So auch jetzt. Aber eins ist gewiß. Innerhalb des heutigen Systems dahinzuvegetieren, sich zu weigern, durch die soziale Revolution der arbeitenden Klassen freizuwerden, heißt für den Menschen der westlichen Welt, daß er in eine Finsternis stürzen wird, zu der ihn seine Produktivkräfte und seine geistigen Kräfte, falls diese sich unkontrolliert fortentwickeln, verdammen müssen, in eine Finsternis, aus der selbst die Spuren von Licht, die unsere Gegenwart ermöglicht haben, entschwunden sein werden. Daraus wird deutlich, daß die Frage der sozialistischen Gesellschaft letztlich kein politisch-ökonomisches, sondern ein kulturelles Problem ist, es ist d a s Menschheitsproblem. Ich beabsichtige, den spezifischen Wert des literarischen Kunstwerks in dieser Krisensituation sichtbar zu machen: nicht den Wert, der ihm als Nachgesang revolutionärer Politik, als Echo der Aktion zukommt, sondern den es als e i n e a u t o n o m e F o r m d e r A k t i o n besitzt. Ich möchte klarmachen, daß der revolutionäre Schriftsteller im heutigen Amerika, unserer besonderen kulturellen Situation entsprechend, keinesfalls ein „Mitläufer" sein darf, daß seine Kunst den politisch-ökonomischen Aspekten der Neuerschaffung der Menschheit nicht untergeordnet, sondern zugeordnet sein muß. Das bedarf einer Bestimmung der Geschichte und der Literatur (wir sind ja dabei, Geschichte zu machen). Glücklicherweise kann ich mich auf den Geschichtssinn der Menschheit berufen, der in Marx seine Verkörperung gefunden hat, den Geschichtssinn eines Organismus, der sich wie alles organische Leben aufgrund der inneren Aneignung einer objektiven Welt entwickelt, aus der er seine Nahrung gewinnt und auf die er zurückwirkt — alles nach einem diesem Organismus innewohnenden Muster, das im Menschen — hauptsächlich über den Prozeß, den wir recht unbestimmt Bewußtsein nennen — eine große Variationsbreite besitzen kann. Die Rolle des Bewußtseins — oder, wenn Sie lieber wollen, der E r f a h r u n g — in der historischen Entwicklung ist für uns von Bedeutung, weil sie geradewegs zur gesellschaftlichen Funktion der Kunst führt. Das Kunstwerk ist ein Mittel (unter anderen) zur Erweiterung und Vertiefung unserer Erfahrung hinsichtlich der 37
Beziehung zum Leben als einer organischen Ganzheit. Das Gefühl der innigen Verwandtschaft mit jedem beliebigen Teil der objektiven Welt ist das, was wir meinen, wenn wir von Schönheit sprechen. Die Erweiterung dieser Beziehung zum Leben zu einer allesumfassenden sozialen Daseinsweise nennen wir Kultur. Die gesellschaftliche Grundfunktion der Kunst besteht darin, d i e M e n s c h e n in e i n e V e r f a s s u n g zu b r i n g e n , d a ß sie a l s s o z i a l e r O r g a n i s m u s z u m M e d i u m f ü r die A k t i o n e n des W a c h s t u m s und der V e r ä n d e r u n g werden, die die B e f r i e d i g u n g ihrer B e d ü r f n i s s e e r f o r d e r l i c h macht. Diese sozialen Aktionen müssen, um gesunde Aktionen zu sein, innerhalb der wahrhaftigen Erfahrung der G e s a m t h e i t d e r v o n i h n e n b e t r o f f e n e n Leb e n s b e r e i c h e vollzogen werden — und diese Erfahrung übermitteln und zum Allgemeingut werden zu lassen, ist die besondere Funktion der Kunst. Ich will das an einem Beispiel erklären. Nehmen wir an, jemand muß in seinem neuen Hause Nägel einschlagen. Er muß die Nägel auf den Kopf treffen. Um das aber tun zu können, muß er in guter Allgemein Verfassung sein. Hat er schlechte Augen, ist er im Kopf verwirrt, dann wird ihn all sein handwerkliches Geschick nicht davor bewahren, die Nägel schlecht einzuschlagen. Es ist ganz klar, niemand ist in der Lage, selbst eine so einfache Handlung auszuführen, wie einen Nagel auf den Kopf zu treffen, wenn sein Körper und sein Geist kein geeignetes M e d i u m für diese Tätigkeit sind. Keine menschliche Gesellschaft und keine Klasse ist zu irgendeiner notwendig gewordenen Aktion imstande, wenn sie nicht in die Verfassung versetzt wurde, das w i r k s a m e M e d i u m für ebendiese Aktion zu werden. In primitiven Gesellschaften sind die wichtigsten Künste, die die innere Verfassung des Menschen bestimmen, lyrischer Art: Musik, Gesang und Tanz. Vermittels der hierbei erworbenen und bewahrten Erfahrung wird die Menschengemeinschaft zum effektiven Medium für die Art Aktion, die ihre emotionalen und ökonomischen Bedürfnisse und die ihrer Herrscher verlangen. In unserer Welt, in der ein Chaos von Kräften das Leben des Menschen vor unseren Augen zerbricht, muß die wichtigste den Menschen beeinflussende Kunst derart sein — wobei durchaus alle Künste ihre Rolle zu spielen haben —, daß sie unsere gesamten Vergangenheiten und unsere Gegenwart zusammenfügen und dem Ganzen die Richtung weisen kann. Das ist die Kunst des Wortes, durch das der Mensch von den Welten und Individuen, die ihn hervorgebracht haben, Besitz ergreift und ihnen in seiner eigenen Vision Leben verleiht. Wir kennen jetzt in groben Umrissen die Art sozialer Aktion, die von unserer Literatur zu fordern ist. Sie besteht, allgemein ausgedrückt, darin, die Menschen auf die Vielzahl unmittelbarer Aktionen einzustimmen, aus denen ihr Leben besteht. Auf uns bezogen ist es die schwierige Aufgabe, unsere Leser — wir hoffen, es handelt sich bei ihnen um die Arbeiter, die Bauern und ihre Bundesgenossen — in die Verfassung zu versetzen, daß sie zum effektiven Medium der Revolution werden. Dieser subtile Prozeß des B e e i n f l u s s e n s darf nicht mit der unmittelbaren V o r b e r e i t u n g auf den Tageskampf verwechselt werden: Diese Aufgabe fallt in 38
erster Linie den Lehrern, den Theoretikern und den Partei- und Gewerkschaftsfunktionären zu, die durch das angewachsene Werk der Schriftsteller hinreichend eingestimmt sind. Und es muß klar sein, daß diese Arbeit des Einstimmens des gesellschaftlichen Organismus, so unsichtbar sie zu sein scheint, die unmittelbare Aktion der Schriftsteller ist. Worte sind natürlich auch Mittel der „Vorbereitung": Reportagen, Pamphlete, Losungen und Manifeste (mein Vortrag ist eine Art Manifest) sind legitime Mittel der politischen Arbeit. Aber nur, soweit die Notwendigkeit des revolutionären M e d i u m s vorausgesetzt wird und die Hauptfunktion der Literatur, die d a r i n b e s t e h t , d i e s e s M e d i u m zu s c h a f f e n , gewahrt bleibt. Der Schriftsteller, der das vergißt und seine Kunst zugunsten einer anscheinend vordringlicheren Aufgabe zurücktreten läßt, schwächt die organische Gesundheit und den Fortschritt der Menschheit, indem er seine darin integrierte Rolle verrät. Und in einer Welt voller Hunger, empörender Ungerechtigkeit und Kriegsgefahr wird nur eine ungewöhnliche, harte und heroische Klarheit den Künstler des Wortes an seiner ureigensten, oft undankbaren und mißverstandenen, aber fundamentalen Aktion festhalten lassen. Ich wende diese Definitionen sogleich auf die besonderen Probleme des revolutionären amerikanischen Schriftstellers an. Dazu müssen wir zunächst einen Blick auf die allgemeine Situation der Leser und der Schriftsteller in unserem Lande werfen. Es hat uns nie an literarischen Talenten gefehlt. Aber der ökonomische Boden, in dem sie Wurzeln schlugen, war immer schon weggespült, bevor noch die Wurzeln festen Halt gefunden hatten. Wir haben bedeutende Schriftsteller gehabt. Sie besaßen Einfluß im Ausland, wo ein organisches Kulturleben, das über etwas verfügte, was uns noch immer fehlt — Erinnerungsvermögen und Bewußtheit — Verwendung für sie hatte. Hier bei uns konnte ein Poe, ein Whitman, ein Thoreau, ein Melville nur sentimentale Anhänger finden, weil die Diskontinuität der ethnischen und der industriellen Bedingungen ihr Anliegen schneller veralten ließ als eine Generation heranreifen konnte, um es aufzunehmen. Wir Amerikaner sind schwach — unendlich viel schwächer als die Bauern Chinas, Lateinamerikas oder des alten Rußland — hinsichtlich jener intuitiven Bindung an den Boden und das eigene Ich und die menschliche Vergangenheit, die ein Volk zum effektiven Medium für die schöpferische Aktion macht, und durch die der psychologische Übergang zum bewußten Kommunismus vergleichsweise leicht wird. In diesem unserem allgemeinen Zustand kultureller Unterernährung besteht eine dringende Notwendigkeit für gesunde Literatur. Aber unsere Schriftsteller sind von der Krankheit, die zu heilen sie helfen müssen, selbst angesteckt. Ein Gefühl der Impotenz, dessen Ursprung in der fehlenden Verbindung* zu den lebendigen Klassen der amerikanischen Welt liegt, hat sie der Nachfolge europäischer Modetorheiten und Dogmen ausgeliefert. Und ihre Nachempfindungen fremder Schreibweisen, die an das oberflächliche Gefunkel des Kaleidoskops erinnern, haben zu nichts geführt. Als sich unsere Schriftsteller dann unserer eigenen Welt zuwandten, waren sie nicht imstande, der mächtigen Zugkraft des kapitalistischen 39
Systems Widerstand entgegenzusetzen. Sie waren Gastgeber, Lieferanten von Zuckerzeug und Cocktails. Als sie gegen Kriegsende in großer Zahl zu rebellieren begannen, war ihre Revolte inhaltsleer: exhibitionistisches Trommelschlagen oder Murren und Knurren. Die tiefliegende Ursache ihrer Abhängigkeit als Schriftsteller und ihrer Impotenz ist die verborgene Ideologie des amerikanischen Systems, die die meisten unserer Schriftsteller, liberale wie konservative, in sich aufgesogen haben. U n d d i e s e T a t s a c h e ist ü b e r a u s s c h m e r z l i c h , weil — ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht — die gleiche Ideologie unter unseren revolutionären Schriftstellern vorherrscht. Viel zu viele von uns haben die Philosophie der amerikanischen kapitalistischen Kultur in sich aufgenommen, die zu stürzen wir uns verschworen haben. Diese amerikanische Ideologie, die seit ihren Anfangen ihre Herrschaft ausgeübt hat — schon zur Zeit jener Propheten des bürgerlichen Business: Benjamin Franklin und Alexander Hamilton, der wahren Meister unserer Lebensweise — ist ein flacher, statischer Rationalismus, der sich von den schwächsten, statt von den tiefgründigsten Denkern im Frankreich und England des 18. Jahrhunderts herleitet: ein empirischer Rationalismus, der sich auf Faktenanbetung und einen so unwissenschaftlichen wie unpoetischen Fetischismus des vorgefertigten, schablonenhaft aufbereiteten Reports der fünf Sinne gründet, und der nicht im entferntesten mit dem organischen Rationalismus verwandt ist, wie ihn Spinoza ausdrücklich verkündete und wie er implizit in der historischen Dialektik von Marx enthalten ist. Hätte dieser Vulgärrationalismus im England und Frankreich des 17. Jahrhunderts geherrscht, dann gäbe es keine moderne Wissenschaft. Da er die Natur des Menschen als eines in der Evolution begriffenen Organismus ignoriert, ist er als der erklärte Feind aller schöpferischen Tätigkeit zu begreifen, daher auch — wenn auch auf noch so verborgene Weise — als der Feind der Kunst und, im marxistischen Sinne, der Revolution. Ich will kurz Symptome und Haltungen unserer revolutionären Schriftsteller darlegen, die (wenn es ihnen auch nicht bewußt ist) diese sterile Philosophie erkennen lassen: . . . 1. Unglaube an die Autonomie der Literatur, an ihre integrierende Rolle a l s K u n s t innerhalb der organischen Entwicklung des Menschen und besonders innerhalb der revolutionären Bewegung. Dieses Mißtrauen gegen sich selbst bringt den Schriftsteller dazu, als K ü n s t l e r zu kapitulieren. Es bringt ihn dazu, a l s K ü n s t l e r von politischen Führern Befehle anzunehmen — sehr zum Mißfallen der intelligenteren unter diesen politischen Führern. Es bringt den amerikanischen Schriftsteller dazu, in seinen Kunstwerken ausgeborgte, fremde Definitionen von Wertvorstellungen anzuwenden, die an ihrem Ursprungsort und zu ihrer Zeit durchaus gültig waren, hier bei uns aber bedeutungslos sind. Das bedeutet ein Übernehmen der Modetorheiten der amerikanischen Mittelklassenliteratur. 2. Von der gleichen unorganischen Lebens- und also auch Kunstansicht rührt die unterwürfige oder doch passive Auffassung von der revolutionären Literatur als
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einer vorwiegend „informativen", „reflektierenden", „propagandistischen" Literatur her. Das ist natürlich eine Anleihe an die mittelviktorianische Idee der Mittelklasse von der utilitaristischen und moralisierenden Kunst. Es liegt aber kein Grund vor, weshalb gute Literatur nicht hohen Dokumentarwert und starke politische Anziehungskraft besitzen sollte. In der Tat muß in einem dynamischen Zeitalter wie dem unseren eine tiefgreifende literarische Kunst insofern, als sie die innersten Entwicklungskräfte des Menschen dieses Zeitalters freizulegen hat, „propagandistisch" für diese Kräfte und ihr Ziel wirken. Aber diese Art Propaganda leitet sich aus der Wirksamkeit des betreffenden Werks in seiner Eigenschaft als Literatur her und ist von dieser abhängig. 3. Was erschlägt die Wirksamkeit eines so großen Teils unserer revolutionären Literatur? Das Schlüsselwort ist „erschlagen". Wir alle wissen, daß Mord ein hervorstechender Zug der amerikanischen Gesellschaft ist. Es heißt, in den USA würden an einem Tage mehr Morde begangen als in manchen europäischen Ländern in einem Monat. Nun ist Mord eine Art Kurzschluß. Er ist die zu vereinfachte Lösung eines Problems — sagen wir, eines nörgelnden Ehepartners — indem man sich kurzerhand der betreffenden Person entledigt. Er räumt das L e b e n aus dem Wege, von dem das Problem einen Bestandteil bildet. Was der Mord für die Kunst des Lebens bedeutet, ist diese tote Philosophie für das Wissen; und in literarische Begriffe übersetzt wird daraus „Übersimplifizierung". Nennen Sie es meinetwegen auch eine Art deplazierter oder g e w a l t s a m e r Soforthandlung. Hier sind einige der Ergebnisse: a. Romane, die das revolutionäre Wunder und die revolutionäre Substanz unserer Welt sichtbar zu machen beabsichtigen, aber mit Klischees überladen sind . . . oder die reißerische journalistische Aufbereitung nebensächlicher Ereignisse in Zeitungsberichten nachahmen . . . oder die (Schwäche verbergende) Prahlerei der Hemingway -Dashiell Hammett-Schule nachäffen . . . oder die trostlos-langweiligen Effekte des viktorianischen Realismus ausborgen, als ob diese ausreichten, die Gesamtheit des tragischen, possenhaften, explosiven, wilden, zarten, höllentiefen und himmelhohen amerikanischen Lebens begreifbar zu machen! b. Proletarische Geschichten und Gedichte, in denen die Arbeiter halbtote Leute sind, bar jeder Phantasie, hochgemuter Gesinnung und der Fähigkeit zu lachen, also der Eigenschaften, die die Quelle schöpferischen Tätigseins und — der Revolution sind. c. Schwerfallige literaturkritische und literaturhistorische Essays, in denen die organischen Gebilde der Werke von Dichtern und Prosaschriftstellern durch die Mangel gedreht und flachgewalzt werden, um anschließend nur noch als Tapete für die Ausgestaltung von Bauwerken politischer Auseinandersetzung zu dienen. 4. Diesen Weigerungen der Schriftsteller — oft solcher mit echter literarischer Begabung — den Stoff für eine in die Tiefe vordringende revolutionäre Kunst zu finden, liegt die eine ideologische Schwäche zugrunde, deren letzte negative Konsequenz es ist, den Marxismus selbst in eine dogmatische, mechanisch a b g e s c h l o s s e n e Philosophie zu verwandeln. Auf unsere eifrige, nicht geschulte, 41
sensible Jugend (ob Arbeiter oder Schriftsteller) muß eine solche Situation auf die Dauer so wirken, daß sie sich abgestoßen fühlt, so daß tatsächlich viele junge Menschen (und nicht die Schlechtesten, nämlich die Bestürztesten) dazu getrieben werden, ihre Heimat in reaktionären Denkschulen zu suchen, die alte Formen der organischen Intuition des Menschen formal pflegen. Sollte die Jugend Amerikas aufgrund der überalterten Loyalitätsforderung in bezug auf Nationalismus und Kirche in den Faschismus hineingezogen werden, dann wird das t e i l w e i s e darauf zurückzuführen sein, daß unsere revolutionären Schriftsteller durch diesen, der absterbenden kapitalistischen Kultur eigenen, toten Rationalismus davon abgehalten wurden, sich klarzumachen, daß das Leben heute — in den Tiefen, aus denen der Ruf nach Opfermut, Loyalität und Liebe dringt — auf der Seite der Revolution ist. Der amerikanische revolutionäre Schriftsteller muß . . . will er seiner Aufgabe gerecht werden, die darin besteht, das kulturelle Medium für die Revolution zu schaffen . . . das Leben in seiner Gesamtheit sehen. Er wird eine politische Überzeugung haben. Ist er ein großmütiger Mensch, dann wird es ihm schwer werden, seinen Anteil am politisch-ökonomischen Tageskampf zu vernachlässigen. Aber seine politische Orientierung muß Teil seiner Orientierung als Künstler auf das Leben sein und aus dieser hervorgehen. Jede Handlungsweise, jede Überzeugung ist innerhalb der dynamischen Substanz des Lebens selbst lebendig: U n d diese S u b s t a n z ist m i t allem, was zu ihr g e h ö r t , A n g e l e g e n h e i t des K ü n s t l e r s . Daher ist die Feststellung richtig, daß die Lebenssicht des Künstlers den Stoff für seine Kunst d a r s t e l l t . Unter uns gibt es viel Verwirrung, was die Begriffe „Stoff" und „Gegenstand" angeht. Der Gegenstand eines Buches ist nur Etikett oder Hülle; das Etikett kann irreführend, die Hülle leer sein. Unser Dichter oder Prosaschriftsteller wird aufgrund seiner Loyalität gegenüber der Arbeiterklasse (ganz gleich, ob er ihr durch Geburt angehört oder nicht) und weil er natürlicherweise starke, ausdrucksvolle Gegenstände wählen wird, mehr und mehr über die Kämpfe der Bauern und der Arbeiter schreiben. Ist aber seine Lebenssicht gesund, dann wird sie — u n a b h ä n g i g v o m l i t e r a r i s c h e n G e g e n s t a n d — den Stoff für revolutionäre Kunst abgeben. Der Begriff „proletarisch", auf die Kunst angewandt, sollte sich auf Tonart und Sicht beziehen, die die Konzeption des Werkes bestimmen, und weniger auf den Gegenstand. Es sollte ein qualitativer^ kein quantitativer Begriff sein. Eine Geschichte über das Leben der Mittelklasse oder der Intellektuellen oder selbst eine über mythologische Gestalten ist, wenn revolutionäre Sicht sie erhellt, wirksamere proletarische Kunst — und effektivere Kunst für Proletarier — als ein ganzes Bücherregal voller langweiliger Romane mit Klischees von Arbeitern. Ich möchte zwei unserer besonderen Probleme erläutern. Wir Schriftsteller können auf zwei Hauptwegen zur Meisterschaft über unseren Stoff gelangen. Wir müssen ins Leben gehen . . . buchstäblich und im übertragenen Sinne. Diese zwei Wege sind in Wahrheit nur einer, und der Schriftsteller muß 42
beide gleichzeitig gehen, sonst wird er auf keinem vorankommen. Sehen wir Personen oder Klassen nicht mit den Augen der Selbsterkenntnis an, dann werden wir sie nicht erkennen. Und blicken wir nach innen, auf unser eigenes Ich, ohne daß unser Auge durch objektives Verständnis geleitet wird, dann werden wir nur die Nebel des Egoismus erblicken, die das wahre Ich verleugnen. Noch verwickelter ist dieser doppelte Weg, den wir einschlagen müssen, und von dem wir niemals abweichen dürfen. Betrachten wir Personen einer bestimmten Klasse, so werden wir nichts über sie wissen, wenn wir nicht auch die ihr gegenüberstehende Klasse sehen. Betrachten wir eine bestimmte Szene in der Gegenwart, dann können wir sie nur richtig erkennen, wenn wir in ihr gleichzeitig auch die Vergangenheit erblicken . . . und ihre dynamische Zielrichtung: ihre Zukunft. D a s i s t d i e D i a l e k t i k des K ü n s t l e r s . Die Tatsache, daß sich die Klassen in einem tödlichen Konflikt miteinander befinden, und die Tatsache, d a ß w i r P a r t e i e r g r i f f e n h a b e n , bedeutet dennoch nicht, daß diese Klassen nichts gemeinsam haben: gemeinsam ist ihnen das Leben. Der Klassenkampf ist für uns ein Brennpunkt des Lichts, eine moderne Weise zur Enthüllung der zeitlosen Bestandteile der menschlichen Natur, die allen gemeinsam sind. Er ist kein Ersatz für Verstehen, sondern eine Art S p e k t r u m , worin Hunger, Leidenschaft, Liebe, Mitleid, Neid, Anbetung, Traum, Furcht, Verzweiflung und Entzückung eine moderne, dynamische Ordnung erhalten. Der andere Zweig unserer Doppelstraße ist das eigene Ich. Das Ich ist die Ganzheit aus Wert und sozialer Aktion, Norm und Form des Lebens, wie der Mensch es verstehen mag. Der revolutionäre Schriftsteller muß die P e r s o n begreifen, oder seine Schilderungen vom sozialen K a m p f werden flach und kurzlebig sein wie die Plakate auf einem Anschlagbrett. Bereits zu Shakespeares, Cervantes' und Racines Zeiten haben die Künstler das Bild von der „einsamen Seele" geschaffen, vom „atomaren Willen" — ein Bild, das dazu diente, das M e d i u m zu schaffen, in dem die protestantisch-bürgerliche, individualistische Ökonomie aufblühen konnte. Wir brauchen Dichter, die das Bild der neuen und wahrhaftigeren Person besingen: der Person, die weiß, daß sie Teil der Gruppe und Teil des Kosmos ist; der Person, aus der das Ganze spricht — als bewußter Zelle der bewußten kommunistischen Ordnung. Nur wenn der Schriftsteller jedem Mitglied der ausgebeuteten Klassen und den feinempfindlichen Menschen aller Klassen (denn im Kapitalismus zählen alle anständigen Menschen zu den Unterdrückten) die zeitlosen Werte innerhalb des Klassenkampfes zum Bewußtsein bringt, kann er den Willen zur revolutionären Aktion wecken. Nur wenn er sich tieferes Verständnis für kulturhistorische Formen erwirbt — wie beispielsweise für die Religion, in der sich, wenn auch unzulänglich und nicht in reiner Form, die tiefsten Intuitionen der organischen Natur des Menschen kristallisiert haben (so wie sich der schöpferische Wille des gereiften Mannes schon in Traum und Spiel des Kindes manifestiert) — kann er den G e i s t des amerikanischen Arbeiters, des Bauern und des der Mittelklasse Angehörigen anrühren und ihren Geist aus veralteten Denkformen in neue, 43
schöpferische Bahnen hinüberleiten. Und nur so können wir diese Menschen vor der degenerierten Art der Hingabe bewahren, die die verräterische Lockung der Faschisten ist. Böte also der amerikanische revolutionäre Schriftsteller weniger als das ganze Bild, dann wäre das eine unzulängliche Philosophie, eine unzulängliche Kunst — und eine unzulängliche Strategie. Wir sind uns dessen bewußt, daß Krieg herrscht. Wir haben diesen Krieg zu dem unseren erklärt; und wir wissen, daß im Krieg die Strategie wichtig ist. Aber dies ist ein Krieg, dessen Schlachtfeld die Welt ist — die äußere Welt und nicht weniger die innerliche. Diese Schlacht schließt zahllose einzelne Kämpfe ein. Viele, die an ihren besonderen Fronten stehen, werden durch die Krise ihrer eigenen Position gezwungen, deren Relativität innerhalb des Ganzen zu ignorieren oder Werte geringzuschätzen oder in Vergessenheit geraten zu lassen, die im Zusammenhang mit der einen, vordringlichen Notwendigkeit nicht verwendbar erscheinen. Deshalb müssen wir Schriftsteller die Breite und die Tiefe des gesamten Kampfes, seine Hintergründe und Vordergründe, seine letzten Werte innerhalb seiner unmittelbaren Zielsetzung kennen: damit aufgrund der gemeinsamen Erfahrung unserer Arbeit Gleichgewicht und Einheit gewahrt bleiben, damit im Eifer des Kampfes kein menschliches Erbe im Bereich von Wahrheit und Freiheit darniederliegt, damit der große Krieg für die Menschheit ohne Irrtum und ohne Blindheit seinem guten Ende entgegengeht. U n s e r besonderes Arbeitsgebiet ist das Universelle, und da kann es keine andere Strategie als die ganze Wahrheit geben. Wenn ein Schriftsteller das in Zweifel stellt, dann zweifle ich, ob er ein Künstler ist; ich zweifle auch, ob er Marxist ist. Wenn wir glauben, daß der Kommunismus der organisch nächste Schritt der Welt zu ihrer Befreiung aufgrund der Freisetzung der gesunden Kräfte der Welt ist, dann müssen wir auch an die Aufgabe der Kunst glauben, die tiefen Schichten des Menschen freizulegen, in denen diese seine Zukunft vorausbestimmt ist. Wir müssen in unser Werk die Substanz des Lebens eingehen lassen, das Blut, das Knochengerüst, das Auge, und das bewußte Annehmen der Notwendigkeit, deren Kind die Freiheit ist im Bewußtsein dessen, daß wir, wenn aus unserer schöpferischen Arbeit die Wahrheit hervorgeht, uns selbst und diejenigen, die uns hören, in Richtung Revolution bewegen.51
2 Friedrich Wolf Kameraden und Freunde ! 52 Das Sekretariat des Internationalen Arbeitertheaterbundes und die deutsche Sektion der Vereinigung revolutionärer Schriftsteller53 haben mich beauftragt, dem Ersten Amerikanischen Schriftstellerkongreß brüderliche Grüße zu über44
schöpferische Bahnen hinüberleiten. Und nur so können wir diese Menschen vor der degenerierten Art der Hingabe bewahren, die die verräterische Lockung der Faschisten ist. Böte also der amerikanische revolutionäre Schriftsteller weniger als das ganze Bild, dann wäre das eine unzulängliche Philosophie, eine unzulängliche Kunst — und eine unzulängliche Strategie. Wir sind uns dessen bewußt, daß Krieg herrscht. Wir haben diesen Krieg zu dem unseren erklärt; und wir wissen, daß im Krieg die Strategie wichtig ist. Aber dies ist ein Krieg, dessen Schlachtfeld die Welt ist — die äußere Welt und nicht weniger die innerliche. Diese Schlacht schließt zahllose einzelne Kämpfe ein. Viele, die an ihren besonderen Fronten stehen, werden durch die Krise ihrer eigenen Position gezwungen, deren Relativität innerhalb des Ganzen zu ignorieren oder Werte geringzuschätzen oder in Vergessenheit geraten zu lassen, die im Zusammenhang mit der einen, vordringlichen Notwendigkeit nicht verwendbar erscheinen. Deshalb müssen wir Schriftsteller die Breite und die Tiefe des gesamten Kampfes, seine Hintergründe und Vordergründe, seine letzten Werte innerhalb seiner unmittelbaren Zielsetzung kennen: damit aufgrund der gemeinsamen Erfahrung unserer Arbeit Gleichgewicht und Einheit gewahrt bleiben, damit im Eifer des Kampfes kein menschliches Erbe im Bereich von Wahrheit und Freiheit darniederliegt, damit der große Krieg für die Menschheit ohne Irrtum und ohne Blindheit seinem guten Ende entgegengeht. U n s e r besonderes Arbeitsgebiet ist das Universelle, und da kann es keine andere Strategie als die ganze Wahrheit geben. Wenn ein Schriftsteller das in Zweifel stellt, dann zweifle ich, ob er ein Künstler ist; ich zweifle auch, ob er Marxist ist. Wenn wir glauben, daß der Kommunismus der organisch nächste Schritt der Welt zu ihrer Befreiung aufgrund der Freisetzung der gesunden Kräfte der Welt ist, dann müssen wir auch an die Aufgabe der Kunst glauben, die tiefen Schichten des Menschen freizulegen, in denen diese seine Zukunft vorausbestimmt ist. Wir müssen in unser Werk die Substanz des Lebens eingehen lassen, das Blut, das Knochengerüst, das Auge, und das bewußte Annehmen der Notwendigkeit, deren Kind die Freiheit ist im Bewußtsein dessen, daß wir, wenn aus unserer schöpferischen Arbeit die Wahrheit hervorgeht, uns selbst und diejenigen, die uns hören, in Richtung Revolution bewegen.51
2 Friedrich Wolf Kameraden und Freunde ! 52 Das Sekretariat des Internationalen Arbeitertheaterbundes und die deutsche Sektion der Vereinigung revolutionärer Schriftsteller53 haben mich beauftragt, dem Ersten Amerikanischen Schriftstellerkongreß brüderliche Grüße zu über44
bringen. Ich bin über so viele Meilen hinweg zu ihnen gekommen, weil wir alle von Ihrem großen Fortschritt an der Theater- und Kulturfront gehört haben. Es wurde uns deutlich, daß in der ganzen kapitalistischen Welt die amerikanischen Schriftsteller einer der wichtigsten Vorposten im Kampf gegen Krieg und Faschismus sind, entschlossen, wie unser Kamerad Anatole France sagte, „das Gewissen der Welt zu sein". Als ein deutscher Schriftsteller, der siebzehn Jahre lang an der deutschen und der internationalen Theaterfront für neuen Inhalt und neue Form im Drama kämpfte — und das bedeutet heute, für die Befreiung der Arbeiterklasse von allen Formen der Sklaverei zu kämpfen —, als solch ein exilierter deutscher Schriftsteller grüße ich diesen Ersten Amerikanischen Schriftstejlerkongreß besonders im Namen aller deutschen antifaschistischen Schriftsteller, die jetzt in den Konzentrationslagern und Kerkern Hitlerdeutschlands gefoltert werden. Ich grüße Sie auch im Namen all der deutschen Schriftsteller, die vor den Henkergerichten des Dritten Reiches standen, und die ermordet wurden, ohne daß sie ein Jota ihrer revolutionären Überzeugung verleugneten. Ich grüße Sie, Kameraden, im Namen der deutschen revolutionären Schriftsteller Bert Brecht, Johannes Becher, Adam Scharrer, Karl Billinger, Walter Schönstädt und Ernst Ottwalt, deren Bücher verbrannt wurden und die weiterhin furchtlos gegen den Betrug, die Sklaverei und die Kriegshetze Hitlers kämpfen. Ich grüße Sie im Namen Willi Bredels und Wolfgang Langhoffs, des Autors der Moorsoldaten, die brutal geprügelt und gelähmt wurden in den Konzentrationslagern, aus denen sie schließlich entkamen, nur um schon am nächsten Tage ihre Arbeit als Schriftsteller und Revolutionäre wieder aufzunehmen. Ich grüße Sie im Namen des kämpferischen bürgerlichen Schriftstellers Ossietzky, des berühmten Herausgebers der Weltbühne,54 der trotz aller Mißhandlungen und Leiden, die er im Konzentrationslager erdulden mußte, durch seine Überzeugungen dazu geführt wurde, weiterhin für die Einheitsfront gegen Krieg und Faschismus zu kämpfen. Ich grüße Sie im Namen Ludwig Renns, des mutigen, wohlbekannten Autors von Krieg,55 das in alle Sprachen der Welt übersetzt ist. Ludwig Renn stand im vorigen Jahr in Berlin vor dem Militärgericht, 56 des Hochverrats beschuldigt. Als er gefragt wurde, ob er Kommunist sei oder welcher Partei er angehöre, sagte er zu seinen Richtern: „Ich war Kommunist, ich bin Kommunist, und ich werde Kommunist bleiben, selbst wenn das den Tod bedeutet." Ich grüße Sie im Namen von Erich Mühsam und Hans Otto, die bestialisch und sadistisch zu Tode gemartert wurden. Es ist bekannt, wie der den Krieg hassende Schriftsteller Erich Mühsam monatelang mit Stahlruten geschlagen wurde, gezwungen wurde, tagelang aufrecht in einem dunklen Käfig zu stehen, weil er es ablehnte, das Horst-Wessel-Nazilied zu singen. Als man ihn mit kaltem Wasser wieder zum'Bewußtsein brachte und ihm erneut befahl, das Nazilied zu singen, da sang er mit dem letzten, schwachen Atemzug die Internationale. Und dieser Erich Mühsam war kein Kommunist, als er in das Konzentrationslager geworfen wurde; Hitler selbst — das ist der dialektische Widerspruch — schafft 45
soziale Kämpfer, wenn er versucht, seine Gefangenen zu Nazis zu machen. Unser Freund und Kamerad Hans Otto, einer der besten jungen Schauspieler des Berliner Staatstheaters und der Führer der revolutionären Schauspielergewerkschaft, wurde entlassen, als Hitler zur Macht kam. Er fuhr fort, in der Bewegung zu arbeiten, und Ende vorigen Jahres wurde er verhaftet. Zwei Tage später wurde sein Körper mit zerschmettertem Schädel seiner Frau gezeigt. Die Empörung unter den Berliner Schauspielern war so groß, daß eine Abordnung zu Goebbels ging, um die Todesursache zu ergründen. Es wurde ihnen verboten, am Begräbnis teilzunehmen — das war Goebbels' Antwort. Am nächsten Tage lagen vor der Tür des Berliner Staatstheaters drei große Kränze mit roten Bändern — das war die Antwort der Schauspieler. Zehn Schauspieler wurden entlassen und verhaftet. Sehr wenige Nachrichten des heroischen unterirdischen Kampfes der revolutionären deutschen Schriftsteller sickern hindurch bis zu diesem Lande, aber durch diese wenigen Beispiele werden zwei Tatsachen klar: 1. Die klassenbewußten revolutionären Schriftsteller in Deutschland sind nicht besiegt. Sie kämpfen weiter bis zum letzten Atemzuge: in den Kerkern, den Konzentrationslagern, vor den Militärgerichten — sie kämpfen buchstäblich bis zum letzten Atemzug. 2. Am Beispiel Ossietzkys, Erich Mühsams und Hans Ottos sehen wir, daß die Konzentrationslager die Schmieden sind, in denen die bürgerliche Linke und das Proletariat zur Einheitsfront zusammengeschweißt werden. Diese Schriftsteller sind repräsentant für tausend andere, die den Kampf mit illegaler Literatur gegen Hitler und Krieg fortsetzen. Aber unser ganzes Werk wäre vergebens, gäbe es nicht zehntausend andere Kameraden, die es verbreiten. Selbst die bürgerlichen deutschen Zeitungen mußten zum Beispiel zugeben, daß, als Hitler seinen neuen Aufrüstungsbefehl gab, zehntausend Flugblätter gegen Hitler und Krieg allein in den Straßen von Stuttgart (Süddeutschland) verteilt wurden, obwohl jedem Verteiler die Todesstrafe drohte. Vor dem Kommen Hitlers hatte ich viele gute Freunde unter den linksbürgerlichen Schriftstellern, die sagten: „Kamerad Wolf, Sie haben in einem Pamphlet das Schlagwort formuliert: ,Kunst ist eine Waffe im Klassenkampf.' Aber wir möchten nur dem Kampfruf der Kunst folgen. Goethe sagte,,Politik verdirbt den Charakter'." 5 7 Aber können wir heute in der Kunst, sogar in der klassischen Kunst, der Politik entkommen? Am 4. April brachte die New York Times eine Meldung, daß bei einer Aufführung von Schillers berühmtem Don Carlos in Bremen das Publikum bei der Zeile „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit" so stürmisch applaudierte, daß der Nazikommissar von Bremen die Aufführung unterbrach und alle weiteren Vorstellungen verbot. Selbst Schiller ist heute politisch. Aber meine Freunde hatten gesagt: „Wir sind politisch neutral und möchten politisch neutral bleiben." Jetzt, nach zwei Jahren Hitler-Herrschaft, weiß jeder deutsche Schriftsteller, daß es nur zwei Wege gibt: dafür öder dagegen. 46
Für — Goebbels, Göring, Hitler und all die anderen kleinen deutschen Feldwebel, die auf ihren Befehl unter den Tisch kriechen und nur schreiben, was erlaubt ist — für den nächsten Krieg; oder — mit uns kämpfen, mit dem letzten Atemzug gegen diese Barbarei und für eine Einheitsfront der linken Schriftsteller mit der kämpfenden Arbeiterklasse, mit dieser Klasse, die der Hauptfeind des Faschismus ist und die allein fähig ist, ihn zu besiegen und ein neues, freies Deutschland, u n s e r Deutschland, zu schaffen. Und wenn diese Zeit kommt — die Zeit, für die wir alle wirken — werden wir Sie, Kameraden, einladen zu u n s e r e m deutschen Schriftstellerkongreß. 58
3 Earl Browder Kommunismus und Literatur Der Kongreß, den wir heute abend eröffnen, ist in der Geschichte unseres Landes einzigartig. Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, aber es hat bei uns noch niemals ein großes Schriftstellertreffen, ein Treffen der Schöpfer unserer schönen Literatur gegeben, auf dem diese die Probleme ihres Schaffens und dessen Beziehung zu den Massen der Bevölkerung und zu den Problemen unseres Landes erörtert hätten. Die Bedeutung des Kongresses wird nicht allein bezeugt durch das ansehnliche Aufgebot seiner Teilnehmer, sondern auch durch die heutige Veranstaltung, eine Massenbegrüßung, die ein über den Rahmen des Kongresses selbst hinausgehendes Interesse der Bevölkerung erkennen läßt. Wie die meisten der vielen neuartigen Erscheinungen in unserem Leben ist der Kongreß eines der Krisenprodukte — der Produkte einer Krise, die nicht auf unsere Industrie begrenzt ist, sondern unser ganzes kulturelles Erbe zu vernichten droht. Wie kommt es, daß der Sekretär der Kommunistischen Partei, der weder über die Voraussetzungen noch über die Zeit verfügt, sich den Literaturschaffenden zuzuzählen, eingeladen wird, auf der Eröffnungsveranstaltung dieses Kongresses, dessen überwältigende Mehrheit nicht zu unserer Partei gehört, das Wort zu ergreifen? Die Antwort auf diese Frage erklärt nicht nur den Zweck meiner Rede, sie wirft auch ein helles Licht auf die Grundproblematik des Kongresses. Die Antwort ist klar. Die überwältigende Mehrzahl der Schriftsteller, die lebendige Literatur produzieren, ist sich mehr oder weniger dessen bewußt geworden, daß der Klassenkampf zwischen Kapitalisten und Arbeitern — den beiden Hauptkräften der modernen Gesellschaft —, Romanschriftsteller, Dramatiker, Dichter und Kritiker zwingt, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen wollen. Dieser Kongreß setzt sich aus denjenigen zusammen, die sich angesichts dieses Tatbestandes eindeutig auf die Seite der Arbeiterklasse gestellt haben und gegen 47
Für — Goebbels, Göring, Hitler und all die anderen kleinen deutschen Feldwebel, die auf ihren Befehl unter den Tisch kriechen und nur schreiben, was erlaubt ist — für den nächsten Krieg; oder — mit uns kämpfen, mit dem letzten Atemzug gegen diese Barbarei und für eine Einheitsfront der linken Schriftsteller mit der kämpfenden Arbeiterklasse, mit dieser Klasse, die der Hauptfeind des Faschismus ist und die allein fähig ist, ihn zu besiegen und ein neues, freies Deutschland, u n s e r Deutschland, zu schaffen. Und wenn diese Zeit kommt — die Zeit, für die wir alle wirken — werden wir Sie, Kameraden, einladen zu u n s e r e m deutschen Schriftstellerkongreß. 58
3 Earl Browder Kommunismus und Literatur Der Kongreß, den wir heute abend eröffnen, ist in der Geschichte unseres Landes einzigartig. Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, aber es hat bei uns noch niemals ein großes Schriftstellertreffen, ein Treffen der Schöpfer unserer schönen Literatur gegeben, auf dem diese die Probleme ihres Schaffens und dessen Beziehung zu den Massen der Bevölkerung und zu den Problemen unseres Landes erörtert hätten. Die Bedeutung des Kongresses wird nicht allein bezeugt durch das ansehnliche Aufgebot seiner Teilnehmer, sondern auch durch die heutige Veranstaltung, eine Massenbegrüßung, die ein über den Rahmen des Kongresses selbst hinausgehendes Interesse der Bevölkerung erkennen läßt. Wie die meisten der vielen neuartigen Erscheinungen in unserem Leben ist der Kongreß eines der Krisenprodukte — der Produkte einer Krise, die nicht auf unsere Industrie begrenzt ist, sondern unser ganzes kulturelles Erbe zu vernichten droht. Wie kommt es, daß der Sekretär der Kommunistischen Partei, der weder über die Voraussetzungen noch über die Zeit verfügt, sich den Literaturschaffenden zuzuzählen, eingeladen wird, auf der Eröffnungsveranstaltung dieses Kongresses, dessen überwältigende Mehrheit nicht zu unserer Partei gehört, das Wort zu ergreifen? Die Antwort auf diese Frage erklärt nicht nur den Zweck meiner Rede, sie wirft auch ein helles Licht auf die Grundproblematik des Kongresses. Die Antwort ist klar. Die überwältigende Mehrzahl der Schriftsteller, die lebendige Literatur produzieren, ist sich mehr oder weniger dessen bewußt geworden, daß der Klassenkampf zwischen Kapitalisten und Arbeitern — den beiden Hauptkräften der modernen Gesellschaft —, Romanschriftsteller, Dramatiker, Dichter und Kritiker zwingt, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen wollen. Dieser Kongreß setzt sich aus denjenigen zusammen, die sich angesichts dieses Tatbestandes eindeutig auf die Seite der Arbeiterklasse gestellt haben und gegen 47
den Rückfall in die Barbarei, die mit dem Faschismus und dem Krieg des absterbenden kapitalistischen Systems verbunden ist. Die Schriftsteller, die mehr und mehr mit dem Klassenkampf in Berührung kommen und an ihm teilzunehmen beginnen, haben durchweg alle diese Strömung als verjüngend und ihre künstlerische Arbeit bereichernd erfahren. Sie sind der Korruption entgangen, die das bürgerliche intellektuelle Leben entwürdigt. Sie haben jenen grundlegenden Kontakt zum Leben gefunden, den die kulturelle Sphäre der kapitalistischen Gesellschaft entbehrt, weshalb sie verfault und verfallt. Sie haben ihren Platz als unentbehrliche Kräfte im Kampf um ein besseres Leben gefunden. In dieser Strömung haben sie festgestellt, daß sie sich nicht auf unerforschte Meere hinausbegeben und sich nicht auf irgendein wildes Abenteuer einlassen, um dessentwillen sie alle in Jahrhunderten aufgehäuften Schätze der Kultur von sich werfen müßten; sie stellen fest, daß diese Strömung eine lange Geschichte hat, da ja die proletarische Kultur auf Karl Marx und Friedrich Engels zurückgeht — auf die beiden kultiviertesten Menschen der Geschichte, die der Arbeiterklasse die Früchte ganzer Zeitalter der Kultur zugänglich gemacht haben. Sie erfahren, daß die Marxsche Schule keine Sekte ist, die sich in die vier Wände einer Studierstube oder der Sitzungsräume eines politischen Komitees einschließt; sie erfahren, daß eine wachsende Flut von Männern und Frauen an jeder Front menschlichen Bemühens für den Fortschritt kämpft, angefangen vom Kampf um Löhne, Arbeitslosenunterstützung und -Versicherung bis einschließlich zum Kampf um eine Literatur, die imstande ist, die kulturellen Bedürfnisse der Menschheit in der Zeit des Zerbrechens des alten sozialökonomischen Systems, in der Zeit des Chaos und der Erneuerung, in der Zeit des Suchens nach den Werten der neuen Gesellschaft zu befriedigen. Diese neue Gesellschaft besteht in Amerika noch nicht, obwohl wir ihren glorreichen Aufstieg in der Sowjetunion machtvoll verspüren. Die Literatur muß eine neue Gesellschaft in Amerika errichten helfen — das ist ihre Hauptaufgabe — und diese fest in unserem eigenen, traditionellen, kulturellen Leben verankern. Dabei muß sie an allem festhalten, was am Alten wertvoll ist, und muß diese Werte vor der drohenden Zerstörung durch die vom verfaulenden Kapitalismus hervorgebrachten modernen Vandalen, die Faschisten, retten; und sie muß das Neue mit dem Besten vom Erbe der alten Welt verbinden. Schriftsteller, die in diese kulturelle Strömung geraten, sind von ihrer Tradition her uninteressiert am politischen Leben und an politischen Problemen. In ihrer großen Mehrheit bringen sie allen politischen Parteien Skepsis, wenn nicht Verachtung entgegen. In dem neuen Leben, an dem sie teilhaben, finden sie jedoch eine politische Partei von zunehmendem Einfluß vor, die Kommunistische Partei. Sie sehen sich gezwungen, ihre Haltung dieser Partei gegenüber, die an der von ihnen erwählten Welt aktiven Anteil hat, zu bestimmen. Sie sehen ein, daß diese Partei in bezug auf die schöne Literatur ebenso sehr eine Kraft darstellt wie bei Streiks, in Arbeitslosenkämpfen, beim Kampf um die Rechte der Neger, selbst in einem reaktionären Kongreß, wo sie durch den Druck der Massen 52 Stimmen für das Gesetz über die Arbeiterversicherung gewonnen hat, ohne bis zum heutigen 48
Tage auch nur einen einzigen Mann im Kongreß zu haben. Ja, die Kommunistische Partei ist eine Kraft in jeder Lebensphase der Massen und selbst im Leben von Dichtern, Dramatikern, Romanciers und Kritikern. Unter diesen Umständen hielten die Schriftsteller, die diesen Kongreß vorbereitet haben, es für richtig, einen offiziellen Sprecher der Kommunistischen Partei auf Ihr Programm zu setzen. Wir verstehen recht gut, daß dies nicht als Sympathieerklärung der Teilnehmer für die Kommunistische Partei zu werten ist. Wir verstehen ebenfalls, daß, wenn Sie irgendeine andere politische Partei gefunden hätten, die irgendetwas Bedeutsames über kulturelle Probleme auszusagen gehabt hätte, Sie von dieser Partei ebenfalls einen Vertreter eingeladen hätten. Es gehört zu den Zeichen der Zeit, daß es in den Vereinigten Staaten keine andere derartige Partei gibt. Die große Mehrheit der Teilnehmer dieses Kongresses, die nicht der Kommunistischen Partei angehört, möchte hören, was diese zu sagen hat,, weil alle die Notwendigkeit erkennen, Kooperativbeziehungen für die Zusammenarbeit herstellen und eine Einheitsfront aller Feinde der Reaktion auf kulturellem Gebiet zu schaffen. Solch eine Einheitsfront gegen die Reaktion ist undenkbar ohne die Beteiligung jener Gruppe von Kulturschaffenden, die der Kommunistischen Partei als Mitglieder angehören und unter ihrer allgemeinen Anleitung tätig sind. Diese Gruppe ist zwar eine Minderheit, jedoch nimmt ihr Einfluß sehr rasch zu, und dieser Einfluß kommt unmittelbar aus dem elektrischen Strom marxistischleninistischen Gedankenguts, das auf die Gesamtheit der progressiven Kämpfer an der Kulturfront übertragen wird. Es gibt auf diesem Kongreß viele Schriftsteller, die zwar die dynamische Rolle der erklärten Kommunisten anerkennen, aber gewisse Befürchtungen hinsichtlich der Möglichkeit fruchtbarer Zusammenarbeit in einer solchen Einheitsfront hegen. Die meisten dieser Zweifel haben ihren Ursprung in mangelnder Information über die Politik unserer Partei auf diesem Gebiet; einige sind auch auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Parteipolitik gelegentlich von übereifrigen Mitgliedern entstellt wird, besonders von den jüngstaufgenommenen, die nicht proletarischer Herkunft sind. In den wenigen Minuten, die mir zur Verfügung stehen, wird es meine Aufgabe sein, die Politik der Partei zu erläutern und einige von diesen Mißverständnissen aufzuklären. Da wäre erstens die Frage: Beansprucht die Partei eine führende Rolle auf dem Gebiet der schönen Literatur? Wenn ja, auf welcher Basis? Unsere Partei erhebt den Anspruch, ihren Mitgliedern auf allen Arbeitsgebieten, die Künste eingeschlossen, unmittelbar politische Anleitung zu geben. In welchem Maße eine solche Führungstätigkeit auf nicht der Partei angehörende Personen ausgeübt werden kann, hängt völlig von der Qualität der Arbeit unserer Mitglieder ab. Ist diese Qualität hoch, wächst der Einfluß der Partei; sinkt sie ab, kann nichts in der Welt der Partei zu einer führenden Rolle verhelfen. Wir verlangen nichts weiter, als nach der Qualität unserer Arbeit beurteilt zu werden. Das bedeutet, daß die erste Forderung der Partei an die Schriftsteller unter 4
New York 1935/37
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ihren Mitgliedern darin besteht, daß sie gute und immer bessere Schriftsteller sein sollen, da sie nur so der Partei wirklich dienen können. Wir wollen nicht gute Schriftsteller hernehmen und schlechte Streikführer aus ihnen machen. Die führende Rolle der Partei geht so weit, wie es ihre Mitglieder ihr durch die Qualität ihrer Arbeit ermöglichen. Daraus ergibt sich, daß unsere Arbeitsmethode auf diesem Gebiet nicht die von Parteiresolutionen sein kann, in denen Urteile über künstlerische, über ästhetische Fragen abgegeben werden. Es gibt keine festgelegte „Parteilinie", aufgrund deren Kunstwerke mechanisch in weiße und schwarze eingeteilt werden können. Innerhalb des Lagers der Arbeiterklasse, im Kampf gegen das Lager des Kapitalismus, finden wir die beste Atmosphäre im freien Geben und Nehmen einer Schriftsteller- und Kritikerdemokratie, kontrolliert allein von ihrem Publikum, den Massen der Leser, die die höchste Autorität darstellen. Wir können darum all jene beruhigen, die befürchten, an den Geschichten über die Kommunisten könnte etwas Wahres sein, daß wir Sie nämlich zu „kontrollieren" und „in Uniform" 59 zu stecken wünschten usw. bis zum Überdruß. Ich denke, daß die Mitwirkung der Kommunisten am Zustandekommen dieses Kongresses und an seiner Tätigkeit dieses alte Gespenst endgültig verschwinden lassen wird. Zweitens wird die Frage gestellt: Möchte die Kommunistische Partei die Autoren des belletristischen Bereichs „politisieren", indem sie ihnen ihre vorgefaßten Ideen über den literarischen Gegenstand, seine Behandlung und seine Form aufzwingt. Wir würden sehr gerne, soweit wir dazu imstande sind, in allen Schriftstellern Bewußtheit hinsichtlich der politischen Tagesfragen wecken und den Beziehungen zwischen diesen politischen Fragen und der Literatur nachspüren. Wir glauben, daß der überwiegende Teil der Belletristik auch politische Bedeutung hat. Wir möchten gern, daß alle Schriftsteller das erkennen und dadurch die politischen Ereignisse ihrer Arbeit überprüfen und lenken können. Keinesfalls glauben wir, daß dies dadurch erreicht werden könnte, daß man dem Schriftsteller vorgefaßte Muster aufdrängt. Im Gegenteil, wir glauben, daß schöne Literatur unmittelbar aus dem Leben kommen und nicht nur dessen Probleme zum Ausdruck bringen, sondern gleichzeitig den ganzen Reichtum und die ganze Komplexität des Details sichtbar werden lassen muß, die dem Leben innewohnen. Die Partei möchte helfen — so wie sie es, wie wir meinen, bereits in beträchtlichem Maße getan hat — den Schriftstellern einen neuen, großen Reichtum an Stoff zu erschließen und ihnen neue Welten zu eröffnen. Die Interessen unserer Partei sind nicht eng. Sie sind weitgefaßt genug, die Interessen der ganzen arbeitenden Menschheit einzuschließen. Wir wünschen uns eine Literatur, die ebenso weit gefaßt ist. Eines der Mittel, durch die die Partei hofft, bei der Verknüpfung von Literatur und Leben helfen zu können, ist ihre Beteiligung an der Organisationstätigkeit, die Sie auf diesem Gebiet zu leisten haben: die Organisierung der Schriftsteller, 50
die Organisierung eines wachsenden Publikums und die Herstellung der Verbindung zwischen diesen beiden Grundfaktoren des kulturellen Lebens. Wir meinen, die Organisation der Schriftsteller sollte sich vor allem mit der Erarbeitung gewisser Maßstäbe beschäftigen, gewisser Signale, die den Hauptstrom unseres literarischen Denkens markieren müßten. Als nächstes sollte sie sich damit befassen, neue Mitstreiter zu gewinnen, die Bewegung auf eine breitere Basis zu stellen und sie zu vertiefen, indem sie mehr namhafte Schriftsteller an sich heranzieht und junge Autoren heranbildet. Drittens sollte sie die ökonomischen Probleme der Schriftsteller aufgreifen, durch Organisierung des Marktes und Festlegung gewisser Maßstäbe als Zielrichtung für die praktische Arbeit. Die Kommunistische Partei hat der Wochenschrift New Masses60 ihre Unterstützung zuteilwerden lassen, eben darum, weil wir die Möglichkeit sahen, daß diese Publikation in ihrer neuen Rolle einigen dieser Bedürfnisse Rechnung tragen könnte. Seit die New Masses vor sechzehn Monaten aus einer Monatsschrift in eine Wochenschrift umgewandelt wurde, ist sie kein vorwiegend kulturelles Organ mehr. Sie ist eine politische Wochenschrift mit starken kulturellen Interessen; sie ist eins der Bindeglieder zwischen dem kulturellen Bereich und dem einen breiteren Bereich umfassenden Leben der Massen. Da sich diese Publikation in erster Linie an die Mittelklassen wendet, ist es ihre Aufgabe, diese mit der Arbeiterklasse, der Trägerin der neuen, sozialistischen Gesellschaft, zusammenzuführen. Die New Masses ist zwar kein Parteiorgan, repräsentiert aber die kommunistische Linie, wenn sie diese zueinander in Beziehung stehenden, aber unterschiedlichen Lebensbereiche miteinander verbindet. Ihre neue Aufgabenstellung hat keine Entmutigung rein kultureller Publikationen zur Folge gehabt; im Gegenteil, wir konnten gerade in den zurückliegenden sechzehn Monaten das größte Wachstum bei rein literarischen Publikationen der „Linken" beobachten. Wir alle sind eng miteinander verbunden und dazu gezwungen, unsere gemeinsamen Probleme kollektiv zu lösen, weil ein gemeinsamer Feind alles, was uns lieb und teuer ist, zu zerstören droht. Uns verbindet der Kampf gegen die Reaktion, der Kampf gegen den Faschismus im inneren Leben der Nationen und gegen den imperialistischen Krieg im internationalen Maßstab. Wir können nicht in unseren Bemühungen um die Vereinigung aller progressiven Kräfte scheitern, ohne uns des Verrats an uns selbst und an der arbeitenden Menschheit schuldig zu machen. Wir stehen nicht allein. In jedem Lande haben wir Brüder. Wir besitzen einen mächtigen Rückhalt bei diesem Kampf in dem Lande, in dem der Sozialismus aufgebaut wird und eine neue Kultur aufblüht — in der Sowjetunion. Diese Festung gegen die Reaktion ist heute unser stärkster Schutz gegen die Welle der Reaktion, die die Welt überflutet. Wir müssen sie schützen, so wie sie uns schützt. Selbst in den weiten Gebieten Asiens, in China, Japan, Indien, den Philippinen haben wir Brüder und Bundesgenossen, die die gleichen Kämpfe gegen die Reaktion bestehen wie wir, die um ein neues Leben und eine neue Kultur kämpfen. Während wir unsere Kräfte im nationalen Maßstab organisieren und dabei tief in die Schätze unserer nationalen Traditionen und 4«
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unseres Kulturerbes eindringen, müssen wir gleichzeitig unsere Arbeit organisch mit den fortschrittlichen Kräften in der ganzen Welt verbinden. Nationaler Chauvinismus und nationale Borniertheit sind Kennzeichen der Reaktion und des Faschismus. Wer die neue Welt erbauen und der Menschheit helfen will, den Weg aus dem Chaos und der Zerstörung zu finden, muß Internationalist sein. Mit diesen Gedanken begrüßt die Kommunistische Partei diesen historischen Kongreß der amerikanischen Schriftsteller. Wir alle sind, jeder an seinem Platz, Soldaten einer gemeinsamen Sache. Vereinigen wir also unsere Bemühungen in brüderlicher Solidarität.
4 Moishe Nadir Jiddische Sprache und proletarische Literatur Die Sprache einer Minoritätengruppe — Jiddisch — die auf diesem Kongreß zu vertreten ich die Ehre habe, besitzt das einzigartige Kennzeichen, von ihrem Ursprung an die Sprache der arbeitenden jüdischen Massen zu sein, im Gegensatz zum alten Hebräisch der der Oberschicht angehörenden Chauvinisten oder dem „reinen" Deutsch der vulgären, mittelständischen Assimilationsanhänger. Wie wohl jede erdenkliche Art von Unsinn, von der Droge bis zum Dada, die eine Zeitlang als Modeeinfluß gewirkt haben, hinterließen sie jedoch nicht den geringsten Eindruck auf den proletarischen jüdischen Leser, der mit seinen gesunden, unverdorbenen Instinkten zu allen Zeiten eine bemerkenswerte Fähigkeit bewiesen hat, zu unterscheiden zwischen dem Leben der rauhen Wirklichkeit und dem, was auf dem Boulevard Montparnasse und Broadway dafür gilt, wo es, bemüht, seinen Pferdefuß zu verbergen, in den mystifizierenden schwarzen Opernmantel des Ultramodernismus gehüllt ist. Viel Tinte ist in jüngsten Jahren an die Frage verschwendet worden: Was ist proletarische Kunst? Eine marxistisch-leninistische Kurzformel zu einer Definition ist: Kunst, die dem Proletariat als Waffe im Kampf gegen den Kapitalismus dient; Kunst, die dem Arbeiter seine Klassenzugehörigkeit, seine bedeutende historische Rolle in der Hegeischen „Gesamtheit des Seienden" bewußt macht. Der proletarische Schriftsteller von heute hat vor allem unaufhörlich auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß die alten Kriegstreiber vom Schlag eines Stinnes, Morgan, Deterding, DuPont und Krupp ebenso wie ihre Mietlinge Wotan, Hitler, Father Coughlin, Brother Roosevelt sich abermals von dem „Überschuß" an Arbeitskräften dadurch befreien wollen, daß sie sie in das Höllenfeuer des nächsten imperialistischen Krieges stürzen, zweifellos eine höchst „bequeme" Art, die der kapitalistischen Ökonomie innewohnenden Widersprüche zu lösen. 52
unseres Kulturerbes eindringen, müssen wir gleichzeitig unsere Arbeit organisch mit den fortschrittlichen Kräften in der ganzen Welt verbinden. Nationaler Chauvinismus und nationale Borniertheit sind Kennzeichen der Reaktion und des Faschismus. Wer die neue Welt erbauen und der Menschheit helfen will, den Weg aus dem Chaos und der Zerstörung zu finden, muß Internationalist sein. Mit diesen Gedanken begrüßt die Kommunistische Partei diesen historischen Kongreß der amerikanischen Schriftsteller. Wir alle sind, jeder an seinem Platz, Soldaten einer gemeinsamen Sache. Vereinigen wir also unsere Bemühungen in brüderlicher Solidarität.
4 Moishe Nadir Jiddische Sprache und proletarische Literatur Die Sprache einer Minoritätengruppe — Jiddisch — die auf diesem Kongreß zu vertreten ich die Ehre habe, besitzt das einzigartige Kennzeichen, von ihrem Ursprung an die Sprache der arbeitenden jüdischen Massen zu sein, im Gegensatz zum alten Hebräisch der der Oberschicht angehörenden Chauvinisten oder dem „reinen" Deutsch der vulgären, mittelständischen Assimilationsanhänger. Wie wohl jede erdenkliche Art von Unsinn, von der Droge bis zum Dada, die eine Zeitlang als Modeeinfluß gewirkt haben, hinterließen sie jedoch nicht den geringsten Eindruck auf den proletarischen jüdischen Leser, der mit seinen gesunden, unverdorbenen Instinkten zu allen Zeiten eine bemerkenswerte Fähigkeit bewiesen hat, zu unterscheiden zwischen dem Leben der rauhen Wirklichkeit und dem, was auf dem Boulevard Montparnasse und Broadway dafür gilt, wo es, bemüht, seinen Pferdefuß zu verbergen, in den mystifizierenden schwarzen Opernmantel des Ultramodernismus gehüllt ist. Viel Tinte ist in jüngsten Jahren an die Frage verschwendet worden: Was ist proletarische Kunst? Eine marxistisch-leninistische Kurzformel zu einer Definition ist: Kunst, die dem Proletariat als Waffe im Kampf gegen den Kapitalismus dient; Kunst, die dem Arbeiter seine Klassenzugehörigkeit, seine bedeutende historische Rolle in der Hegeischen „Gesamtheit des Seienden" bewußt macht. Der proletarische Schriftsteller von heute hat vor allem unaufhörlich auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß die alten Kriegstreiber vom Schlag eines Stinnes, Morgan, Deterding, DuPont und Krupp ebenso wie ihre Mietlinge Wotan, Hitler, Father Coughlin, Brother Roosevelt sich abermals von dem „Überschuß" an Arbeitskräften dadurch befreien wollen, daß sie sie in das Höllenfeuer des nächsten imperialistischen Krieges stürzen, zweifellos eine höchst „bequeme" Art, die der kapitalistischen Ökonomie innewohnenden Widersprüche zu lösen. 52
Liest man die „vollklimatisierten" bürgerlichen Wortfabrikanten, erhält man den Eindruck, ihr Verhalten sei so: Während ein Mitmensch (in diesem Falle die Menschheit selbst!) ertrinkt, muß der „freie" Künstler, der selbst nicht schwimmen kann, den Sprung ins eisige Wasser, um den Mitmenschen zu retten, vorsichtig unterlassen. Auch darf er nicht um Hilfe rufen. Gute Erziehung verbietet solche schlechten Sitten. Statt dessen schlägt der bürgerliche Ästhet dem Ertrinkenden (in diesem Falle der Menschheit!) vor, daß er entzückt wäre, ihn genau, in diesem Augenblick zu malen, und ob er bitte das Gesicht nach dieser Seiten wenden würde? Es gibt eine Geschichte, die über einen jiddischen Schriftsteller aus dem Landesinneren Litauens erzählt wird. Als er im Hafen ankam, wo ihn ein Schiff zu unseren gelobten amerikanischen Küsten tragen sollte und er zum ersten Mal in seinem Leben das Meer sah, klatschte er inbrünstig in die Hände und rief aus: „Das ist also das Meer, das ich in meinen Gedichten besungen habe! Welch bemerkenswerte Ähnlichkeit!" Andererseits gibt es unter den jüngeren proletarischen Schriftstellern jene, die die Dinge genauso wörtlich nehmen wie der schottische Gärtner den Auftrag, jeden Freitag den Rasen vor dem Hause zu sprengen. Mit einem Schlauch in der einen Hand und einem Regenschirm in der anderen begab er sich in den Garten, denn an jenem Freitag ging ein schwerer Wolkenbruch nieder. Ein jiddisches Sprichwort heißt: „Man kann sich die Weisheit nicht aus den Fingern saugen", was in die bolschewistische Ideologie übersetzt ganz einfach bedeutet: Um eine einflußreiche Gestalt in der proletarischen Weltliteratur zu sein, muß man sich mit sämtlichen aktiven Phasen des Kampfes um die Befreiung vom kapitalistischen Inferno identifizieren; man muß im Brennpunkt der Dinge stehen, bereit, der Sache des revolutionären Proletariats mit jeder nur möglichen Art von Waffe zu dienen. Wir an der proletarisch-literarischen Front dürfen weder schreiben, um zu leben, noch leben, um zu schreiben, sondern müssen l e b e n und s c h r e i b e n und wechselweise unsere Feder und unsere Fäuste, oder beide, benutzen, wie es der revolutionäre Zustand erfordert. Es gibt unter den bürgerlichen Ökonomen solche, die eine eigene These zusammengebraut haben, derzufolge wir Kommunisten, um unser revolutionäres Ziel zu erreichen, hoffnungsvoll einen Weltkrieg erwarten, was natürlich blanker Unsinn ist. Von der Brest-Litowsker Konferenz zu Ende des Weltkriegs bis zum Zeitpunkt von Edens Besuch in Moskau und Litwinows offenen Angriffen gegen die imperialistischen Kriegsmachenschaften in Genf haben die Sowjetunion ebenso wie die Kommunisten in der ganzen Welt alles nur in ihren Kräften Stehende unternommen und tun es noch, um das Massenopfer eines Krieges abzuwenden. Obwohl wir überzeugt sind, daß der rote Phönix sich aus der Asche des nächsten Weltkrieges, der in seinen Zerstörungsmöglichkeiten so schrecklich und umfassend sein wird, daß schon der bloße Gedanke daran erschrecken macht, erheben wird, sind wir ebensowohl überzeugt, daß es langezeit dauern wird, bis dieser aus dem Unheil geborene 53
,Feuervogel' wieder genesen ist, um normalen und zivilisierten Bemühungen zugeführt werden zu können. . . Tatsächlich hoffen die Kommunisten, die Hakenkreuzschädel an den bröckelnden Mauern kapitalistischer Wirtschaft zerschmettert zu sehen — und zwar in F r i e d e n s z e i t e n . Auch dürfen wir uns nicht von den Feinden der Arbeiter durch Berufung auf eine vermeintliche „Vaterlandsliebe" einschüchtern lassen. Wie Kannibalen lieben die kapitalistischen Hurrapatrioten ihr Vaterland — lieben es gebraten, lieben es verkohlt, während sie es mit wässrigem Munde am Bratspieß einer selbsterbauten Hölle wenden. Wir proletarischen Schriftsteller dagegen lieben das Land Unserer Väter und Brüder und Schwestern und Schwägerinnen in solchem Maße, daß diese Liebe mühelos a l l e L ä n d e r dieser kleinen Erde miteinschließt. Wir lieben Amerika wie wir unser eigenes Gesicht lieben, auch wenn es zeitweilig durch einen Zahnschmerz geschwollen ist. Es ist schließlich unser Gesicht. Wir lieben es wegen seiner unerschöpflichen Möglichkeiten, für das gesellschaftliche Wohl zu wirken, wegen seiner hochindustrialisierten Produktionsweise, die wir entschlossen sind, von einem Fluch in einen Segen für die Menschheit zu verwandeln. Vor allem: wir l i e b e n A m e r i k a a l s e i n e der s c h ö n s t e n B l u m e n im S t r a u ß d e r k ü n f t i g e n W e l t s o w j e t s . Auf eine einfache Formel gebracht: es gibt eigentlich nur zwei verschiedene literarische Methoden — 1.) das, was einfach ist, kompliziert auszudrücken; 2.) das, was kompliziert ist, einfach auszudrücken. Die erste ist die Methode und Technik des bürgerlichen Schriftstellers, der, nachdem er die einfachsten Dinge manchmal mit einer Sisyphusarbeit und unter Zuhilfenahme der Metaphysik kompliziert hat, es schafft, die Dinge h a l b so e i n s i c h t i g zu machen, wie sie w a r e n , b e v o r er sie zu k o m p l i z i e r e n b e g a n n . Es gilt, zu vereinfachen, heranzubilden, zu lehren und zu begreifen — und zwar nicht unsere eigene revolutionäre Brille, sondern die Sache selbst. Die Revolutionierung des Bewußtseins der Massen ist das einzig Wichtige zu diesem kritischen Zeitpunkt, da den hungernden Massen statt Brot ein brodelnder politischer Zirkus voller Hyänen, Esel, Zebras und Känguruhs vom Schlage eines Father Coughlins und Huey Longs, eines Hearsts und Abraham Cahans als Ablenkung von der bitteren Realität angeboten wird. Da dies ein Schriftstellerkongreß ist, ist es wohl nicht unangebracht, ein Wort über den, schöpferischen Prozeß zu sagen, der unserer Ansicht nach die besten revolutionären Ergebnisse zeitigen wird. Es wäre, so glauben wir, für den proletarischen Schriftsteller, der seinen Stoff im Glutofen seiner revolutionären Leidenschaft zum Schmelzen bringt, höchst fruchtbar, wenn er ihn, um ein vollendetes proletarisches Produkt zu erzielen, im Kühlwasser marxistischer Logik abschreckt. Man muß s c h n e l l und a t e m l o s schreiben, und gleichzeitig lernen, bedächtig und gewissenhaft und mit jenem künstlerischen Stolz, der allen wirksamen proletarischen Schöpfungen innewohnt, umzuschreiben. Da Literatur eine der Waffen der herrschenden Klasse ist, müssen wir sie übertreffen und eine Waffe von ü b e r l e g e n e r Qualität schaffen. In einer Periode sozialer Erhebung und Revolution 54
ist wirklich keine Zeit, sich um die Revolutionierung der Kunstformen zu kümmern. Weit wichtiger ist es, alle gängigen Kunstformen als ein Mittel für den revolutionären Zweck zu verwenden; auch die Kunstformen, die sich einer vollständigen Revolution werden unterziehen müssen, sobald wir unser Endziel erreicht haben. Wir müssen immer bedenken, daß proletarische Schriftsteller nicht im Himmel, sondern in der Hölle der kapitalistischen Ökonomie geboren werden, einer Ökonomie, die ihre Zuflucht zum Krieg als einem Ausweg aus dem drohenden Zusammenbruch nimmt. Da die Regisseure des nächsten Krieges fürchten, daß der Deckel des Pulverfasses aufgehen kann, bevor sie in Deckung laufen können, stoßen sie das Faß mit dem Fuß von einer schwelenden Grenze zur anderen; doch es besteht ungeheure Gefahr, daß allein schon das Umherstoßen des Fasses die plötzliche Explosion auslösen kann . . . Darum seien wir auf der Hut, Kollegen! Lassen wir uns nicht in zeitweilige Untätigkeit und in das trügerische Gefühl der Sicherheit einschläfern, jedesmal, wenn auf einer Wochenendparty diplomatische Intriganten einen Fetzen Papier unterzeichnen. Agitieren wir weiter mit einör durch Fehlschläge unverminderten Geduld unter unseren Kollegen, die aus diesen oder anderen Gründen noch nicht mit uns oder sogar gegen uns sind. Versuchen wir, sie nicht nur durch unsere revolutionären Argumente, sondern auch durch unsere revolutionären Taten zu überzeugen. Legen wir unseren ganzen literarischen Snobismus, unseren ganzen Cliquengeist und Formalismus ab, die nur dazu führen, uns vom wogenden Lebensstrom zu isolieren. Kämpfen wir unaufhörlich und unermüdlich gegen d a s k u l t u r e l l e N e a n d e r t a l e r t u m des faschistischen Barbaren.
5 Langston Hughes Ein Wort an farbige Schriftsteller Es gibt gewisse nützliche Dinge, die die amerikanischen Negerschriftsteller durch ihre Arbeit erreichen können. Wir können den Negermassen, aus denen wir hervorgegangen sind, unsere potentielle Macht zeigen, das heute so häßliche Antlitz des Südens in ein Gebiet des Friedens und der Fülle zu verwandeln. Wir können den weißen Massen jene Eigenschaften der Neger zeigen, die über die bloße Fähigkeit zu lachen, zu singen, zu tanzen und zu musizieren hinausgehen und ein Bestandteil des nützlichen Erbes sind, das wir einem künftigen, freien Amerika zur Verfügung stellen. Negerschriftsteller können Schwarze und Weiße in unserem Land zu vereinen suchen, und zwar nicht auf der verschwommenen Basis einer zwischen den Rassen stattfindenden Begegnung oder dem Treibsand religiöser Verbrüderung, vielmehr 55
ist wirklich keine Zeit, sich um die Revolutionierung der Kunstformen zu kümmern. Weit wichtiger ist es, alle gängigen Kunstformen als ein Mittel für den revolutionären Zweck zu verwenden; auch die Kunstformen, die sich einer vollständigen Revolution werden unterziehen müssen, sobald wir unser Endziel erreicht haben. Wir müssen immer bedenken, daß proletarische Schriftsteller nicht im Himmel, sondern in der Hölle der kapitalistischen Ökonomie geboren werden, einer Ökonomie, die ihre Zuflucht zum Krieg als einem Ausweg aus dem drohenden Zusammenbruch nimmt. Da die Regisseure des nächsten Krieges fürchten, daß der Deckel des Pulverfasses aufgehen kann, bevor sie in Deckung laufen können, stoßen sie das Faß mit dem Fuß von einer schwelenden Grenze zur anderen; doch es besteht ungeheure Gefahr, daß allein schon das Umherstoßen des Fasses die plötzliche Explosion auslösen kann . . . Darum seien wir auf der Hut, Kollegen! Lassen wir uns nicht in zeitweilige Untätigkeit und in das trügerische Gefühl der Sicherheit einschläfern, jedesmal, wenn auf einer Wochenendparty diplomatische Intriganten einen Fetzen Papier unterzeichnen. Agitieren wir weiter mit einör durch Fehlschläge unverminderten Geduld unter unseren Kollegen, die aus diesen oder anderen Gründen noch nicht mit uns oder sogar gegen uns sind. Versuchen wir, sie nicht nur durch unsere revolutionären Argumente, sondern auch durch unsere revolutionären Taten zu überzeugen. Legen wir unseren ganzen literarischen Snobismus, unseren ganzen Cliquengeist und Formalismus ab, die nur dazu führen, uns vom wogenden Lebensstrom zu isolieren. Kämpfen wir unaufhörlich und unermüdlich gegen d a s k u l t u r e l l e N e a n d e r t a l e r t u m des faschistischen Barbaren.
5 Langston Hughes Ein Wort an farbige Schriftsteller Es gibt gewisse nützliche Dinge, die die amerikanischen Negerschriftsteller durch ihre Arbeit erreichen können. Wir können den Negermassen, aus denen wir hervorgegangen sind, unsere potentielle Macht zeigen, das heute so häßliche Antlitz des Südens in ein Gebiet des Friedens und der Fülle zu verwandeln. Wir können den weißen Massen jene Eigenschaften der Neger zeigen, die über die bloße Fähigkeit zu lachen, zu singen, zu tanzen und zu musizieren hinausgehen und ein Bestandteil des nützlichen Erbes sind, das wir einem künftigen, freien Amerika zur Verfügung stellen. Negerschriftsteller können Schwarze und Weiße in unserem Land zu vereinen suchen, und zwar nicht auf der verschwommenen Basis einer zwischen den Rassen stattfindenden Begegnung oder dem Treibsand religiöser Verbrüderung, vielmehr 55
auf dem f e s t e n Grund des täglich geführten Kampfes der Arbeiterklasse, der geführt wird, um die alten Ungerechtigkeiten der Vergangenheit ein für allemal auszumerzen. Des weiteren können Negerschriftsteller in ihren Romanen, Erzählungen, Gedichten und Artikeln folgende Dinge durch Enthüllung entlarven: Das lieblich grinsende Gesicht der Menschenfreundlichkeit, die eine Million Dollar für eine Jim-Crow-Schule 61 ausgibt, doch nicht einen einzigen Arbeitsplatz für einen Absolventen dieser Schule hat; die Negerkrankenhäuser mit zweitklassiger Ausstattung baut und dann schwarze Patienten und junge Ärzte gewaltsam dorthin schickt, ob sie wollen oder nicht; oder die aus reiner Herzensgüte einen zweiten, gesonderten, abgeschlossenen, rassengetrennten und für den Neger diskriminierenden Christlichen Verein Junger Männer gründet. Negerschriftsteller können jene weißen Arbeiterführer entlarven, die ihre Gewerkschaften schwarzen Arbeitern verschließen und die Verbesserung der Situation aller Arbeiter verhindern. Wir können auch das süßliche Lächeln der organisierten Religion enthüllen, die hinsichtlich dessen lügt, was sie nicht weiß, wie dessen, w a s sie weiß. Und das halb hexenhafte, halb clownhafte Gesicht der Erweckungsbewegung, die mit dem Klatschen ihrer leeren Hände nur den Geist betäubt. Wir können auch die falsche, das Negervolk bedrängende Führung entlarven, die für ihre Führerrolle gekauft und bezahlt ist, die Eigentum des Kapitals ist und sich fürchtet, den Mund aufzumachen, es sei denn, in der alten versöhnlerischen und für die Ausbeuter so vorteilhaften Weise. Sowie sämtliche ökonomischen Wurzeln des Rassenhasses und der Rassenfurcht. Sowie die Zufriedenheitstradition der „Ach, so lieben Neger"-Schule der amerikanischen Prosadichtung, die ein unwissendes schwarzes Gesicht und einen aus Carolina stammenden, abergläubischen Dickschädel als wünschenswerter hinstellte als eine goldene Krone; die Jazzband; und die „Ach, so munteren" Schreiberlinge, die Armut und Elend des Negers in ein trauriges Witzblatt verwandeln. Und den Krieg entlarven. Und die alte Lüge „Mein Land, es ist für Dich!" Und die Soldaten der farbigen American Legion, die umherstolzieren und sich des Vorrechts rühmen, für die Farben der Flagge Rot, Weiß und Blau sterben zu dürfen, wenn man ihnen nicht einmal erlaubt, dafür zu leben. Oder das Stimmrecht dafür in Texas. Oder die Arbeit dafür im diplomatischen Dienst. Oder die Aufstiegschance von der Blockhütte zum Weißen Haus, wie sie jeder andere brave kleine Junge erhält. Das W e i ß e Haus hat recht! Lieber farbiger Amerikanischer Legionär, du kannst in voller Montur mit Vergnügen vom Aste eines Lynchbaums hängen — und keiner wird für dich kämpfen. Weißt du das nicht? Keiner wird dich im tiefen Süden grüßen, ob du tot oder lebendig bist, Orden und Unteroffiziersstreifen hast oder nicht und gleichgültig, in wievielen Kriegen du gekämpft hast. 56
Sollen Negerschriftsteller doch über die Ironie und das Pathos des f a r b i g e n amerikanischen Legionärs schreiben. „Seid g e g r ü ß t , M i s t e r W e i ß e r ! " „Dein Gruß zum Teufel . . . Du bist ja ein Nigger." Oder möchten Sie lieber über den Mond schreiben? Natürlich, der Mond scheint noch immer über Harlem. Scheint über Scottsboro. Scheint, vermute ich, auch über Birmingham. Scheint tief unten im Süden über Cordie Cheeks Grab. Schreiben Sie, wenn Sie wollen, über den Mond, Nur immer zu. Dies ist ein freies Land. Doch es gibt gewisse sehr nützliche Dinge, die amerikanische Negerschriftsteller ausrichten können. Und müssen. Es gibt ein Lied, worin es heißt: „Es dauert nicht mehr lange." Das Lied hat recht. Es muß sich etwas in Amerika verändern — und zwar bald verändern. Daß diese Veränderung zustandekommt, dazu müssen wir beitragen. Der Mond scheint genauso poetisch wie früher, nur die Sterne auf der Fahne sind alle verblaßt. (Und die Streifen auch). Wir wollen ein neues und besseres Amerika, in dem es keine Armen gibt, in dem es keine Rassendiskriminierung mehr gibt, in dem es keine Lynchmorde mehr gibt, in dem es keine Muntionsarbeiter mehr gibt, in dem wir keine scheinbare Menschenliebe, keine Wohlfahrt, keinen New Deal und keine Arbeitslosenunterstützung brauchen. Wir wollen ein Amerika, das uns gehört, eine Welt, die uns gehört — wir, die schwarzen und weißen Arbeiter! Die schwarzen und weißen Schriftsteller! Wir werden diese Welt errichten!
6 Joseph Freeman Die Tradition der amerikanischen revolutionären Literatur Die bürgerliche Revolution am Ende des achtzehnten Jahrhunderts veränderte das Leben der westlichen Welt unter der abstrakten Losung Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese sozialen Werte wurden zusammen mit den Fabriken, Maschinen, Banken und dem Staat das Monopol der Bourgeoisie. Die Literatur spiegelte diesen tiefgehenden Wandel der Gesellschaft wider. Der christliche Mythos wurde durch den Mythos des geheiligten Ich als dem Hauptthema der bürgerlichen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts abgelöst. Wir wissen nunmehr, was das geheiligte Ich in Wirklichkeit war. Die Freiheit des Individuums — 57
Sollen Negerschriftsteller doch über die Ironie und das Pathos des f a r b i g e n amerikanischen Legionärs schreiben. „Seid g e g r ü ß t , M i s t e r W e i ß e r ! " „Dein Gruß zum Teufel . . . Du bist ja ein Nigger." Oder möchten Sie lieber über den Mond schreiben? Natürlich, der Mond scheint noch immer über Harlem. Scheint über Scottsboro. Scheint, vermute ich, auch über Birmingham. Scheint tief unten im Süden über Cordie Cheeks Grab. Schreiben Sie, wenn Sie wollen, über den Mond, Nur immer zu. Dies ist ein freies Land. Doch es gibt gewisse sehr nützliche Dinge, die amerikanische Negerschriftsteller ausrichten können. Und müssen. Es gibt ein Lied, worin es heißt: „Es dauert nicht mehr lange." Das Lied hat recht. Es muß sich etwas in Amerika verändern — und zwar bald verändern. Daß diese Veränderung zustandekommt, dazu müssen wir beitragen. Der Mond scheint genauso poetisch wie früher, nur die Sterne auf der Fahne sind alle verblaßt. (Und die Streifen auch). Wir wollen ein neues und besseres Amerika, in dem es keine Armen gibt, in dem es keine Rassendiskriminierung mehr gibt, in dem es keine Lynchmorde mehr gibt, in dem es keine Muntionsarbeiter mehr gibt, in dem wir keine scheinbare Menschenliebe, keine Wohlfahrt, keinen New Deal und keine Arbeitslosenunterstützung brauchen. Wir wollen ein Amerika, das uns gehört, eine Welt, die uns gehört — wir, die schwarzen und weißen Arbeiter! Die schwarzen und weißen Schriftsteller! Wir werden diese Welt errichten!
6 Joseph Freeman Die Tradition der amerikanischen revolutionären Literatur Die bürgerliche Revolution am Ende des achtzehnten Jahrhunderts veränderte das Leben der westlichen Welt unter der abstrakten Losung Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese sozialen Werte wurden zusammen mit den Fabriken, Maschinen, Banken und dem Staat das Monopol der Bourgeoisie. Die Literatur spiegelte diesen tiefgehenden Wandel der Gesellschaft wider. Der christliche Mythos wurde durch den Mythos des geheiligten Ich als dem Hauptthema der bürgerlichen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts abgelöst. Wir wissen nunmehr, was das geheiligte Ich in Wirklichkeit war. Die Freiheit des Individuums — 57
angefangen von der Deklaration der Menschenrechte und der Unabhängigkeitserklärung bis zu jüngsten Klagen darüber, daß Europa tatsächlich ein Erfolg gewesen sei, während die Verheißung des amerikanischen Lebens immer noch eine Verheißung sei — bedeutete in Wirklichkeit die Freiheit der besitzenden Klassen, diejenigen auszubeuten, die nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben. Diese Freiheit der Privilegierten wurde erlangt durch die Versklavung von Millionen. Insofern die bürgerliche Literatur diese Millionen übersah, insofern sie sich auf das Individuum der Ober- und Mittelklasse beschränkte, war die bürgerliche Literatur eine Klassenliteratur. Anfangs war sie dies ganz unverhüllt. Die Klassenkonzeption der Literatur nimmt die organisierte Bewegung des Proletariats vorweg. Die Ideologen der bürgerlichen Revolution forderten eine neue Kunst und zögerten nicht, sie beim richten Namen zu nennen. Diderot und Lessing forderten unverblümt das b ü r g e r l i c h e D r a m a . Madame de Staël verteidigte die bürgerliche gegen die feudale Literatur, bestand auf einem vollständigen Bruch mit den Ideen der alten Ordnung und forderte eine spezifisch von bürgerlichen Werten angeregte Literatur. Prosper Barante argumentierte, daß es einen notwendigen Zusammenhang zwischen Literatur und Gesellschaft gebe, und schloß daraus, daß die Gesellschaft die Literatur b e d i n g e . Wir wissen, in welchem Ausmaß die amerikanische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts die nationaldemokratischen Bestrebungen der damals progressiven Bourgeoisie unseres Landes zum Ausdruck brachte. Man nannte das die große Tradition. Doch es gibt tatsächlich zwei große Traditionen in der modernen Literatur des Westens. Enttäuschung über die Ergebnisse der französischen Revolution führte zur romantischen Bewegung des vorigen Jahrhunderts. Aus dem Ichkult entwickelten die Romantiker den Mythos vom Primat der Kunst, der, bis in die jüngste Vergangenheit hinein, zum Elfenbeinturm 62 führte. Versagte die Kunst bei der Befriedigung der grenzenlosen Sehnsüchte des Dichters, der durch die hochtönenden Phrasen, hinter denen sich die bürgerliche Profitsucht verbarg, überreizt war, so fiel dieser, Trost suchend, in die Arme der Kirche zurück. Doch unterdessen hatten Kirche und Bourgeoisie, Feinde seit Jahrhunderten, sich gegen das Proletariat verbündet, welches das rationale materialistische Denken an der Stelle aufgenommen hatte, wo es die Bourgeoisie aufgegeben hatte. Vor dem Hintergrund der klassischen deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie, des französischen Sozialismus und der französischen revolutionären Doktrin, entwickelten Marx und Engels den dialektischen Materialismus, die Ideologie der Arbeiterklasse, die zur revolutionären Klasse der modernen Gesellschaft wurde. Die neue Lehre enthüllte deutlicher als alles andere zuvor mCnt nur die soziale, sondern auch die k l a s s e n m ä ß i g e Bedingtheit von Ideen. Die Denker des Proletariats waren imstande, diese tiefgreifende Wahrheit zu erkennen, weil das Proletariat die erste soziale Klasse in der Geschichte ist, die für die Abschaffung nicht nur der Klassenprivilegien, sondern der sozialen Klassen überhaupt kämpft. 58
Seit den letzten hundert Jahren haben wir einen bewußten, organisierten, zielgerichteten Kampf zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat. Das bedeutet zwei im Widerstreit befindliche Traditionen in der Ökonomie, in der Philosophie, in der Literatur und in der Kunst — eine bürgerliche und eine proletarische. In den vierziger Jahren bezeichnete sich der große deutsche Dichter Ferdinand Freiligrath als D i c h t e r d e r R e v o l u t i o n u n d des P r o l e t a r i a t s . Später analysierten kommunistische Literaturkritiker wie Franz Mehring die literarische Klassik vom proletarischen Standpunkt aus. In Rußland entstand eine große Kritikerschule — zu der solche Männer wie Pissarew, Bjelinsky und Tschernischewsky gehörten; das waren nicht nur sachverständige Ästhetiker, sondern führende Denker, Lehrer des Volkes, Revolutionäre, die die Dichtung mit der Politik verbanden. Von Marx und Engels bis zum heutigen Tag hat die organisierte Bewegung der Arbeiterklasse ein lebhaftes Interesse an der Kunst und Literatur von Vergangenheit und Gegenwart bewiesen; sie ist auch daran interessiert gewesen, jene Kunst und Literatur zu entwickeln, die die Kämpfe und Bestrebungen des Proletariats widerspiegelt. Wo immer die sozialistische Bewegung sich entfaltete, entstanden in ihrem Umfeld Gruppen sozialistischer Schriftsteller und Künstler. Wo der Klassenkampf latent war, war die sozialistische Bewegung schwach; wo die Bewegung schwach war, war die von ihr inspirierte Kunst schwach. Wo der Klassenkampf heftig war, war die Bewegung stark; wo die Bewegung stark war, war die von ihr inspirierte Kunst vielfältig und lebensvoll. Amerika bildet bei diesem allgemeinen Entwicklungsgesetz keine Ausnahme. Zum Beispiel: 1901, als sich die amerikanische sozialistische Bewegung zu entfalten begann, begründete eine Gruppe New Yorker Sozialisten die Zeitschrift The Comrade,63 für die unter anderem Edward Carpenter, Walter Crane, Richard Le Gallienne, Maxim Gorki, Jack London, Upton Sinclair, Edwin Markham und Ryan Walker Beiträge lieferten. Dieses Organ — ein Vorläufer der Masses64 — verkündete, daß es sein Ziel sei, seinen Lesern „solche literarischen und künstlerischen Werke zu liefern, die die Stärke der sozialistischen Philosophie widerspiegeln . . . Das sozialistische Denken widerzuspiegeln, so wie es in Kunst und Literatur seinen Ausdruck findet . . . und den ästhetischen Impuls der sozialistischen Bewegung zu fördern." Sie werden überzeugt sein, daß das kein „stalinistisches" Komplot war, amerikanische Künstler zu uniformieren, wenn ich Sie daran erinnere, daß das 1901 geschah — und daß zu den Herausgebern der Zeitschrift John Spargo und Algernon Lee gehörten — die zu der Zeit mehr oder minder Marxisten waren. Die Zeitschrift, die vier Jahre erschien, benutzte den Begriff p r o l e t a r i s c h e r D i c h t e r , um der Arbeiterklasse angehörende Verfasser von Gedichten damit zu bezeichnen. Niemand fand diesen Begriff merkwürdig. Er war eine logische Folge der Lebensanschauung der Arbeiterklasse, das offenbar poetische Nebenprodukt proletarischer Politik. Trotz all seiner utopischen, gefühlvollen Phantasien, die damals von den ihrer Klassenherkunft immer noch verbundenen Intellektuellen 59
der Mittelklasse in die sozialistische Bewegung eingebracht wurden, stellte The Comrade eine literarische Bewegung in Amerika dar, aus der Upton Sinclair und Jack London hervorgingen. Die Zeitschrift verlieh der Literaturkritik mehr oder minder sozialistische Maßstäbe. Auf ihren Seiten verkündete Edwin Markham „eine große literarische Renaissance" für Amerika wie für die ganze Welt, die, so sagte er, aus dieser Bewegung hervorgehen würde, um die Arbeit zu befreien. In Amerika wie in Europa erlebte jedes Jahrzehnt, wie Intellektuelle sich der sozialistischen Bewegung anschlössen, wenig später wieder von ihr abfielen; dennoch brachte jedes Jahrzehnt neuen Zuwachs aus den gebildeten Klassen. Jede Schriftstellergruppe begann von neuem. Es gab in den literarischen Zirkeln der Sozialisten keine Kontinuität. Die Gruppe der Zeitschrift The Masses64 ging unmittelbar aus der sozialistischen Bewegung hervor, war jedoch gleichzeitig mit Begriffen der Mittelklasse belastet, Begriffen, die ihre Wurzeln in der romantischen Tradition besaßen. Persönlich gesehen waren die Schriftsteller und Künstler der Zeitschrift Sozialisten, Syndikalisten oder Anarchisten. Die Publikation als solche war ein privates Unternehmen, keiner Partei verbunden und formal keiner Sache verpflichtet. Als individuelle Schriftsteller und Künstler traten die der Mowes-Gruppe Angehörigen für zwei Dinge ein: für den Sozialismus und für eine freie Kunst. Bisweilen verschmolzen diese beiden Ideen; zu anderen Zeitpunkten stießen sie aufeinander. Als Floyd Dell 1913 Dreiser drängte, den amerikanischen Roman der Rebellion zu schreiben, tat er dies unter Verwendung sozialistischer Maßstäbe des Comrade', als er sich 1918 bei dem der Zeitschrift Masses gemachten Prozeß fragte, was er vor Gericht suche, wo er doch zu Hause sitzen und Prosa schreiben solle, war er in die romantische Tradition des freien, ungebundenen, über dem Kampfplatz schwebenden Künstlers zurückgefallen. Mit dem bürgerlichen Amerika überworfen, kämpften die Schriftsteller des Masses-Liberator bald als journalistische Verbündete des Proletariats, bald traten sie für einen K r a f t a k t schöpferischer Kunst ein, der auf dem Gebiet der Literatur vom saccharinsüßen Sonett bis zur aufrüttelnden Revolutionsdichtung reichte. Die besten literarischen Werke dieser Zeit wurden von Männern geschrieben, die in sozialistischen oder I. W. W. 65 Organisationen aktiv tätig waren — Männern wie Joe Hill, Ralph Chaplin, Arturo Giovanitti, Jack London, dem frühen Upton Sinclair und John Reed. Die Oktoberrevolution in Rußland war ein Wendepunkt für das Proletariat in der ganzen Welt, also auch für seine Literatur. 1919 sprach Floyd Dell vom proletarischen Roman in Amerika und begrüßte sowjetische Pläne zur Entwicklung dessen, was damals „proletarische sozialistische Kunst" genannt wurde. Was auf unsere amerikanischen Kritiker anziehend wirkte, war nicht nur der erfolgreiche Versuch, alte wie neue Literatur Millionen Lesern zugänglich zu machen, sondern der gleichfalls bedeutende Versuch, den Arbeiter anzuregen, selbst Kunst hervorzubringen. Dell begriff zu der Zeit das aktive Element in der proletarischen Kunst. Die neuen Erzählungen, sagte er, sollten dem Arbeiter vor 60
allem Mut und Zuversicht in sein Schicksal geben, sollten ihn mit ihrer Satire die Ideale der kapitalistischen Gesellschaft verachten lehren, sollten sein Gefühl der Verbundenheit mit seinen Klassengefahrten in ihrem weltweiten Freiheitskampf vertiefen und ihn der Zukunft mit klarer, unerschütterlicher Entschlossenheit, einem unbezähmbaren Sieges- und Freiheitswillen gegenübertreten lassen. Später betonte er, daß die Literatur Amerikas vor allem eine Literatur des Protestes und der Rebellion sei. Es sei nur eine Frage der Zeit, wer die Welt beherrschen werde — wer durch die Umstände gezwungen sein würde, seine Gegner gewaltsam zu unterdrücken — die Kapitalistenklasse oder die Arbeiterklasse; und eine kurze Zeitlang forderte er, daß die Schriftsteller in diesem Konflikt nicht nur als Mensch sondern auch als Schriftsteller Partei ergreifen sollten. Für Floyd Dell war die proletarische Literatur eine Art Literatur; für Michael Gold war sie die e i n z i g e Art Literatur, die es wert sei, geschaffen zu werden. In einem 1921 veröffentlichten Essay66 forderte er entschieden eine proletarische Kunst. Die alten Ideale müssen untergehen, sagte er. Doch haben wir keine Angst. Stürzen wir uns mit allem, was wir sind, in den Kessel der Revolution ; denn aus unserem Tod werden neue Ruhmestaten erwachsen. Sein Glaube an die proletarische Kultur erwuchs . aus seinem Glauben an die proletarische Revolution. Er war der amerikanische Vertreter jener literarischen Tradition, die die organisierte Arbeiterklasse in jedem Land begründet hat — und die unserem eigenen Land bereits einen Hill, Chaplin, London, Sinclair, Giovanitti, Dell und Reed geschenkt hat. Doch Gold achtet mehr auf die anstehenden Fragen und Probleme: Der Weltkrieg und die bolschewistische Revolution hatten ihn geformt. Allerorts spürten die begabtesten Schriftsteller die Auswirkungen dieser beiden Ereignisse. Die alte Ordnung hatte sich sichtlich verändert, und zahlreiche Intellektuelle in verschiedenen Ländern versuchten sich in dem Chaos zu orientieren. 1919 organisierte Romain Rolland eine Gruppe von Schriftstellern um eine Unabhängigkeitserklärung des Geistes'61, die unter anderen von Jane Addams, Benedetto Croce, Stefan Zweig, Henri Barbusse, Bertrand Russell und Israel Zangwill unterzeichnet wurde. Das Denken sollte davon befreit werden, den eigennützigen Interessen von Staat, Nation oder Klasse zu dienen. Die um die Zeitschrift Masses-Liberator gescharte Gruppe lehnte eine Beteiligung ab, weil das Dokument keine offene Erklärung zugunsten des Proletariats war. Wie zu erwarten, brach Rollands Internationale des Denkens zusammen. Die Linksintellektuellen lernten daraus. 1919 gründete Barbusse die unter kommunistischem Einfluß stehende Gruppe Clarté 68 Diese neue Gruppe sprach sich offen für eine Unterstützung der revolutionären Arbeiterklasse aus. Ihre erste Kampfschrift war ein Aufruf an das Proletariat aller Länder, sich der Dritten Internationale anzuschließen; sie rief zur radikalen Zerstörung des kapitalistischen Systems auf. Gleichzeitig gründete sie einen Verlag und eine Zeitschrift, die revolutionäre Prosa, Dichtung, Kritik und Journalismus veröffentlichte. The Liberator wurde 61
aufgefordert, sich der Clarté als ihre amerikanische Sektion anzuschließen. Der damalige Herausgeber Max Eastman lehnte ab. Er argumentierte, die kommunistische Partei müsse die e i n z i g e revolutionäre Organisation sein, die den revolutionären Künstler leite. In der Folge änderte er seine Ansicht in dieser Sache ein wenig. Doch diejenigen von uns, die sich in den zwanziger Jahren der revolutionären Bewegung anschlössen, traten damit ein literarisches Erbe an, das auf den folgenden Grundgedanken basierte : 1. Jede soziale Klasse besitzt ihre eigene Ideologie und eigene Literatur. Das Proletariat besitzt seine eigene Ideologie und eigene Literatur. 2. Der revolutionäre Schriftsteller verfaßt nicht nur Romane, Stücke und Gedichte, die die Ziele und Kämpfe der Arbeiter ausdrücken, sondern er nimmt selbst aktiv an diesen Kämpfen, — unmittelbar — in den Organisationen der Arbeiter teil. 3. Der Kapitalismus behindert die Entwicklung der heutigen Kultur. Das Proletariat ist der Erbe des Wertvollsten der alten Kultur und der Initiator der neuen. Um den Kapitalismus zu bekämpfen und das Proletariat zu unterstützen, um die neue Kultur zu entwickeln, organisieren sich die Intellektuellen in eigenen Organisationen. 4. Es ist für einen Schriftsteller, um den Arbeitern zu helfen, nicht erforderlich, das politische Programm der proletarischen Partei vollständig zu unterschreiben ; es ist für ihn nicht erforderlich, die Dichtung aus Gründen organisatorischer Tätigkeit aufzugeben. Wenn er in grundlegenden Fragen gegen den Kapitalismus und für das Proletariat ist, kann er sich an einer literarischen Organisation wie Clarté beteiligen und in seinem eigenen spezifischen Beruf als Verbündeter der Arbeiter fungieren. Diese Gedanken waren in den frühen zwanziger Jahren in den linksgerichteten literarischen Zirkeln dieses Landes vorherrschend. Während des Boom wurden zahlreiche Intellektuelle, die sich unter der Wirkung des Krieges und der Oktoberrevolution mit den Arbeitern verbündet hatten, von den damals wohlhabenden Mittelschichten aufgesogen. Eine kleine Gruppe linker Schriftsteller, von der kommunistischen Bewegung beeinflußt, wie ihre Vorläufer von den sozialistischen und syndikalistischen Bewegungen beeinflußt waren, warb für eine revolutionäre Kunst und Literatur in Amerika. Die Bedingungen stellten ihnen eine Aufgabe, die vorwiegend propagandistisch, erzieherisch, organisatorisch war. Sie schrieben, hielten Vorträge und organisierten im Hinblick darauf, grundlegende marxistische Gedanken in der Literatur zu verbreiten. Sie gründeten The New Masses, die Theater Union, die New Theater, Partisan Review,69 die John-Reed-Clubs, die Film and Foto-League; sie lehrten Literatur an Arbeiterschulen und schrieben darüber in The Daily Wörter, teils um die Arbeiter mit der zeitgenössischen Literatur vertraut zu machen, teils um die Schriftsteller mit dem Standpunkt der Arbeiter und dessen Bedeutung für die Kultur im allgemeinen und die Literatur im besonderen bekanntzumachen. Sie bildeten junge Dichter, Kritiker, Journalisten und Romanciers heran, die in der Folge ausgezeichnete 62
schöpferische Arbeit leisteten. Sie veröffentlichten und förderten revolutionäre Schriftsteller nicht nur in New York, sondern auch im Mittleren Westen, an der Pazifikküste, im Süden, darunter begabte Negerschriftsteller wie Langston Hughes und Eugene Gordon. Indem sie das taten, importierten sie nicht — wie ihre Gegner behaupteten — eine ihnen vom Kreml aufgedrängte russische Idee. Sie entwickelten in ihrem eigenen Land eine internationale Idee, die so alt war wie die proletarische Partei — eine Idee, die ihre eigenen, spezifisch amerikanischen Traditionen besaß. Sie arbeiteten ein Jahrzehnt lang in der Nähe der Arbeiterbewegung, ihrer Massenorganisationen, der Kommunistischen Partei — doch sie waren aus verschiedenen historischen Gründen von der Mehrzahl der amerikanischen Schriftsteller mehr oder minder isoliert. Die ökonomische Krise, die Ausbreitung des Faschismus, die drohende Gefahr eines neuen Krieges — der Todeskampf und die Zuckungen der niedergehenden kapitalistischen Kultur, die Kulturbarbarei in den kapitalistischen Ländern — sowie der überwältigende Triumph der sowjetischen Arbeiter nicht nur in der Industrie und Landwirtschaft, sondern auch in Wissenschaft, Kunst, Literatur und Film öffneten den hervorragendsten Schriftstellern Amerikas die Augen für die Bedeutung des Klassenkampfes. In der Entscheidung, die wir in dieser Epoche alle treffen müssen, haben sie sich für die Seite der Arbeiterklasse entschieden. Es gibt im Grunde keine Wahl. In seinem endgültigen Zerfallsstadium bedeutet der Kapitalismus das Ende alles Wertvollen im menschlichen Denken. Allein die Arbeiterklasse kann dadurch, daß sie sich selber befreit, die ganze Menschheit befreien und damit ungeahnte Kräfte für die Erringung von Wissen, für die Schaffung von Kunst freisetzen. Ihr, die Ihr die Hoffnung der amerikanischen Literatur darstellt, habt das Erbe progressiven und revolutionären Denkens übernommen. Ihr habt es mit eurem Können bereichert, wie es euch mit seinen Einsichten bereichert hat. Zum ersten Male in der Geschichte unseres Landes zählen die literarischen Verbündeten des Proletariats nicht nach Dutzenden, sondern nach Hunderten. Darüber hinaus seid ihr das amerikanische Kontingent jenes Schriftstellerheeres in der ganzen Welt, das durch den Sieg der Arbeiterklasse militant für die Erhaltung der Kultur kämpft. In dieser Klasse ruht unsere Stärke. Eine kurze, unangemessene Notiz über die Vergangenheit ist wertlos, wenn sie uns nichts über die Gegenwart lehrt. Wir sollten uns bewußt sein, daß wir ein revolutionäres literarisches Erbe hinter uns haben, damit wir über seine Grenzen hinausgehen. Wir sollten uns ebenfalls bewußt sein, daß wir als Schriftsteller dann unser Bestes leisten, wenn wir ein integraler Bestandteil der Bewegung der Arbeiterklasse sind, wenn unsere Werke aus der aktiven Identifizierung mit dieser hervorgehen. Ich habe die Namen einiger erwähnt, die, seit sie mit dem Proletariat gebrochen haben, zwar physisch noch leben, doch als Schriftsteller tot sind. Man bedenke nur, was ein Dichter wie Arturo Giovanitti, der heute verstummt ist, damals, in den zwanziger Jahren, als er noch ein aktiver proletarischer Kämpfer war, über die Oktoberrevolution schreiben konnte: 63
Der Sieg, mit von Blitzen durchzucktem Gesicht, mit flammenden Flügeln, ist da, Eure Propheten und Seher verkündeten ihn uns am selben Tag, Vorboten eures großen Tages, Gründer eures Weges, Bahnbrecher eurer Straßen der Welt. Eure Lehrer klären unermüdlich und rückhaltlos das Volk auf, Mit jedem Buch, das sie drucken, geben sie dem Volk ein Gewehr; Des Arbeiters eigen ist nun alles, selbst das Recht zu leben; Die Bauern bringen den vollen Flachs ein, Weizen und Mais; In Moskau steht die Sonne hoch am Himmel, während es in Europa tagt; Allerorts sind die Sowjets.
7 KennethBurke Revolutionäre Symbolik in Amerika Führt man sich vor Augen, wie in konservativen oder revolutionären Bewegungen der Vergangenheit die Menschen gemeinsam gewirkt haben, dann stellt man fest, daß es dabei immer irgendeinen einigenden Grundgedanken gegeben hat, der den Mittel- und Anziehungspunkt des Engagements der Gruppe bildete. Ich beziehe mich dabei nicht auf solche rein äußerlichen Zeichen wie die Tricolore, Hammer und Sichel, das Hakenkreuz, das Kruzifix oder den Totempfahl — sondern habe den subtilen Bereich von Emotionen und Haltungen im Auge, für den solche Insignien höchstens eine Art Etikett sind. Vom streng materialistischen Standpunkt sind solche Symbole reiner Unsinn. Nahrungsmittel, Werkzeuge, Unterkunft, Produktionstechnik — diese Begriffe sind der „realste" Bestandteil unseres Wortschatzes; sie entsprechen Gegenständen, die man sehen und anfassen kann, und Handlungen, die klar und eindeutig ausgeführt werden können. Aber die gemeinschaftlichen Beziehungen, die eine Gruppe zusammenhalten, besitzen keine solche primäre Realität. Wie lebendig sie auch sein mögen, wo es um das Vorantreiben geschichtlicher Prozesse geht, sie sind „Mythen", so wie die Götter Homers Mythen waren. Ihnen kritisch auf den Grund zu gehen, heißt, sie aufzulösen, so daß nur ein paar elementare „Realitäten" übrigbleiben. Bedrängt man einen Menschen, der sich irgendeiner Sache verschrieben hat, beständig mit Fragen, so wird er nicht imstande sein, das Wesen seines Engagements in der gleichen Weise zu erklären, in der er sein Haus bezeichnen würde, forderte man ihn dazu auf. Jedoch wissen wir, daß bei allem Illusionären, das diesem Engagement anhaftet, seinen Handlungen doch ein echtes soziales Motiv zugrunde liegen kann. „Mythen" mögen falsch sein oder zu unrechten Zielen benutzt werden — jedoch man kann ohne sie nicht auskommen. Eigentlich sind sie unsere psycho64
Der Sieg, mit von Blitzen durchzucktem Gesicht, mit flammenden Flügeln, ist da, Eure Propheten und Seher verkündeten ihn uns am selben Tag, Vorboten eures großen Tages, Gründer eures Weges, Bahnbrecher eurer Straßen der Welt. Eure Lehrer klären unermüdlich und rückhaltlos das Volk auf, Mit jedem Buch, das sie drucken, geben sie dem Volk ein Gewehr; Des Arbeiters eigen ist nun alles, selbst das Recht zu leben; Die Bauern bringen den vollen Flachs ein, Weizen und Mais; In Moskau steht die Sonne hoch am Himmel, während es in Europa tagt; Allerorts sind die Sowjets.
7 KennethBurke Revolutionäre Symbolik in Amerika Führt man sich vor Augen, wie in konservativen oder revolutionären Bewegungen der Vergangenheit die Menschen gemeinsam gewirkt haben, dann stellt man fest, daß es dabei immer irgendeinen einigenden Grundgedanken gegeben hat, der den Mittel- und Anziehungspunkt des Engagements der Gruppe bildete. Ich beziehe mich dabei nicht auf solche rein äußerlichen Zeichen wie die Tricolore, Hammer und Sichel, das Hakenkreuz, das Kruzifix oder den Totempfahl — sondern habe den subtilen Bereich von Emotionen und Haltungen im Auge, für den solche Insignien höchstens eine Art Etikett sind. Vom streng materialistischen Standpunkt sind solche Symbole reiner Unsinn. Nahrungsmittel, Werkzeuge, Unterkunft, Produktionstechnik — diese Begriffe sind der „realste" Bestandteil unseres Wortschatzes; sie entsprechen Gegenständen, die man sehen und anfassen kann, und Handlungen, die klar und eindeutig ausgeführt werden können. Aber die gemeinschaftlichen Beziehungen, die eine Gruppe zusammenhalten, besitzen keine solche primäre Realität. Wie lebendig sie auch sein mögen, wo es um das Vorantreiben geschichtlicher Prozesse geht, sie sind „Mythen", so wie die Götter Homers Mythen waren. Ihnen kritisch auf den Grund zu gehen, heißt, sie aufzulösen, so daß nur ein paar elementare „Realitäten" übrigbleiben. Bedrängt man einen Menschen, der sich irgendeiner Sache verschrieben hat, beständig mit Fragen, so wird er nicht imstande sein, das Wesen seines Engagements in der gleichen Weise zu erklären, in der er sein Haus bezeichnen würde, forderte man ihn dazu auf. Jedoch wissen wir, daß bei allem Illusionären, das diesem Engagement anhaftet, seinen Handlungen doch ein echtes soziales Motiv zugrunde liegen kann. „Mythen" mögen falsch sein oder zu unrechten Zielen benutzt werden — jedoch man kann ohne sie nicht auskommen. Eigentlich sind sie unsere psycho64
logische Grundausrüstung für die Gemeinschaftsarbeit. Der Hammer ist Werkzeug des Zimmermanns; der Schraubenzieher Werkzeug des Mechanikers; und ein „Mythos" ist das soziale Werkzeug zum Schweißen des Gefühls für zwischenmenschliche Beziehungen, auf Grund dessen der Zimmermann und der Mechaniker trotz ihrer unterschiedlichen Berufe im Interesse gemeinsamer gesellschaftlicher Ziele zusammenarbeiten können. In diesem Sinne ist ein gut funktionierender Mythos so real wie Nahrung, Werkzeug und Wohnung. Verglichen mit der Realität materieller Gegenstände jedoch könnte man vom Mythos sagen, daß er es mit einer s e k u n d ä r e n Art von Realität zu tun hat. Totem, Rasse, Gottheit, Nationalität, Klasse, Freimaurer-Loge, Zunft — all das sind „Mythen", die die verschiedenen Stufen und Formen gesellschaftlicher Zusammenarbeit ermöglicht haben. Es sind keine „Illusionen", da sie eine sehr reale und notwendige soziale Funktion bei der Organisierung des Bewußtseins erfüllen. Sie können aber illusionär erscheinen, wenn sie, weil veraltet und überlebt, aus den Situationen, für die sie geschaffen wurden, in andere übernommen werden, denen sie nicht gemäß sind. Lasswell70 vertritt die Auffassung, daß eine revolutionäre Periode eine solche sei, in der die Menschen ihre Bindung an einen Mythos oder ein Symbol aufgeben und sich statt dessen einem anderen zuwenden. Ist jedoch ein Symbol im Prozeß des Verlierens seiner Lebenskraft als Sinnbild für den Zentralpunkt sozialer Kooperation begriffen, dann werden viele rivalisierende Symbole um dessen Platz wetteifern. Ein Symbol verliert wahrscheinlich dann seine Lebenskraft, wenn die von ihm bewirkten Arten der Kooperation — die auch sein Schicksal bestimmen — unbrauchbar geworden sind. Das Symbol des bürgerlichen Nationalismus zum Beispiel befindet sich heute in einem solchen Verfallsstadium, und hieraus erklärt sich der Versuch der Kommunisten, das Symbol der Klasse an dessen Stelle zu setzen. In ähnlicher Weise würden die Technokraten in dem Bemühen, an dem Ruhm teilzuhaben, dessen sich der Technologie-Experte im Wertsystem der Gegenwart erfreut, ihre Ideale dem Symbol des Ingenieurs zuordnen. Ein Projekt wie der Douglassche Sozialkreditplan, mag er nun ökonomisch durchführbar sein oder nicht, verfügt über kein derartiges Symbol; daher werden Bewegungen dieser Art nur populär, wenn irgendeine bekannte Persönlichkeit für deren Ziele eintritt und sich als I n d i v i d u u m in den Mittelpunkt des Engagements der betreffenden Gruppe stellt. In diese Kategorie fallt das Vorgehen von Leuten wie Huey Long und Father Coughlin 71 — und ich brauche vor einem mit dem Kommunismus sympathisierenden Publikum wohl nicht näher zu erläutern, wie man durch Ersetzen eines Ideals durch eine Idealfigur die Aufmerksamkeit des Volkes von den grundsätzlichen Fehlern des Systems ablenkt und durch diesen Trick seine Ergebenheit gewinnt. Treue zu halten, selbst einem Gauner gegenüber, ist ein Positivum — aber diese Tatsache an sich ist noch keine Garantie, daß das Volk nicht darunter zu leiden haben wird. Die Kommunisten knüpfen ihr System der Treue zum Ideal im allgemeinen an das Symbol des Arbeiters, das sie an die Stelle eines mißbrauchten Nationalismus 5
New York 1935/37
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setzen möchten, damit sich unsere gegenwärtigen Versuche zur Mitarbeit an der Geschichte um dieses Symbol als zentralen Orientierungspunkt gruppieren mögen. Demgemäß möchte ich dieses Symbol näher untersuchen und feststellen, wieweit es geeignet ist, Engagement um sich zu sammeln. Ich sollte wohl auch betonen, daß ich diese Frage rein vom p r o p a g a n d i s t i s c h e n S t a n d p u n k t aus betrachten werde. Möglicherweise sind die Bedürfnisse des Propagandisten mit denen des Organisators nicht völlig identisch. Sofern ein Schriftsteller wirklich Propapagandist ist und nicht nur das schreibt, was des Beifalls seiner Anhänger gewiß ist, und die bereits Überzeugten nochmals überzeugt, sondern als Pionier tatsächlich bis in abgelegene Bezirke der Öffentlichkeit vordringt und dort erste positive Eindrücke von seiner Lehre erzielt, dann kann das der Natur seiner Tätigkeit nach spezielle Hilfsmittel aus dem Bereich der Symbolik erforderlich machen. Dementsprechend möchte ich mich auf den p r o p a g a n d i s t i s c h e n Aspekt des Symbols konzentrieren — wobei ich das Symbol insbesondere als Hilfsmittel zur Ausweitung der Bereiche ideologischen Engagements betrachten werde. In erster Linie setze ich voraus, daß ein Symbol ein I d e a l zu verkörpern hat. Es spricht uns an als Ansporn, indem es auf Charakterzüge hinweist, die wir selbst gern besäßen. Allerdings trifft man nur wenige Leute, die wirklich den Wunsch hegen, als, sagen wir, menschliches Zahnrad im Getriebe einer Autofabrik oder als Arbeiter auf einer Gemüsefarm tätig zu sein. Eine solch harte Lebensweise ruft zwar unser M i t g e f ü h l , nicht aber unseren E h r g e i z hervor. Unser Ideal ist es, solcherart Arbeit soweit wie möglich a b z u s c h a f f e n oder doch ihre Mühsal auf ein Minimum zu beschränken. Manche Leute, die ein übertrieben ruhiges Leben führen, mögen wohl gerne von rauher körperlicher Betätigung lesen (so wie sie einst Wildwestromane liebten) — aber Hollywood weiß nur zu genau, daß die Menschen, die derart anstrengenden Beschäftigungen nachgehen, ihre Lebensgeister hauptsächlich durch die schwache Hoffnung aufrechterhalten, ihnen eines schönen Tages entfliehen zu können. „Erwachsenenbildung" im heutigen kapitalistischen Amerika ist vorwiegend das Bemühen unserer Wirtschaftssöldner (Werbefachleute und Verkaufsorganisationen), eine maximale Nachfrage nach Bedarfsartikeln zu erzeugen, deren Konsum unter kostspieligen Bedingungen vor sich geht — und Hollywood wendet sich an den Arbeiter hauptsächlich in der Form, daß es ihm die Lebensbedingungen vor Augen führt, die Voraussetzung für die Befriedigung dieser Nachfrage sind. Es erhebt sich die Frage: Ist das Symbol des Arbeiters genau das richtige für uns, wenn es doch von den Kräften der Reaktion, die unsere Haupt-Erziehungskanäle kontrollieren, mitgeprägt wird? Ich möchte versuchsweise einmal annehmen, daß das nicht der Fall ist. Damit will ich nicht sagen, daß in der revolutionären Literatur das proletarische Element wegfallen sollte. Die Mühsal des Arbeiters muß ganz sicherlich auch weiterhin einen großen Teil der revolutionären Symbolik bestreiten, und wenn auch nur aus dem Grunde, weil sich darin die negativsten Züge der kapitalistischen Ausbeutung offenbaren. Aber das Grundsymbol sollte, wie mir scheint, doch etwas 66
anders angelegt sein. Glücklicherweise brauche ich keiner größeren Neuerung das Wort zu reden, obwohl ich tatsächlich annehme, daß die an sich geringfügige Veränderung, die ich vorschlagen will, in ihrer Konsequenz das Schwergewicht unserer Propagandaformen völlig verlagern wird. Das Symbol, das ich empfehlen möchte, weil es näher an die Basis heranführt und einen idealeren Anreiz als das Symbol des Arbeiters bietet, ist „das Volk". Wenn ich vorschlage, in der Wertskala unserer Symbole statt „der Arbeiter" lieber „das Volk" ganz oben rangieren zu lassen, so glaube ich damit grundsätzlich anzudeuten, daß man die revolutionäre Lehre nicht an die untere Mittelklasse herantragen kann, ohne dabei Wertvorstellungen der Mittelklasse zu benutzen — geradeso wie die Kirche bei der Heidenbekehrung beständig die Methode benutzt hat, die lokalen Gottheiten zu Heiligen zu machen. Ich sollte wohl auch darauf verweisen, daß wir mit dem Begriff „die Massen", der den Titel unserer führenden radikalen Zeitschrift 72 bildet, dem Symbol „das Volk" schon sehr nahekommen. Ich glaube aber, daß der Begriff „das Volk" unserer Mentalität näher ist als der Parallelbegriff „die Massen", sowohl im spontanen, allgemein üblichen als auch in dem durch unsere politischen Demagogen beeinflußten Sprachgebrauch. Ich füge noch hinzu, daß in einem kürzlich im New Yorker World Telegram veröffentlichten Interview Clarence Hathaway eine Zusammensetzung beider Begriffe zu einem — nämlich „die Volksmassen" — häufig verwendet hat. Das Symbol „das Volk" bietet im Unterschied zum proletarischen Symbol auch den taktischen Vorteil, entschiedener in Richtung der Einheit zu deuten (die an sich eine psychologisch gesunde Tendenz ist, auch wenn der Begriff zur Zeit durch die Nationalisten dazu mißbraucht wird, den Zustand ihrer Uneinigkeit zu verschleiern). Es trägt den Idealzustand in sich, die letzte, k l a s s e n l o s e Form, die die Revolution uns bringen soll, und darum scheint es mir als Treuesymbol mehr herzugeben. Es kann sich die Vorteile der nationalistischen Propaganda zunutzemachen und gleichzeitig zum Kampf gegen die Kräfte eingesetzt werden, die ihre Klassenprivilegien hinter einer Ideologie der Gemeinsamkeit verbergen. Wenn „das Volk" als Grundsymbol akzeptiert würde, dann hätte das auch den großen Vorteil, daß dadurch die Gefahr der Schematisierung durch unsere Schriftsteller verringert würde. Bisher jedenfalls war der p r o l e t a r i s c h e Roman so stark vereinfacht, daß er zur Herausbildung eines eher negativen (unser Mitgefühl aufrufenden) als positiven (unsere Ideale in sich schließenden) Symbols führte. Das Symbol „das Volk" würde doch wohl zu einer größeren Breite im Engagement des Schriftstellers führen. Würde sein Werk in der Hauptsache von diesem positiven Symbol bestimmt, dann würde er, wie ich glaube, schließlich zu der Erkenntnis gelangen, daß ein Dichter sein politisches Anliegen durch die bloße Schilderung von Leiden und Revolte nicht genügend verherrlicht. Eher leistet er seinen gültigsten Beitrag, wenn er sich allen Aspekten zeitgenössischer Bestrebungen und zeitgenössischen Denkens aufgeschlossen zeigt (im Gegensatz zu einem gewissen, antiintellektualistischen, halbobskurantistischen Zug unter manchen Angehörigen der streng p r o l e t a r i s c h e n Schule, die zu verstehen geben möchten, 5'
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daß allem, was mit Intellekt zu tun hat, ein Makel anhaftet). Ich kann schon verstehen, woher eine solche Aversion kommt, da sich ja die vielen Kanäle des Denkens unter der Kontrolle von Reaktionären befinden; aber sich aus diesem Grunde gegen das Denken überhaupt zu wenden, wäre so, als befürworte man das Analphabetentum, weil Leute, die lesen können, der Beeinflussung durch unsere Zeitungen und Zeitschriften voll ausgesetzt seien. Der vollkommene Propagandist, so scheint mir, müßte sich für so viele Bereiche der Phantasie, der Ästhetik und der Spekulation interessieren, wie er nur handhaben kann — und in diesem weiten Gewebe seiner Interessen müßte ein Faden grundsätzlicher Sympathie für die Unterdrückten und grundsätzlicher Antipathie gegen unsere unterdrückenden Institutionen eingewebt sein. Auf diese Weise würde er seine eigenen Haltungen mit den breitesten und umfassendsten Bestrebungen der heutigen Welt verknüpfen. Und er würde dann für seine politischen Ideale nicht buchstäblich und nicht unmittelbar werben, sondern vermittels seines intellektuellen Umgangs. Es ist viel ausdrückliche Propaganda nötig, aber die ist in der Hauptsache Aufgabe des Verfassers von Streitschriften und des politischen Agitators. Im Bereich der reinen Imagination ist der beste Beitrag, den der Schriftsteller für die revolutionäre Sache leisten kann, i n n e r e r Bestandteil seines Werks. Ist er aufgeschlossen und interessiert an jeder Äußerung unserer kulturellen Entwicklung und läßt gleichzeitig klar erkennen, wo seine Sympathien liegen, so ist das meiner Meinung nach der effektivste, und auch auf lange Zeit wirkende, Beitrag, den er in propagandistischer Hinsicht leisten kann. Denn auf diese Weise verbindet er sein politisches Anliegen mittelbar mit den Formen intellektueller und emotioneller Spannung, die man allgemein hochschätzt. Er tritt für seine Sache nicht nach der Art eines Rechtsanwalts ein, sondern durch die von ihm damit verbundenen Vorstellungen. Unsere Werbefachleute tun — letzten Endes — im Grunde nichts anderes, wenn sie eine bestimmte Zigarettensorte dadurch empfehlen, daß sie vorführen, wie diese unter erstrebenswerten Bedingungen geraucht wird; auf die gleiche Weise preisen oder verherrlichen die besten religiösen Künstler ihren Glauben; und ich denke mir, diese Methode wäre heute die beste, um voranzukommen. Auf eine kurze Formel gebracht, würde die Anweisung lauten: Laßt den Schriftsteller so viele erstrebenswerte Züge unseres kulturellen Erbes wie nur möglich aufgreifen — und laßt ihn darauf achten, daß sein politisches Engagement deutlich genug darin in Erscheinung tritt . . . Und ich glaube, daß ein Herangehen auf Grund des positiven Symbols „das Volk" diese Art Identifikation, in der sich das politische Engagement mit weitergreifenden kulturellen Elementen mischt, auf natürlichere Weise herbeiführt als ein Herangehen auf der Basis des negativen Symbols „der Arbeiter". Ich könnte auch bemerken, daß das Symbol „das Volk" (das, ich wiederhole, in dem analogen Begriff „die Massen" bereits stillschweigend akzeptiert wurde) auf eine einseitige, irrtümliche Haltung hindeutet, die in zu starrem Festhalten an der Lehre von der „antithetischen Moral" besteht („proletarisch" als Antithese zu „bürgerlich"). Wir überzeugen einen Menschen mit Hilfe der Wertvorstellun68
gen, die wir mit ihm g e m e i n s a m haben. Propaganda (die Ausdehnung unserer Werbetätigkeit auf immer weitere Gebiete) ist nur insoweit möglich, als der Propagandist und derjenige, auf den er seine Propagandatätigkeit richtet, v e r w a n d t e Wert begriffe und die g l e i c h e Bezugsbasis haben. Wenn Sie und ich hinsichtlich eines Kriteriums der Gerechtigkeit übereinstimmen, dann kann ich Sie gegen eine bestimmte Einrichtung — wie zum Beispiel den Kapitalismus — einnehmen, indem ich nachweise, daß diese die Ungerechtigkeit fördert. Aber ganz gleich, wie gut meine Argumentation auch aufgebaut wäre, sie müßte doch wirkungslos bleiben, stimmten Sie nicht mehr oder weniger mit mir darin überein, daß Gerechtigkeit eine wünschenswerte Sache ist. Was nun speziell die Probleme der Propaganda angeht, so kann die Betonung des A n t i t h e t i s c h e n den Schriftsteller leicht unfähig machen, seine Aufgabe als V e r b r e i t e r einer Lehre zu erfüllen, weil er zu früh in antagonistische Denk- und Ausdrucksformen hineingezogen wird. Er erhält zu viel Macht zu v e r d a m m e n — und so menschlich der Wunsch, zornig zu werden, auch sein mag und so gerechtfertigt er durch die Verhältnisse um uns auch ist: Die Tatsache bleibt, daß seine spezifische Aufgabe als Propagandist ihn zwingt, in erster Linie den Leuten gut zuzureden und sie zu überreden und sich in der Kunst zu üben, sich bei ihnen beliebt zu machen. Als Propagandist hat er nicht die Aufgabe, die Überzeugten zu überzeugen, sondern auf die Nichtüberzeugten einzuwirken, und das macht es erforderlich, daß er soweit wie möglich i h r e n Wortschatz, i h r e Wertbegriffe und ihre Symbole benutzt. Denn wir müssen berücksichtigen, daß zu den Widersprüchen des Kapitalismus auch die der antikapitalistischen Propaganda gehören. Marxismus bedeutet Krieg mit dem Ziel des Friedens, Ketzerei zum Zweck des Zusammenschlusses, Organisation im Interesse der Freiheit, Verherrlichung mühsamer Arbeit mit dem Ziel größerer Muße, Revolution im Interesse des Bewahrens usw. Eine solche Verwirrung ist nicht im Handumdrehen aufzulösen. Sie ist unsere besondere „Bürde" in diesem besonderen Stadium der Geschichte. In letzter Konsequenz drängt die Kunst in die Richtung einer U n i v e r s a l i s i e r u n g . Sie sucht in der Einbildung die Klassenteilung des gegenwärtigen Augenblicks zu überspringen und Gedankengänge zu verfolgen, die zu einer von der Klassenteilung befreiten Gesellschaft passen würden. Sie möchte die Probleme des M e n s c h e n anstatt der Probleme der m e n s c h l i c h e n K l a s s e n behandeln. Wir sind uns darin einig, daß die gegenwärtige Situation gegen diese Tendenz spricht — was dem Künstler um so mehr Grund sein sollte, sich in die Reihe derer zu stellen, die diese Situation verändern wollen. Denn eine völlig verallgemeinerte Kunst wäre im heutigen Amerika einfach die geistige Verleugnung der ja doch bestehenden ökonomischen Gespaltenheit (die Ästhetik des Faschismus). Das streng proletarische Symbol bietet den nützlichen Vorteil, daß es diesen zeitweiligen Antagonismus unterstreicht, aber es hat den Nachteil, daß es im Rahmen seines Begriffssinhalts nicht genügend i d e a l e n Anreiz vermittelt und nicht den möglichen Zustand der Vereinigung erkennen läßt, der der Erwartung entsprechend von ihm ausgehen soll. Für diesen Widerspruch gibt es keine völlig befriedigende Lösung. Die noch 69
annehmbarste Lösung, die ich mir vorstellen kann, wäre, einfach vorzuschlagen, daß der auf Grund seiner Vorstellungskraft tätige Künstler generell eine gut aufeinander abgestimmte Verbindung beider Haltungen, der politischen und der unpolitischen, an den Tag legen sollte. Einige Künstler mögen und sollen sich besonders mit Streiks, Aussperrungen, Arbeitslosigkeit, unzumutbaren Arbeitsbedingungen, organisiertem Widerstand gegenüber der Polizei usw. befassen; aber wenn sie versuchten, all ihre imaginativen Möglichkeiten ausschließlich auf diesen Themenkreis zu beschränken, dann müßte das Ergebnis eine allzu vereinfachte und verarmte Kunst sein, die ihren eigenen Zielen in den Rücken fallt und selbst als Propagandamittel versagt, weil sie nicht genügend kulturverherrlichende Aspekte in ihren Stoff einbezieht und folglich nicht kräfteübertragend auf das Publikum wirkt. Ich bin der Auffassung, daß das Symbol „das Volk" auf natürlichere Weise eine solche indirekte, e i n s c h l i e ß e n d e P r o p a g a n d a fördert als das streng proletarische Symbol (das natürlicherweise eine direkte, a u s s c h l i e ß e n d e P r o p a g a n d a begünstigt, die Tendenz nämlich, aus dem literarischen Werk alles das herauszulassen, was nicht unmittelbar mit den realen Fakten der Unterdrückung der Arbeiter zu tun hat und das meiner These entsprechend aus diesem Grunde noch nicht einmal die volle Zustimmung der Arbeiter selbst gewinnen kann). Und da das Symbol „das Volk" sowohl Elemente des Begriffs Unterdrückung als auch des Begriffs Einheit enthält, scheint es mir besser zu sein als das ausschließlich proletarische Symbol, als psychologische Brücke zur Verbindung der beiden gegensätzlichen Aspekte einer revolutionären Übergangsära, die janusköpfig gleichzeitig vorwärts und rückwärts blickt. Ich sehe selbst ein, daß mein Vorschlag den verräterischen Stempel meiner Klasse, des Kleinbürgertums, trägt. Und ich dürfte es nicht wagen, diesen Vorschlag zu unterbreiten, hielte ich es nicht für lebenswichtig, die Mitarbeit dieser Klasse zu gewinnen. Ich sollte aber abschließend darauf hinweisen, daß das von mir hier Vorgetragene wirklich zwei Gesichter trägt, und obwohl ich meine, daß diese ihrer T e n d e n z nach in eines zusammenzufügen wären, muß das nicht n o t w e n d i g e r w e i s e so sein. Ich stelle das ausdrücklich fest, weil ich hoffe, daß meine Zuhörer selbst dann, wenn sie meinen ersten Vorschlag ablehnen (wofür ich viele gute Gründe sehe), immer noch den zweiten annehmen können. Der erste bestand darin, daß wir anstelle von „der Arbeiter" lieber „das Volk" zu unserem Grundsymbol für Beeinflussung und Engagement machen sollten. Der zweite war, daß der auf Grund seiner Vorstellungskraft tätige Schriftsteller für sein Anliegen dadurch zu werben suchen sollte, daß er es in ein so vollkommenes kulturelles Gewebe hüllt, wie es ihm nur möglich ist, und daß er auf diese Weise die Propaganda nicht für eine allzu vereinfachte, buchstabengetreue, äußere Fakten bevorzugende Beweisschrift ansehen, sondern als einen Prozeß betrachten sollte, in dem er seinen politischen Standpunkt mit seinem Blick für kulturelle Dinge im allgemeinen und für einen großen Maßstab verknüpfen müßte. Ich halte meinen ersten Vorschlag für wichtig vor allem deshalb, weil das begrenzte proletarische Symbol dahin t e n d i e r t , sich 70
gegen die volle Anwendung der einschließenden Propaganda zu stellen. Ich möchte jedoch Ihre Annahme des zweiten Vorschlags nicht gern von der Annahme des ersten unbedingt abhängig machen. Es kann ja einige Schriftsteller geben, die imstande sind, beides auseinanderzuhalten und das streng proletarischeSymbol mit so viel Reichtum an Kulturidealen zu umgeben, daß es als Symbol des Engagements selbst für die Menschen attraktiv wird, die sich selbst nicht in erster Linie im proletarischen Rahmen sehen. Aber ich bleibe dabei, daß diese Schriftsteller ihre Funktion als Propagandisten nicht in vollkommener Weise ausüben können, wenn sie nicht indirekte, einschließende Propaganda betreiben und sich auf ein paar schematische Situationsschilderungen beschränken, anstatt die gesamte Skala unserer Interessen anzusprechen, selbst solche, die wir zu Zeiten geregelter Arbeit und im Frieden haben könnten.
8 Harry F. Ward Die Rolle des Schriftstellers im Kampf gegen den Krieg Die notwendige Zeitbeschränkung für diesen Beitrag macht es erforderlich, ihn in der Form einer Reihe kurz aufgestellter Thesen vorzutragen. 1. Es wird vorausgesetzt, daß wir nicht den Krieg im allgemeinen behandeln, sondern den Krieg, auf den sich die Regierung der Vereinigten Staaten gemeinsam mit anderen Großmächten jetzt angestrengt vorbereitet. Es herrscht allgemeine Einstimmigkeit darüber, daß dieser Krieg — ob er nun in Europa ausbricht als Ergebnis entweder der unversöhnlichen Antagonismen zwischen den faschistischen Mächten oder als Ergebnis übereinstimmender Absichten gegen die Sowjetunion, oder ob er im Fernen Osten beginnt durch die japanische Aggression gegen die Sowjetunion oder durch den Versuch der Vereinigten Staaten, den Machtbestrebungen der japanischen Hegemonie über Asien Einhalt zu gebieten — in allen diesen Fällen ein zweiter Weltkrieg werden wird. Wir stehen vor jenem tragischen Ereignis, das so viele Millionen vor gar nicht langer Zeit so entschlossen waren, niemals wieder eintreten zu lassen, das die kapitalistischen Länder vergeblich mit dem geschriebenen und gesprochenen Wort zu verhindern suchten, vergeblich, weil sie es durch ihre Taten und die eigentliche Natur ihres organisierten Daseins hervorbrachten. Zu diesem konkreten Zeitpunkt sollte die umfassende Frage, wie die Kriegsdrohung von der Zukunft des Menschengeschlechts abzuwenden ist, geklärt werden. Die Fähigkeit, den Krieg überhaupt abzuschaffen, muß durch die Entdeckung der Fähigkeit, einen besonderen Krieg zu verhindern, entwickelt werden. 2. Es wird gleichfalls eingesehen, daß der Kampf gegen den Krieg nicht vom Kampf gegen den Faschismus zu trennen ist. Diese beiden Feinde des Menschen71
gegen die volle Anwendung der einschließenden Propaganda zu stellen. Ich möchte jedoch Ihre Annahme des zweiten Vorschlags nicht gern von der Annahme des ersten unbedingt abhängig machen. Es kann ja einige Schriftsteller geben, die imstande sind, beides auseinanderzuhalten und das streng proletarischeSymbol mit so viel Reichtum an Kulturidealen zu umgeben, daß es als Symbol des Engagements selbst für die Menschen attraktiv wird, die sich selbst nicht in erster Linie im proletarischen Rahmen sehen. Aber ich bleibe dabei, daß diese Schriftsteller ihre Funktion als Propagandisten nicht in vollkommener Weise ausüben können, wenn sie nicht indirekte, einschließende Propaganda betreiben und sich auf ein paar schematische Situationsschilderungen beschränken, anstatt die gesamte Skala unserer Interessen anzusprechen, selbst solche, die wir zu Zeiten geregelter Arbeit und im Frieden haben könnten.
8 Harry F. Ward Die Rolle des Schriftstellers im Kampf gegen den Krieg Die notwendige Zeitbeschränkung für diesen Beitrag macht es erforderlich, ihn in der Form einer Reihe kurz aufgestellter Thesen vorzutragen. 1. Es wird vorausgesetzt, daß wir nicht den Krieg im allgemeinen behandeln, sondern den Krieg, auf den sich die Regierung der Vereinigten Staaten gemeinsam mit anderen Großmächten jetzt angestrengt vorbereitet. Es herrscht allgemeine Einstimmigkeit darüber, daß dieser Krieg — ob er nun in Europa ausbricht als Ergebnis entweder der unversöhnlichen Antagonismen zwischen den faschistischen Mächten oder als Ergebnis übereinstimmender Absichten gegen die Sowjetunion, oder ob er im Fernen Osten beginnt durch die japanische Aggression gegen die Sowjetunion oder durch den Versuch der Vereinigten Staaten, den Machtbestrebungen der japanischen Hegemonie über Asien Einhalt zu gebieten — in allen diesen Fällen ein zweiter Weltkrieg werden wird. Wir stehen vor jenem tragischen Ereignis, das so viele Millionen vor gar nicht langer Zeit so entschlossen waren, niemals wieder eintreten zu lassen, das die kapitalistischen Länder vergeblich mit dem geschriebenen und gesprochenen Wort zu verhindern suchten, vergeblich, weil sie es durch ihre Taten und die eigentliche Natur ihres organisierten Daseins hervorbrachten. Zu diesem konkreten Zeitpunkt sollte die umfassende Frage, wie die Kriegsdrohung von der Zukunft des Menschengeschlechts abzuwenden ist, geklärt werden. Die Fähigkeit, den Krieg überhaupt abzuschaffen, muß durch die Entdeckung der Fähigkeit, einen besonderen Krieg zu verhindern, entwickelt werden. 2. Es wird gleichfalls eingesehen, daß der Kampf gegen den Krieg nicht vom Kampf gegen den Faschismus zu trennen ist. Diese beiden Feinde des Menschen71
geschlechts zerstören in gleicher Weise die menschlichen Regungen der Freiheit und Kultur. Sie erwachsen beide aus dem Unvermögen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das Grundproblem menschlicher Erhaltung zu lösen. Sie bilden beide den Versuch, die schwindende Macht führender Häupter der kapitalistischen Gesellschaft wiederherzustellen. Es ist offensichtlich, daß der faschistisch-kapitalistische Staat die dem demokratisch-kapitalistischen Staat inhärenten Antriebe und Anlässe zum Krieg vermehrt hat. Es ist offenbar, daß eine Kriegserklärung zu dem Versuch führen wird, die volle Tyrannei des repressiven Faschismus in denjenigen kapitalistischen Ländern zu befestigen, in denen noch ein Rest demokratischer Verfahrensweise am Leben ist. Umgekehrt gilt, daß, wenn der faschistische Staat außerstande ist, die Betrogenen in die Schützengräben zu locken oder zu treiben oder sie dort zu halten, seine Macht gebrochen werden kann und wird. 3. Es wird allgemein zugestanden, daß die moderne Kriegsführung seit Abschluß des großen Konflikts ihre Vernichtungsmittel derart perfektioniert hat, daß sich die Frage nach der Möglichkeit eines Überlebens der menschlichen Gesellschaft erhebt. Die Realisierung der von den Großmächten gehegten Kriegspläne sieht soviel Zerstörung von materiellen und lebenswichtigen Bedingungen der Menschheit vor, daß man zurecht von einem Selbstmord der Zivilisation sprechen kann. Angesichts dieser Situation ist es die Pflicht derjenigen, die nur irgend Anteilnahme an der künftigen Entwicklung menschlichen Lebens bezeigen, äußerste Anstrengungen zu unternehmen, dem in Vorbereitung befindlichen Krieg Einhalt zu gebieten, ehe es zu einem erneuten sinnlosen Opfer und der Verstümmelung von Millionen Menschenleben, zu einer erneuten ungeheuren Verschwendung und zu einem sträflichen Mißbrauch der durch unsere gemeinsame Arbeit geschaffenen Güter, zu einem neuen, den Menschengeist auf Generationen verzerrenden und entstellenden Barbarentum kommt. 4. Eine Verhinderung des nächsten Krieges erfordert, daß die Massen jetzt den Kriegsvorbereitungen ihre Unterstützung verweigern und, wenn der Krieg erklärt wird, sich weigern, sich an der Lieferung von Kriegsmaterial zu beteiligen. Da die moderne Kriegsführung von einer vollständigen Mobilmachung der vorhandenen Hilfsquellen abhängt, kann sie nicht ausgeübt werden, wenn diese Mobilisierung durch die Verweigerung der Massen unwirksam gemacht wird. Um diese Verweigerung in ausreichendem Grade zu gewährleisten, damit die Kriegsmaschinerie zusammenbricht, ist eine Organisation erforderlich, die unterschiedliche für diesen Zweck gesellschaftlich nützliche Mitarbeiter vereint. Zu diesem Zweck wurde die American League Against War and Fascism (Amerikanische Liga gegen Krieg und Faschismus) 73 gegründet. Der erste Punkt ihres Programms lautet: Es ist durch Massendemonstrationen, Streikpostenketten und Streiks hinzuarbeiten auf die Einstellung der Produktion und des Transports von Munition sowie allem übrigen für die Kriegsführung erforderlichen Material; gleichfalls sind die erwerbstätigen Schichten vom Dienst in der Kriegsmaschinerie fernzuhalten und in die agitatorische und erzieherische Propaganda gegen den Krieg und jede Form des Faschismus einzubeziehen. 72
In diesem gemeinsamen Kampf gegen die Kräfte des Todes kommen der Arbeiter und der Intellektuelle auf der Basis der Realität zusammen. Der aus einer solchen Erfahrung entstehende Atem eines neuen Lebens kann, selbst in einer absterbenden Gesellschaft, in die Literatur eingehen. Werke, die einer solchen Quelle entspringen, werden im doppelten Sinne schöpferisch. Sie geben den Lebenskräften Ausdruck und sie steigern sie, während diese sich organisieren und gegen die Bataillone des Todes marschieren. 5. Damit eine Organisation, deren Ziel es ist, deiji Krieg Einhalt zu gebieten, wirksam werden kann, muß sie einen Propagandaapparat entwickeln, der imstande ist, den der Kriegstreiber abzuwehren. An dieser Stelle beginnt die Rolle des Schriftstellers im Kampf gegen den Krieg. Der letzte Krieg hat bewiesen, daß die menschliche Gesellschaft einen Entwicklungsstand erreicht hat, wo der organisierte Menschenmord nicht weitergeführt werden kann, es sei denn, seine wahren Ziele werden hinter wohltönenden moralischen Phrasen verborgen. Es gibt jetzt umfangreiches Berichtmaterial darüber, in welchem Grad die Kampfmoral 1914 bis 18 vom geschriebenen und gesprochenen Wort abhing. Heutzutage ist es noch weitaus unmöglicher, amerikanische Soldaten ohne eine trügerische Propaganda auf fremdem Boden in die Schützengräben zu bringen. Das Führen eines imperialistischen Krieges hängt heutzutage von der Verbreitung von Lügen ab. Deshalb kann ihm durch die Verbreitung der Wahrheit Einhalt geboten werden. Die Kriegsmaschinerie, die heutzutage nicht ohne nachdrücklich betriebene Verbreitung von Täuschungen und Lügen zu arbeiten vermag, kann durch eine wirksame Verkündung von Fakten und Realitäten behindert werden. Die Propaganda für den nächsten Krieg hat bereits begonnen. Doch im Unterschied zum letzten Mal haben wir diesmal Zeit, die Gegenpropaganda zu organisieren. Der Schriftsteller, wie der Lehrer und der Prediger, muß sich jetzt entscheiden. Entweder er arbeitet für die Kriegsmaschinerie oder dagegen. Eine dritte Position gibt es nicht. Falls er versucht, die Lage zu ignorieren, und einen Elfenbeinturm 74 zu suchen, so dient er mit seiner Weigerung, seine Fähigkeiten zur Aufklärung der Massen zu verwenden, tatsächlich den Kräften des Todes. Wenn er seine Fähigkeiten dazu verwendet, ihnen vor der erschreckenden Realität, der sie gegenüberstehen, eine gefühlsmäßige Fluchtmöglichkeit zu liefern, dann verschafft er ihnen, wie der Priester und die Prostituierte, eine zeitweilige Betäubung, die sie dem ihrer harrenden, grausamen Terror ausliefert. 6. Die wesentliche Bedingung für eine wirksame Teilnahme der Schriftsteller am Kampf gegen Krieg und Faschismus ist ein genaues Verständnis des Wesens der Gesellschaft, die diese beiden Vernichter der Menschheit hervorbringt. Gleichgültig, in welchem Genre ein Schriftsteller arbeitet, Prosa, Lyrik, Drama, Biographie, Essay, Journalismus — damit sein Werk Lebensfülle und Wahrheit besitzt, damit es von Bedeutung für die Zukunft ist, muß es von dem Bewußtsein der Grundtatsache durchdrungen sein, daß die kapitalistische Gesellschaft das Stadium erreicht hat, wo sie ein organisiertes System des Mangels und der Zerstörung geworden ist. Das entscheidende Kennzeichen ihrer faschistischen Periode ist dies: 73
Weil sie auf der Suche nach Profit gezwungen ist, Millionen Menschen zu einem langsamen Tod durch körperliche, geistige und seelische Unterernährung zu verurteilen, weil sie anderen Millionen die Möglichkeit, Arbeit und ein Heim zu besitzen, nur geben kann, indem sie sie darauf vorbereitet, sich gegenseitig abzuschlachten, hat sie den Kräften des Todes das Übergewicht über die Kräfte des Lebens gegeben. Nur im Lichte dieses zentralen Faktums vermag der Schriftsteller besondere Situationen und Ereignisse richtig zu analysieren und zu interpretieren. Nur in dem Maße, wie er seine Leser befähigt, das Wesen und den Ursprung der gegen sie vorrückenden Kräfte der Zerstörung zu begreifen und zu fühlen, vermag er ihnen zu helfen, die Kraft zur Vernichtung ihrer Feinde zu entwickeln. 7. Einige spezifische Aufgaben im Kampf gegen Krieg und Faschismus, die die Schriftsteller jetzt fordern, sind: Die Vernichtung der falschen Hoffnungen, die Zerstörung des Wunschdenkens, das so viele Leute daran hindert, der Realität des nahenden Krieges und des sich entfaltenden Faschismus die Stirn zu bieten. Die richtige Darstellung der wahren Ziele, für die der nächste Krieg geführt werden wird, so daß viele Menschen immun gegenüber der Propaganda werden, die wieder versuchen wird, ihn in heuchlerischer Weise zu idealisieren. Die Vernichtung der Mythen, durch die der Kriegsgeist lebendig gehalten wird, besonders des Mythos von der nationalen Verteidigung, der heutzutage das Wesen des internationalen Menschenschlächtertrusts mit seiner anormal hohen Profitrate verbirgt. Wegen der Rolle, die der Schriftstellerberuf in der Vergangenheit dabei gespielt hat, den Geist der Kriegsromantik lebendig zu halten, ist es heute um so mehr seine Pflicht, dafür zu sühnen, indem er unbarmherzig sämtliche Illusionen zerstört, die noch immer das Wesen und die Folgen des imperialistischen Krieges verschleiern. Welche Beziehung zu den Erfordernissen nationaler Verteidigung hat beispielsweise das Programm des Kriegsministeriums, eine Armee von vier Millionen Mann aufzustellen, auszurüsten, auszubilden, zu transportieren und zu unterhalten? Die Darstellung der Beziehungen zwischen den Erfahrungen der Kriegszeit und des Alltags des Profitsystems, das den Krieg hervorbringt, damit der sich dahinter verbergende Zusammenhang denjenigen klar wird, deren Leben in beiden Situationen von denselben Kräften verstümmelt und zerstört wird. Die Aufdeckung des organischen Zusammenhangs zwischen Krieg und Faschismus, besonders der Auswirkung der Kriegsvorbereitungen der gegenwärtigen Regierung auf den Kampf der Arbeiter und Farmer zur Umgestaltung unseres ökonomischen und politischen Systems. Denjenigen, die den wachsenden faschistischen Druck in diesem Lande auf Arbeiter, Bauern und Arbeitslose weder begreifen noch erfahren, diesen Druck deutlich machen, damit die wirksame Verteidigung unserer Bürgerrechte mobilisiert werden kann, ehe es zu spät ist. Die Enthüllung des im faschistischen Staat notwendigerweise vor sich gehenden Niedergang des Lebens. 74
8. Zur Durchführung dieser und ähnlicher Aufgaben beabsichtigt die American League Against War and Fascism ein Schriftstellerkomitee zu bilden, ähnlich dem, wie sie es bereits in anderen Berufsgruppen gebildet hat. Sie wird Schriftstellern, die bereit sind, diesem Komitee beizutreten, ständig Material zukommen lassen, das diese in ihrer gesamten Arbeit benutzen können. Sie hofft, sie gewinnen zu können, Artikel, Kurzgeschichten und Gedichte für ihre Zeitschrift Fight zu schreiben und auch Flugschriften, Flugblätter und dramatische Stücke zu liefern. Sie kann für diese Arbeiten keine Honorare zahlen, doch sie kann ein größeres Publikum zusichern als das, welches die meisten Buchautoren heute haben. Des weiteren bietet sie den Schriftstellern eine Gelegenheit, sich jene unmittelbare Lebensfülle zu erwerben, die für diejenigen, die das Leben nur als Zuschauer betrachten oder aus der Abgeschiedenheit der Studierstube interpretieren, niemals erreichbar ist, eine Lebensfülle, die nur durch aktive Teilnahme am großen menschlichen Ringen zu finden ist.
9 Jack Conroy Der Arbeiter als Schriftsteller Die Schwierigkeiten eines Arbeiters, der seine Umwelt im Wort widerzuspiegeln versucht, sind zahlreich und mannigfaltig. Vor allen Dingen haben ja nur wenige Arbeiterschriftsteller je ein College besuchen können, und noch weniger von ihnen hatten Gelegenheit, sagen wir, ein Jahr im Pariser Quartier Latin zuzubringen, wo man lernen kann, proletarische Literatur in der Art und Weise von Marcel Proust und James Joyce zu verfassen. Schwere körperliche Arbeit läßt das Gehirn abstumpfen, und die enge Vertrautheit mit der eigenen Arbeit erzeugt oft Geringschätzung und Überdruß eben dieser Arbeit gegenüber, von der unter Umständen der Lebensunterhalt des Arbeiterschriftstellers abhängt. Seine Möglichkeiten, irgendwelche anderen Arbeitsgebiete kennenzulernen, sind praktisch gleich Null. Man begegnet gelegentlich der Überzeugung — und einige revolutionäre Kritiker haben das Ihre dazu beigetragen, diesen Glauben zu stärken —, daß proletarische Schriftsteller, abgesehen von ihrer Verpflichtung, in der Literatur neue Wertmaßstäbe zu setzen, außerdem noch irgendeine neue, ganz besondere Technik entwickeln müßten, daß die alten, den Arbeitern leichtverständlichen Wörter und Bilder ausrangiert werden sollten und daß die neuen Wörter nun summen müßten wie ein Dynamo, rattern wie ein Niethammer und tönen wie Stahl. Was bei diesem verzweifelten Bemühen um die Neuheit in Wort und Bild herauskommt, ist oft nur eine halbprivate Terminologie, die von den Massen kaum verstanden wird, und eine beklagenswert schwerfällige Erzählweise, die zu beleben und zu bereichern der Neuerer doch ausgezogen ist. Der Arbeiterschriftsteller muß lernen, sich so klar und einfach wie nur möglich 75
8. Zur Durchführung dieser und ähnlicher Aufgaben beabsichtigt die American League Against War and Fascism ein Schriftstellerkomitee zu bilden, ähnlich dem, wie sie es bereits in anderen Berufsgruppen gebildet hat. Sie wird Schriftstellern, die bereit sind, diesem Komitee beizutreten, ständig Material zukommen lassen, das diese in ihrer gesamten Arbeit benutzen können. Sie hofft, sie gewinnen zu können, Artikel, Kurzgeschichten und Gedichte für ihre Zeitschrift Fight zu schreiben und auch Flugschriften, Flugblätter und dramatische Stücke zu liefern. Sie kann für diese Arbeiten keine Honorare zahlen, doch sie kann ein größeres Publikum zusichern als das, welches die meisten Buchautoren heute haben. Des weiteren bietet sie den Schriftstellern eine Gelegenheit, sich jene unmittelbare Lebensfülle zu erwerben, die für diejenigen, die das Leben nur als Zuschauer betrachten oder aus der Abgeschiedenheit der Studierstube interpretieren, niemals erreichbar ist, eine Lebensfülle, die nur durch aktive Teilnahme am großen menschlichen Ringen zu finden ist.
9 Jack Conroy Der Arbeiter als Schriftsteller Die Schwierigkeiten eines Arbeiters, der seine Umwelt im Wort widerzuspiegeln versucht, sind zahlreich und mannigfaltig. Vor allen Dingen haben ja nur wenige Arbeiterschriftsteller je ein College besuchen können, und noch weniger von ihnen hatten Gelegenheit, sagen wir, ein Jahr im Pariser Quartier Latin zuzubringen, wo man lernen kann, proletarische Literatur in der Art und Weise von Marcel Proust und James Joyce zu verfassen. Schwere körperliche Arbeit läßt das Gehirn abstumpfen, und die enge Vertrautheit mit der eigenen Arbeit erzeugt oft Geringschätzung und Überdruß eben dieser Arbeit gegenüber, von der unter Umständen der Lebensunterhalt des Arbeiterschriftstellers abhängt. Seine Möglichkeiten, irgendwelche anderen Arbeitsgebiete kennenzulernen, sind praktisch gleich Null. Man begegnet gelegentlich der Überzeugung — und einige revolutionäre Kritiker haben das Ihre dazu beigetragen, diesen Glauben zu stärken —, daß proletarische Schriftsteller, abgesehen von ihrer Verpflichtung, in der Literatur neue Wertmaßstäbe zu setzen, außerdem noch irgendeine neue, ganz besondere Technik entwickeln müßten, daß die alten, den Arbeitern leichtverständlichen Wörter und Bilder ausrangiert werden sollten und daß die neuen Wörter nun summen müßten wie ein Dynamo, rattern wie ein Niethammer und tönen wie Stahl. Was bei diesem verzweifelten Bemühen um die Neuheit in Wort und Bild herauskommt, ist oft nur eine halbprivate Terminologie, die von den Massen kaum verstanden wird, und eine beklagenswert schwerfällige Erzählweise, die zu beleben und zu bereichern der Neuerer doch ausgezogen ist. Der Arbeiterschriftsteller muß lernen, sich so klar und einfach wie nur möglich 75
auszudrücken; er muß auch lernen, unergiebiges oder belangloses Material auszusondern. Für mich ist ein Streikbericht oder ein mit Leidenschaft verfaßtes Flugblatt belangvoller als dreihundert nett und fehlerfrei geschriebene Seiten über die privaten Wehwehchen eines Gigolo oder die biologischen Wallungen einer Gesellschaftsdame, die der Gesellschaft soviel nützen wie das Gestrüpp, das das Weideland am Missouri verdirbt- und dem Boden dort alle Nährstoffe entzieht. Der Verfasser des Streikberichts oder des Flugblatts sollte allerdings keine' Mühe scheuen, jedem seiner Worte Gewicht zu verleihen, es Schläge austeilen und sein Anliegen in die Hirne der Arbeiter einhämmern zu lassen. Dazu braucht er aber keine sonderbaren Wortungetüme zusammenzubrauen oder eigene Wortschöpfungen zu prägen. Grace Lumpkin und Michael Gold haben in ihren Romanen To Make My Bread (Um mein Brot zu verdienen)15 und Jews Without Money (Juden ohne Geld)16 in bewunderungswürdiger Weise vorgeführt, wie sich einfache und — wie einige Ultraästheten von Kritikern sich ausdrücken würden — alltägliche und abgedroschene Worte zu einem erregenden und farbenprächtigem Bild zusammenfügen lassen. Und kein Arbeiter, der lesen kann, braucht ein Spezialwörterbuch oder einen Leitfaden, um zu begreifen, worauf die Verfasser hinauswollen. Die russischen proletarischen Schriftsteller sind gegenüber ihren amerikanischen Kollegen natürlich sehr im Vorteil. Der amerikanische proletarische Roman muß notwendigerweise mit Voraussagen und Hoffnungen arbeiten; er muß den Verfall der Gesellschaft behandeln und zeigen, wie er sich im Leben der Menschen äußert, er muß zeitweilige Niederlagen schildern ebenso wie zeitweilige Triumphe in Form erfolgreicher Streiks und in Form von Demonstrationen der Stärke der Arbeiterklasse. Wie Michael Gold festgestellt hat, ist es relativ einfach, drei Akte eines revolutionären Dramas zu schreiben — die ersten drei. Im vierten Akt muß sich dann jedoch der Konflikt in einer Art Höhepunkt auflösen: Der Streik ist verloren, aber die Arbeiter, ungebrochen, geloben den Kampf fortzusetzen; die Hauptfigur erwacht zu gesellschaftlichem Bewußtsein; oder aber, der Streik ist gewonnen, und das verleiht den Arbeitern neuen Mut für die letzte Schlacht. Und wie soll der proletarische Romanautor oder Dramatiker diese Zusammenhänge so darstellen, daß seine Schilderung natürlich wirkt und auf Leser oder Zuschauer den Eindruck von Realität und Unausweichlichkeit überträgt? Das ist eines seiner Hauptprobleme. In den Werken zu vieler zeitgenössicher Schriftsteller steckt eine falsche Vorstellung vom Leben der Arbeiterklasse und davon, was für einen Arbeiter wirklich von Belang, was ihm wesentlich und lebenswichtig ist. John Chamberlain hat in der New York Times11 geschrieben, daß Katajews Time Forward! (Im Sturmschritt vorwärts!)18 in mancher Hinsicht den Eindruck mache, als handle es sich um eine Geschichte von Frank Merriwell,79 die auf die sowjetische Szene verlegt ist. Statt die Beifallsbezeugungen der Menge entgegenzunehmen, tun sich die Arbeiterhelden darin hervor, Beton zu gießen und mit List und Tücke Saboteure zu fassen, die die neuen Bauvorhaben zu zerstören trachten. Ilja Ehrenburg zeichnet 76
in Out of Chaos (Heraus aus dem Chaos)60 das unvergeßliche Bild eines Sowjetschriftstellers, der, geschult an den alten Auffassungen über das Drama, den Auftrag übernimmt, Geist und Tempo des Fünfjahrplans einzufangen: „Der Schriftsteller Gribin war gezwungen, einen neuen Roman zu schreiben. Die Kritiker saßen ihm im Nacken. Sie behaupteten, Gribin meide Gegenwartsthemen. Gribin ließ sich von einem Zeitschriftenverleger einen Vorschuß für einen Roman über ein Bauvorhaben geben und bestellte einen Schlafwagenplatz in einem internationalen Waggon. Jetzt stand er vor dem Verwaltungsgebäude und musterte die Passanten. Neben ihm wickelte sich ein Nietschläger Baumwollappen um die Füße. Gribin verzog das Gesicht, als ihm einfiel, daß seine Frau vergessen hatte, ihm Eau de Cologne einzupacken. Er dachte an seine Frau, an sein Arbeitszimmer mit dem Puschkinbild an der Wand, an sein nun so weit entferntes gemütliches Heim, und er fühlte sich deprimiert. Aber die Arbeit mußte schließlich getan werden. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb: ,Ein großes Bauvorhaben. Heißt Cowpers. Vermittelt den Eindruck frappierender Großartigkeit. In das Kapitel aufnehmen, wo ein Stoßarbeiter sich verliebt.' Er gähnte, ermüdet, und setzte sich in Richtung der Ausländerkantine in Marsch." Neulich bekam ich aus Moskau eines der fesselndsten Bücher zugeschickt, das ich seit langem gelesen habe. Er erscheint mir interessanter und wichtiger als Goodby Mr. Chips (Leb wohl, Mr. ChipsJ.81 Vielleicht geht es mir wie den primitiven Bewunderern von Eddie Guest, die mit Verbissenheit wiederholen: „Vielleicht weiß ich nicht, was richtige Poesie ist, aber ich weiß jedenfalls, was mir g e f ä l l t . " Vielleicht weiß ich nicht, was Kunst ist, aber mir gefallt dieses Buch aus Moskau. Es ist von der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der UdSSR herausgegeben und heißt Those Who Built Stalingrad (Die Stalingrad erbauten) . 82 Die Geschichten darin sind alle auf die einfachstmögliche Weise von den Arbeitern selbst erzählt, und Maxim Gorki sagt im Vorwort: „Dieses Buch enthält viel einfache bolschewistische Wahrheit. Ich behaupte von ihm: Es ist eine der interessantesten und neuartigsten Erscheinungen in unserer Literatur der letzten fünfzehn Jahre." Der Sieg von Stalingrad war ein proletarischer Sieg, und die Männer und Frauen, die Stalingrad erbaut haben, sind aus dem Stoff gemacht, nach dem wir proletarischen Schriftsteller Amerikas Ausschau halten müssen. Es reicht nicht aus, wenn wir Arbeiter schildern, die sich passiv verhalten, oder wenn wir den Verfall des Kapitalismus konstatieren. Das hat es alles schon gegeben. In einem Nachwort zu dem Buch Die Stalingrad erbauten, geschrieben von B. Iljin und B. Galin, heißt es: „Die bürgerliche Literatur hat nur ganz wenige lebensvolle, faszinierende Helden geschaffen, Menschen, die als Beispiel, als Vorbild, als Maßstab dafür dienen können, zu welchen Höhen der Mensch sich emporschwingen kann. Und zwar deshalb, weil der Kapitalismus solche Menschen nicht gefördert, weil er solche Menschen nicht hervorgebracht hat. Der Kapitalismus hat Arbeiter zu Tausenden 77
zermalmt und erwürgt und dadurch die besten Keime der Menschheit am Wachstum gehindert, gleichzeitig aber die Geizhälse und Geldscheffler gehegt und gepflegt, die, um mit Balzac zu sprechen, wie eine Pest über die zeitgenössische Gesellschaft gekommen sind und sich ohne weiteres per Ellbogen ihren Weg in die Positionen des bürgerlichen Privateigentums und des großen Erfolgs gebahnt haben. All diese Leute zusammengenommen bilden die Bourgeoisie. Hier in diesem Buch aber haben wir die Porträts von Arbeitern, Vorarbeitern, Ingenieuren und Werkleitern vor uns. Wer sind diese Männer und Frauen, die das Stalingrader Traktorenwerk errichten halfen? Sie gehören jener Klasse an, die jetzt die aufsteigende ist, während die Bourgeoisie nun zu einer niedergehenden geworden ist — jener Klasse, die im Oktober 1917 ihr Schicksal selbst in die Hand genommen hat und seit diesem Tage eine neue, sozialistische Gesellschaft aufbaut. Wir haben für unser Buch nur eine einzige Fabrik ausgewählt und aus dieser Fabrik wieder nur ein Dutzend Menschen; aber können wir nicht sagen, daß ihre unterschiedlichen Lebensgeschichten in eine einzige Wachstumskurve zusammenfließen, in eine aufsteigende Kurve der Entwicklung und Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit in einer Gesellschaft, in der eine solche Schändlichkeit wie die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht mehr existiert? In der Literatur der Bourgeoisie ist für diese Menschen kein Platz. Dort sind sie zur Obskurität verdammt, verbannt auf Hinterhöfe und Gassen, in dunkle Löcher und Winkel. Die bürgerliche Literatur besitzt weder die Stärke noch die Fähigkeit, das wahre Gesicht dieser Menschen sichtbar werden zu lassen. Aber in der Literatur des siegreichen Proletariats können sie in ihrer vollen Größe dargestellt werden. Und unsere Sowjetliteratur hat die große, schwierige Aufgabe, die Klasse der neuen Herren des Lebens zu schildern, bereits in Angriff genommen." In Amerika haben wir noch kein siegreiches Proletariat. Was wir dennoch haben, sind unsere Helden und Heldinnen der Arbeiterbewegung. Robert Minor. Angelo Herndon. Mother Bloor. Tom Mooney. Joe Hill. Eugene Debs. Es sind viele — die unbekannten, fast namenlosen Organisatoren der Negerarbeiter und armen Pächter im Süden, die Männer und Frauen auf Streikposten, und diejenigen, die in den Fabriken, in den Bergwerken und auf den Farmen sich plagen und kämpfen. Robert Cantwell hat in The Land of Plenty (Das Land des Überflusses)83 gezeigt, wie ein proletarischer Schrifsteller eine Fabrik und die Menschen darin ebenso überzeugend und treffend schildern kann wie Thomas Hardy uns in seinen Romanen die Landschaft von Wessex erleben läßt. Unsere Aufgabe ist es, den täglichen Kampf, die Erwartungen, Triumphe und Verzweiflungen der künftigen Herren des Lebens — der Arbeiter, lebendig zu gestalten. Das ist nicht einfach. Es ist alles noch recht verwirrend, und wir haben so wenig an Vorbildern und Beispielen; uns hindern die Unzulänglichkeiten unseres kulturellen Lebens; uns verfolgt, während wir noch Arbeit haben, die Furcht vor der Arbeitslosigkeit, körperliche und geistige Ermüdungserscheinungen werden spürbar. Aber wir haben etwas Lebensnotwendiges und Neues mitzuteilen. Unsere erste Pflicht ist es, uns um eine Interpretation jener Aspekte des amerikanischen 78
Lebens zu mühen, die für die Massen von Bedeutung sind, und unsere nächste Pflicht ist es, dieses Material so einfach und klar wir nur möglich einem möglichst breiten Leserkreis zugänglich zu machen.
10 Edwin Seaver Der proletarische Roman Ich glaube nicht, daß man die Tatsache anzweifeln kann, daß die wertvollsten Beiträge zum amerikanischen Roman der letzten Jahre in den Werken unserer Schriftsteller des linken Flügels zu finden sind. Tatsächlich brauchen wir nur einmal daran zu denken, die Namen dieser Autoren von der Liste der zeitgenössischen amerikanischen Romaliteratur zu streichen — solche Namen wie, sagen wir, John Dos Passos, Robert Cantwell, Erskine Caldwell, William Rollins, Waldo Frank, Josephine Herbst, Jack Conroy, Edward Dahlberg, Grace Lumpkin, James Farrell —, diese und ein Dutzend weitere — wir brauchen nur einmal daran zu denken, diese Namen zu streichen, und wir werden sehen, daß nur wenig Erwähnenswertes übrigbleibt und daß die Summe dieses Übrigbleibenden sich ständig verringert. Doch gerade die Tatsache, daß die Zahl der von unseren revolutionären oder proletarischen Romanautoren während der letzten Jahre geschaffenen Werke so beträchtlich und so bedeutend ist, macht es uns unmöglich, in den wenigen uns zur Verfügung stehenden Minuten in angemessener Weise auf ihr Werk einzugehen. Ich schlage daher vor, anstatt besondere Romane zu untersuchen oder besondere Schriftsteller zu diskutieren, mich auf die Frage der Definition zu beschränken. Trotz der Tatsache, daß einige unserer Romanautoren noch immer der bildungsfeindlichen Haltung anhängen, daß Stock und Stein mir zwar den Hals brechen mögen, 84 doch Definitionen wie Kritiker insgesamt wertlos sind, glaube ich, daß es sowohl für Romanautoren wie für Kritiker von Bedeutung ist, wenn sie sich auf eine allgemein annehmbare Definition des Begriffes proletarischer Roman einigen können. Ich meine, daß es von Bedeutung ist, weil eine Definition den Ausschluß nebensächlicher Erwägungen bedeutet, die fast stets den Kampfplatz unnötiger Streitfragen bilden; weil eine Definition Klarheit der Zielsetzung — das Wissen, wohin man geht, warum man sich auf den Weg gemacht hat — bedeutet, und weil eine solche Klarheit des Ziels die erste Voraussetzung des wahrhaft revolutionären Künstlers ist. Nun heißt, den proletarischen Roman zu definieren offenbar, die eine besondere Eigenschaft oder Gruppe von Eigenschaften zu finden, die ihn von dem Roman unterscheidet, den wir bis vor kurzem noch gewohnt waren, d e n Roman zu nennen, und den wir jetzt den bürgerlichen Roman nennen. Entweder existiert solch 79
Lebens zu mühen, die für die Massen von Bedeutung sind, und unsere nächste Pflicht ist es, dieses Material so einfach und klar wir nur möglich einem möglichst breiten Leserkreis zugänglich zu machen.
10 Edwin Seaver Der proletarische Roman Ich glaube nicht, daß man die Tatsache anzweifeln kann, daß die wertvollsten Beiträge zum amerikanischen Roman der letzten Jahre in den Werken unserer Schriftsteller des linken Flügels zu finden sind. Tatsächlich brauchen wir nur einmal daran zu denken, die Namen dieser Autoren von der Liste der zeitgenössischen amerikanischen Romaliteratur zu streichen — solche Namen wie, sagen wir, John Dos Passos, Robert Cantwell, Erskine Caldwell, William Rollins, Waldo Frank, Josephine Herbst, Jack Conroy, Edward Dahlberg, Grace Lumpkin, James Farrell —, diese und ein Dutzend weitere — wir brauchen nur einmal daran zu denken, diese Namen zu streichen, und wir werden sehen, daß nur wenig Erwähnenswertes übrigbleibt und daß die Summe dieses Übrigbleibenden sich ständig verringert. Doch gerade die Tatsache, daß die Zahl der von unseren revolutionären oder proletarischen Romanautoren während der letzten Jahre geschaffenen Werke so beträchtlich und so bedeutend ist, macht es uns unmöglich, in den wenigen uns zur Verfügung stehenden Minuten in angemessener Weise auf ihr Werk einzugehen. Ich schlage daher vor, anstatt besondere Romane zu untersuchen oder besondere Schriftsteller zu diskutieren, mich auf die Frage der Definition zu beschränken. Trotz der Tatsache, daß einige unserer Romanautoren noch immer der bildungsfeindlichen Haltung anhängen, daß Stock und Stein mir zwar den Hals brechen mögen, 84 doch Definitionen wie Kritiker insgesamt wertlos sind, glaube ich, daß es sowohl für Romanautoren wie für Kritiker von Bedeutung ist, wenn sie sich auf eine allgemein annehmbare Definition des Begriffes proletarischer Roman einigen können. Ich meine, daß es von Bedeutung ist, weil eine Definition den Ausschluß nebensächlicher Erwägungen bedeutet, die fast stets den Kampfplatz unnötiger Streitfragen bilden; weil eine Definition Klarheit der Zielsetzung — das Wissen, wohin man geht, warum man sich auf den Weg gemacht hat — bedeutet, und weil eine solche Klarheit des Ziels die erste Voraussetzung des wahrhaft revolutionären Künstlers ist. Nun heißt, den proletarischen Roman zu definieren offenbar, die eine besondere Eigenschaft oder Gruppe von Eigenschaften zu finden, die ihn von dem Roman unterscheidet, den wir bis vor kurzem noch gewohnt waren, d e n Roman zu nennen, und den wir jetzt den bürgerlichen Roman nennen. Entweder existiert solch 79
ein Unterschied, oder unsere Verwendung des Begriffs proletarischer Roman ist nur ein nichtssagendes literarisches Schlagwort. Und in der Tat sind einige unserer Kritiker, sogar einige der uns nahestehenden, der Ansicht, daß dem so ist, daß der Begriff nichts anderes als ein Etikett, und dazu noch ein verwirrendes, sei. Diese Kritiker vertreten die Meinung, daß eine befriedigende Definition des Begriffs proletarischer Roman nicht möglich ist, daß eine Verwendung zu literarischen Diskussionen einem roten Tuch, das man einem Stier vorhält, vergleichbar ist, und daß alle auf diesem Begriff aufbauenden Diskussionen darum a priori zur Ergebnislosigkeit verurteilt sind. Ich kann ihnen deshalb nicht zustimmen, weil ich sonst glauben müßte, daß dieser Kongreß ein Fehler wäre, daß er unter falschen Voraussetzungen einberufen wäre und wir alle besser täten, unsere Sachen zu packen, nach Hause zu fahren und, so gut wir es vermögen, an unseren Büchern herumzubasteln. Wozu sind wir hier? Woran glauben wir? An den Kampf gegen Krieg und Faschismus? Allerdings. Doch das ist eine vorwiegend negative Feststellung. Sind wir nicht vielmehr hier, weil wir an die Bildung einer neuen und kommunistischen Ideologie innerhalb der alten und niedergehenden kapitalistischen Gesellschaft glauben, weil wir den aus der kapitalistischen Anarchie heraus- und zu der sozialistischen Ordnung hinführenden Weg suchen, jener Ordnung, die man in der Sowjetunion im Begriff ist aufzubauen, weil wir der marxistisch revolutionären Auffassung der historischen Veränderung im wesentlichen zustimmen? Das ist alles schön und gut, wird man sagen, doch was hat das mit Dionysius zu tun? Sie reden nicht von Ästhetik, nicht von der Romankunst. Das, wovon Sie reden, ist eine völlig politische Angelegenheit, eine Frage der Ökonomie, des historischen Standpunkts, der Philosophie, wenn Sie so wollen, aber gewiß nicht die Kunst des Romans. Eben. Denn es ist gerade dieses Interesse an der politischen Orientierung, der ökonomischen Interpretation, an einer bestimmten historischen Perspektive, an der materialistischen Dialektik, das das Hauptkennzeichen des proletarischen Romans bildet, weil es diese Eigenschaften sind, die die kollektive Verantwortung des proletarischen Romanautors bilden, und nicht das ästhetische Problem, das eine individuelle Angelegenheit ist und schon immer war. In der letzten Analyse machen nicht Stil, nicht Form, nicht Handlung, ja nicht einmal die Charaktere oder die dargestellte Klasse den Hauptunterschied zwischen proletarischem und bürgerlichem Roman aus. Das sind nur Aspekte des Romanüberbaus, der sich verändert und auch sich weiter verändern und entwickeln wird, in dem Maße, wie unsere Romanautoren an politischer Klarheit gewinnen, wie ihre politische Zielsetzung revolutionärer wird. Man wird behaupten, daß ich in meiner Definition des proletarischen Romans viel zu sektiererisch bin, daß ich ihn nur für eine Waffe im Kampf der Arbeiterklasse um die Machte halte, daß ich den proletarischen Roman lediglich für ein Propagandamittel, ein Werkzeug, und nicht für eine autonome Kunstform erachte. 80
Mir scheint im Gegenteil, daß wir dadurch, daß wir das politische Moment zum Hauptunterschied zwischen dem proletarischen und dem bürgerlichen Roman machen, ein ganzes Gefüge von Dogmen ausschalten, dessen Wirkung dahin geht, den schöpferischen Prozeß zu hemmen. Wir schalten die bedauerliche Verwirrung aus, die in so vielen Diskussionen über proletarische Literatur vorgeherrscht hat und noch immer vorherrscht. Die Verwirrung beispielsweise, die von der Annahme ausgeht, ein proletarischer Roman m ü s s e von einem Arbeiter geschrieben sein, oder müsse von Arbeitern handeln, oder müsse besonders für Arbeiter geschrieben sein. Auf der Suche nach einem Stoff wird sich der Romanautor naturgemäß dem Milieu zuwenden, mit dem er am besten vertraut ist, und wenn, wie das in den Vereinigten Staaten der Fall ist, die Mehrzahl unserer Schriftsteller der Mittelklasse entstammt, so werden ihre Romane vorwiegend diese Klasse zum Gegenstand haben. Wieviele Romane sind gescheitert, weil es der Schriftsteller in seinem revolutionären Übereifer für seine Pflicht hielt, über eine Klasse zu schreiben, deren eigentliches Leben ihm noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen war, weil er es für seine Pflicht hielt, für eine ihm noch unbekannte, fremde Klasse zu schreiben und daher gezwungen, unnatürlich und vulgär schrieb? Schlechte Romane, das gilt für proletarische wie bürgerliche, können gute Vorsätze haben, und keiner fühlt sich mehr zum Narren gehalten als die Arbeiter, wenn sie entdecken, daß einer unserer Schriftsteller über etwas zu schreiben versucht, das er nur wenig oder fast gar nicht kennt, oder der Arbeiterklasse einen Dienst zu erweisen versucht, indem er sich in einsilbigen Wörtern — meist Flüchen — ausdrückt. Doch angenommen, ein aus der Mittelklasse stammender Schriftsteller besitzt die revolutionäre Auffassung, daß die Zukunft den Arbeitern gehört, angenommen ferner, solch ein Schriftsteller sei im Besitz der marxistischen Analyse des Niedergangs der Bourgeoisie und der mißlichen Lage des Kleinbürgertums unter dem Druck der kapitalistischen Krise; ist solch ein Schriftsteller der Mittelklasse weniger proletarisch als der hypothetische Arbeiterschriftsteller, der vielleicht noch sogar in der heutigen Krisenzeit am Rockzipfel der bürgerlichen Ideologie hängt? Ganz und gar nicht. Wie ich anderenorts gesagt habe, wir brauchen nur an einen „Arbeiter" wie Matthew Woll zu denken, der für das durchschnittliche, einer Delegierung nicht abgeneigte Mitglied der American Federation of Labor einen Roman über patriotische Arbeiter schreibt, und wir gelangen zu einer Auffassung, die eine gelungene Parodie des proletarischen Romans ist. Andererseits ist es für einen Autor mit Mittelklassen-Herkunft möglich, einen Roman über kleinbürgerliche Figuren zu schreiben, der vorwiegend Leser eben dieser Klasse ansprechen wird, und dennoch kann solch ein Werk unter die Klassifizierung des proletarischen Romans fallen. Warum? Weil nicht die klassenmäßige Herkunft des Schriftstellers der entscheidende Faktor ist, sondern seine jetzige Klassenbindung. So scheint mir Albert Halpers The Foundry86 (Die Gießerei), obwohl ausschließ6
New York 1935/37
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lieh Arbeiter behandelnd, kein echter proletarischer Roman zu sein, während hingegen Josephine Herbsts The Executioner Waits87 (Der Henker wartet), in dem vorwiegend Figuren aus der Mittelklasse behandelt werden, ganz gewiß einer ist. Halpers Arbeiter unterscheiden sich in ihrer Weltsicht in keiner Weise von kleinen Ladenbesitzern; politisch sind sie ungeboren. Herbsts MittelklassenCharaktere dagegen sind nicht nur deklassiert; sie sind sich ihres klassenlosen Zustands und — infolge äußerer und innerer Notwendigkeit — einer wachsenden Einheit mit der militanten Arbeiterklasse bewußt. Ferner behandeln John Dos Passos' The 42nd Parallel (Der 42. Breitengrad) und 1919 (Auf den Trümmern)88 in dialektischer Weise den Zerfall des amerikanischen Bürgertums und das Anwachsen der revolutionären Stimmung unter dem Druck der Ereignisse und der kommunistischen Interpretation dieser Ereignisse. Doch ein Roman wie Robert Whitcombs Talk United States89 (Gespräch über die Vereinigten Staaten), wiewohl er angeblich nur Arbeiter behandelt, ist von jenem Geist bürgerlichen Abwartens durchdrungen, der den geraden Weg zum Faschismus kennzeichnet. In allen diesen Fällen ist es, so glaube ich, die gegenwärtige Klassenverbundenheit des Autors, seine politische Einstellung, und nicht die klassenmäßige Herkunft oder die dargestellte Klasse, die das entscheidende Moment bildet. Ich wiederhole also, daß, wenn ich die Frage der politischen Einstellung zum Hauptmerkmal der von mir getroffenen Unterscheidung zwischen proletarischem und bürgerlichem Roman mache, ich nicht sektiererisch bin, vielmehr bemüht, die drohende Gefahr des Sektierertums abzuwenden, indem ich die gesamte Frage des Romanüberbaus, d. h. des Romans als Kunst, völlig dem einzelnen Schriftsteller überlasse. Natürlich kann das, was aus langer Sicht in unserer Zeit als eine kämpferische Notwendigkeit erscheint — und das in unserer Zeit ist und auch sein s o l l t e — in gebührender Perspektive nur als eine historische Entwicklungsstufe erscheinen. So würden wir, wenn wir Rückschau hielten auf die Zeit der französischen Revolution, feststellen, daß die Kritiker den Begriff bürgerliche Literatur in Gegenüberstellung zur absterbenden feudalen Literatur bewußt und kämpferisch verwendeten, genauso wie wir heutzutage den Begriff proletarische Literatur in Gegenüberstellung zur Literatur der sterbenden Bourgeoisie gebrauchen. Ein Jahrhundert später jedoch, als die Errungenschaften der französischen Revolution bereits lange gesichert waren und die Bourgeoisie fest im Sattel saß, gebrauchten die Kritiker den Begriff bürgerliche Literatur nicht mehr. Bürgerliche Literatur war inzwischen zu der u n i v e r s e l l e n L i t e r a t u r geworden, eben weil die Sicht sowohl des Autors wie des Kritikers dazu neigte, sich auf die Grenzen der siegreichen bürgerlichen Ideologie zu beschränken: Beiden war ein allgemein anerkanntes Gefüge von Ideen gemeinsam. Erst heute, da der Kapitalismus zu Ende geht, wird der Begriff wieder verwendet, und zwar genauso negativ wie einst positiv, und neben dem neuen Begriff der 82
proletarischen Literatur. Die Schlußfolgerung scheint nahezuliegen, daß man solche Begriffe wie bürgerliche Literatur oder proletatische Literatur Begriffe des A n f a n g s - u n d d e r E n d z e i t nennen könnte. Sie werden nur dann verwendet, wenn der ideologische Überbau und die materielle Basis entweder nicht völlig vereint oder nicht völlig getrennt sind. Sie stellen den ungleichen Kampf an der kulturellen Front dar wie den an der ökonomischen Front, der gleichzeitig mit diesem geführt wird. Darum ist es angesichts dieser Nicht-Einheit wie heute in den Vereinigten Staaten so notwendig, die Frage der politischen Einstellung als den Hauptgedanken jeder Erörterung des proletarischen Romans zu begreifen. Hat man andererseits, so wie in der Sowjetunion, diese Nicht-Einheit abgeschafft, und sind neue Schriftsteller innerhalb einer allgemein akzeptierten neuen Ideologie aufgetaucht, dann verschwinden zahlreiche der besonderen Probleme, vor die die Romanschriftsteller unseres Landes heute gestellt sind, von selbst. Denn der proletarische Romanschriftsteller in den Vereinigten Staaten bewohnt zwei Welten. Die eine von beiden, die Welt des Kapitalismus, sieht er im Prozeß des Verfalls; die andere, eine neue Gesellschaft, die sich innerhalb der alten entwickelt, sieht er im Prozeß des Entstehens. Als proletarischer Schriftsteller muß er beide Welten schildern. Der sowjetische Schriftsteller hingegen befaßt sich vor allem mit der Sicherung der revolutionären Errungenschaften und baut schöpferisch auf dieser Grundlage auf. In seinem Werk kann man eine Einheit finden, die im zeitgenössischen amerikanischen Roman schwer, wenn nicht unmöglich, zu erreichen ist. • In Übereinstimmung mit der von mir oben aufgestellten These hinsichtlich der Anfangs- und Endzeitbegriffe dürfen wir nicht erwarten, daß die sowjetischen Romanschriftsteller noch viel über proletarische Literatur in der UdSSR reden. Und das trifft zu. Sie reden heute über Sowjetliteratur, über die Literatur des sozialistischen Vaterlandes, über die Probleme des sozialistischen Realismus und dergleichen. Denn die proletarische Literatur ist nicht etwas, auf das sie hinarbeiten; sie ist etwas, das untrennbar von der Existenz der siegreichen Diktatur des Proletariats vorhanden ist; und in ihrem eignen Lande brauchen sie nicht mehr über solche Literatur zu reden, eben weil sie sie bereits haben. Doch die proletarische Literatur in den Vereinigten Staaten — und es besteht kein Grund, warum wir uns hier nur auf den Roman zu beschränken haben —, die proletarische Literatur in den Vereinigten Staaten wurzelt in der Zukunft und in der Klasse, die jetzt im Begriff steht, sich zu organisieren, um die Kontrolle über diese Zukunft zu übernehmen. Sie hat nicht nur die gegenwärtige Realität zu behandeln, sondern auch die Realität im Prozesse des Werdens; Wenn sie die letztere nicht behandelt — die Realität im Prozeß des Werdens — kann sie keine proletarische Literatur sein. Doch wenn sie die erstere vernachlässigt — wenn sie die gegenwärtige Realität vernachlässigt — kann sie überhaupt keine Literatur sein. 90 6»
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11 Isodor Schneider Proletarische Dichtung Was den Kapitalismus betrifft, so haben Dichter vielleicht gewichtigere Gründe als jede andere Gruppe von Autoren, seine Herausbildung zu bedauern und seinen Abgang zu begrüßen. Der Rückgang der Dichtung als der führenden literarischen Ausdrucksform und ihre Ablösung durch die Prosa begann mit dem Machtantritt der Bourgeoisie; und die Dichtung verfiel und verarmte in dem gleichen Maße, wie der Kapitalismus wuchs und gedieh. Die Dichtung verlor nicht nur ihr Publikum und ihren Einfluß, sondern ihren Impuls, in großen, eindrucksvollen Formen schöpferisch zu sein. Die Kunst, in der einst Gesetze, Riten und Geschichte festgehalten wurden, beschränkt sich heute auf verhältnismäßig kleine lyrische Formen. Ich habe die Absicht zu beweisen, daß dies kein bloßer Begleitumstand ist, daß das Wesen des Kapitalismus, der das Individuum verherrlicht, der Dichtung als einer vorwiegend gesellschaftlichen Kunst feindlich gegenüber steht. Doch zunächst möchte ich drei Theorien erörtern, die meines Wissens als die häufigst angebotenen Erklärungen für den Rückgang der Dichtung in der kapitalistischen Periode gelten. Eine ist die Verbreitung des Buchdrucks. Man behauptet, daß die Prosa, da sie leichter zu lesen ist, über die Dichtung den Sieg davongetragen habe, als der Buchdruck die Literatur dem allgemeinen Publikum nahebrachte. Doch diese Erklärung, die zwar einen positiven Faktor des Problems in Rechnung stellt, erklärt nicht so viel, wie sie zu erklären scheint. Die ersten Bücher, die gedruckt wurden, waren in den meisten Fällen Dichtung; die Bibel, volkstümliche Balladen, Texte und Übersetzungen der Vers-Epen, Vers-Dramen, Madrigale usw. Die erste gedruckte Prosa war oft weniger lesbar als die Dichtung, sie bestand zum großen Teil aus Predigten und Abhandlungen — künstlerische Prosa war eine spätere Entwicklung. Übrigens ahmten die ersten schöpferischen Prosawerke nach der Feudalzeit, die Ritterromane wie Amadis von Gallia 91 und die schwerverständlichen und rhetorisch überladenen Werke der Euphuisten, 913 die Dichtung nur nach; sie versuchten tatsächlich, die Dichtung an Dichterischem noch zu übertreffen. Eine zweite Theorie besagt, daß Industrie und Bevölkerungskonzentration in den Städten das Leben entstellen und daher von entmutigender Wirkung auf die Dichtung sind. Das würde voraussetzen, daß Dichtung vorwiegend ortsgebunden ist, und daß die Ausbeutung auf einem Dorf weniger häßlich ist als die Ausbeutung in einer Großstadt. Tatsache ist, daß klassische Dichtung von jeher in großen Städten, in Athen, Rom, Jerusalem, Paris usw. zu Hause war, die auch Industriezentren sind. Die dritte Erklärung ist einfach die, daß die Dichtung stirbt, so wie alles andere, das seine Zeit überlebt hat. Sie ist Teil der Hoffnungslosigkeit, die man am Ende einer historischen Epoche für alle Kultur empfindet; und dieses Bewußtsein von 84
der Dichtung als einer sterbenden Kunst wird von vielen Dichtern geteilt. Wenn sie auch nicht in dem Maße bereit waren, Selbstmord zu begehen, wie viele Kritiker es waren, sie zu erledigen, so haben sich doch viele mit ihrem Absterben abgefunden. In der nur wenige Jahre zurückliegenden Zeit der Spenglerschen Verwirrung, die mit ihrer Feindseligkeit gegenüber dem Schöpferischen und ihrer Willfahrigkeit gegenüber der Gewalt eine Vorahnung des Faschismus war, wurde der Kapitalismus, durchaus wahrheitsgemäß, der Dichtung gegenüber als gleichgültig und unduldsam dargestellt. Das geschah unter dem Gesichtspunkt vom Alter der Kultur. Man betrachtete den Kapitalismus als die Blüte abendländischer Kultur, während die Dichtung als zu einer längst vergangenen Jugendzeit gehörig betrachtet wurde. Einige Formen dieser Gleichsetzung von Dichtung mit Jugendzeit fanden sich im Denken mancherlei Köpfe, während hingegen das Bewußtsein des Untergangs selbst bei den leidenschaftlichen Befürwortern der Dichtung zu finden war. Es taucht beispielsweise sogar in den Gedanken eines Dichters wie C. Day Lewis auf. In seinem berühmten Essay A Hope For Poetry92 (Eine Hoffnung für Dichtung) schreibt er: Der Dichter ist ein Kunsterzeuger von Beruf, ein Dichter durch göttliche Vorsehung. Der reine Geist, der vielleicht für eine Minute in zwanzig Jahren über ihn kommt, entstammt Bereichen, über die er keine Herrschaft besitzt. Woher diese Besucher kommen, vermag der Dichter nicht zu sagen; ob aus den oberen Luftschichten, Einflüsse der Quelle allen Lichts; ob es Dämonen sind, die Herren der allen Dingen einwohnenden Kraft; oder ob aus dem dunklen Kontinent in seinem eigenen Geist, wo die Vergangenheit der Menschheit ruht, einem unter den Wellen seines Bewußtseins entschwundenen Atlantis. Wenn das letztere der Fall ist, wenn der reine Odem der Dichtung eine Offenbarung primitiver, in den Schichten seiner Seele erhalten gebliebener Lebensformen ist, dann können wir voraussagen, daß die allmähliche Ausweitung der Bewußtheit in vielen Jahrhunderten der Tod der Dichtung sein wird . . . Doch wenn tausend Jahre für den Dichter nur wie ein Gestern sind, kann sein Morgen auf die gleiche Zeitspanne bemessen sein. Das ist eine Hoffnung für die Dichtung. Wir sehen, wie weit das Bewußtsein des Niedergangs bereits in die Gedanken des Dichters eingedrungen ist. Und hier liefert die Geschichte abermals den Gegenbeweis. In der Lebensspanne anderer Kulturen hat die Dichtung vom Anfang bis zum Ende ihren festen Platz. Die meisten Dichter schrieben ihre bedeutendsten Werke in reifem Lebensalter. Und die Tatsache, daß die vorherrschende Form der Zeit die Prosa war, bewirkte lediglich, daß viele Dichter zur Prosa getrieben wurden. James Joyce und D . H . Lawrence zum Beispiel haben ihre Prosa mit Lyrik durchsetzt; und wenn die Kritiker die in der Prosa verborgene Dichtung ausgraben würden, würden wir wohl entdecken, daß selbst quantitativ keine tatsächliche Minderung eingetreten ist, obwohl es zu einer Beschränkung dichterischen Talents gekommen ist. Der Sturz des Kapitalismus ist die Hoffnung auf seine Befreiung. Die für die Dichtung tödlichen Eigenschaften des Kapitalismus liegen in seinen 85
Interessen und Vorstellungen. Zur gleichen Zeit, als der Kapitalismus um den freien Markt kämpfte, kämpfte er in seiner revolutionären Phase für Gewissensund Geistesfreiheit, aus dem einfachen Grunde, weil, wenn feudale und später monarchistische Bindungen hier brachen, der Zwang des Systems auch woanders brechen würde. Schließlich wurden die Befreiung des Individuums und seine Heiligsprechung zum Hauptinhalt bürgerlichen Denkens. Der rauhbeinige Individualismus Hoovers, 93 der akademische Begriff von der einsamen Forschung und unabhängigen Entscheidung in der Wissenschaft, der Elfenbeinturm 94 des Dichters sind alles verkümmerte Überreste dieser Ideologie. Für eine solche Interessenausrichtung erwies sich die Prosa als geeigneter. Prosa ist anpassungsfähiger und leichter privat zu lesen, während Dichtung schon in der Form gesellschaftlich ist. Die Prosa entwickelte als ihre Hauptform den Roman, die Verherrlichung des Individuums; und der Roman entwickelte sich von der episodenhaften Abenteuergeschichte zur Charaktergeschichte. Charaktere, Charakterzeichnung, wurden zum Prüfstein der Prosadichtung. Eine Studie der Prosadichtung würde nicht nur ihre Entwicklung als Quelle der Persönlichkeitsschilderung zeigen, sondern auch die Persönlichkeitsmuster, die Wunschträume und Ideale jeder nachfolgenden Periode vorführen, bis wir mit der heutigen Zeit bei ihrem Endprodukt, dem geschlagenen Individuum, angelangt sind. Dichtung jedoch ist keine individuelle Kunst. Manche Dichter mögen zwar aus diesem oder jenem Grunde einsam sein, doch die Dichtung besitzt etwas, das Einsamkeit und einsame Lektüre scheut. Selbst in ihrem jetzigen Niedergang wird Dichtung zumeist in Gesellschaft gelesen. Sie wird auf der Wanderung bei einer Rast gelesen; sie wird von der kleinsten sozialen Gemeinschaft, dem Liebespaar, gelesen; sie wird noch immer von der Kanzel gelesen; sie wird noch immer vom Katheder und bei politischen Reden als Zitat verwandt. Sie ist unter den Massen noch in verdorbener Form als populäre Liedlyrik vorhanden. Sie behauptet sich, wie wir sehen können, in den führenden gesellschaftlichen Formen. Denn die Dichtung ist ihrem Wesen nach eine gesellschaftliche Kunst. Um sie in ihrer maximalen Wirkung zu erleben, muß sich selbst der einsame Leser vorstellen, sie laut zu lesen, sie zu hören, nicht nur zu lesen. Dichtung kann nicht mit der gleichen Passivität gelesen werden wie Prosa. Der Leser m u ß im gewissen Maße ein Vortragender sein, muß im gewissen Grade in derselben Beziehung zum Dichter stehen wie der Musiker zum Komponisten, auch wenn er sein eigner, einziger Zuhörer ist. Rhythmus, Reim, Assonanz, Wohlklang, alle diese Eigenschaften streben nach einer relativ öffentlichen, denkwürdigen, formbetonten Kunst — kurz, nach einer gesellschaftlichen Kunst. Erst im Kapitalismus begann die Dichtung, gleichzeitig mit dem Versuch sich anzupassen, sich in individuellen Formen zu versuchen, besonders in der lyrischen Dichtung. In ihren bedeutsamen Zeitaltern war die Dichtung in großen Formen zu Hause; und sie behandelte nicht den Einzelmenschen, sondern allgemeingültige Gestalten, die in Übereinstimmung mit einer Gesellschaft lebten, in der das organisierte und institutionalisierte Leben an erster Stelle stand. Auf diese Weise 86
war die Dichtung nicht nur in ihren klanglichen und rezitatorischen Eigenschaften, sondern auch in ihrem Inhalt in hohem Maße eine gesellschaftliche Kunst. Die Dichtung im Kapitalismus hatte noch unter einem weiteren Nachteil zu leiden. Ihr alter Ruhm war erhalten geblieben, obwohl ihr Einfluß und ihre Macht dahin waren. Doch dieser Ruhm hatte die weitere Wirkung, die Dichtung von den Massen zu entfernen. Er machte die Dichtung zum „Geheimnis", verlieh ihr einen überirdischen Status. Nur erklärte Meisterwerke galten als Dichtung, nur Meisterwerke wurden geduldet. Mittelmäßige Dichtung, die ein Publikum hätte erziehen können, wurde entmutigt. Auf der einen Seite schrieben Dichter, die verzweifelt Meisterwerke zu verfertigen suchten, überladene und unverständliche Dichtung, andererseits blieb der Rest eines einst breiten Publikums, vor der leichter aufzunehmenden mittelmäßigen Dichtung gewarnt, nun der Dichtung gänzlich fern. Das führte zu dem Phänomen einer Dichtung buchstäblich ohne Leser, außer der in der Prosa verborgenen Lyrik. Der unbefriedigende Zustand für Dichter und für Dichtung führte sowohl zu einem Wandel im Wesen der Dichtung wie zu einem Wandel im Charakter der Dichter. Auch die Dichtung versuchte individualistische, man könnte sagen, private Formen zu entwickeln; und indem sie ihre gesellschaftlichen Funktionen aufgab, gab sie in einigen Fällen ihre klangliche Grundlage auf und ersetzte sie durch typographische Wirkungen. Denn allgemeingültige Figuren, weltweite Gefühle, die Themen einer gesellschaftlichen Kunst, wurden durch persönliche Eindrücke ersetzt. Der Wandel im Charakter der Dichtung war eine unmittelbare Reaktion auf ihren Status in der Gesellschaft. Das typische Bild des Dichters ist das eines Geplagten, Ruhelosen, Unbefriedigten, Ausgestoßenen. Doch schauen wir uns die Dichter früherer Zeitalter an, finden wir sie im Mittelpunkt, nicht in den Randzonen der Gesellschaft. Wir finden sie als Zufriedene. Erst im Kapitalismus, als Folge seiner anormalen Situation, zeigt der Dichter krankhafte Züge; erst im Kapitalismus erscheint Wahnsinn beinahe als Berufskrankheit der Dichter. Bemerkenswert ist übrigens, daß die Mehrzahl der geistig Umnachteten und Selbstmorde unter den den niederen Klassen entstammenden Dichtern zu finden ist, die zusätzlich noch den unmittelbaren ökonomischen Kampf zu bestehen hatten. Im Nahen des Kommunismus, eines sozialisierten Systems, liegt die Hoffnung für die Dichtung. Das bedeutet nicht, daß sie die Prosa verdrängen wird, denn die Prosa ist ihr an Anpassungsfähigkeit überlegen und für Funktionen geeignet, die die Dichtung nicht im gleichen Maße ausüben kann. Und wir können in der Prosa genauso Wandlungen voraussehen, besonders einen Wandel ihres Inhalts. Als gesellschaftliche Kunst besitzt die Dichtung in einem sozialisierten Staat jedoch eine besonders hoffnungsvolle Zukunft. Ihre Fähigkeit, klangvolle, erinnerungswürdige und feierliche Äußerungen hervorzubringen, wird sie nützlich machen. Es wird ihre Aufgabe sein, sich mit einem neuen Komplex universeller Werte zu befassen, eine ganze neue Geschichte zu verarbeiten, eine neue Ethik zu befördern, ein neues Gebiet der Ästhetik in Natur und Gesellschaft, ein neues Heldenpantheon als ihr Heiligtum zu verwalten. 87
In dieser Entwicklung werden die Erfindungen des Kapitalismus, der Tonfilm und besonders der Rundfunk, sicher eine Rolle spielen. Selbst heute, im Rahmen des Kapitalismus, können wir beobachten, wie angesichts der wachsenden Mode der Filmoperette und bei den beliebten Lyriksendungen der großen Rundfunkanstalten, dort, wo Toneffekte erforderlich sind, die Dichtung gefragt ist. Was sich durch den sozialisierten Gebrauch dieser Medien entwickeln wird, ist ein Dichtung in größeren, in erzählenden und dramatischen Formen, damit revolutioAgitpropstücke, in denen Dichtung sich als äußerst wirksam erwiesen hat, Thema für hoffnungsvolle Rhapsodie. In Anbetracht dieser Situation gibt es meiner Auffassung nach zwei unmittelbare Aufgaben für die Dichter: einmal, sich auf die neue Rolle der Dichtung vorzubereiten, und zum anderen, ihre Dichtung zu einer Waffe für den Umsturz des Kapitalismus zu machen. Diese beiden Aufgaben stellen sich nicht nur gleichzeitig, sondern werden durch die gleiche Arbeit erfüllt. Denn die revolutionäre Bewegung ist bereits eine sozialistische Gesellschaft im kleinen und ermöglicht den Dichtern augenblicklich eine neue gesellschaftliche Rolle. Sie hat ein dringendes Bedürfnis für Dichtung. Sie verlangt Lyrik, Lieder, Massenrezitationen, näre Geschichte und Ideen jene Verbreitung finden, die schöpferische Literatur höchst erfolgreich gewährleisten kann. Dem Dichter bietet sie, nahezu zum ersten Mal seit Jahrhunderten, ein empfangliches, anteilnehmendes Publikum. Wird unsere gegenwärtige proletarische Dichtung diesen Anforderungen gerecht? Sie beginnt erst damit. Einige Massenrezitationen, Lieder, Agitpropstücke sind geschrieben worden, doch sind es nicht genug, und sie sind auch nicht gut genug. Der Großteil der besten proletarischen Dichtung ist noch immer an die unmittelbare bürgerliche Tradition gefesselt. Vielleicht wäre es für die Dichter, die in dieser Tradition arbeiten und ihre Anregungen jüngeren Meistern entnehmen, am besten, wenn sie diese Richtung solange verfolgen, wie sie gute Gedichte hervorbringt. Doch für die anderen, besonders für die jüngeren Dichter, die nach neuen Einflüssen suchen, wäre es angebracht, den vorhandenen Fundus proletarischer Dichtung zu überprüfen,um sodann zu entscheiden, wie sie ihn ändern und vervollkommnen können. Ziehen wir als erstes den psychologischen Faktor in Betracht. Der proletarische Dichter ist noch immer nicht genügend Revolutionär. Er schöpft beim Schreiben noch immer aus Eindrücken statt aus der Erfahrung. Wie ein Dichter von der Vorstellung einer neuen Gesellschaft und dem Willen, sie zu begründen, besessen sein kann, daß beide zum Atem und Herzschlag seiner Dichtung werden, muß jeder Dichter durch Teilnahme am Klassenkampf für sich selbst entdecken. Lektüre und Streitgespräch allein können ihn nur in unbegrenzte Isolierung führen. Was den Inhalt betrifft, so ist offenbar, daß der Dichter die ganze Unendlichkeit vor sich hat, in die er nur einzutauchen braucht. Doch die Dichter müssen es lernen, mit voller Kraft hineinzutauchen. Sie haben sich, bis auf wenige Ausnahmen, damit zufrieden gegeben, Eindrücke zu bieten und Erklärungen zu liefern. Sie verwenden noch immer Stoffe, die dem auf dem Nebengleis 88
Stehenden erreichbar sind. Sie vermeiden es, Lieder zu schreiben, aus Angst, ihr Talent herabzuwürdigen; und sie zögern, große Formen zu benutzen, aus Angst, als anmaßend zu gelten. Der reichlich vorhandene und zentrale Stoff ist die revolutionäre Geschichte und die revolutionäre Aktion. Durch eine schöpferische Verwendung der Geschichte können sie vergangene Heldentaten für uns weiterleben lassen; dadurch, daß sie Lieder schreiben, können sie die Dichtung in Aktion verwandeln. Doch bedeutsamer als alle diese Fragen ist das Formproblem. Der Kampf ist uns auferlegt und wird uns beanspruchen, ob wir wollen oder nicht. Es ist merkwürdig, wie dieselben Schriftsteller und Kritiker, die uns wegen seiner künstlerischen Behandlung verachten, ihn aus ihren eigenen Arbeiten nicht heraushalten können. Und was den Inhalt betrifft, so ist er da, im Überfluß. Was wir brauchen, sind Gefäße — Formen. Alle jüngeren Einflüsse in der Literatur neigen zu einem Abbau der Form — die Hervorhebung des Unbewußten, die Dissoziation von Ideen, der Bewußtseinsstrom. Die poetische Einheit wird von der Strophe auf die Zeile, ja sogar auf die Phrase beschränkt. Es gibt Gedichte, die eine Folge von Explosionen und Helligkeitsausbrüchen sind, die jedoch keine Strukturen aufweisen, nicht einmal einen beständigen Glanz. Man kann die Teilstücke vieler proletarischer Gedichte neu anordnen ohne sie zu verderben; oder sie aufspalten und aus den Teilen genauso viele Gedichte machen wie zuvor. Solch Mangel an organischer Einheit ist die größte Schwäche unserer Dichtung; und es ist eine doppelte Schwäche, denn diese Sorglosigkeit in der Struktur wird von einer Sorglosigkeit in der klanglichen Wirkung begleitet. Ich fordere deshalb, auf Struktur und Klangwert strenges Augenmerk zu richten. Welche Experimente der Dichter auch immer unternimmt, sie sollten stets auf die Lösung dieser Probleme gerichtet sein.95
12 Edward Dahlberg Der Faschismus und die Schriftsteller Abraham Cowley, der englische Dichter aus dem siebzehnten Jahrhundert, sagte einmal, daß ein tragisches Zeitalter das interessanteste sei, um darin zu leben, doch das schwierigste, um darin zu schreiben. Zeitgenössische Schriftsteller, die die Schrecken des Weltkrieges, des italienischen Faschismus von 1922, die Weltkrise von 1929 und den Hitlerfaschismus von 1933 erlebt haben, wissen das wohl in weit schmerzlicherem Maße als der englische Dichter. Man darf sagen, daß, während Clemenceau im Weltkrieg an Woodrow Wilson schrieb, „ein Tropfen Öl ist einen Tropfen Blut wert", und während Sir Henry Deterding, der britische Ölmagnat, die Wrangeis und Koltschaks unterstützte, um in den Besitz der Ölquellen von Baku zu gelangen, eine Vielzahl von Schriftstellern „Eine Rose ist 89
Stehenden erreichbar sind. Sie vermeiden es, Lieder zu schreiben, aus Angst, ihr Talent herabzuwürdigen; und sie zögern, große Formen zu benutzen, aus Angst, als anmaßend zu gelten. Der reichlich vorhandene und zentrale Stoff ist die revolutionäre Geschichte und die revolutionäre Aktion. Durch eine schöpferische Verwendung der Geschichte können sie vergangene Heldentaten für uns weiterleben lassen; dadurch, daß sie Lieder schreiben, können sie die Dichtung in Aktion verwandeln. Doch bedeutsamer als alle diese Fragen ist das Formproblem. Der Kampf ist uns auferlegt und wird uns beanspruchen, ob wir wollen oder nicht. Es ist merkwürdig, wie dieselben Schriftsteller und Kritiker, die uns wegen seiner künstlerischen Behandlung verachten, ihn aus ihren eigenen Arbeiten nicht heraushalten können. Und was den Inhalt betrifft, so ist er da, im Überfluß. Was wir brauchen, sind Gefäße — Formen. Alle jüngeren Einflüsse in der Literatur neigen zu einem Abbau der Form — die Hervorhebung des Unbewußten, die Dissoziation von Ideen, der Bewußtseinsstrom. Die poetische Einheit wird von der Strophe auf die Zeile, ja sogar auf die Phrase beschränkt. Es gibt Gedichte, die eine Folge von Explosionen und Helligkeitsausbrüchen sind, die jedoch keine Strukturen aufweisen, nicht einmal einen beständigen Glanz. Man kann die Teilstücke vieler proletarischer Gedichte neu anordnen ohne sie zu verderben; oder sie aufspalten und aus den Teilen genauso viele Gedichte machen wie zuvor. Solch Mangel an organischer Einheit ist die größte Schwäche unserer Dichtung; und es ist eine doppelte Schwäche, denn diese Sorglosigkeit in der Struktur wird von einer Sorglosigkeit in der klanglichen Wirkung begleitet. Ich fordere deshalb, auf Struktur und Klangwert strenges Augenmerk zu richten. Welche Experimente der Dichter auch immer unternimmt, sie sollten stets auf die Lösung dieser Probleme gerichtet sein.95
12 Edward Dahlberg Der Faschismus und die Schriftsteller Abraham Cowley, der englische Dichter aus dem siebzehnten Jahrhundert, sagte einmal, daß ein tragisches Zeitalter das interessanteste sei, um darin zu leben, doch das schwierigste, um darin zu schreiben. Zeitgenössische Schriftsteller, die die Schrecken des Weltkrieges, des italienischen Faschismus von 1922, die Weltkrise von 1929 und den Hitlerfaschismus von 1933 erlebt haben, wissen das wohl in weit schmerzlicherem Maße als der englische Dichter. Man darf sagen, daß, während Clemenceau im Weltkrieg an Woodrow Wilson schrieb, „ein Tropfen Öl ist einen Tropfen Blut wert", und während Sir Henry Deterding, der britische Ölmagnat, die Wrangeis und Koltschaks unterstützte, um in den Besitz der Ölquellen von Baku zu gelangen, eine Vielzahl von Schriftstellern „Eine Rose ist 89
eine Rose ist eine Rose ist eine Rose" 9 6 intonierte. H. G. Wells, der wohlgemerkt vor einem Arbeiterkongreß sprach, sagte, daß die Schrecken des Weltkrieges nur eine Bewußtseinsverdunklung gewesen seien. Und was für eine Verdunklung, können wir hinzufügen. Die Erklärungen des höchst wählerischen Henry James über die Hunnen im Weltkrieg lesen sich wie ein Artikel aus einer Sensationspresse. Kipling, der ein konsequenter Imperialist und Chauvinist war, stimmte naturgemäß für den Krieg. Anatole France war bereit, die Waffe für la b e l l e France zu schultern. Zu den amerikanischen Schriftstellern, die in den Krieg zogen, „um die Welt sicher für die Demokratie zu machen", 9 7 gehören Edmund Wilson, John Dos Passos, E. E. Cummings, Malcolm Cowley, Ernest Hemingway. Viele von uns erinnern sich der leidenschaftlichen Briefe von Romain Rolland an Gerhart Hauptmann, in denen dieser bestürmt wird, sich als Künstler, als Stimme, die zählt, nicht von den Kriegstreibern täuschen zu lassen. Nimmt man solche Schriftsteller wie Maxim Gorki, Romain Rolland, Shaw, B. Russell aus, scheinen die einzigen Realisten dieser Zeit die Kapitalisten auf der einen Seite und die Revolutionäre auf der anderen gewesen zu sein. Nicht der Autor der Weber,98 sondern der heldenhafte Karl Liebknecht und die Junker wie Krupp sahen, in welcher Richtung sich die Geschichte entwickelte. Doch die Mehrzahl dieser Schriftsteller war zutiefst desillusioniert, und aus ihrer Verbitterung erwuchsen folgende gegen den Krieg gerichtete Bücher Le Feu (Das Feuer) von Barbusse, Nachkrieg von Ludwig Renn, Des Kaisers Kuli von Plivier, The Enormous Room (Der endlose Raum) von E. E. Cummings, Three Soldiers (Drei Soldaten) von Dos Passos usw. 99 Einige jedoch waren von dieser schrecklichen Erfahrung so erschüttert, daß sie das gesamte Erbe der Menschheit als todgeweiht betrachteten. T. S. Eliots Verse Wir sind die hohlen Männer Die Ausgestopften Aufeinandergestützt Stroh im Schädel. Ach, 1 0 0 und Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit,101 das Edmund Wilson in AxeVs Castle102 (Axels Schloß) das „Haus Herzenstod der kapitalistischen Kultur" nennt, veranschaulichen diese absolute Hoffnungslosigkeit. Die nächste Belastungsprobe sozusagen kam mit dem italienischen Faschismus 1922, mit Mussolinis „legendärem Marsch" auf Rom im luxuriösen Schlafwagen. Es fanden sich Philosophen wie Croce, die anfanglich protestierten. Selbst Giovanni Gentile war, glaube ich, nicht für diesen barbarischen Staat. Doch Croce ist seitdem verstummt, und Gentile ist der faschistische Erziehungsminister in Italien geworden. 103 Marinetti, der Futurist, akzeptierte den Faschismus und verkündete öffentlich, der Krieg sei eine Hygiene für die Jugend. Ich glaube, wir alle hier können Mr. Marinetti diese Hygiene nur empfehlen. Wir können die vorgenannten Schriftsteller entsprechend ihrer Haltung zu Krieg und Faschismus wie folgt einteilen: erstens die Chauvinisten wie Kipling, Marinetti und D'Annun90
zio ; dann diejenigen, die schwankten oder die Orientierung verloren wie Hauptmann, H. G. Wells, Ludwig Renn, Neukrantz (Autor der Barrikaden am Wedding104; diejenigen, die für die Dauer desillusioniert waren, wie E. E. Cummings, T. S. Eliot und Ernest Hemingway, wobei der letztere eine Art Betäubungs- und Linderungsmittel im Katholizismus gefunden hat (man beachte in Death in the Afternoon [Tod am NachmittagJ105 die Implikationen des Mithraskultes und das gesamte Stierritual, das später zur Wein- und Hostienzeremonie in der katholischen Kirche wurde). Etwa um das Jahr 1929 fingen die Schriftsteller an, die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Hoover stellte die folgende Prognose: „In sechzig Tagen wird das Schlimmste vorüber sein", wonach der Patient verstarb. Doch die Schriftsteller kommentierten die Krise bereits heftig und scharf und organisierten sich, um für Foster und Ford zu stimmen. 106 Eine neue W e l t a n s c h a u u n g trat an die Stelle der Verzweiflung. Eine Reihe namhafter Romanciers bereiste die Sowjetunion. 107 Darunter waren Theodore Dreiser, Waldo Frank, Josephine Herbst. Die letztere hatte große Bedenken hinsichtlich des Kommunismus. Um zu wissen, wo sie heute steht, braucht man nur ihre höchst eindrucksvollen Artikel über die kubanische Unterdrückung, Artikel, die in den New Masses erschienen sind, zu lesen.108 Oder sich Waldo Franks The Death and Birth of David Markand (Tod und Geburt des David Markand),109 einen sauber gearbeiteten Roman, ein Stück Kunst und Propaganda für eine Arbeiter- und Bauernregierung, anzuschauen. 1933 begann das Hitlerregime in Deutschland. Hier müssen wir länger verweilen, um einen genaueren Blick auf den Faschismus, seine Philosophie, seine Auffassung von Volksbildung und Kultur zu werfen. Als erstes erinnern wir daran, daß, als der Faschismus in Italien, einem zweitrangigen kapitalistischen Staat, an die Macht kam, die kleinbürgerlichen Zeitungsschreiber ihn als einen speziell lateinischen, mediterranen Ausbruch bezeichneten. Heute sprechen zahlreiche Amerikaner von der nazistischen Bedrohung als der direkten Frucht des streng reglementierten deutschen Temperaments. Anna O'Hara McCormack schrieb in einem Artikel über den Faschismus, daß das Hitlerregime mittelalterlich und Mussolinis Faschismus barock sei. Wenn wir diesen Unsinn bis zur n-ten Potenz weitertreiben wollen, so könnten wir statt des architektonischen Wortschatzes einen musikalischen anwenden und sagen, Pilsudskis faschistische Diktatur sei Mezzosopran. Mussolini schrieb 1921 : „Was der italienische Faschismus jetzt braucht, will er nicht mit dem Tode oder schlimmer noch, mit dem Selbstmord bestraft werden, ist ein System doktrinärer Lehren, das er sich selbst schaffen muß . . ." Diese neue „Philosophie", schreibt R. Palme Dutt in seinem bemerkenswerten Buch Fascism and Social Revolution (Faschismus und soziale Revolutionj110 wurde so einfach wie eine Wagenladung Schlagstöcke beordert. Und innerhalb von zwei Monaten. Vor zwei Jahren erschien ein Aufsatz Mussolinis in einer englischen Zeitschrift, und unter den genannten Gründern einer faschistischen Kultur befanden sich Renan, Claudel und Péguy. Es gibt also keine Theorie. Alles, was die Nazis den Menschen in Deutschland in dieser Hinsicht anzubieten hatten, waren 91
einzelne Programmpunkte. Diese Geistesarmut zeigte sich am besten in Father Coughlins jüngster Rede in Detroit. Die Philosophie, die er einer sechzehntausendköpfigen Zuhörerschaft anbot, lautete: „Vereint stehen wir, und getrennt fallen wir." Wer vermag das zu bestreiten. Es ist für die amerikanischen Schriftsteller äußerst bedeutsam, all diese Dinge zu bedenken. Denn die faschistischen Regierungen können sich ohne eine Massenbasis nicht an der Macht halten; und um die Arbeiter, Bauern und die Mittelschichten, die sie betrogen haben, zu halten, müssen sie die Unterstützung der Schriftsteller gewinnen. Daß die deutlichste Zeile des Nazi-Dramatikers Hanns Johst „Wenn ich das Wort Kultur höre, greife ich zum Revolver" heißt und daß Goebbels' Stück Schicksal111 eine so erfrischende Aufforderung zur Menschlichkeit wie „Stirb, Carrion. Ich zerstampfe dein Hirn" enthält, ist nicht von Belang. Die Faschisten, die außerstande sind, den Millionen Arbeitslosen Brot und Butter und Arbeit zu geben, müssen ihnen zumindest Hoffnung schenken. Daher sind die kämpferischsten Feinde der Kultur die ersten, die jede von einem Dichter, Romanschriftsteller oder Dramatiker getane Äußerung, die dazu beiträgt, Kräfte um sie zu scharen, aufgreifen. Die Faschisten bedienen sich jeder Methode, die Unterdrückten einzufangen; sie, die die kapitalistische Ausbeutung bis zu ihren teuflischen Grenzen getrieben haben, geben sich heute als Antikapitalisten aus. Die Thyssens und Krupps sind durch ihre Wortführer Hitler und Goebbels, die die Menschheit durch Profit und kriegerische Verwendung der Industrie zugrunde richten wollen, im gewissen Sinne zu den Maschinenstürmern, den romantischen, modernen Ludditen geworden. Die Kapitalisten, unsere Erretter, erheben sich heute gegen die Maschine! Und auch gegen die Wissenschaft! Joseph Caillaux, „progressiver" Finanzmann und Politiker, erklärte 1932 unumwunden, daß „man die Wissenschaft lähmen müsse", da sie sonst die Produktion, um des Profits willen, versteht sich, stören würde. Wie äußerst nützlich ist dann doch das Spinnrad Gandhis für die britischen Imperialisten; wie zweckdienlich für die Nazis sind Bertrand Russells Verherrlichung der verfallenden, vorkapitalistischen chinesischen Zivilisation und Spenglers tränenreicher Haß gegen das Maschinenzeitalter, in dem „der primitive Mensch einsam wie ein Geier nistet, ohne jedes gemeinschaftliche Gefühl". Es ist nur natürlich, daß die Faschisten und Industriellen eine antirationalistische Denkweise gefördert haben; sie hatten am meisten dabei zu gewinnen, wenn sie die Wissenschaft in Frage stellten, wenn sie den Intellekt entwerteten, wenn sie statt seiner, gleichzeitig mit arischen Großmüttern, Hakenkreuzen, Antisemitismus, Rassentheorien, brutaler Sterilisation des Negers, ihre Blut-und-Boden-Theorien einführten. Doch diejenigen Schriftsteller, die den Primitivismus, eine Rückkehr zu mittelalterlicher Kultur, höchst anziehend fanden, sollten wissen, daß diese betrügerische gegen die Maschinen gerichtete Revolte von oben, von den Industriellen, angeregt wurde. Auf genau die gleiche Weise schaffen die nazistischen Theoretiker eine Metaphysik des Leidens: Der Schmerz wird zum Medium erhöhter Erfahrung und hellsichtiger Einblicke. Also muß man den Massen erklären, sie sollten die Maschinen, die sie erbaut und erschaffen haben, 92
um die Arbeitslast und -mühe der Menschheit zu mindern, zerstören und wieder die lange ermüdende Arbeitszeit einer auf handwerkliche Tätigkeit gegründeten Gesellschaft einführen. In gleicher Weise sagt man ihnen, daß Marter und Kasteiung des Fleisches an sich gut sind, daß der Hunger p e r se nahezu ein Ziel sei, da er, ähnlich wie der Krieg, das Edelste im Menschen erwecke: das Opfer. Doch die Kommunisten in Deutschland informieren die Arbeiter, wie sie die Marter bekämpfen sollen, und sie werden ihnen zeigen, wie man, wenn der Faschismus überwunden ist, die Maschinen nutzen kann. Leider haben der Kult des Primitivismus und des Mittelalters auf etliche Schriftsteller einen günstigen Eindruck gemacht, weit mehr als die nichtssagenden fünfundzwanzig Punkte des Nationalsozialistischen Programms. Nicht der törichte, verwirrende Kult des Gottes Wotan oder des Helden Siegfried, sondern das agrarische, gegen die Maschine gerichtete Gemeinwesen hat die Phantasie eines Miguel de Unamuno gefesselt. Und die faschistischen Regierungen haben schnell gemerkt, welche Wirkung das auf unentschiedene oder schwankende Dichter, Künstler und Romanautoren ausübt. Welchen Platz nimmt die Literatur in einem faschistischen Land ein? Das ist natürlich für uns von größter Bedeutung. Was Dimitroff auf dem Leipziger Prozeß sagte: „Sagen Sie mir, in welchem Land der Faschismus nicht grausam und barbarisch ist", gilt besonders für die wenigen faschistischen Bücher, die, im Weltmaßstab gesehen, erschienen sind. Man beachte den Sadismus, der etwas vom Geruch des Konzentrationslagers hat, des folgenden niederträchtigen Schreiberlings in Großbritannien: „Ich gestehe gern zu, daß Krieg die größte Tragödie ist . . .", schreibt Margrie in A Cockney's Pilgrimage (Pilgerfahrt eines CockneyJ112. „Doch selbst ein großer Krieg besitzt ein oder zwei Vorteile. Er verbindet ein Volk, wie es sonst nichts vermag. Er regt die Menschen an, ihr Bestes zu leisten. Er läßt uns unsere kleinen persönlichen Sorgen vergessen." Das erinnert allzu sehr an die Knüttelverse auf den Postkarten und Onkel-Sam-Plakaten des letzten Weltkrieges. Ungeachtet der Kollektivierung unter sowjetischen Arbeitern gibt es gewisse ehrliche, doch verwirrte Schriftsteller, die vermittels psychologischer Taschenspielerkunst dahin gelangen, sich den Krieg zu wünschen, indem sie darauf hinweisen, daß die Soldaten in den Schützengräben größere Liebe, Menschlichkeit und Opfer kennenlernen als in Friedenszeiten. Wenn das auf unsere gegenwärtige Gesellschaft zutrifft, welch ein Licht wirft es auf den niedergehenden Kapitalismus. Der faschistische Margrie hat auch einige klischeeartige Einblicke in malerische Armut zu bieten, die hier zitiert werden sollten: „Es ist ein Fehler anzunehmen, Menschen, die in Slums leben, seien unglücklich. Sie sind die glücklichsten Menschen in London. Es ist alles nur eine Frage der Freiheit. Je schlimmer die Slums, desto größer die Freiheit." Ein weiterer sadistischer, faschistischer Roman Blue Shirts (Blauhemden), in London unter Pseudonym erschienen, veranschaulicht, wie man einen militanten, für zivilisiertere Lebensbedingungen kämpfenden Arbeiter zu behandeln hat: „ ,Ich habe ihm beide Ohren abgerissen und sie am Halse baumeln lassen', sagte Jerry fröhlich." 93
Die Haltung gegenüber den Frauen ist nicht minder barbarisch. Den Frauen in Deutschland wurde eine mittelalterlich anmutende Stellung und ein entsprechendes Programm zugedacht: K i n d e r , K i r c h e u n d K ü c h e . Zu beachten dabei ist, wie ähnlich sich die drei K's in allen den Weltteilen sind, in denen man Unterdrückung und faschistische Rückständigkeit antrifft. Göring hieß die deutschen Frauen Kinder für den Staat, für den Krieg zu gebären, bis sie erschöpft sind. Wie also war es dann möglich, daß die Schriftsteller, die Erbauer der Kultur, gegenüber einer kulturfeindlichen, faschistischen Regierung eine nachsichtige Haltung einnahmen? Hitlers Methode war kühn, war in phantastischer Weise demagogisch. Da waren der Nationalsozialismus, der Angriff auf die Bankiers, Junker, Industriellen, die Versprechungen, die großen Güter aufzuteilen, die gegen die Maschine gerichteten Theorien für die intellektuellen Anhänger des Mittelalters und für die Agrarier. Und vor allem gab es Massenelend und Arbeitslosigkeit; das erklärt, warum achtzig Prozent der Studenten in Deutschland Nazis wurden. Im sozialdemokratischen Deutschland von 1931 bis 32 fanden von 22000 Lehrern, die ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, nur 999 eine Anstellung. Bedingungen wie diese schufen die gesellschaftliche Grundlage der Verzweiflungsheere des Faschismus. Im Lichte solcher faschistischer politischer Methoden ist die törichte öffentliche Erklärung eines Feuchtwanger, der nur mit Rucksack und Manuskript, um sein Leben zu retten, aus Deutschland flieht, verständlich. Zu jener Zeit sagte Feuchtwanger nämlich, daß die in Deutschland verübten Greueltaten Hindenburg nicht zur Kenntnis gelangt seien.113 Was jedoch nur Feuchtwanger nicht zur Kenntnis gelangte, war, daß Hindenburg, der die Weimarer Verfassung begraben hatte, Hitler ins Amt eingeführt und Deutschland verkauft hat, um der Erbschaftssteuer für einen elenden, ihm von den betrügerischen Junkern geschenkten Sumpf in Neudeck zu entgehen. In diesem Stadium des Nazismus sprach H. G. Wells in Oxford tatsächlich zugunsten eines liberalen Faschismus, und George Bernard Shaw sagte: „Gebt Hitler eine Chance." The Fascist Week schrieb: „G. B. S. am Kreuzweg. Wird er je ein Schwarzhemd tragen?" Klaus Mann, ein Flüchtling und sicher ein aufrichtiger Gegner des Faschismus, wollte den Faschismus durch „intellektuelle Manifestationen" überwinden. Das ist etwas verschwommen und führt uns zu der Annahme, wir könnten einen S.A. Mann bekämpfen, indem wir ihm Anatole France oder Proust vorlesen. Selbstredend betrachten sowohl Wells wie Shaw seitdem die Sowjetunion und nicht Nazideutschland als die Hoffnung der Menschheit. Andere Schriftsteller sind zur extremen Rechten übergewechselt. Doch das sind verhältnismäßig wenige. Wyndham Lewis, vortizistischer Maler, Pamphletist und Romancier, hat ein Buch mit dem Titel Hitler114 geschrieben und ist heute einer der Förderer Sir Oswald Mosleys. Es verdient an dieser Stelle festgehalten zu werden, daß er vormals ein höchst ernsthafter Gegner alles Deutschen war. Doch er war antispießbürgerlich und nicht antibourgeois. Plechanow hat sich in 94
der Vergangenheit in Flaubert und Zola gewidmeten Essays über diese Dinge verbreitet. Erst unlängst ist Joshua Kunitz in New Masses ausdrücklich darauf eingegangen, als er sowjetische und gleichgesinnte Schriftsteller lobte. T. S. Eliot begrüßte von Anfang an Sir Oswald Mosleys faschistische Zeitung. Vor etwa einem Jahr schrieb Eliot für die American Review115, die eine ausgesprochen faschistische Tendenz besitzt, daß wir in Amerika biologische Gleichartigkeit anstreben müßten, daß Juden spaltend wirkten und daß wir nicht allzu tolerant sein sollten. Dorothea Brande 116 , eine amerikanische Schriftstellerin mit mäßigen Gaben, griff Ludwig Lewisohns jüngste kritische Arbeit einzig aus rassischen Gründen an. Das ist nicht sehr klug von Miß Brande; denn sie muß intellektuell sehr in der Klemme gesessen haben, wenn sie Lewisohn als Jude angriff, wo es doch so leicht ist, ihn als Schriftsteller zu erledigen. Der Antisemetismus ist heute zu einer Schlüsselfrage geworden; überall, wo man eine Jagd auf Juden antrifft, braucht man nicht weit zu suchen, um eine Braunhemdenmentalität zu entdecken. Ein Schriftsteller, der nicht imstande ist, die Sache der unterdrückten rassischen Minderheiten, der Neger, Juden und anderen, völlig zu der seinen zu machen, wird niemals imstande sein, für die neue sozialistische Ordnung zu kämpfen, für die jeder zivilisierte Mensch kämpfen muß, oder dieser Ordnung beizutreten. Wir haben die Verwirrtheiten und Nöte der Schriftsteller zu verstehen versucht, haben versucht, mit ihnen zu empfinden; wir haben darauf hingewiesen, daß einige unklar, andere schwankend sind, doch daß sie, bis auf wenige Ausnahmen, aufrichtig sind. Doch die Zeit drängt nun allzu sehr, und wir können nicht, so wie Lenin es hinsichtlich des Sozialisten Turati, der die italienische Arbeiterklasse verraten hatte, formulierte, herumlaufen und den Leuten Aufrichtigkeitsthermometer unter die Achsel stecken. Wir müssen unsere Reihen schließen und festen Fuß fassen. Und wir sollten festhalten, daß solche Schriftsteller wie Plivier, Neukrantz, Marchwitza, der ermordete Mühsam, Johannes R. Becher, Heinrich Mann, Brecht, die entweder auf Seiten des Proletariats standen oder mit ihm sympathisierten, niemals schwankten oder in Verwirrung gerieten. Wir können nicht warten. Die Faschisten Huey Long und Father Coughlin warten auch nicht. Wir müssen die Geschichte in unsere eigenen Hände nehmen und mit dazu beitragen, sie vom schöpferischen Standpunkt jener zu schreiben, die arbeiten und produzieren. Sonst werden die Attilas sie in Stücke zerreißen, und von der Zivilisation wird nichts übrig bleiben. Der kürzlich verstorbene Lord Balfour beklagte die Tatsache, daß die Erde eines Tages zerstört, von der Sonne verschlungen würde und alle Bewußtheit, alles Erbe bewußten Denkens verloren sein würde. Als Mann des Denkens wie der Tat hat er unterdessen sein Geld größtenteils in den Vickers-Armstrong-Munitionsfabriken investiert. Nun, auch wir behaupten, Männer und Frauen des Denkens und der Tat zu sein, und investieren, was wir als Schriftsteller besitzen, in die Arbeiterklasse Amerikas und der Welt. 95
13 Eugene Gordon Soziale und politische Probleme des Negerschriftstellers Amerikanische Schriftsteller schwarzer Herkunft haben soziale und politische Probleme, die sich von denen anderer amerikanischer Schriftsteller grundsätzlich unterscheiden. Im engen Zusammenhang mit dem ökonomischen Problem, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen, stehen die sozialen Probleme, wo sie wohnen, mit wem sie geselligen Umgang haben und wie sie Erholung finden. Diese fundamentalen sozialen Probleme bestehen für das gesamte Negervolk, doch sie bilden besondere Probleme des Negerschriftstellers. Sie sind seine besonderen Probleme, weil der Negerschriftsteller zusammen mit dem Negerpfarrer (der bisweilen auch Schriftsteller ist) der Hauptsprecher seines Volkes ist. Er ist derjenige, der mehr als jeder andere der bewußte Vertreter seines Volkes ist, der gegenüber der weißen herrschenden Klasse für die Interessen und Belange seines Volkes eintritt. Diese grundlegenden sozialen Probleme haben sich aus der besonderen ökonomischen Lage des Negers in den Vereinigten Staaten entwickelt. Diese Lage resultiert aus der Entwicklung im Schwarzen Gürtel der Vereinigten Staaten, nämlich von einem heterogenen Mischmasch, das unterschiedliche Kultur- und ökonomische Wachstumsschichten antagonistischer Stämme und Rassen vertritt, zu einem homogenen Volk, das im Besitz aller Charakteristika einer Nation ist. Ich habe zu verstehen gegeben, daß die ökonomischen und sozialen Probleme des Negers mit Hilfe des Negerschriftstellers zu lösen sind. Wenn meine Schlußfolgerung richtig ist, wie erklärt sich dann das Widerstreben des Negerschriftstellers, seine gesellschaftliche Verpflichtung anzuerkennen? Der Mangel an radikalen Negerschriftstellern ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen, zu deren wichtigsten einst wie jetzt gehören: der Mangel an Zeit, um zu lernen, wie man schreibt (und überhaupt zu schreiben), ein durch die Schärfe und Härte des Existenzkampfes bedingtes Phänomen; die Furcht, die Verleger derart zu brüskieren, daß man sich selber alle Ausdruckswege versperrt; die Furcht vor Vergeltung seitens der herrschenden Klasse, wenn die Werke veröffentlicht werden. Als Nation haben die Neger in den Vereinigten Staaten ihren Ursprung im landwirtschaftlichen Süden. Die Sklaverei in diesem Lande, hauptsächlich auf das südliche Gebiet beschränkt, war der zweite Abschnitt in ihrer Entwicklung von einem heterogenen Gemisch von Stammesresten zu einem homogenen Volk. Ihr heterogener Charakter erklärt sich aus der Tatsache, daß die sogenannten Neger weder alle aus Afrika kamen, noch, wenn sie von dort kamen, aus ein und demselben Gebiet dieses Erdteils. Sie wurden nicht nur von der Westküste, der Südwestküste und dem oberen Niger nach Amerika verschleppt, sondern auch aus der Saharawüste, dem Senegal, dem Tschadseegebiet und dem Sambesidelta. Zu den Gefangenen gehörten dem schwarzen Afrikaner ethnisch so fernstehende Völkerstämme wie Mauren von der südöstlichen Mittelmeer96
küste, Malaisen aus Madagaskar und Bewohner Ostindiens. Diese Verschiedenartigkeit ihrer Herkunft erklärt die anfangliche Verschiedenartigkeit bei den „rassenmäßigen" Merkmalen der Plantagen„schwarzen". Außerdem gab es auf den selben Plantagen Sklaven, die nicht nur unterschiedliche physische Merkmale besaßen, sondern so unterschiedliche Bräuche besaßen, daß diese eindeutige Unterschiede in der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung zeigten. Man vermag nicht zu sagen, wielange diese physische und soziale Disharmonie fortgedauert hätte, wenn die sich wandelnden ökonomischen Bedingungen der Neger nicht das erste Stadium der Entwicklung dieser Ausländer zur Nation beendet und das zweite begonnen hätten. Das zweite Stadium der Entwicklung der Neger zur Nation begann, als ihre Stellung als Dienstverpflichtete endete. Ursprünglich wurden die Neger nicht als Sklaven in die Kolonien gebracht, sondern, so wie viele der armen Weißen zu dieser Zeit, als Dienstverpflichtete. Die Stellung der Schwarzen und der armen Weißen war gleich. Das Kontraktsystem stammt aus dem England des siebzehnten Jahrhunderts, als durch Verschuldung zur Verzweiflung getriebene Menschen sich im Austausch für die Überfahrt nach Amerika als Diener verschrieben. „Der Übergang von der Dienstbarkeit zur Sklaverei geschah im Falle der Schwarzen", erklärt das Negro Year Book, „als die Sitte, Neger als Diener auf Lebenszeit zu halten, eingeführt wurde." Es war nur natürlich, wenn diejenigen, die Nutzen aus der Sklaverei zogen, die Dienstzeit ihrer Schwarzen von einer unbestimmten Zeit allmählich auf Lebenszeit verlängerten. Es war genauso natürlich, daß es eher die schwarzen als die weißen Diener waren, deren Status zu dem eines Privateigentums wurde. Da die Afrikaner ein fremdes Volk und daher gefürchtet waren, trieb man sie fortwährend tiefer in den Morast ständiger Knechtschaft; anfanglich nur als billige Arbeitskräfte unter Vertrag genommen, waren sie nun unvermeidlich zu ständiger Knechtschaft verdammt. Der verwandelte Status des Negers ging naturgemäß aus der sich wandelnden sozialen Ordnung hervor und entstand so allmählich, daß man es kaum bemerkte. Ehe sich die heterogene Masse der Schwarzen dessen, was mit ihr geschah, bewußt wurde, vergingen Generationen. Es gab Generationen, in denen es Alltäglichkeit wurde, den Kindern von Dienern auf Lebenszeit den Status ihrer Mutter zu geben. In dieser Zeit geborene Kinder waren deshalb Sklaven; auf diese Weise war die Sklaverei fest begründet. Diese allmählichen Wandlungen von einer Generation zur anderen bewirkten tiefe Veränderungen in der Massenpsychologie der Sklaven. Die verschiedenartigen Merkmale der Sklaverei hatten dieses einst so vielfaltige Volk so zusammengeschweißt, daß es langezeit vor dem Bürgerkrieg alle Erscheinungsformen einer im Entstehen begriffenen Nation erworben hatte. Die Unterschiede hinsichtlich psychischer Merkmale standen jetzt weniger im Vordergrund; man hatte eine gemeinsame Sprache (Englisch) entwickelt; man lebte gemeinsam unter der alle einschließenden Ägide der Sklaverei. Damit war die Voraussetzung zur Geburt einer Nationalpsychologie gegeben; hier lag die Verheißung einer Nationalkul7
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tur. Als Folge der Emanzipation wie des Eindringens des Kapitalismus spaltete sich das Volk der Neger in Klassen. Die Herausbildung der Negernation war nunmehr abgeschlossen. Diese auf besondere Weise entstandene Nation mußte unweigerlich eine besondere Nationalkultur hervorbringen. Die Kultur war deshalb eine besondere, weil die Bedingungen, unter denen die Nationalpsychologie entstand, besondere waren. Das Negervolk des Schwarzen Gürtels entwickelte sich zwar zu einer Nation, doch war es eine unterdrückte Nation, eine Sklavennation. Natürliche Äußerungen nationaler Bestrebungen wurden behindert. Die Folge war eine nationale Psychose. Nationale Bestrebungen vermochten kein Ventil zu finden, außer in vergeblichen Protesten oder fruchtlosen Kämpfen gegen die imperialistische Unterdrückernation. Die besondere nationale Psychose fand ihren Niederschlag in der Nationalkultur, in den zahlreichen Volkslegenden, in den vielen Gesängen der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, in den „kämpferischen" Spirituals, in den Liedern, die zur Arbeit gesungen wurden. Die Nation des Schwarzen Gürtels existiert gegenwärtig infolge der halbfeudalen Produktionsmethoden auf den Plantagen dieses Gebiets. Die Negerfrage besteht infolge des Unterschieds zwischen dem ökonomischen und kulturellen Niveau der weißen Massen und dem ökonomischen und kulturellen Niveau der schwarzen Massen. Aus diesen Unterschieden erwachsen die heute vor dem Negerschriftsteller stehenden Probleme. Die nationale Psychologie, die gleich einem Leichentuch über dem Negervolk als ganzem liegt, findet ihren Ausdruck in den Werken der kleinbürgerlichen Negerschriftsteller. Diese Werke sind zutiefst „rassenbewußt" oder von einem kleinbürgerlichen nationalistischen Bewußtsein; es sind Werke, die gegen die Unterdrückung des Negervolkes protestieren vom Standpunkt solcher der Oberklasse angehörender schwarzer Schriftsteller, wie W. E. B. Du Bois' The Quest of the Silver Fleece (Auf der Suche nach dem silbernen Vlies) und The Dark Princess (Die schwarze Prinzessin)111; Paul Laurence Dunbars Dichtung (jedoch nicht gänzlich) und seine Romane; Charles W. Chesnutts The Coloners Dream (Des Obersten Traum), The Conjure Woman (Die Zauberfrau) und The House Behind the Cedars (Das Haus hinter den Zedern)118. Diese Werke widerspiegeln die Gefühle jenes Teils der schwarzen Oberklasse, der, nachdem er gehofft hatte, mit seiner Kultiviertheit und polierten Oberfläche von der weißen Oberklasse mit offenen Armen empfangen zu werden, nun seinen Zorn und seine Verzweiflung in scharfer Verurteilung aller Weißen kundtut. Keiner der Schriftsteller dieser Schule — die heute durch solche Namen wie Jessie Fauset, James Weldon Johnson und Du Bois vertreten ist — kämpfte anfangs für die Befreiung des Negervolkes in seiner Gesamtheit. Der schwarze Arbeiter forderte im Anschluß an die Emanzipation die demokratischen Rechte, die die Verfassung allen Arbeitern, weißen wie schwarzen, zusicherte, während die vornehme Oberklasse, von der zahlreiche Mitglieder Nachfahren der freien Farbigen waren, hauptsächlich an der Sicherung von Sonderrechten für sich interessiert war. Diese Tatsache ist in ihren Werken enthalten. 98
Da die schwarze Oberklasse von der herrschenden weißen Klasse jedoch ständig zurückgewiesen wurde, schlußfolgerte sie, daß es vergeblich sei, weiter mit dem Kopf gegen die Pforten der herrschenden Klasse „weißer Überlegenheit" anzurennen. Die schwarze Oberschicht befaßte sich darauf mit sich selbst, entschlossen, einen Mittelklassen-Nationalismus innerhalb der schützenden Hürden des kapitalistischen Systems zu pflegen. Die Werke von George S. Schuyler, James Weldon Johnson, Du Bois, Nella Larsen und Jessie Fauset spiegeln diesen Entschluß wider. Die Entwicklung des kleinbürgerlichen Nationalismus hat den klassenbewußten schwarzen Arbeitern und schwarzen Intellektuellen, die begriffen haben, daß der Weg für die Befreiung der Neger nicht in dieser Richtung liegt, eine Reihe zusammenhängender Probleme aufgegeben. Diese Probleme hängen mit den Hauptbedürfnissen der Arbeiterklasse im allgemeinen und denen ihres schwarzen Anteils im besonderen zusammen. Es sind Probleme, die folgende Dinge erfordern: die Anerkennung des Schwarzen Gürtels als Nation; ein Verständnis der im Kampf dieser Nation gegen ihren imperialistischen Unterdrücker, die USRegierung, anzuwendenden Strategie; Anerkennung der Tatsache, daß die Befreiung der Arbeiterklasse im allgemeinen nicht ohne einen bewußten Kampf schwarzer Arbeiter und weißer Arbeiter inner- und außerhalb des Schwarzen Gürtels, geführt um das Recht der Selbstbestimmung des Schwarzen Gürtels, erreicht werden kann; Anerkennung der historischen Wahrheit, daß, solange wie die Neger des Schwarzen Gürtels durch die Überreste des dort noch blühenden Sklavenwesens in einem Zustand halber Leibeigenschaft verbleiben, die Neger außerhalb des Schwarzen Gürtels den verhaßten Geruch des Sklavenmarktes an sich tragen. Das sind die Probleme, vor die sich der klassenbewußte oder revolutionäre schwarze Schriftsteller gestellt sieht; Probleme, die nicht nur die Anerkennung der Tatsache bedeuten, daß ein erbitterter Klassenkampf im Gange ist, sondern die Anerkennung auch der Tatsache, daß die Angehörigen des Volkes des Schwarzen Gürtels das Recht besitzen müssen, für sich selbst zu entscheiden, ob sie sich weiter von den imperialistischen Vereinigten Staaten unterdrücken lassen, oder ob sie ihr eigenes politisches Schicksal selbst bestimmen wollen. Das sind die Probleme, deren Wurzeln in der ökonomischen Realität verborgen sind, und deren Lösung durch die Schaffung einer Literatur erleichtert werden kann, deren Ziel es ist, die Ergreifung und Wahrung politischer Macht vorzubereiten. Die Lage, der wir uns gegenüber sehen, erfordert Negerschriftsteller, die in der Feuerprobe des innerhalb wie außerhalb des Schwarzen Gürtels geführten Klassenkampfes gewachsen sind. Die der Mittelklasse entstammenden Negerschriftsteller sind zumeist enttäuschend gewesen: sie lavierten nach rechts und links, wobei ihre Ohren jedoch auf die Stimme bürgerlicher Obrigkeit eingestellt waren. Negerschriftsteller aus der breiten Masse der Arbeiter erwachsen nur langsam, doch sie haben nicht Zeit gehabt zu lernen, wie man schreibt; die Bedingungen für ihre Entwicklung, ihre Förderung fehlen. Aufgabe für uns in der Bewegung ist 7*
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es deshalb, junge Autoren, die bereits debütierten, zu ermutigen und die uns wohlgesonnenen Autoren, die sich bereits entwickeln oder verheißungsvolle Anzeichen zeigen, näher an uns heranzuziehen. 119
14 John Howard Lawson Künstlerische Technik im Drama Mir scheint, eine detaillierte technische Analyse ist das dringlichste Erfordernis marxistischer Kritik. Es gibt drei Hauptgrundsätze für den Aufbau eines Stückes: Konflikt, Handlung, Einheit. Die Anwendung dieser Grundregeln ist komplex und erfordert sorgfaltige Definition und Untersuchung. Das einzige, was ich hier leisten kann, ist, eine grobe, zugegebenermaßen allzu vereinfachte Auffassung darzulegen, (a) Konflikt und Handlung schließen den Einsatz des bewußten Willens auf ein Ziel hin ein; (b) das schließt soziale Urteile und soziale Zielsetzung ein; (c) es mag sodann angenommen werden, daß die vom Dramatiker vertretene Auffassung von gesellschaftlicher Bedeutung und gesellschaftlichem Ziel die genaue Art des Konflikts bestimmen wird; (d) also ist der Aufbau eines Stückes nicht bloß ein Krug, in den der gesellschaftliche Inhalt hineingegossen wird, vielmehr der Kern des gesellschaftlichen Inhalts selbst. Eine Untersuchung der dramatischen Form unter diesem Gesichtspunkt ist äußerst lehrreich. Ibsens Einfluß ist ein bestimmender Faktor für den Aufbau des modernen Stücks. Ibsen stellt das Ende der Epoche der Mittelklasse dar. Er seziert die bürgerliche Familie mit der Rücksichtslosigkeit eines Chirurgen, zeigt ihre Trägheit, ihre Verbitterung, ihre verworrenen moralischen Werte. Doch die S t r u k t u r der Ibsenschen Stücke stimmt mit dem gesellschaftlichen Inhalt ganz unmittelbar überein: Statt die Handlung allmählich zu entwickeln, beginnen seine Stücke mit einer Krise. Clayton Hamilton schreibt: „Ibsen faßte seine Geschichte stets in einem späten Stadium ihres Verlaufs an und enthüllte die zurückliegenden Ereignisse in kleinen Einblicken des sich auf die Vergangenheit beziehenden Dialogs." Was ist die Ursache für diese Form? Die Erklärung liegt in der Tatsache, daß Ibsen eine Technik erfunden hat, die genau dem gesellschaftlichen Stoff angepaßt ist: der endgültigen psychologischen Krise der Mittelklassenfamilie. George Bernard Shaw ist der hervorragendste und gesellschaftsbewußteste Bühnenautor der auf Ibsen folgenden Periode. Bei ihm finden wir übermäßige Konversation, die Negation dramatischer Handlung. Ist das auf die Tiefe oder Feinsinnigkeit Shawscher Philosophie zurückzuführen? Ganz und gar nicht; auch nicht auf seinen Mangel an dramatischem Gefühl. Shaw besaß ein sehr lebhaftes Gefühl für theatralische Wirkungen. Seine Technik verweigert Hand100
es deshalb, junge Autoren, die bereits debütierten, zu ermutigen und die uns wohlgesonnenen Autoren, die sich bereits entwickeln oder verheißungsvolle Anzeichen zeigen, näher an uns heranzuziehen. 119
14 John Howard Lawson Künstlerische Technik im Drama Mir scheint, eine detaillierte technische Analyse ist das dringlichste Erfordernis marxistischer Kritik. Es gibt drei Hauptgrundsätze für den Aufbau eines Stückes: Konflikt, Handlung, Einheit. Die Anwendung dieser Grundregeln ist komplex und erfordert sorgfaltige Definition und Untersuchung. Das einzige, was ich hier leisten kann, ist, eine grobe, zugegebenermaßen allzu vereinfachte Auffassung darzulegen, (a) Konflikt und Handlung schließen den Einsatz des bewußten Willens auf ein Ziel hin ein; (b) das schließt soziale Urteile und soziale Zielsetzung ein; (c) es mag sodann angenommen werden, daß die vom Dramatiker vertretene Auffassung von gesellschaftlicher Bedeutung und gesellschaftlichem Ziel die genaue Art des Konflikts bestimmen wird; (d) also ist der Aufbau eines Stückes nicht bloß ein Krug, in den der gesellschaftliche Inhalt hineingegossen wird, vielmehr der Kern des gesellschaftlichen Inhalts selbst. Eine Untersuchung der dramatischen Form unter diesem Gesichtspunkt ist äußerst lehrreich. Ibsens Einfluß ist ein bestimmender Faktor für den Aufbau des modernen Stücks. Ibsen stellt das Ende der Epoche der Mittelklasse dar. Er seziert die bürgerliche Familie mit der Rücksichtslosigkeit eines Chirurgen, zeigt ihre Trägheit, ihre Verbitterung, ihre verworrenen moralischen Werte. Doch die S t r u k t u r der Ibsenschen Stücke stimmt mit dem gesellschaftlichen Inhalt ganz unmittelbar überein: Statt die Handlung allmählich zu entwickeln, beginnen seine Stücke mit einer Krise. Clayton Hamilton schreibt: „Ibsen faßte seine Geschichte stets in einem späten Stadium ihres Verlaufs an und enthüllte die zurückliegenden Ereignisse in kleinen Einblicken des sich auf die Vergangenheit beziehenden Dialogs." Was ist die Ursache für diese Form? Die Erklärung liegt in der Tatsache, daß Ibsen eine Technik erfunden hat, die genau dem gesellschaftlichen Stoff angepaßt ist: der endgültigen psychologischen Krise der Mittelklassenfamilie. George Bernard Shaw ist der hervorragendste und gesellschaftsbewußteste Bühnenautor der auf Ibsen folgenden Periode. Bei ihm finden wir übermäßige Konversation, die Negation dramatischer Handlung. Ist das auf die Tiefe oder Feinsinnigkeit Shawscher Philosophie zurückzuführen? Ganz und gar nicht; auch nicht auf seinen Mangel an dramatischem Gefühl. Shaw besaß ein sehr lebhaftes Gefühl für theatralische Wirkungen. Seine Technik verweigert Hand100
lung als Folge seiner tragischen Unfähigkeit, über Ibsen hinauszugehen (den er natürlich grenzenlos bewundert). Da die Figuren Shaws außerstande sind, die Widersprüche ihres Lebens als Mittelklasse zu lösen, bleibt für sie nichts zu tun. Sie m ü s s e n reden. Wenden wir uns nun dem zeitgenössischen Theater zu. Eugene O'Neills Stücke sind von besonderer Bedeutung, weil seine frühen Dramen fraglos zu den besten Leistungen der amerikanischen Bühne gehören. Mit seiner Abwendung von der poetischen Kraft seiner frühen Periode hat sich O'Neill auch dem ausweichenden und unklaren Aufbau zugewandt. Der Inhalt von Strange Interlude (Seltsames Zwischenspiel)120 ist, auf die kürzzeste Formel gebracht, die Geschichte einer verheirateten Frau, die ein Kind von einem Mann hat, der nicht ihr Gatte ist. Nina wird als eine mystische Figur gezeichnet, doch den wahren Schlüssel zu ihrem Charakter müssen wir in ihrem Handeln suchen. Die Handlung des Stückes beruht vor allem auf einem Gefühl der Ahnung, piner schrecklichen Bedrohung, die jedoch nie konkrete Gestalt annimmt. Nina heiratet den stumpfsinnigen Sam Evans. Sie entdeckt dann, daß es in der Familie ihres Mannes Schwachsinn gibt. Wir merken sodann, daß die ersten drei Akte nur die Exposition und Vorbereitung des eigentlichen Ereignisses sind. Da die Gefahr des Schwachsinns Nina abhält, von ihrem Mann ein Kind zu empfangen, wählt sie sich Dr. Darrell als künftigen Vater aus. Neugierig warten wir auf die Folgen dieses Entschlusses. Doch man kann buchstäblich sagen, daß er keine Folgen hat. In Akt fünf will Nina es ihrem Mann sagen und um eine Scheidung ersuchen, doch Darrell läßt es nicht zu. In Akt sechs droht Darreil, es Sam zu sagen, doch Nina verbietet es ihm. In Akt sieben konzentriert sich die Handlung auf das Kind (das jetzt elf ist); der Verdacht des Jungen droht nun das ganze wacklige Gefährt ins Stürzen zu bringen. Doch im nächsten Akt (zehn Jahre später) befinden sich alle auf Deck einer Jacht auf dem Hudson River und beobachten, wie Gordon (der Sohn) das Bootsrennen gewinnt. Betrachten wir nun die beiseite gesprochenen Bemerkungen. Es wird allgemein angenommen, daß diese die Geheimnisse einer Figur enthüllen sollen. Das ist nicht der Fall. Neun Zehntel dieser Bemerkungen gelten der Handlung und deren oberflächlicher Deutung. Wenn es darauf ankommt, ihre Gefühle im direkten Diälog auszudrücken, so sind die Figuren in Strange Interlude nicht zurückhaltend. Zum Beispiel im dritten Akt sagt Mrs. Evans: „Ich habe immer gewünscht, ich wäre in unserem ersten Ehejahr ganz bewußt und ohne Wissen meines Mannes losgegangen und hätte mir einen Mann, ein gesundes männliches Wesen für die Zwecke der Fortpflanzung gesucht, so wie man es beim Vieh tut." Da diese Worte von einer älteren Farmersfrau kommen, sollte man vernünftigerweise erwarten, daß das eine beseite gesprochene Bemerkung ist, doch es ist direkter Dialog. Mrs. Evans Bemerkungen (wie die anderer Figuren) gelten solchen Aussprüchen wie: „Er liebt sie . . . Er ist glücklich . . . das ist das einzige, das zählt", und „Jetzt weiß sie, wie ich leide, jetzt muß ich ihr helfen." 101
Sollen wir also daraus schließen, daß die beiseite gesprochenen Bemerkungen eine Laune, eine Sensationssucht sind? Im Gegenteil, sie dienen einem sehr wichtigen strukturellen Zweck. Sie werden dazu verwendet, das Gefühl der Vorahnung aufzubauen. Immer wieder macht Darrell Bemerkungen wie in Akt fünf: „Gott, das ist doch zu schrecklich! Auch das noch! Wie sie das nur erträgt? Auch sie wird den Verstand verlieren!" Doch diese Bemerkungen haben einen viel tieferen Sinn. In jeder Szene kündigen sie im voraus an, was geschehen wird, und mildern so den Konflikt. Was eine klarumrissene Szene sein könnte, wird durch unnötige Erklärungen und durch Anmerkung der Gefühle abgeschwächt. Sowohl die beiseite gesprochenen Bemerkungen wie die Länge von Strange Interlude werden durch eine psychologische Notwendigkeit der Verzögerung, der Vermeidung einer Auseinandersetzung mit der Realität veranlaßt. Die Funktion der beiseite gesprochenen Bemerkungen ist es, die Handlung stillschweigend zu unterdrücken und sie verworren zu gestalten. Und diese selbe Verworrenheit schafft auch die Notwendigkeit, die Geschichte über neun Akte hinzuziehen. Doch O'Neills gesellschaftliche Philosophie ist für das heutige Theater bezeichnend. Wir finden sowohl den mystischen Inhalt wie die Vermeidung eines unmittelbaren Konflikts in einer erstaunlich großen Anzahl moderner Stücke. So ist zum Beispiel The Front Page (Die Titelseite/21 von Ben Hecht und Charles MacArthur ein Werk völlig anderer Art: Es ist voller lebendiger und gut ersonnener Ereignisse. Doch wenn wir die Grundstruktur untersuchen, entdecken wir die Beziehungslosigkeit der Ereignisse sowie die Tatsache, daß die Haupthandlung nur eine spärliche Anekdote ist, in der es keinen ernsthaften Konflikt und keinen gesellschaftlichen Inhalt gibt. Tatsächlich verbergen Hecht und MacArthur (durch die Unklarheit und das hektische Durcheinander ihres Aufbaus) den gleichen tragischen Mystizismus, den wir bei O'Neill finden. Georg S. Kaufman ist ein geschickter Broadway-Autor, der sich auf sein Handwerk versteht; doch sein technisches Geschick vermag nicht den wirren gesellschaftlichen Inhalt seines Werks zu verbergen. Kaufmans Stücke (die mit verschiedenen Mitarbeitern geschrieben sind, doch eine stete Ähnlichkeit der Methode beibehalten) verdanken ihre Wirkung großenteils der ständigen Verwendung melodramatischer Momente im Handlungsablauf. Jede Szene bricht durch eine geschickt ersonnene Überraschung, eine schnelle Wendung ab, die die Handlung in eine andere Richtung verweist. Diese Methode dient genau dem gleichen Zweck wie die beiseite gesprochenen Bemerkungen in O'Neills Strange Interlude: Sie soll den Konflikt, soll die Konfrontation mit dem der Handlung inhärenten Problem vermeiden. Merrily We Roll Along, (Wir schlendern fröhlich umher)122 in Zusammenarbeit mit Moss Hart entstanden, ist das interessanteste Stück, an dem Kaufman beteiligt war. Der Inhalt ist offenbar nostalgisch, eine ironische Rückschau und Suche nach verlorenen Idealen. Doch die Autoren treten dem Hauptthema niemals deutlich gegenüber. Sie geben uns keine klare Vorstellung von dem, was sie unter Idealismus verstehen. 102
Das Stück endet mit einer etwas phrasenhaften Rede, die Richard Niles 1914 bei seiner Promotion im College hält. Offenbar ist das Halten solch einer Rede (besonders bei der Verleihung eines akademischen Grades) kein Willensakt. Sie schließt keinen wie immer gearteten Konflikt ein. Noch findet sich ein Konflikt im Verlauf der vorhergehenden Ereignisse. Die Exposition zeigt uns Richard Niles 1934 auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Das Thema ist klug eingeführt. Doch dann folgt eine erregte Szene zwischen Richard und seiner Frau Althea. Althea ist schrecklich eifersüchtig. Sie weiß, daß er mit der in seinem neuen Stück die Hauptrolle spielenden Frau ein Verhältnis hat. Der Konflikt zwischen Mann und Frau ist wichtig und für unsere Kenntnis des Themas des Stückes wesentlich. Doch statt diesen Konflikt zu entwickeln, findet die Szene durch eine melodramatische Wendung ein jähes Ende. Althea spritzt der anderen Frau Säure in die Augen. Wir werden sodann zu früheren Abschnitten von Richards Laufbahn zurückgeführt, und wir erwarten ein deutlicheres Verständnis seiner Beziehung zu Althea, die den Hauptkonflikt bildet, um den das Stück aufgebaut ist. Althea wird eindeutig als Symbol des Luxus und billigen Ehrgeizes verwandt, die Richards künstlerische Integrität zerstört haben. In der letzten Szene des ersten Aktes, die 1926 in Richards Wohnung spielt, sehen wir, daß Althea mit einem anderen Mann verheiratet ist und ein Verhältnis mit Richard hat. Sie kommt in seine Wohnung, und abermals haben wir den Anfang einer vorwiegend emotionalen Szene. Doch die Szene bricht, beinahe ehe sie begonnen hat, jäh ab durch ein weiteres Teilstück unerwarteten Melodramas — die Nachricht, daß sich Altheas Mann erschossen hat. Die entscheidende Situation in Merrily We Roll Along kommt zu Ende des zweiten Aktes. Hier erwarten wir den Anfang der unheilvollen emotionalen Verwicklung zwischen Richard und Althea zu sehen, die von so nachhaltiger Wirkung auf sein Leben ist. Unsere Erwartungen hinsichtlich der Liebesszene, auf die hin die Handlung aufgebaut ist, und die logischerweise den Akt beschließen müßte, werden zwar in kluger Weise geweckt. Doch auch hier betrügen uns die beiden Verfasser wieder. Der Vorhang senkt sich jäh über einer Bühne mit plaudernden Menschen in Abendkleidung. Die Wirkung ist ein Schock. Der Abbruch der Handlung mit einer geräuschvollen Menschenmenge hat sicher einen gewissen Überraschungswert. Doch der emotionale Konflikt, der der Kern der Handlung ist, und den man als die wichtigste Szene im Stück bereits erahnt, ist weggelassen. Der unerwartete Abbruch der Handlung in Merrily We Roll Along dient dazu, uns das Gefühl zu vermitteln, daß die Figuren Opfer eines blinden Schicksals, daß sie Marionetten sind. Sie sind gegenüber den Ereignissen in einem buchstäblichen und vollständigen Sinne ohne jede Verantwortung. Die Dinge geschehen ihnen ohne jede Willensausübung. Die Leugnung des bewußten Willens und die daraus folgende Leugnung des Wachstums und der dynamischen Entwicklung haben die Gesamtstruktur des 103
modernen Stückes in Mitleidenschaft gezogen. Ibsen vermied jede Vorbereitung, er begann seine Stücke mit einer Krise und erhellte die Vorgeschichte erst im Verlaufe der Handlung. Nunmehr ist diese Methode zu einem weiteren Extrem entwickelt worden. Die Krise wird abgeschwächt und die Rückschau haltenden Momente werden hervorgehoben, so daß das Stück (in vielen Fällen) nur Exposition und keinen Konflikt enthält. Das Drama beruht auf Handlung und Logik. Doch eine mystische Philosophie hebt Handlung auf und leugnet Logik. So bekundet der Dramatiker, dessen gesellschaftliche Sicht mystisch eingefärbt ist, Furcht vor der Handlung, einen längst aufgegebenen Wunsch nach emotionaler Stabilität. Er erreicht das, indem er den Konflikt hinausschiebt oder vermeidet. Das mag zwar den Autor befriedigen, ist jedoch keine befriedigende Lösung für die dramatische Komposition. Wenn der Dramatiker vor dem Leben davonläuft, läuft er vor seinem eigenen Stück davon. Allein das Theater der Linken ist heute imstande, die Erfordernisse dramatischer Technik zu erfüllen: nämlich die Darstellung eines Konfliktes, in der der bewußte Wille auf ein Ziel hin arbeitet. Das Theater der Arbeiterklasse hat noch keine großen Stücke hervorgebracht, in denen die volle Breite sozialer Triebkräfte, die volle Tiefe, Bedeutung und Komplexität der Figur in ihrer Beziehung zur Umwelt dargestellt werden. Doch es gibt großartige Anfange. Stevedore (Stauer), Waiting for Lefty (Wo ist Lefty?), Black Pit (Der schwarze Schacht)123 leiten ihre Unmittelbarkeit und Vitalität aus der Bedeutung, der Realität ihrer Thematik her. Diese Stücke sind deshalb von Bedeutung, weil sie mit der Technik in ihrem konservativsten und traditionellsten Sinn übereinstimmen. Sie behandeln kein Ausweichen, keine Nostalgie, sondern eine wirkliche Welt, in der der bewußte Wille des Menschen seine Umwelt gegen mannigfaltige Hindernisse zu formen und zu verändern bestrebt ist.
15 Michael Blankfort und Nathaniel Buchwald Soziale Tendenzen im modernen Drama Die Tatsache, daß jedes Drama, das große, beinahe große oder Unterhaltungsdrama, soziales Drama ist, insofern es die Konventionen, Stimmungen und Handlungen verschiedener sozialer Schichten widerspiegelt und beeinflußt, ist mittlerweile allgemein anerkannt. Selbst die — soziale und ökonomische — Basis, auf der der kulturelle Überbau des Dramas errichtet ist, wird beständig weiter freigelegt und anerkannt. Wenn wir den Komplex dieser grundlegenden Beziehungen in unserer Epoche untersuchen, können wir eine Art Theatertendenz von der anderen unterscheiden. Wir schlagen vor, in diesem Vortrag solche Theatertendenzen zu erörtern. In diesem Zusammenhang erkennen wir die Gefahren jeder schematischen Behand104
modernen Stückes in Mitleidenschaft gezogen. Ibsen vermied jede Vorbereitung, er begann seine Stücke mit einer Krise und erhellte die Vorgeschichte erst im Verlaufe der Handlung. Nunmehr ist diese Methode zu einem weiteren Extrem entwickelt worden. Die Krise wird abgeschwächt und die Rückschau haltenden Momente werden hervorgehoben, so daß das Stück (in vielen Fällen) nur Exposition und keinen Konflikt enthält. Das Drama beruht auf Handlung und Logik. Doch eine mystische Philosophie hebt Handlung auf und leugnet Logik. So bekundet der Dramatiker, dessen gesellschaftliche Sicht mystisch eingefärbt ist, Furcht vor der Handlung, einen längst aufgegebenen Wunsch nach emotionaler Stabilität. Er erreicht das, indem er den Konflikt hinausschiebt oder vermeidet. Das mag zwar den Autor befriedigen, ist jedoch keine befriedigende Lösung für die dramatische Komposition. Wenn der Dramatiker vor dem Leben davonläuft, läuft er vor seinem eigenen Stück davon. Allein das Theater der Linken ist heute imstande, die Erfordernisse dramatischer Technik zu erfüllen: nämlich die Darstellung eines Konfliktes, in der der bewußte Wille auf ein Ziel hin arbeitet. Das Theater der Arbeiterklasse hat noch keine großen Stücke hervorgebracht, in denen die volle Breite sozialer Triebkräfte, die volle Tiefe, Bedeutung und Komplexität der Figur in ihrer Beziehung zur Umwelt dargestellt werden. Doch es gibt großartige Anfange. Stevedore (Stauer), Waiting for Lefty (Wo ist Lefty?), Black Pit (Der schwarze Schacht)123 leiten ihre Unmittelbarkeit und Vitalität aus der Bedeutung, der Realität ihrer Thematik her. Diese Stücke sind deshalb von Bedeutung, weil sie mit der Technik in ihrem konservativsten und traditionellsten Sinn übereinstimmen. Sie behandeln kein Ausweichen, keine Nostalgie, sondern eine wirkliche Welt, in der der bewußte Wille des Menschen seine Umwelt gegen mannigfaltige Hindernisse zu formen und zu verändern bestrebt ist.
15 Michael Blankfort und Nathaniel Buchwald Soziale Tendenzen im modernen Drama Die Tatsache, daß jedes Drama, das große, beinahe große oder Unterhaltungsdrama, soziales Drama ist, insofern es die Konventionen, Stimmungen und Handlungen verschiedener sozialer Schichten widerspiegelt und beeinflußt, ist mittlerweile allgemein anerkannt. Selbst die — soziale und ökonomische — Basis, auf der der kulturelle Überbau des Dramas errichtet ist, wird beständig weiter freigelegt und anerkannt. Wenn wir den Komplex dieser grundlegenden Beziehungen in unserer Epoche untersuchen, können wir eine Art Theatertendenz von der anderen unterscheiden. Wir schlagen vor, in diesem Vortrag solche Theatertendenzen zu erörtern. In diesem Zusammenhang erkennen wir die Gefahren jeder schematischen Behand104
lung an und sind uns des weiteren bewußt, daß es viele Stücke gibt, deren Tendenzen und Anliegen sich auf mehr als eine Kategorie erstrecken. Die erste Art Theater, auf die wir naturgemäß stoßen, ist ein Theater, das von den Dingen ausgeht, wie sie sind. Sie umfaßt den größeren Teil aller modernen Stücke, die geschrieben und aufgeführt werden. Das Hauptkennzeichen dieses Theaters des S t a t u s q u o ist sein Mangel an offener oder versteckter Behandlung sozialer und politischer Probleme. Wo immer es Ausbrüche behandelt, deren Ursprung tief in den sozialen und politischen Feuern des Status quo zu suchen ist, wie zum Beispiel das Gangsterunwesen, so behandelt es das Thema zusammenhanglos und romantisch. Die Figuren, die sich auf der Bühne bewegen, führen ein isoliertes, gleichsam zellophanverpacktes Leben. Die gezeichneten Zusammenstöße und Konflikte finden gewöhnlich zwischen Individuum und Individuum statt und stellen nichts als sich selber dar. Wenn wir die Behandlung des Krieges zur Veranschaulichung einiger heute bestehender Theatertendenzen nehmen, so bietet sich What Price Glory (Rivalenj124 als bestes Beispiel für ein Theater des S t a t u s q u o an. Der Krieg ist ein Vergnügen. Der Krieg ist ein Mittel, dem grauen Hinterhofalltag zu entkommen. Der Krieg ist Männersache. Der Krieg mag zwar hin und wieder ungemütlich sein, doch wenn Sergeant Flagg und sein Kamerad Quirt am Ende des Stückes wieder an die Front zurückkehren, so begleitet das Publikum sie, innerlich erneuert und belebt durch die Aussicht des Krieges als eines erregenden Abenteuers. Das ist bürgerliches Theater reinsten Wassers. Es umfaßt sowohl das Schlagsahnenprodukt eines George S. Kaufman wie die technisch gekonnte und manchmal tiefgründige Darstellung eines O'Neill. Dieses Theater wirkt im gewissen Sinne als eine Art königlicher Oberhofmeister: Es hält Stücke von der Bühne fern, die den Interessen der Klasse, die es vertritt, widersprechen, und es bestimmt den Geschmack der Dramatiker. Wiewohl eine Mehrzahl amerikanischer Dramatiker es zufrieden ist, die „Schweizer Garde" des S t a t u s q u o zu spielen, gibt es andere, die mehr oder minder unbehaglich die Hellebarde tragen. Gleich ihren konservativen Kollegen äußern sich diese Dramatiker ebenfalls durch Individuen, doch durch Individuen, die gegen eine Massenkultur protestieren. Diese Stückeschreiber sehen sich in der sozialen Welt um und finden eine Welt nicht nach ihrem Geschmack. Die Standardisierung der Industrie hat als Nebenprodukt die Künste und Berufe standardisiert. Diese Standardisierung führte zu Mißverhältnissen und sozialem Mißmut. Da das T h e a t e r des i n d i v i d u e l l e n P r o t e s t s diese Übel als Angriffe auf die Psyche betrachtet, richtet es seine Speerspitze gegen das Maschinensystem. Es kämpft, um das Individuum von dieser Unterdrückung zu befreien. Wenn es den Kapitalismus auch nicht als wünschenswert hinstellt, so hält es ihn doch für unvermeidlich. Und wenn im griechischen Theater das Individuum unweigerlich von den Göttern vernichtet wurde, so wird es im Theater des individuellen Protests unweigerlich vom Maschinensystem vernichtet. Dieses Theater begrüßt den Wandel, doch weiß nicht, aus welcher Richtung 105
es ihn zu erwarten hat. Es stimmt, seine Kritik wird in dem Maße schärfer, wie die sozialökonomische Basis, auf dem es errichtet ist, Müdigkeit zu zeigen beginnt, wie die Risse von Widersprüchen der Mittelklasse diese Basis durchsetzen. In einem Stück wie Clifford Odets Awake and Sing! (Wach auf und singe!)125 nimmt es einen Oberton revolutionären Protestes an. Doch höchst typisch für dieses Theater sind Stücke wie O'Neills The Hairy Ape (Der haarige Affe), Elmer Rice' The Adding Machine (Rechenmaschine) und Street Scene (Straßenszene), Lawsons Processional (Prozessionsgesang), Kaufman und Connellys Beggar on Horseback (Der reitende Bettler), Treadwells Machinal bis zu Wexleys The Last Mile (Menschen im Käfig), Paul Greens The House of Connoly und Melvin Levys Gold Eagle Guy (Dollar-Bursche). Es behandelt den Krieg in Journey s End (Die andere Seite) und Men Must Fight126 (Männer müssen kämpfen). Der Titel des letzten Stückes drückt in kürzester Form die Unvermeidlichkeitsphilosophie dieses Theaters, die Ansicht von der kapitalistischen Gesellschaft als S c h i c k s a l aus. Besonders das Theater des individuellen Protests spiegelt die Mißverhältnisse der Mittelklasse unter dem Profitsystem wider. Neben dem Theater des individuellen Protests wuchs ein Repertoire von Stücken heran, von denen man sagen kann, daß sie eine Tradition des s o z i a l e n Protests begründen. Dieses Theater ging über die Hoffnungslosigkeit hinaus; es prüfte das System, das es hervorrief. Es war und ist noch das Theater der Liberalen und Reformisten. Es baut auf der unteren Mittelklasse auf, die sich der Manipulationen durch den Kapitalismus bewußt wird. Es deckt die riesige Kluft zwischen den Worten der amerikanischen Gelddemokratie und ihrer Handlungsweise, kurz, zwischen Wort und Tat auf. Im gewissen Sinne sind die Dramatiker des sozialen Protesttheater Schmutzaufwirbler, 127 doch Schmutzaufwirbler mit einem Auge in die Richtung, wo der eigentliche Unrat liegt. Die Stücke werden mit einem Auge auf die Bill of Rights,12* mit dem anderen auf Charles Beard oder Gustavus Myers geschrieben. Einige Beispiele dieser Richtung sind Susan Glaspells Inheritors (Die Erben), Dos Passos Airways, Inc. (Luftfahrt A.G.), Rice' We, The People ( Wir, das Volk), Beins Little OF Boy (Alter Junge), Goldens Precedent (Präzedenzfall), Hickerson und Andersons Gods of the Lightning (Und wir haben nichts dagegen getan), Lawsons Success Story (Erfolg), Maitz' und Skiars Polemik gegen Tammany in Merry Go Round (Hotelboy Ed Martin). Und in Spread Eagle (Hurrapatrioten) von Brooks und Lister wurde der Krieg solcher Stücke wie What Price Glory und Journey's End auf den Imperialismus bezogen. 129 Diese Stücke berufen sich auf die bessere Natur des Kapitalismus, um ihn vor sich selbst zu retten. Vor allem das soziale Protesttheater bewahrt sich die Illusion der Reform. Wo es soziale Dokumentation zum Gegenstand hat, wie Sacco und Vanzetti (Gods of the Lightning) oder den künstlich inszenierten Prozeß gegen Tom Mooney (Precedent), nähert es sich der Grenze des revolutionären Theaters; obwohl selbst in diesen Stücken Hoffnung und Rettung eher auf den Schultern eines Fremont Older, des Menschenfreundes und Reformers, liegen als auf den 106
gemeinsamen Schultern der Arbeiter, deren Protest die Scottsboro-Jungs rettete und noch immer mächtig für die Freiheit Mooneys 130 ertönt. Das Theater des sozialen Protests drängte den Kapitalismus wie die Kapitalisten, ihren eignen Augiasstall zu säubern. Bevor wir auf den Übergang zwischen dem Theater des sozialen Protestes und dem revolutionären Theater eingehen, sollten wir vielleicht an dieser Stelle bemerken, daß es verschiedene Bühnenautoren gibt, deren Werk bislang unmöglich in die eine oder andere Richtung einzuordnen ist. Beachtung unter diesen verdient Virgil Geddes, dessen Stücke nirgendwo in unsere Einteilung hineinpassen; dennoch zeigen sie ein bemerkenswertes Talent an und einen Standpunkt, der in Richtung des revolutionären Theaters führen kann. Der Übergang zwischen dem Theater des sozialen Protests und dem revolutionären Theater ist mit solchen Stücken zu veranschaulichen wie Paul und Ciaire Siftons 1931 —, Wexleys Steel (Joe wird es schaffen) und George O'Neills The American Dream (Der amerikanische Traum),131 um nur einige wenige zu nennen. Das Stück der Siftons schildert die ätzende Säure der Arbeitslosigkeit und beschließt die klinische Studie mit Anzeichen eines in Richtung der Arbeiterklasse abzielenden Handlungsverlaufs. Das Stück von George O'Neil bestätigte die revolutionäre Entwicklung des Intellektuellen, obwohl die Figur, die der Autor als Sprachrohr wählte, außerstande, die Widersprüche des persönlichen Lebens zu lösen, Selbstmord begeht. Obwohl das ein konsequentes Beispiel von Charakterzeichnung ist, war das zweifellos eine wenig überzeugende und nur wirre Art, revolutionäre Lebensart zu bestätigen. Trotzdem waren diese abendfüllenden und mit Sachkenntnis geschriebenen Stücke Anzeichen für die Richtung, die das revolutionäre Theater einschlagen würde. Noch ein Abstecher, bevor wir mit der Analyse des revolutionären Theaters beginnen: die New Playwrights Group. 132 Sie bestand vor allem aus Stücken Dos Passos', Lawsons, Golds, Faragohs und Basshes und bildete, wenn man will, gleichsam den Prolog für den ersten Akt des revolutionären Theaters. Unglücklicherweise griffen die New Playwrights das Theater des S t a t u s q u o heftiger an als den S t a t u s q u o selber, mehr das bürgerliche Theater als die bürgerliche Gesellschaft. Was ihnen an politischer und soziologischer Klarheit mangelte, ersetzten sie durch theatralische Einfälle und neue Formen. Ihre Stücke waren jedoch insofern von unschätzbarem Wert, als sie für den Augenblick zumindest den Widerspruch zwischen neuem Inhalt und traditioneller theatralischer Form lösten. Durch sie wurde ein gewisses Maß an experimenteller Arbeit geleistet und die Atmosphäre geklärt. Das selbstbewußte Theater, das revolutionäre Theater, das Theater mit einem entschieden politischen Verständnis und politischen Ziel, konnte seinen Einzug halten. Es ist erst wenige Jahre her, seit kleine Gruppen von Arbeitern, Stückeschreibern und Laiendarstellern anfingen, kurze, agitatorische, revolutionäre Stücke mit großem Eifer und wenig Geschick aufzuführen. Das Agitprop-Theater, wie es genannt wurde, machte aus seiner Unreife eine Tugend und fing die Sache 107
am falschen Ende an, als es seine Unabhängigkeit nicht nur vom Inhalt des bürgerlichen Theaters, sondern auch von seinen Formen und Techniken verkündete. Man ging soweit, hergebrachte theatralische Formen öffentlich als beinahe konterrevolutionär zu verurteilen. Allmählich wuchs das Agitprop-Theater aus seinen Kinderschuhen heraus und bewies nun sachgemäßer darstellerischer Leistung, Regie und dramatischem Text etc. die gebührende Achtung. Die große Ehrlichkeit seiner Anhänger, die seinen Einfluß auszuweiten suchten, führte dazu, daß seine Botschaft wirksamer, also künstlerisch wertvoller wurde. Als Folge davon zog es zahlreiche professionelle Theaterleute an und erreichte das Niveau von Newsboy (Zeitungsverkäufer), Kreymborgs America America sowie Odets Waiting for Lefty.133 Das Agitprop-Theater erwies dem professionellen revolutionären Theater insofern einen unschätzbaren Dienst, als es Hunderttausende von Arbeitern theaterbewußt machte; und indem es Arbeiterorganisationen mit dem Theater in Verbindung brachte, legte es den Grund für das Unterstützungssystem, ohne das beispielsweise die Theater Union 134 nicht weiter arbeiten könnte. Soviel zu seiner Geschichte. Sein Beitrag zur Kunst des revolutionären Theaters ist nicht leicht einzuschätzen. Es führte zur Entstehung des beweglichen Theaters mit seinen kurzen Satiren, Parodien, die überall und ohne Verwendung von Bühnen-Dekorationen schnell aufgeführt werden konnten. Es verwandte die Technik des Massenstückes, das es unausgebildeten Arbeitern ermöglichte, als Darsteller aufzutreten. Es entdeckte einheimische amerikanische Unterhaltungsformen wie das Vaudeville, die Minstrel Show mit ihrem Ansager (interlocutor) und ihren Spielern (end-men), die „Harmoniegruppe", Slapstick (Clownkomödie) und burleske Possenkomödie neu und bearbeitete sie. Was ihre Qualität betrifft, so sind die Parodien oft hochwertig, erfindungsreich in der Form und in der Verwendung einfacher Requisiten und elementarer Bühnenausstattungen. Zu den besten von ihnen zählen La Guardia's Got The Baloney, Charity (Nächstenliebe), Adventures in a Telephone Booth (Abenteuer in einer Telefonzelle), Scottsboro! Scottsboro !l3S In seiner eigenen Richtung hat das Theater zwei Arten der Behandlung des Stoffes entwickelt: das Massen-Schaustück (mass pageant) mit seiner wirkungsvollen Verwendung von Gruppen, Sprechern und Tänzern und kleinen enthüllenden Stücken innerhalb desselben, wie Newsboy (Zeitungsverkäufer), America America und Lenin's Death (Lenins Tod).136 Die andere Art wählt den Weg über die längere Stückform, die die stakkatoartigen karikaturistischen Angriffe ausläßt und ihren Stoff realistisch behandelt. Can You Hear Their Voices? (Vernimmst du ihre Stimmen?) von Chambers, Flanagan und Clifford, Waiting for Lefty, und The Young Go First (Die Jugend voran) von Peter Martin sind Beispiele dafür. 137 Beide Arten des Herangehens sind lobenswert. Es stimmt, daß einer der Gründe, warum das Agitproptheater sich zur Langform entwickelt hat darin besteht, das nötige Geld zur Unterstützung seiner Truppen aufzubringen; es darf jedoch besonders von den Bühnenschriftstellern nicht vergessen werden, daß es heißt 108
eine der schärfsten Waffen des Theaters abzustumpfen, wenn man dem beweglichen Theater einen weniger bedeutenden Platz zuweist. Das professionelle revolutionäre Theater kam mit der Gründung der Theater Union zum vollen Bewußtsein seiner eignen Stärke. Zu den revolutionären Bühnenautoren gehören nicht nur diejenigen, die ihre Fähigkeit bereits zuvor unter Beweis gestellt haben, wie Lawson, Dos Passos und Gold, sondern, wie zu erwarten war, auch neue. Der Bürde — im bürgerlich kritischen Sinne des Wortes — ein Propagandist zu sein offen die Stirn bietend, haben Männer wie Wexley in They Shall Not Die138 (Sie sollen nicht sterben), die Siftons, Maitz, Peters, Sklar, Odets und andere bereits ein umfangreiches Repertoire geschaffen. Es ist interessant, festzustellen, daß eines der ersten abendfüllenden revolutionären Stücke ein Stück über den Krieg war, Peace on Earth (Friede auf Erden) von Maitz und Sklar. Dieses Stück brachte nicht nur Krieg und Imperialismus in Verbindung, wie Spread Eagle139 es getan hatte, sondern es zeigte a j c h die Rolle der Arbeiterklasse bei der Verhinderung von Krieg und Kriegsvorbereitung. Die revolutionären Bühnenautoren standen vor einem Problem, das das Theater seit Ibsen nicht mehr kannte: wie eine tiefgehende und umfassende W e l t a n s c h a u u n g mit Figuren und Situation zu verknüpfen war. In vielen der oben erwähnten Stücke scheinen die sozialen und politischen Enthüllungen aufgeklebt oder angeheftet. Da sie meist von einem nach links tendierenden Arbeiter oder Intellektuellen handelten, waren diese Stücke, die sogenannten „Pendelstücke", durch einen allzu großen Schematismus behindert. Da sie im wesentlichen mehr auf Handlung und Fabel beruhende Stücke als Charakterstücke waren, beruhten sie auf einer ideologischen Absicht und versuchten, sich diesen Szenen und Charakteren, die sie veranschaulichen sollten, anzupassen. Es sah so aus, als ob das revolutionäre Theater, obwohl inhaltlich fortgeschritten, in der Stoffbehandlung auf eine Art Moralitäten-Niveau zurückzufallen hatte. Doch diese Mängel änderten nichts daran, daß ihre glänzende Anregung, ihre Agitation und Propaganda von hohem Niveau waren, und zumindest eines von ihnen, Stevedore,lA0 nahezu großartig war. Dieses Stück war übrigens mehr als bloß ein Beitrag zum Theater. Es bekundete ein für alle Mal, und auch zum ersten Mal, die heldenhafte Haltung der schwarzen Arbeiterklasse. Es wurde zum Bannerträger der schwarzen Massen; und sie waren es, die sich dieses Stück wie nichts anderes zueigen machten. So daß, was für Fehler auch immer diese Stücke haben mögen, was auch immer dadurch, daß sie keine abendfüllenden Stücke sind, verlorengehen mag, durch die neuen Stoffe, neuen Begriffe, neuen Situationen, neuen Charaktere, die sie auf die Bühne bringen, kurz, durch die revolutionäre Philosophie, wieder ausgeglichen wird. In einem neueren Stück, Black Pit,141 hat Albert Maitz einen Schritt in eine andere Richtung als in vorhergegangenen Stücken unternommen. Das Stück ist deshalb von Bedeutung, weil es eine andere Art der Stoffauswahl und seiner Behandlung anzeigt. Wenn beispielsweise Stücke wie Peace on Earth, Stevedore und Waiting for Lefty142 den den Lasten des Kapitalismus sich widersetzenden, 109
ihn unmittelbar bekämpfenden und zumindest zeitweilig besiegenden Menschen darstellten, so behandelt Black Pit den zugrunde gerichteten Menschen. Beide Arten von Stücken enthüllen die Kräfte der Unterdrückung, doch die erstere Art unmittelbar und die letztere mittelbar. Beide sind gleich wirksame Propaganda. Es gibt noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal. In Stevedore werden die H a n d l u n g e n des Helden dramatisiert; in Black Pit nicht nur die Handlungen des Helden, sondern auch die innere Moral und die psychologischen Konflikte. Mit anderen Worten, wenn in Stevedore der Akzent auf der Handlung liegt, so liegt er in Black Pit auf der Charakterdarstellung. Nichts kann natürlich ausschließen, daß sowohl Charakterzeichnung wie Handlung im gleichen Grade in ein Stück eingehen, und es gibt unserer Ansicht nach nichts in der direkten oder indirekten Behandlung unseres Stoffes, das den Akzent bestimmt. Wir haben in Amerika immer noch ein revolutionäres Stück zu schaffen, das einen wirkungsvollen Ausgleich zwischen innerem Konflikt und äußeren Ereignissen, zwischen dem Drama des Individuums und dem Drama seiner Klasse bringt. Das revolutionäre Theater hat vielfaltige Aufgaben. Darin liegt seine Zukunft. Sein Repertoire und seine Verfasser müssen die wirksame Munition, gemeint sind die guten Stücke und die deutliche Propaganda, liefern, nicht nur um die Mittelklasse zu gewinnen, nicht nur um die Widersprüche des Kapitalismus zu beleuchten, nicht nur um den Arbeitern zu Klassenbewußtsein zu verhelfen, sondern auch um bei der Streikpostenkette, bei der Streikversammlung die Wende zu vollziehen; um sowohl das Theater der Bühne wie der Straße zu sein. So viele verschiedene Fronten wie es im Kampf gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Faschismus und Krieg gibt, so viele Arten Theater muß es geben. Das revolutionäre Theater hat sich trotz aller Schwierigkeiten einen Platz erobert. Die konservativsten Kritiker wie die gewissenhaftesten Kritiker der Linken haben seine großen Leistungen begrüßt. Das neue Theater — in New York die Theater Union, das Group Theater, das Theater of Action und andere; 143 in Boston, Philadelphia, Cleveland, Des Moines, an der Westküste — hat begeisternd zu sich selbst gefunden; es hat die Wahrheit, die heute eine revolutionäre ist, und die Kunst, die heute die lebendigste ist, auf seine Bühnen gebracht.
16 Meridel LeSueur Proletarische Literatur und der Mittelwesten Die Prärie des Mittelwestens erstreckt sich weit. Nichts hat je dort Wurzel geschlagen. Jetzt fliegt sie davon, weil dort nichts gewachsen ist, das den Boden festhalten könnte. Was Wurzeln besaß, wurde aus Gier nach Holz, Kohle, Eisen, Eisenbahnen und Weizen herausgerissen. Auch nicht der Mensch hat dort Wurzel geschlagen. 110
ihn unmittelbar bekämpfenden und zumindest zeitweilig besiegenden Menschen darstellten, so behandelt Black Pit den zugrunde gerichteten Menschen. Beide Arten von Stücken enthüllen die Kräfte der Unterdrückung, doch die erstere Art unmittelbar und die letztere mittelbar. Beide sind gleich wirksame Propaganda. Es gibt noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal. In Stevedore werden die H a n d l u n g e n des Helden dramatisiert; in Black Pit nicht nur die Handlungen des Helden, sondern auch die innere Moral und die psychologischen Konflikte. Mit anderen Worten, wenn in Stevedore der Akzent auf der Handlung liegt, so liegt er in Black Pit auf der Charakterdarstellung. Nichts kann natürlich ausschließen, daß sowohl Charakterzeichnung wie Handlung im gleichen Grade in ein Stück eingehen, und es gibt unserer Ansicht nach nichts in der direkten oder indirekten Behandlung unseres Stoffes, das den Akzent bestimmt. Wir haben in Amerika immer noch ein revolutionäres Stück zu schaffen, das einen wirkungsvollen Ausgleich zwischen innerem Konflikt und äußeren Ereignissen, zwischen dem Drama des Individuums und dem Drama seiner Klasse bringt. Das revolutionäre Theater hat vielfaltige Aufgaben. Darin liegt seine Zukunft. Sein Repertoire und seine Verfasser müssen die wirksame Munition, gemeint sind die guten Stücke und die deutliche Propaganda, liefern, nicht nur um die Mittelklasse zu gewinnen, nicht nur um die Widersprüche des Kapitalismus zu beleuchten, nicht nur um den Arbeitern zu Klassenbewußtsein zu verhelfen, sondern auch um bei der Streikpostenkette, bei der Streikversammlung die Wende zu vollziehen; um sowohl das Theater der Bühne wie der Straße zu sein. So viele verschiedene Fronten wie es im Kampf gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Faschismus und Krieg gibt, so viele Arten Theater muß es geben. Das revolutionäre Theater hat sich trotz aller Schwierigkeiten einen Platz erobert. Die konservativsten Kritiker wie die gewissenhaftesten Kritiker der Linken haben seine großen Leistungen begrüßt. Das neue Theater — in New York die Theater Union, das Group Theater, das Theater of Action und andere; 143 in Boston, Philadelphia, Cleveland, Des Moines, an der Westküste — hat begeisternd zu sich selbst gefunden; es hat die Wahrheit, die heute eine revolutionäre ist, und die Kunst, die heute die lebendigste ist, auf seine Bühnen gebracht.
16 Meridel LeSueur Proletarische Literatur und der Mittelwesten Die Prärie des Mittelwestens erstreckt sich weit. Nichts hat je dort Wurzel geschlagen. Jetzt fliegt sie davon, weil dort nichts gewachsen ist, das den Boden festhalten könnte. Was Wurzeln besaß, wurde aus Gier nach Holz, Kohle, Eisen, Eisenbahnen und Weizen herausgerissen. Auch nicht der Mensch hat dort Wurzel geschlagen. 110
Auf der Reise hierher fuhr ich langsam durch Pennsylvanien und New York, und hier sind die Häuser zutiefst mit dem Boden verwurzelt. Im mittleren Westen habe ich solche Häuser nicht gesehen. Dort schaut man auf die Straße und sieht, wie ein Haus verschwindet. Jemand hat sich entschlossen, wegzuziehen. Das ist ein alltäglicher Anblick. Gegenwärtig kann man sehen, wie ganze Farmerdörfer von einem Landesteil in den anderen verbracht werden. Meine Familie ist seit zwei Generationen unterwegs, immer etwas Besseres, eine neue Möglichkeit erhoffend. All die Unbeständigen, Überläufer und Todesboten aus dem Osten sind in den mittleren Westen gekommen, und wir heulen nun den Mond an, etwas begehrend. Die Hügel, auf denen die großen Weizen- und Eisenbahnkönige wohnen, sind mit den Leben Tausender von Arbeitern errichtet. Nirgendwo in Amerika sind die Verwüstungen der laissez-faire-Kolonisierung so offensichtlich wie im mittleren Westen. Banken, entwertete Wertpapiere, betrügerische Praktiken haben die Arbeiter und Kleinbürger wie Schafe über die Prärien getrieben, haben sie von einer Stadt in die andere ziehen lassen, von der Industrie zur Farm, von der Farm zur Industrie, haben sie ausgebeutet. Ganze Dörfer wurden von Winkeladvokaten einverleibt, aus der alten Welt stammende Einwanderer und das Dorf machten bankrott; und das Volk zog weiter, um sich unter günstigerem Himmel ausplündern zu lassen. Das geschieht nicht erst seit der Depression, sondern seit fünfundsiebzig Jahren. Wir lebten s t e t s in einer Depression. Mein Großvater vermaß halb Illinois, und er nahm sich die rücksichtslosen Praktiken der Regierung bei der Beschaffung von Einwandrern als billigen Arbeitskräften und ihrer schnellen Ausbeutung so zu Herzen, daß er sich betrank und zwei Jahre in einem Maisfeld in Iowa saß, ohne ein Wort zu sprechen. Er wurde mit einem Bild Ingersolls auf dem Sarge begraben und hinterließ ein Notizbuch, in dem stand, daß die Jeffersonsche Demokratie ein Fehlschlag sei; und es habe sich eben nicht herausgestellt, daß jedermann sein Land und sein Stimmrecht haben würde. Im mittleren Westen gibt es ganze Dörfer, die seit dem Durchzug der Holzindustrie verwüstet sind. Es gibt Tausende von Familien, Männer, die Holzfäller, Signalwärter waren, die, seit der letzte der Holzbarone verschwunden ist, auf dem verödeten Land sitzen, als ein furchtbares Zeugnis einer der übelsten und schnellsten Ausbeutungskampagnen, die die Welt je erlebt hat, als nämlich der mittlere Westen, ein reiches, fruchtbares, schlafendes Tal, in der Zeitspanne von praktisch fünfzig Jahren in eine Wüste verwandelt wurde. Der auf so räuberische Weise angehäufte Reichtum hat nicht einmal eine Kultur getragen oder auch nur einen amerikanischen Clown, oder Maler, Schriftsteller oder Dichter unterhalten. Die Häuser unserer Reichen sind voller unechter Gemälde von Rembrandt, Tizian und unbekannten Malern mit langen italienischen Namen. Die Möbel sind im Stile des Hofes von Ludwig, und bis zum heutigen Tage werden nur englische Romane gekauft. Die reiche Räuberklasse hat nicht einmal den Anspruch einer einheimischen Kultur erhoben. 111
Es gibt nur eine Klasse, die begonnen hat, eine Kultur des mittleren Westens hervorzubringen, und das ist die gärende Hefe der revolutionären Arbeiterklasse, wie sie aus dem Mesabigebirge, dem Weizengürtel, den Kohlenfeldern von Illinois, dem verwehten und verwüsteten Land der beiden Dakotas, den Mühlen und Kornspeichern hervorwächst. In diesen Gebieten wird die erste Aktionseinheit und Verbundenheit gemeinsamen Ausdrucks an der militanten Kampfesfront zwischen den Farmern und Industriearbeitern geschaffen. Durch die Arbeiterklasse werden Verwendung und Funktion einheimischer Sprache allmählich in solche Bücher wie die von James Farrell mit ihrer Schilderung und Umgangssprache der Chicagoer Straßen, von Jack Conroy mit seinen von der Automobilindustrie in Detroit zu den Kohlefeldern überwechselnden Arbeitergestalten, von Nelson Algren und von den Arbeiterschriftstellern in Farmers' Weekly und im Western Worker144 eingebaut. Das ist nichts, das im mittleren Westen plötzlich entstanden ist oder nur eine Begleiterscheinung einer vorübergehenden Depression wäre. Das ist etwas, das uns seit zwei Generationen angeboren ist, das unsere Züge schärfer geformt hat. Dies ist der allmähliche Anfang einer Kultur, das langsame und wunderbare Zusammentragen einer Erfahrung, die bislang unausgesprochen geblieben war, die eine gigantische Bewegung bei der Arbeit war, wie das Schwingen der Spitzhacke, der Axt, die vorher kein Geräusch machten, doch die man jetzt hört. Ich erinnere mich noch, als ich etwa zwölf Jahre alt war, lebte ich in einer ausgedörrten Stadt in Kansas und fuhr nach Kansas City, um den Sommer dort zu verbringen. Ich las Hawthorne, Emerson, Poe, und sie kamen mir angesichts des Präriehorizonts ziemlich fremd und merkwürdig vor. Doch dann sah ich etwas, was nicht so fremd war. Ich sah eine kleine Schar von Männern in einem Zimmer sitzen, und noch niemals hatte ich soviel Rauch, soviele Gespräche und solche Gesichter erlebt. Sie waren gerade von den Weizenfeldern zurückgekehrt und wollten den ganzen Winter mit Gesprächen und Studium verbringen. Es waren Angehörige der IWW, 145 es waren Earl und Bill Browder, ein kleiner Mann mit einem Schnurrbart und Spazierstock, der Charles Ashleigh hieß, und Billy Williams und andere, viele andere; sie kamen und gingen und redeten. Das war für viele von uns der Anfang. Das glich einer an verschiedenen Orten im Dunklen ausgesäten Saat, und nun wächst sie hier heran. Ich glaube, daß wir im mittleren Westen bemüht sind, die IWW's nicht zu vergessen. Sie sprachen Amerikanisch und nicht Englisch. Viele von ihnen waren Anarchisten, viele haßten nur einfach die Maschinen, doch sie setzten einen Anfang. Wie Johnny Appleseed, der im mittleren Westen die Samenkörner für zahllose Obstgärten verbreitete, 146 so verbreiteten die IWW's zahllose völlig zerlesene Exemplare der Werke von Marx. Im mittleren Westen hat sich ein bedeutender Kern von Arbeiterschriftstellern um den Anvil147 gruppiert. Es gibt andere Gruppen. Vorigen Winter haben hundertfünfzig Frauen aus Fabrik und Farm unter vorsichtiger Anleitung ihre proletarische Erfahrung niedergeschrieben. Das war nicht nur die schreckliche 112
und riesige Erfahrung einer ausgebeuteten und besitzlosen Klasse, es war, bruchstückhaft vielleicht, auch Literatur. Schreiben ist mehr eine Erfahrung als ein Gewerbe. Es ist ein neuer und noch nicht gehobener Erfahrungsschatz, den der geübte Schriftsteller zutage fördern kann, gleichzeitig sein eigenes Wissen erneuernd. Der Akzent darf nicht nur auf Fertigkeit und Technik liegen, sondern muß auf einer neuen Erfahrung, einer gemeinsamen Beziehung und revolutionären Ideologie beruhen. Kritik ist natürlich von unschätzbarem Wert, doch es gibt für die Kritik wechselnde Zwänge: eine Zeit des Hackens, eine Zeit des Erntens, eine Zeit, da man auf den Regen wartet. In einer Übergangsperiode muß kritisches Urteil wie alles andere angesichts der Ereignisse schnell, sprunghaft und gleichzeitig streng sein. Bei der gegenwärtigen Situation der Kritik scheint mir die Gefahr intellektueller Verknöcherung zu bestehen, bevor es zu einer vollständigen umfassenden und warmherzigen Klärung des Chaos gekommen ist. Für eine feste und fruchtbare Ordnung braucht man ein umfassendes und mächtiges Chaos. Heutzutage entsteht eine neue Literatur durch das behutsame Ereignis einer Geburt. Wir verfolgen die Entstehung eines neuen Ereignisses. Im Augenblick des Ausschlüpfens braucht es Wärme. Manche begeisterungsfreudigen Kritiker mögen zwar die besten Absichten hegen, doch benehmen sie sich wie der Elefant, der für das in der Sonne daliegende Zaunkönigei die zärtlichsten Gefühle empfindet und sich darauf setzt. Außer Kritik brauchen wir auch Liebe und Begeisterung, damit unsere Literatur kein sezierter Leichnam wird, bevor sie überhaupt aus dem Ei geschlüpft ist. Wir im mittleren Westen haben nie Wohlbehagen oder eine einheimische Kultur gekannt. Wir hungern von Geburt an. Die Ausbeuterklasse hat nicht einmal eine Kultur für sich geschaffen. Auf der windgepeitschten Prärie kann die Revolution dem Boden genauso natürlich entsprießen wie der Weizen. Uns hat niemals die alte Tradition der Literatur der alten Welt belastet. Jeder Schriftsteller im mittleren Westen muß, was seine Verbindung mit anderen Schriftstellern betrifft, allein arbeiten, daher steht er in engerem Kontakt mit der amerikanischen Erfahrung. Ein integraler Bestandteil unmittelbarer Erfahrung des mittleren Westens ist eine, in der Stunde der Gefahr geborene, schnelle Anpassung zwischen dem Farmer, dem Industriearbeiter, dem Geistesarbeiter, dem Schriftsteller, dem Künstler. Sie bilden auf der Prärie eine widerstandsfähige und bewegliche Phalanx. Jetzt wissen wir, wo wir Wurzeln schlagen dürfen, jene Wurzeln, die nie keimen durften und eine lange Schlechtwetterperiode überdauern mußten. Der idealistische Dualismus der Neuenglandkultur hat uns nichts Gutes gebracht. Das Ereignis der Vergewaltigung Amerikas sollte im mittleren Amerika nicht so vorsichtig verschleiert werden. Wir haben die Aufgabe des bürgerlichen Schriftstellers, die Erschütterungen eines auf Ausbeutung gegründeten und immer barbarischer werdenden Kapitalismus zu dämpfen, niemals sehr ernst genommen. Wir, das Kleinbürgertum und die Arbeiterklasse, sind Nonkonformisten, in8
New York 1935/37
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dividuelle Narren und gegen die Maschine Sturm laufende Anarchisten gewesen; doch das Denken des mittleren Westens findet jetzt seinen Platz, es spürt eine neue, kraftvolle Wechselbeziehung zwischen sich und anderen, welche ihm letztlich tatäschlich die Loslösung vom Bourgeois und der verfallenden Realität genauso ermöglichen wird, wie die freie Hinwendung zum wahren subjektiven Bild des in der Gemeinschaft lebenden Künstlers, der in Rußland bereits Wirklichkeit ist; nicht die falsche Subjektivität der persönlichen Niederlage, Ausflucht und Apologie des bürgerlichen Künstlers, sondern die Subjektivität des gemeinsamen Grundbildes einer aufsteigenden Klasse, das keine Ursache für Abgrenzung und Ausflüchte hat und ihn weiter und enger mit allem verbindet. Im mittleren Westen, dem Zentrum reformistischer Demagogie, kann nur diese kulturelle Einheitsfront uns vor dem Sturz in die letzte Heuchelei der herrschenden Klassen, den Faschismus, bewahren.
17 James T. Farrell Die Kurzgeschichte Ich glaube, daß die revolutionäre Kritik auf dem Gebiet der Kurzgeschichte besonders nachlässig war, und das nicht ohne Grund. Denn die Kurzgeschichte bietet sich jener Art überpolitisierter und ideologisch schematisierter Kritik, wie sie in den literarischen Spalten revolutionärer Zeitschriften allzu entmutigend oft anzutreffen ist, nicht so bereitwillig an. Der Verfasser einer Kurzgeschichte besitzt wegen der offensichtlichen räumlichen Beschränkung nicht die gleichen Freizügigkeiten wie der Romanautor. Als Folge davon entdeckt er, daß die Kurzgeschichte ihm nicht alles zu sagen erlaubt, was er zu sagen hat, und er sieht sich darauf beschränkt, sich mit zusammengedrängten Erfahrungen und einzelnen oder bestenfalls wenigen Eindrücken zu befassen. Folglich muß er zu einer Technik der indirekten Darstellungsweise greifen; und er muß eher implizite als explizite Methoden verwenden. Und es gibt heute verschiedene revolutionäre Kritiker, die noch nicht klar unter Beweis gestellt haben, daß sie die Fähigkeit, mit Implikationen umzugehen, besitzen. Aus diesen Gründen, meine ich, kann die Kurzgeschichte vielleicht als Prüfstein für das literarische Wahrnehmungsvermögen unserer Kritiker gelten. Wenn wir ästhetische Erwägungen einmal beiseite lassen und nur die Entwicklung der literarischen Traditionen betrachten, können wir die Tendenz feststellen, daß sich diese in einer Aufeinanderfolge von Mustern entwickeln, wobei Elemente eines Musters dazu neigen, von dem nachfolgenden Muster aufgenommen zu werden, während andere Elemente verworfen werden, und so weiter in einem kontinuierlichen Prozeß. Zur Veranschaulichung sollte ich vielleicht beiläufig auf die Gestalt des 114
dividuelle Narren und gegen die Maschine Sturm laufende Anarchisten gewesen; doch das Denken des mittleren Westens findet jetzt seinen Platz, es spürt eine neue, kraftvolle Wechselbeziehung zwischen sich und anderen, welche ihm letztlich tatäschlich die Loslösung vom Bourgeois und der verfallenden Realität genauso ermöglichen wird, wie die freie Hinwendung zum wahren subjektiven Bild des in der Gemeinschaft lebenden Künstlers, der in Rußland bereits Wirklichkeit ist; nicht die falsche Subjektivität der persönlichen Niederlage, Ausflucht und Apologie des bürgerlichen Künstlers, sondern die Subjektivität des gemeinsamen Grundbildes einer aufsteigenden Klasse, das keine Ursache für Abgrenzung und Ausflüchte hat und ihn weiter und enger mit allem verbindet. Im mittleren Westen, dem Zentrum reformistischer Demagogie, kann nur diese kulturelle Einheitsfront uns vor dem Sturz in die letzte Heuchelei der herrschenden Klassen, den Faschismus, bewahren.
17 James T. Farrell Die Kurzgeschichte Ich glaube, daß die revolutionäre Kritik auf dem Gebiet der Kurzgeschichte besonders nachlässig war, und das nicht ohne Grund. Denn die Kurzgeschichte bietet sich jener Art überpolitisierter und ideologisch schematisierter Kritik, wie sie in den literarischen Spalten revolutionärer Zeitschriften allzu entmutigend oft anzutreffen ist, nicht so bereitwillig an. Der Verfasser einer Kurzgeschichte besitzt wegen der offensichtlichen räumlichen Beschränkung nicht die gleichen Freizügigkeiten wie der Romanautor. Als Folge davon entdeckt er, daß die Kurzgeschichte ihm nicht alles zu sagen erlaubt, was er zu sagen hat, und er sieht sich darauf beschränkt, sich mit zusammengedrängten Erfahrungen und einzelnen oder bestenfalls wenigen Eindrücken zu befassen. Folglich muß er zu einer Technik der indirekten Darstellungsweise greifen; und er muß eher implizite als explizite Methoden verwenden. Und es gibt heute verschiedene revolutionäre Kritiker, die noch nicht klar unter Beweis gestellt haben, daß sie die Fähigkeit, mit Implikationen umzugehen, besitzen. Aus diesen Gründen, meine ich, kann die Kurzgeschichte vielleicht als Prüfstein für das literarische Wahrnehmungsvermögen unserer Kritiker gelten. Wenn wir ästhetische Erwägungen einmal beiseite lassen und nur die Entwicklung der literarischen Traditionen betrachten, können wir die Tendenz feststellen, daß sich diese in einer Aufeinanderfolge von Mustern entwickeln, wobei Elemente eines Musters dazu neigen, von dem nachfolgenden Muster aufgenommen zu werden, während andere Elemente verworfen werden, und so weiter in einem kontinuierlichen Prozeß. Zur Veranschaulichung sollte ich vielleicht beiläufig auf die Gestalt des 114
Negers in der amerikanischen Literatur verweisen. Ein Muster dieser Gestalt in der amerikanischen Literatur ist das Bild des guten, alten Neger-Onkels, des dunkelhäutigen ,Mädchen für alles' aus den Südstaaten. Es stellt eine possenhafte Auffassung des Negers dar, zeichnet ihn als unterwürfig, ungeschickt, kindisch albern und einfaltig, und macht ihn zu einer Komödienfigur, die, wie wir wissen, die Geschichte des tragischen Schicksals des Negers im kapitalistischen Amerika verschleiert und entstellt. Dieses Muster begründete eine Norm von Urbildern, Gewohnheiten, Merkmalen und Sprache, einen Überrest von Auffassungen, Verhaltensnormen und dergleichen, aus denen sich die vorgebliche Mentalität des Negers zusammensetzte. Selbst bis heute ist das Muster des guten, alten Negers in der populären amerikanischen Literatur wie in vielen amerikanischen Vorstellungen vom Neger noch nicht verblaßt. Dieses Muster begegnet uns mit Gamaschen bekleidet in den von Octavius Roy Cohen verfaßten Geschichten der Saturday Evening Post.1*8 Diese Auffassung wird uns eine schmerzliche Erfahrung im Film und in der Funkparodie von Arnos und Andy. 149 Wir sehen, daß die Sklaven in Stark Youngs So Red the Rose (Rote Rose)150 nach diesem Muster behandelt werden oder sonst als ,böse Nigger' gelten. Während es für uns ein Leichtes ist, Werke dieser Art von einem streng literarischen Standpunkt aus abzutun, ist es nicht angebracht, das gleiche von einem soziologischen Standpunkt aus zu tun. Denn sie spiegeln ganz deutlich eine Klassenhaltung wider. Das Bild des guten, alten Negers ist eine Zusammenfassung der dem Neger aufgezwungenen Regeln, um einerseits ein harmonisches Zusammenwirken zwischen dem Neger und der auf seine Kosten lebenden, privilegierten Klasse zu ermöglichen, und andererseits eine Wunscherfüllung dessen, was der Neger für diese privilegierte Klasse zu sein hat. In den Beziehungen zwischen einer privilegierten und einer unterdrückten Klasse entwickelt sich immer ein Kanon von Regeln, der die Beziehungen zwischen den beiden Klassen beherrscht. Mit der Zeit werden die Angehörigen der privilegierten Klasse das Bestreben zeigen, diese Regeln sowie die unausbleiblichen Gewohnheiten, die sie schaffen, mit der vermeintlichen Wesensart der unterdrückten Klasse zu identifizieren. Sie werden sodann das durch diese Regeln gelenkte Verhalten so ansehen, als rühre es nicht aus objektiven gesellschaftlichen Beziehungen her, sondern aus einem Mythos, mit dem das Grundwissen der unterdrückten Klasse bezeichnet wird. Das ist in Werken geschehen, die den Farbigen in Begriffen des Bildes vom guten, alten Neger behandeln. Wir können feststellen, daß dieses Muster Ähnlichkeiten mit anderen Werken enthält, in denen ein Verhältnis von Herr und Knecht, Unterdrücker und Unterdrückte vorliegt. So gibt es eine Ähnlichkeit zwischen den guten-alten-Neger-Geschichten und der Standardfigur des Iren in solchen irischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts wie denen von Lever und Lover. 151 Die Ähnlichkeiten erstrecken sich noch weiter. So sind von Erwachsenen geschriebene Bücher über Kinder von gleicher Art. Booth Tarkingtons Penrod152 beispielsweise ist in diesselbe Form gegossen und stellt eine Kombination gewisser Regeln dar, die einerseits für die Beziehung zwischen Kindern 115
und einer gewissen Art Eltern, wie andererseits für eine Wunscherfüllung oder einen Traum dessen, wie Eltern ihre Kinder haben möchten, notwendig sind. Als ein weiteres Muster des Negers in der amerikanischen Literatur könnte man die Figur des amerikanischen Primitiven bezeichnen, dargestellt in Schilderungen, wie man sie in den Werken Julia Peterkins und Dubose Heywards sowie in Marc Connellys Stück Green Pastures (Grüne Weiden)153 findet. Ein drittes Muster ist der Harlemer Neger, vor allem erkennbar in Romanen wie Carl Van Vechtens Nigger Heaven (Niggerhimmel), Rudolph Fishers ziemlich unangemessener Schilderung der Harlemer Bourgeoisie und Intellektuellen, in The Walls of Jericho (Die Mauern von Jericho) und Claude McKays Geschichte eines Pullmanportiers in Home to Harlem (Heim nach Harlem).15* Ein viertes Muster, das jetzt in Sicht kommt, ist das des Negerproletariers, und zumindest ein Vorläufer dieser literarischen Entwicklung ist ein Schriftsteller wie Langston Hughes. Diese Muster des Negers in der amerikanischen Literatur folgen einem Wandel in den Klassenbeziehungen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, in welchen der Neger ein Faktor ist, und sie enthüllen diese Wandlungen und Veränderungen. Und wenn wir die amerikanische Literatur als Gesamtheit betrachten, werden wir, meine ich, zugestehen, daß sie eine Vielfalt solcher Muster aufweist. Wir werden weiterhin sehen, daß es eine Unregelmäßigkeit in ihrer Entwicklung, ihrem Einfluß, ihrer Wirkung oder mangelnden Wirkung gibt. Wir werden feststellen, daß sie sich überschneiden und eine Art Kaleidoskop bilden. Diese Muster bedingten im übrigen die Art, in der wir Gestalten und Ereignisse der amerikanischen Szene verstehen und begreifen. So behaupten sich zum Beispiel falsche und der Wirklichkeit nicht angemessene Muster und sind oft wirksamere bestimmende Faktoren bei der Herausbildung und Verfestigung verbreiteter Verhaltensnormen, als es uns lieb ist. Neben den äußeren oder sozialen Faktoren, die die Entwicklung der Literatur bedingen und prägen, gibt es auch innere oder literarische. Und genau wie wir Ungleichmäßigkeit und Unregelmäßigkeit in der Entwicklung und im Leben sozialer Muster feststellen, können wir eine entsprechende Ungleichmäßigkeit literarischer Einflüsse bemerken. Ein deutliches Beispiel dafür ist der anhaltende Einfluß der romantischen Tradition in der englischen Dichtung, und die Art, wie sie ein Bestandteil unserer Sprache und unserer stilistischen Gewohnheiten geworden ist. Einer der bestimmenden Faktoren der amerikanischen Literatur, der hier Erwähnung verdient, ist die handlungsgebundene Kurzgeschichte, die fast bis heute die führende literarische Form Amerikas war. Die Handlungskurzgeschichte beruht auf einer mechanischen Vorgabe, die sie als solche äußerst einschränkte. Sie verlangte, daß das in der Kurzgeschichte dargestellte Leben so angeordnet und eingerichtet wird, daß es den Ansprüchen der Form gerecht wird, statt daß die Form angepaßt wird, um jene Einblicke in das Leben zu enthüllen, die der Schriftsteller zu verwenden gewählt hat. Die Hauptforderung dieser Form war die 116
eines auf einer aufbauenden Handlung und dem Zusammenprall widersprüchlicher Ansichten basierenden Konflikts, der wachsende Spannung schuf und in der Lösung des Knotens seine Aufhebung fand. Als der höchste Konflikttyp der Handlungskurzgeschichte galt der moralische Konflikt. Die Figuren in der Handlungskurzgeschichte überzeugten oft nicht als Menschen, sondern beeindruckten einen eher als Anhängsel moralischer Vorschriften und Standpunkte, und diese Vorschriften und Standpunkte wurzelten in jener Ideologie, die der intellektuelle Leibwächter kapitalistischer Demokratie ist. Es ist vielleicht mehr als bloßer Zufall, daß die Abkehr von der Handlungskurzgeschichte sich zu einer Zeit entwickelte und eine gewisse Popularität erreichte, als es zu einem immer deutlicheren Widerspruch zwischen den Erwartungen des amerikanischen Traums und der Art kam, wie menschliche Schicksale im tatsächlichen Leben sich entwirrten. Mit anderen Worten, die Widersprüche zwischen Idealen und Tatsachen wurden im amerikanischen Leben offenbar, und die Menschen begannen zu begreifen, daß sie vom amerikanischen Traum betrogen wurden. Die ersten Werke jener Literatur des Realismus und des sozialen Protests, die seitdem zur führenden literarischen Tradition der amerikanischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts geworden sind, stellen einen Vorgang der Erschütterung und des Umsturzes vertrauter Muster im sozialen Denken und der Literatur Amerikas dar. Der glückliche Ausgang einer Geschichte wurde zum unglücklichen. Die handlungsgebundene Kurzgeschichte wurde zur Kurzgeschichte ohne Handlung. Die Sünde statt der Tugend wurde belohnt wie in Sister Carrie (Schwester Carrie).155 Erfolg führte zu Unzufriedenheit statt zu Zufriedenheit wie in Windy MacPhersons Son (Windy MacPhersons Sohn)}56 In den Geschichten Ring Lardners werden die beliebten Helden der Sportseite mit höchst bitterer, unbarmherziger und in grausamer Weise zutreffender Ironie und Verspottung entlarvt. Dieser literarische Aufstand eröffnete einer ganzen Flutwelle neuer literarischer Stoffe die Schleusen, Stoffe, die uns — und zwar noch immer — gestatten, viele Aspekte des amerikanischen Lebens und der amerikanischen Erfahrung mit neuen Augen zu sehen. Was diese Werke im Grunde geben, ist eine Einschätzung dessen, was die kapitalistische Demokratie Amerikas an menschlichen Schicksalen, menschlichen Leiden und Enttäuschungen kostet. Sie haben soziale Zwänge zum Ausdruck gebracht, die sozialen Zwänge neuer rassen- und klassenmäßigen Gruppierungen, die ihren eigenen Ausdruck, ihr Selbstverständnis suchen, die einen Sinn ihres Lebens, ihrer Leiden, ihrer Probleme, ihrer Hoffnungen und Wünsche publik zu machen suchen. Obwohl diese Entwicklung im Roman deutlicher wahrnehmbar ist als in der Kurzgeschichte, ist sie doch in beiden Formen sichtbar. In der Kurzgeschichte nehmen wir nur flüchtige Augenblicke, Bewußtseinszustände, Landschafts-, Milieu-, Stimmungsbilder wahr, die Sprache dieses in der amerikanischen Literatur bislang noch nicht oder nur ungenügend ausgedrückten Lebens. Die Kurzgeschichte hat uns also in diesen letzten Jahren in eine neue Art amerikanischen Lebens eingeführt, in das Leben 117
der armen Farmer und Teilpächter — in rückständigen ländlichen Gebieten, in das Milieu, die Bilder, den Wortschatz der Großstadtstraße, in die Gefühle slawischer Einwanderer, die Probleme und Unzufriedenheiten von Akkordarbeitern, die Gefühle und Bedrängnisse des Fabrikproletariats, das Verhalten und die Hoffnungen revolutionärer Organisatoren, die Haltungen schwarzer Intellektueller gegenüber Weißen, die Traditionen und Hintergründe der Arbeitergeschichte, die Brutalität des Boxrings sowie des sich dahinter verbergenden Lebens. Kurz gesagt, sie hat uns auf den Grund des sogenannten amerikanischen Schmelztiegels getaucht. Und es erübrigt sich festzustellen, daß sich in dieser Literatur, sowohl implizit wie explizit, eine revolutionäre Richtung bekundet. Die grundlegende Unzulänglichkeit zahlreicher neuer revolutionärer Kurzgeschichten ist, glaube ich, ein Mangel an etwas, das man innere Überzeugung nennen könnte. Zwar sind die Autoren bemüht, einen revolutionären Standpunkt oder ein revolutionäres Gefühl zum Ausdruck zu bringen, jedoch anstatt ihr Ziel funktionell mit der Geschichte zu verbinden, damit es auf den Leser als natürlicher und integraler Bestandteil der Geschichte wirkt, erscheint es nur aufgesetzt. In den dafür typischsten Geschichten wird es am Ende als politische Losung oder revolutionäres Richtungszeichen, das keine zusammenhängende und wesentliche oder notwendige Beziehung mit der Geschichte insgesamt besitzt, aufgeklebt. Ein weiterer, damit in Verbindung stehender Mangel ist der, daß die revolutionären Kurzgeschichten zu allgemein gehalten sind. So gibt es eine beliebige Zahl sehr allgemein gehaltener Kurzgeschichten, die das Thema Hunger, Leid, Unterdrückung behandeln, ohne durch jene Details, Beobachtungen, schriftstellerischen "Lichtblicke belebt, die diesen Geschichten Konkretheit verleihen und ihnen ein Bewußtsein dieser unleugbaren Begleitumstände der kapitalistischen Zivilisation einimpfen würden. Infolgedessen lassen diese Geschichten nur eine Glocke antönen, und das Echo verhallt schnell, und sie sind bald vergessen. Ihre Wirkung dauert nur solange wie ihre Lektüre. Es gibt eine beliebige Anzahl anderer Geschichten, die keine revolutionären Haltungen und Gefühle ausdrücken, vielmehr Aspekte amerikanischen Lebens widerspiegeln wollen. Und in diesen gibt es* häufig bemerkenswerte Mängel. So ist der Einfluß Sherwood Andersons in der Kurzgeschichte so nachhaltig geworden, daß er eine Art Anderson-Schule bewirkt hat. Diese Schule könnte man als die Ich-bin-dumm-Schule bezeichnen. Ferner sind die Moden und Methoden Ernest Hemingways ziemlich schwach nachgeahmt worden; und die Eigenschaft, die einige von Hemingways Geschichten wirklich verdienstvoll macht, nämlich Hemingways Sensibilität, fehlt dabei. Das Ergebnis ist, daß die Geschichten bloßes Gehäuse ohne Gefühl, ohne Inhalt sind, ohne jede tatsächliche Berechtigung dafür, daß sie je geschrieben wurden. Ring Lardner hat in ähnlicher Weise seine Nachahmer gefunden, und die Ergebnisse waren auch in gleicher Weise niederdrückend. Doch ich meine, daß es für uns lohnender sein wird, nicht nur Geschichten zu betrachten, die leicht zu kritisieren sind, sondern vielmehr eine mannigfaltige Gruppe verdienstvoller Kurzgeschichten zu erörtern. 118
Die erste Geschichte, die ich erwähnen möchte, ist My Dead Brother Comes To America (Mein toter Bruder kommt nach Amerika) von Alexander Godin, die erstmalig im Windsor Quarterly157 erschien. Diese Geschichte versucht einen Eindruck davon zu vermitteln, welche Gefühle einen Knaben bewegen, der zusammen mit seiner Mutter und seinen Schwestern aus der hungergeplagten Ukraine nach Amerika kommt. Wie der Autor schreibt: „Wir hatten eine heroische Geschichtsperiode (die Epoche des russischen Bürgerkrieges) durchlebt, ohne etwas Heroisches in unserem Wesen zu haben, und haben in dieser Zeit viel durchgemacht. Unser Leben war in zahllose Scherben zerbrochen." Als der Knabe nun, verwirrt und der überstandenen Leiden, Schmerzen und Nöte sich erinnernd, in die neue Welt kommt, erleben wir bei ihm das Gefühl, daß das zerrüttete Leben dieser Familie sich niemals wieder zu einem Ganzen fügen wird. Denn einen haben sie zurückgelassen, tot. Doch die Mutter hat dem Vater in ihren Briefen nach Amerika nichts davon geschrieben. So kommt es, daß der Vater, als er sie abholt, für jedes Kind eine Mütze mitgebracht hat und nun eine übrig ist. Auf dem ganzen Heimweg, und als sie sich in ihrer neuen Behausung, einer beengten New Yorker Mietwohnung, einrichten, schwebt der tote Bruder wie ein Bahrtuch und ein Symbol über der gesamten Familie. „Auch er war nach Amerika gekommen." Der Schwerpunkt in dieser Geschichte liegt auf dem Gefühl, auf der Stimmung, einem Gefühl der Bitterkeit und der Tragik, einer Stimmung der Bestürzung und Verwirrung. Es ist eine in sich geschlossene, bewegende Geschichte, in der Tradition der russischen Kurzgeschichte geschrieben. Wir können darin einen Unterschied, wie der Autor Details verwendet und wie sie in vielen amerikanischen Kurzgeschichten verwendet werden, feststellen. Die letzteren häufen Details und versuchen durch eine Menge von Details, die das Neue der Szene, die Sprache des behandelten und bevorzugten Milieus andeuten sollen, Wirkungen zu erzielen, Hintergrund und Atmosphäre zu schaffen. Godin dagegen verwendet Details weitaus sparsamer und ist bemüht, mit jedem eine maximale Wirkung zu erzielen. So enthält schon allein das Detail der überzähligen Mütze die ganze Geschichte, und die Mütze wird zu einer Art Symbol. Des weiteren ist dies eine Geschichte von der Art, die sich nach der Lektüre im Bewußtsein des Lesers immer mehr ausweitet. Sie gleicht einer Tür, die uns einen Sinn für die Empfindungen des Einwanderers öffnet, für seine aus Schmerz und Leid bestehende Vergangenheit, aus der er kommt. Sie betont eher Gefühl, Emotion, Atmosphäre als Ideologie und ist eine Geschichte von der Art, wie sie revolutionäre Kritiker fördern sollten. Sie offenbart uns ein Verständnis für die Herkunft einwandernder Arbeiter und ihrer Familien, und als solche ist sie, meine ich, eine der bewegendsten zeitgenössichen Geschichten, die ich je gelesen habe. In einer solchen Geschichte wie Nelson Algrens So Help Me (So helft mir doch), die als Erstdruck in Story Magazine158 erschien, werden wir in eine völlig andere Welt, die Welt des Landstreicherdschungels, eingeführt. Kurz gesagt ist das die Geschichte eines jüdischen Jungen, der in das Landstreicherleben hineinwächst. Er ist in diese Welt als eine Art Opfer der Verhältnisse hineingeraten. 119
Als Schüler in Cincinnati hatte er sich in ein Mädchen verliebt, das er heiraten wollte und das ein Kind von ihm erwartete. Rassische wie religiöse Schranken zwischen beiden Familien führten zu Streitigkeiten, und angesichts der vom Vater des Mädchens geäußerten Drohungen war der Junge per Anhalter nach Boulder Dam gefahren, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden und das Mädchen nachkommen zu lassen. Dort sah er fünftausend Mann, die alle vor ihm auf fünf Jobs warteten, darum ging er nach New Orleans, in der verzweifelten Hoffnung, zur See zu fahren. Er begegnet einem Landstreicher, der ihn auf einem Güterzug mit nach Texas nimmt, wo sie Arbeit suchen wollen. Ein Kumpel schließt sich ihnen an, und die beiden Landstreicher nutzen den Jungen hinterhältig aus, ziehen ihn in einen Diebstahl hinein und ermorden ihn. Die Geschichte wird als Monolog erzählt, in einer Art, die ihre Herkunft von Ring Lardner verrät. Der Autor entfaltet nicht nur diese besondere Geschichte, sondern auch ihren Hintergrund. In dem Maße, wie der die Geschichte erzählende Landstreicher vor unseren Augen ersteht, gewahren wir seinen Mangel an Gefühl und Liebesfahigkeit, seine fast vollständige Loslösung von den Erfolgsbegriffen der Mittelklasse und seine Unfähigkeit, irgendwelche anderen Begriffe an ihre Stelle zu setzen. Sein einziges Bestreben ist, sich sein Existenzminimum von einem Tag zum anderen zu sichern, und wenn er jemand dazu mißbrauchen kann, ihm dazu zu verhelfen, um so besser, und zum Teufel mit den Folgen, die das für den Betreffenden hat. Die Gesellschaft fragt nicht danach, wie sie ihn behandelt. Darum ist es ihm gleichgültig, wie er andere behandelt. Er lebt förmlich in einem Dschungel, den der Autor unbarmherzig beschreibt, so daß wir uns ins Gesicht geschlagen fühlen, und die Ironie des Autors wird zu einem wirksamen literarischen Mittel. Als Geschichte sollte So Help Me unter jene gerechnet werden, die die Opfer der kapitalistischen Gesellschaft beschreiben und gleichsam einige der Züge des zeitgenössischen amerikanischen Lebens uns vor Augen führen sowie das Verständnis für den Sinn des Lebens, das Gefühl, die Lebensumstände derjenigen erneuern, die der Unterschicht der,Dollaropfer' angehören. Eine ursprünglich in The Anvil159 gedruckte Geschichte, die verdiente Aufmerksamkeit und Lob empfing, ist, glaube ich, Louis Mamets The Pension. Gegen viele trostlose, nicht empfundene und, falls überhaupt ehrlich gemeinte, verunglückte Kurzgeschichten über das Proletariat, die in letzter Zeit mehr und mehr die kleinen Zeitschriften überschwemmten, hebt sich diese wie ein helles Licht ab. Im Grunde will sie die Beziehung des Fabrikarbeiters zu seiner Maschine und zu seinen Arbeitgebern in einem kapitalistischen System darstellen. Die Charaktere werden nach den Nummern ihrer Maschine genannt, ein wirksamer literarischer Einfall, um die vom Autor beabsichtigte Atmosphäre zu unterstreichen. Die Hauptperson Pop oder Nummer fünf ist ein alter, sachkundiger Arbeiter, der nur noch sechs Monate zu arbeiten hat, bis er seine Rente erhält. Plötzlich soll er an Maschine Nummer neunundzwanzig arbeiten, einer Maschine, die beständig Arbeiter verstümmelt hat. Er wendet sich gegen diese Anweisungen, und sein Vorarbeiter versucht sich für ihn einzusetzen, doch Anweisung ist Anweisung, und 120
dem Leser wird begreiflich gemacht, daß sie in dem Wissen erteilt wurde, daß dadurch der alte Mann seine Rente verlieren wird. Dieser Verlust bedeutet ein verkrüppeltes Alter in Armut und Unglück. Diese Anweisung hinterläßt in Pops Schädel eine Lektion in kapitalistischer Ökonomie, und er begreift, daß er wie von einer Maschine tropfendes nutzloses Schmieröl weggewischt werden soll. Er begeht Selbstmord, um dieser letzten Erniedrigung zu entgehen und um seiner alternden Frau die Versicherungssumme zu sichern. Der Geschäftsführer in der Fabrik bedauert, doch Anweisungen sind Anweisungen, die Produktionskosten müssen niedrig gehalten werden, Pläne müssen erfüllt werden, und wenigstens ist der alte Mann jetzt statt für den Geschäftsführer ein Problem für das städtische Leichenschauhaus. Ein neuer Mann wird an Maschine neunundzwanzig gestellt, und wahrscheinlich wird er genauso verkrüppelt werden wie seine Vorgänger. Die Geschichte wird auf impressionistische Weise erzählt, und während diese Methode gewöhnlich von schwacher künstlerischer Wirkung ist, wird sie hier mit höchster Brillianz gehandhabt. Unter Überschriften, die die Tageszeit verzeichnen, werden die Ereignisse in enthüllendem Dialog mit nur wenigen knappen, doch treffenden Beschreibungen holzschnittartig wiedergegeben, so daß sich in der Geschichte kaum ein überflüssiges Wort befindet. Und die sozialen Implikationen offenbaren sich anhand der Lebensbedingungen, so daß sie uns als unvermeidliche Macht der Ereignisse, nicht umgekehrt, erscheinen. . In der erst kürzlich entstandenen, bei Scribner verlegten Geschichte Kneel to the Rising Sun (Bei Sonnenaufgang)160 bewegt sich Erskine Caldwell auf neuen Bahnen. In den küstlerisch wirksamsten seiner früheren Geschichten war es ihm gelungen, uns die Gefühle, besonderen Neigungen, die burleske und grausame Tragödie in den Schicksalen des von ihm beschriebenen Milieus nahezubringen. In dieser Geschichte behandelt er ein soziales Problem mit Begriffen und Schicksalen ähnlicher Figuren. Kurz, es geht um das Problem der Teilpächter in ihrer Beziehung zu ihren Ausbeutern und dem gesellschaftlichen System, dessen Bestandteil sie sowohl wie ihre Ausbeuter sind. Die Hauptfiguren sind Clem, ein schwarzer Teilpächter mit Willenskraft, Mut und unabhängigem Sinn, Lonnie, ein weißer Teilpächter, der durch Armut in einen Zustand der Verworfenheit gelangt ist, und der durch Unterwerfung unter die Gefühle, wie sie in der Ideologie seiner Ausbeuter ihren Ausdruck finden, ein Feigling geworden ist. Ihr gemeinsamer Pachtherr ist Arch, eine weitere Erskine-Caldwell-Gestalt, deren Absonderlichkeit oder Hobby es ist, Hunden die Schwänze abzuschneiden und sie in einer großen Truhe aufzubewahren. Arch wartet bereits seit Jahren auf eine Gelegenheit, um Clem, der ein „böser Nigger" ist, „eins auszuwischen". Arch hält seine Teilpächter auf bebeständiger Hungerration. Von Hunger getrieben, geht Lonnies blinder Vater nachts los, um sich etwas zu essen zu suchen, fallt in den Schweinetrog und wird von den Schweinen getötet. Clem hilft Lonnie den Vater suchen, und nachdem die Leiche gefunden ist, weckt Lonnie Arch, weil Clem darauf besteht. Es entsteht daraufhin ein Streit zwischen Arch und Clem, mit Lonnie als zitterndem Zuschauer. Clem verteidigt sich, als er angegriffen wird, und diese Verteidigung ist 121
Archs Gelegenheit. Er eilt davon, um einen Lynchmob zusammenzurufen. Clem erklärt Lonnie, daß er, wenn Lonnie ihm hilft, flüchten kann. Lonnie kann sich nicht entschließen. Als die lynchwütige Menge eintrifft, verrät Lonnie seinen potentiellen Kameraden, und die Menge schießt dem Neger sadistisch eine Bleiladung nach der anderen in den Leib. Die Konturen der Geschichte sind deutlich. Hätte Lonnie Clem geholfen, wäre der letztere nicht ermordet worden. Die Implikation ist genauso deutlich: die Einheit schwarzer und weißer Teilpächter in der Selbstverteidigung gegen das sie beide ausbeutende System. Und wie in Louis Mamets Geschichte werden die Ereignisse entrollt, ohne menschliche Maßstäbe und betroffene Personen zu opfern, so daß die Überzeugung in der Geschichte innerlich und daher künstlerisch wirksam, und nicht äußerlich ist. Die einzige Kritik, die ich anbringen möchte, gilt, so glaube ich, auch für verschiedene andere Arbeiten Caldwells. Das Element des Schreckens erscheint überzogen. So ist der Tod des blinden Vaters äußerst gräßlich und führt dazu, die Wirkung des zweiten und wichtigeren schrecklichen Ereignisses in der Geschichte, Clems Ermordung, zu mindern. Es ist zumindest meine eigene Voreingenommenheit, daß es dem Autor hier möglich gewesen wäre, den ersten gräßlichen Tod für eine zweite Geschichte aufzusparen, den Streit zwischen Clem und Arch wegen anderer Ursachen zu bewerkstelligen und die Hauptwirkung so für den Lynchmord an Clem aufzusparen. Doch selbst angesichts dieser Kritik halte ich Kneel to the Rising Sun für eine der künstlerisch wirksamsten und befriedigendsten Erzählungen Erskine Caldwells. Obwohl Ben Fields Erzählung Cow vor fast vier Jahren in Hound and Horn161 erschien, ist sie noch immer in Erinnerung.. Der Held dieser Geschichte ist ein körperlich kräftiger, geistig beweglicher, arbeitsloser jüdischer Zimmermann, der das spartanische Temperament eines echten Revolutionärs besitzt. Von geradezu ansteckendem Lebenseifer besessen, wird seine Wirkung auf diejenigen, mit denen er als Hilfsarbeiter auf einer Farm arbeitet, am besten durch ein Zitat deutlich: . . . „unser Arbeitskollege des Sommers, der wie eine Bombe in unsere Mitte gekommen und explodiert war, hatte seine Splitter in einige von uns tief, und vielleicht für immer, eingegraben." Verständnis für eine solche Gestalt zu schaffen, für eine so energiegeladene und lebensvolle Gestalt, ist stets eine schwierige Aufgabe; und hier ist sie, glaube ich, Ben Field so sehr gelungen, daß es, als der Held an einem Unfall stirbt, eine wirklich bewegende Tragödie ist. Auch ist die Geschichte äußerst reich an „Obertönen", an treffenden Metaphern, die sich in die Handlung fügen und mit ihr verbinden. Ganz beiläufig erhaschen wir „Oberton" um „Oberton", einen Vergleich, der den Mond „als einen abgebrochenen Daumennagel" beschreibt, Gespräche der Figuren, die eine Einschätzung ihres Lebens, ihrer rauhen, handgreiflichen Philosophie in wenigen schnellen Zeilen zusammenfassen. Wegen dieser Fülle, wegen dieser Leistung des Autors in der Charakterisierungskunst kann Cow als Lehrbeispiel des Schreibens für uns alle dienen. Und die Geschichte ist meines Wissens eine der wenigen Kurzgeschichten, die revolutionäre Gestalten behandeln und nicht unter Michael Golds treffende Bezeichnung „Mitläuferliteratur" passen. 122
Whittaker Chambers in der alten Monatsschrift New Masses 162 abgedruckte Erzählung Can You Hear Their Voices? hat sich in der revolutionären Prosa einen ähnlichen Platz erobert wie Stevedore163 im revolutionären Drama. Chambers Gestalten sind Farmer, die an der Depression und der Dürre leiden, die trostlos auf ihre verdorrten, unfruchtbaren Felder schauen, die ihr Vieh verdursten sehen, die ihre Kleinkinder, weil die Milch fehlt, an der Grenze des Todes schweben sehen, die die Spuren des Hungers in den Wangen ihrer Frauen gewahren. Der Autor will die grundlegenden sozialen Tendenzen und Ursachen dieser Notlage deutlich machen und die wirksame und gemeinsame direkte Aktion schildern, die diese Farmer unternahmen, um zu verhindern, daß sie und ihre Familien wie wurzellose Existenzen eines zusammengebrochenen Wirtschaftssystems sterben. Die Geschichte hat einen Schluß, der an Stevedore erinnert und ist eine anregende und aufwühlende Lektüre. In seiner Bemühung, das Wesen und die Haupttriebkräfte darzustellen, ist Whittaker Chambers jedoch in gewissen Teilen seiner Geschichte, glaube ich, überdeutlich geworden. So gibt es eine kurze Szene, in der geschildert wird, wie die örtlichen Behörden verzweifelt bei einem Senator in Washington anrufen und ihn um Wohlfahrtsunterstützung bitten, um die wachsende Aktion und Rebellion der Farmer aufzuhalten und zu stoppen, und hier ist die Anspielung allzu deutlich. Auch konnte der Autor, um eine gewisse Anzahl thematisch wichtiger Elemente einzubringen, auf dem beschränkten Raum nicht alle im Stoff liegenden Möglichkeiten genügend zu Darstellung bringen. So findet sich mitten in der Handlung ein Hinweis auf den Zusammenbruch der einheimischen Bank, und das hängt als ein Faden in der Luft, der mit der Geschichte nicht fest genug verwebt ist. Dieser kritischen Bemerkungen ungeachtet ist die Geschichte ein lebendiges Stück Prosa und schafft neuerliches Verständnis für die erdrückende Gewalt des Gesellschaftssystems wie für die Bedeutung der Dürre und Depression in den ländlichen Gebieten. Langston Hughes' Home (Heimat) aus dem Bande The Ways of White Folks (Die Art der Weißen)16* ist eine weitere Lynchgeschichte. Sie berichtet von einem sensiblen und begabten jungen Negermusiker, der, an der Schwindsucht leidend, in seine Heimat, eine kleine Stadt in Missouri, zurückkehrt. In Europa hatte man ihn als Mensch behandelt. In seiner Heimatstadt ist er für die weißen Straßenbummler nur ein „hochnäsiger Nigger" von vielen. Er macht die Bekanntschaft einer weißen Lehrerin, und die Musik wird zur einzigen und alleinigen Grundlage der Bekanntschaft. Als er ihr eines Abends auf der Hauptstraße begegnet und sie einen Augenblick über Musik plaudern, greifen die weißen Straßenbummler ihn an. Die Frau schreit wegen des Übergriffs auf. Ihr Schrei kann nur eins bedeuten: Vergewaltigung. Und wenn wir nun lesen, wie dieser sensible junge Mann geschlagen, ausgezogen wird, wie sich sein Mund mit Blut füllt, wie er getötet wird, so begreifen wir, was ein Lynchmord bedeutet. Die Geschichte, ausgestattet mit jener Wärme, jenem Reichtum an Sensibilität, wie sie für Langston Hughes' Arbeiten typisch sind, ist ein gutes Beispiel der im amerikanischen Leben verborgen liegenden Gewalttätigkeiten, der versperrten Möglichkeiten für die talentierten Mitglieder der Rasse des Autors. 123
John Strachey in The Coming Struggle for Power (Der bevorstehende Kampf um die Macht)165 schreibt: „Die Literatur . . . ist ein großes Meer, in das seit Jahrhunderten alle jene Gedanken, Träume, Phantasien, Begriffe, ermittelten Tatsachen einfließen, die in keine der übrigen Kategorien menschlichen Denkens passen. In die Literatur eingegangen sind Ideen, die für die Philosophen zu dürftig sind, Träume, für den bildhaften Ausdruck zu buchstäblich, Tatsachen, für die Wissenschaft zu wenig in Beziehung stehend sowie Gefühle, die mit dem besonderen Beispiel zu eng verbunden waren, als daß sie in den glanzvollen und genauen Abstraktionen der Musik Ausdruck gefunden hätten." Mit anderen Worten, man kann die Literatur als ein Sammelbecken menschlicher Empfindungen und Gefühle bezeichnen. Und es ist als Kritiker unsere Aufgabe, nicht nur in der Kurzgeschichte, sondern in allen literarischen Formen, diesen Stoff anzueignen und als Basis für die Tradition in der revolutionären amerikanischen Literatur zu verwenden, die wir alle fördern und entwickeln wollen.
18 Clarence Hathaway Die revolutionäre Presse und der Schriftsteller Ich grüße diesen Schriftstellerkongreß im Namen der gesamten Redaktion des Daily Worker,166 Seit Beginn der Vorbereitungen Ihres Kongresses hat der Daily Worker den Maßnahmen, wie sie für eine Zusammenkunft der Elite amerikanischer Schriftsteller erforderlich sind, größte Aufmerksamkeit gewidmet. Wir haben das gesamte Ankündigungsmaterial für den Kongreß gebracht sowie zahlreiche Artikel, die ihn, wie auch Maßnahmen, die er zur Förderung des Kampfes gegen Krieg und Faschismus ergreifen sollte, behandeln. 167 Der Daily Worker hat das deshalb getan, weil er sich als Organ der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten bewußt ist, daß wir nicht nur die überwältigende Masse der amerikanischen Arbeiter und Farmer für die revolutionäre Sache gewinnen müssen, sondern daß die Schriftsteller, die Intellektuellen im allgemeinen wie auch die Mittelklasse die aktiven Verbündeten der Arbeiterklasse im Kampf gegen den Kapitalismus werden müssen. Wir haben Ihren Kongreß deshalb unterstützt, weil wir in ihm ein Mittel sahen, den allgemeinen Kampf für sozialen Fortschritt, gegen den — sozialen, ökonomischen und politischen — Rückschritt, der dem heutigen Kapitalismus innewohnt, zu fördern. Des weiteren unterstützte der Daily Worker Ihren Kongreß deshalb, weil wir uns bewußt sind, daß zwischen den Schriftstellern und der revolutionären Presse die engste Verbindung bestehen muß. Es ist für Sie als Schriftsteller nicht möglich, die Strömungen des amerikanischen Lebens, die Kämpfe der überwältigenden Mehrheit des amerikanischen Volkes gegen die gegenwärtigen Bedingungen widerzuspiegeln, wenn Sie nicht die von der revolutionären Arbeiterbewegung her124
John Strachey in The Coming Struggle for Power (Der bevorstehende Kampf um die Macht)165 schreibt: „Die Literatur . . . ist ein großes Meer, in das seit Jahrhunderten alle jene Gedanken, Träume, Phantasien, Begriffe, ermittelten Tatsachen einfließen, die in keine der übrigen Kategorien menschlichen Denkens passen. In die Literatur eingegangen sind Ideen, die für die Philosophen zu dürftig sind, Träume, für den bildhaften Ausdruck zu buchstäblich, Tatsachen, für die Wissenschaft zu wenig in Beziehung stehend sowie Gefühle, die mit dem besonderen Beispiel zu eng verbunden waren, als daß sie in den glanzvollen und genauen Abstraktionen der Musik Ausdruck gefunden hätten." Mit anderen Worten, man kann die Literatur als ein Sammelbecken menschlicher Empfindungen und Gefühle bezeichnen. Und es ist als Kritiker unsere Aufgabe, nicht nur in der Kurzgeschichte, sondern in allen literarischen Formen, diesen Stoff anzueignen und als Basis für die Tradition in der revolutionären amerikanischen Literatur zu verwenden, die wir alle fördern und entwickeln wollen.
18 Clarence Hathaway Die revolutionäre Presse und der Schriftsteller Ich grüße diesen Schriftstellerkongreß im Namen der gesamten Redaktion des Daily Worker,166 Seit Beginn der Vorbereitungen Ihres Kongresses hat der Daily Worker den Maßnahmen, wie sie für eine Zusammenkunft der Elite amerikanischer Schriftsteller erforderlich sind, größte Aufmerksamkeit gewidmet. Wir haben das gesamte Ankündigungsmaterial für den Kongreß gebracht sowie zahlreiche Artikel, die ihn, wie auch Maßnahmen, die er zur Förderung des Kampfes gegen Krieg und Faschismus ergreifen sollte, behandeln. 167 Der Daily Worker hat das deshalb getan, weil er sich als Organ der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten bewußt ist, daß wir nicht nur die überwältigende Masse der amerikanischen Arbeiter und Farmer für die revolutionäre Sache gewinnen müssen, sondern daß die Schriftsteller, die Intellektuellen im allgemeinen wie auch die Mittelklasse die aktiven Verbündeten der Arbeiterklasse im Kampf gegen den Kapitalismus werden müssen. Wir haben Ihren Kongreß deshalb unterstützt, weil wir in ihm ein Mittel sahen, den allgemeinen Kampf für sozialen Fortschritt, gegen den — sozialen, ökonomischen und politischen — Rückschritt, der dem heutigen Kapitalismus innewohnt, zu fördern. Des weiteren unterstützte der Daily Worker Ihren Kongreß deshalb, weil wir uns bewußt sind, daß zwischen den Schriftstellern und der revolutionären Presse die engste Verbindung bestehen muß. Es ist für Sie als Schriftsteller nicht möglich, die Strömungen des amerikanischen Lebens, die Kämpfe der überwältigenden Mehrheit des amerikanischen Volkes gegen die gegenwärtigen Bedingungen widerzuspiegeln, wenn Sie nicht die von der revolutionären Arbeiterbewegung her124
ausgegebenen Tageszeitungen und Zeitschriften aller Art genau verfolgen. Dort werden Sie grundlegendes Material finden, auf dem eine wahre amerikanische Literatur entstehen kann. Die Strategie, die Taktik, die alltäglichen Kämpfe des Volkes gegen kapitalistische Praktiken, gegen den Kapitalismus als ganzes, werden in der Arbeiterpresse, in solchen Organen wie dem Daily Worker, den New Masses und den verschiedenen fremdsprachigen Zeitungen ausführlicher dargestellt als in anderen amerikanischen Zeitschriften. Eine andere Frage ist die, daß die Arbeiterpresse die Zusammenarbeit mit den proletarischen Schriftstellern braucht. Denn Sie vermögen etwas zu unseren Zeitungen beizutragen, das aus keiner anderen Quelle zu schöpfen ist; Sie können mit der Schilderung der Lebensbedingungen der Massen, der Schilderung des von den Massen geführten Kampfes jene Frische, jene Farbigkeit einbringen, die auf andere Weise nicht zu erlangen ist. So können Sie dazu beitragen, daß wir uns auf einer breiteren Basis an jene Menschen wenden, die Kämpfer für eine veränderte gesellschaftliche Ordnung sind. Diese Verbindung zwischen den Schriftstellern und der Arbeiterpresse erwächst aus der grundsätzlichen Verbindung, die zwischen Schriftstellern und der Arbeiterbewegung geschaffen werden muß. Es muß anerkannt werden, daß die Arbeiterklasse im Kampf gegen jede Form des Rückschritts äußerst kühn und unnachgiebig ist; daß sie an der vordersten Linie des Kampfes gegen Faschismus und Krieg steht. Gerade wegen ihrer Klassenposition, gerade weil sie mehr als jede andere Klasse unterdrückt wird, weil sie in den Fabriken in dem täglichen Kampf gegen die Unternehmer am besten organisiert und diszipliniert ist, steht die Arbeiterklasse in der vordersten Front des Kampfes gegen den Kapitalismus, des Kampfes für den Fortschritt. Doch um in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus, um in ihren Anstrengungen, die faschistische Reaktion abzuwehren, um in ihren Anstrengungen, den Ausbruch eines neuen imperialistischen Mordens zu verhindern, erfolgreich zu sein, braucht die Arbeiterklasse die Zusammenarbeit mit den Schriftstellern. Wenn die Arbeiterklasse in vorderster Linie steht, wenn sie von der Kommunistischen Partei und der kommunistischen Presse angeleitet wird, wenn die Farmer und die Mittelklasse sich um die Interessen der Arbeiter scharen, so gibt es in den Vereinigten Staaten keine Kraft, die den Machtantritt der Arbeiterklasse verhindern kann. Das bedeutet die Einleitung eines gesellschaftlichen Wandels, der allen Menschen eben jene Möglichkeit des Fortschritts sichert, die zu bieten der Kapitalismus schon lange seine Unfähigkeit bewiesen hat. Wir möchten es einem jeden von Ihnen nahelegen, bei der Ausübung seiner Arbeit, beim Schreiben, stets genau unsere Presse zu verfolgen, und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt, aus ihr jene Dinge zu erfahren, die für ein Verständnis und die Interpretation der Geschehnisse im amerikanischen Leben wesentlich sind, sondern damit Sie zu Mitarbeitern unserer Presse werden, damit Sie sie zu einer beliebteren Presse machen, damit Sie ihre Anziehungskraft für die breite Masse des amerikanischen Volkes vergrößern helfen. In diesem Zusammenhang darf ich 125
feststellen, daß wir bereits Beiträge von einer Zahl namhafter Schriftsteller erhalten haben, die in nicht geringem Maße zur Popularisierung unserer Presse wie zu ihrer wachsenden Verbreitung beigetragen haben. Ihr Beitrag kann sich auf jedes erdenkliche Gebiet Ihrer Tätigkeit beziehen. Wir können Buchrezensionen bringen. Wir können Spalten, Artikelserien, Kurzgeschichten und Schilderungen von Ereignissen, von täglich geschehenden Dingen bringen. Mit all dem würden Sie die hier auf diesem Kongreß von Ihnen vertretene Sache sehr voranzubringen helfen. Also Genossen, abschließend möchte ich sagen: diese Zusammenarbeit zwischen uns ist wesentlich. Unser Erfolg im Kampf gegen die Reaktion erfordert sie. Keiner von uns kann Fortschritte machen — Sie auf dem von Ihnen gewählten Gebiet oder wir im allgemeinen Kampf gegen den Kapitalismus —, wenn es nicht zu einem bewußten Bündnis kommt, einem aktiven Bündnis, das seinen Ausdruck tagtäglich findet nicht nur in den Büchern, die Sie schreiben, sondern auch in dem Material, das Sie der revolutionären Arbeiterpresse geben. Wir möchten einem jeden einzelnen von Ihnen nahelegen, bei der Gründung dieser Bewegung mitzuarbeiten, und wir versichern Ihnen, daß unsere Presse Ihren Werken, den Rezensionen und Artikeln über Ihre Bücher eben jene Unterstützung geben wird, die Sie befähigt, eine Massenbasis für ihre Arbeit zu finden. Vereint werden wir die Massen des amerikanischen Volkes für den Kampf gegen Faschismus, gegen Krieg und alles, was der niedergehende Kapitalismus vertritt, gewinnen.
19 Matthew Josephson Die Rolle des Schriftstellers in der Sowjetunion Mir scheint, daß eine Zusammenkunft wie diese, dazu bestimmt, Fragen und Probleme der Zeit in dem Maße zu erörtern, wie sie amerikanische Schriftsteller beeinflussen, dem Beispiel und der Erfahrung Sowjetrußlands zweifellos die größte Aufmerksamkeit widmen muß. Sowjetrußland liefert uns in bestimmtem Maße — den Unterschied von Entwicklung, Klima, Vorgeschichte immer zugestanden — einen Vorgeschmack dessen, wie künftige Gesellschaften aussehen können; es legt uns auf anschauliche Weise nahe, welche künftigen Einrichtungen möglich sind; welche Rolle zum Beispiel Schriftsteller darin spielen werden. Das ist ein umfangreiches und vielschichtiges Thema; meine Kenntnisse sind nur gering: Ich hoffe, andere, Berufenere als ich, werden es viel weiter untersuchen. Ich möchte hier nur in sehr allgemeiner Weise einige Eindrücke ansprechen, die ich während meines Aufenthaltes in Moskau im letzten Jahr 126
feststellen, daß wir bereits Beiträge von einer Zahl namhafter Schriftsteller erhalten haben, die in nicht geringem Maße zur Popularisierung unserer Presse wie zu ihrer wachsenden Verbreitung beigetragen haben. Ihr Beitrag kann sich auf jedes erdenkliche Gebiet Ihrer Tätigkeit beziehen. Wir können Buchrezensionen bringen. Wir können Spalten, Artikelserien, Kurzgeschichten und Schilderungen von Ereignissen, von täglich geschehenden Dingen bringen. Mit all dem würden Sie die hier auf diesem Kongreß von Ihnen vertretene Sache sehr voranzubringen helfen. Also Genossen, abschließend möchte ich sagen: diese Zusammenarbeit zwischen uns ist wesentlich. Unser Erfolg im Kampf gegen die Reaktion erfordert sie. Keiner von uns kann Fortschritte machen — Sie auf dem von Ihnen gewählten Gebiet oder wir im allgemeinen Kampf gegen den Kapitalismus —, wenn es nicht zu einem bewußten Bündnis kommt, einem aktiven Bündnis, das seinen Ausdruck tagtäglich findet nicht nur in den Büchern, die Sie schreiben, sondern auch in dem Material, das Sie der revolutionären Arbeiterpresse geben. Wir möchten einem jeden einzelnen von Ihnen nahelegen, bei der Gründung dieser Bewegung mitzuarbeiten, und wir versichern Ihnen, daß unsere Presse Ihren Werken, den Rezensionen und Artikeln über Ihre Bücher eben jene Unterstützung geben wird, die Sie befähigt, eine Massenbasis für ihre Arbeit zu finden. Vereint werden wir die Massen des amerikanischen Volkes für den Kampf gegen Faschismus, gegen Krieg und alles, was der niedergehende Kapitalismus vertritt, gewinnen.
19 Matthew Josephson Die Rolle des Schriftstellers in der Sowjetunion Mir scheint, daß eine Zusammenkunft wie diese, dazu bestimmt, Fragen und Probleme der Zeit in dem Maße zu erörtern, wie sie amerikanische Schriftsteller beeinflussen, dem Beispiel und der Erfahrung Sowjetrußlands zweifellos die größte Aufmerksamkeit widmen muß. Sowjetrußland liefert uns in bestimmtem Maße — den Unterschied von Entwicklung, Klima, Vorgeschichte immer zugestanden — einen Vorgeschmack dessen, wie künftige Gesellschaften aussehen können; es legt uns auf anschauliche Weise nahe, welche künftigen Einrichtungen möglich sind; welche Rolle zum Beispiel Schriftsteller darin spielen werden. Das ist ein umfangreiches und vielschichtiges Thema; meine Kenntnisse sind nur gering: Ich hoffe, andere, Berufenere als ich, werden es viel weiter untersuchen. Ich möchte hier nur in sehr allgemeiner Weise einige Eindrücke ansprechen, die ich während meines Aufenthaltes in Moskau im letzten Jahr 126
empfing, Eindrücke, die größtenteils auf Gesprächen beruhen, die ich mit zeitgenössischen sowjetischen Schriftstellern führte. Moskau ist heute zu einer Oase der Kultur geworden. Bis vor wenigen Jahren noch pflegte man Paris, zu Recht oder Unrecht, „die Stadt des Lichts" zu nennen. Sucht man diese Stadt heute wieder auf, hat man das unverkennbare Gefühl, daß ein Schleier von Angst, Entmutigung und Erschöpfung darüberhängt. In den faschistischen Ländern, durch die ich voriges Jahr reiste, in Deutschland und Italien, ist man nur wenig versucht, sich aufzuhalten. Dort gibt es niemand, mit dem man sich unterhalten kann; in Italien haben ein Dutzend Jahre Mussolini keine Schriftsteller oder Persönlichkeiten hervorgebracht, die die Aufmerksamkeit der Außenwelt auf sich gezogen hätten. In Deutschland hat man unabhängig Denkende oder Köpfe von internationaler Bedeutung, wie ich sie früher dort angetroffen habe, entweder inhaftiert oder verbannt. Wo waren sie? Viele waren in Moskau. Die russische Metropole sprudelte von einem Leben und einer Aktivität, die ebenso international wie zutiefst russisch sind. So wie die Nazis anscheinend nur atmen können, wenn sie in den Provinzialismus ihrer eigenen Sippe verwickelt sind, so können andere nur glücklich sein, wenn sie an einem internationalen geistigen Austausch Anteil haben; für einige von uns zeigt die Geschichte geradezu eine Tendenz zu einem wachsenden Internationalismus der Ideen, und wir finden daran genauso leidenschaftlich Gefallen wie die Nazis vorgeblich an ihrem Rückfall ins teutonische Urwaldleben ä la Tacitus. In Rußland spürte man, daß die rassische Zugehörigkeit eines Menschen nichts bedeutet, seine Bindung an eine einzige weltweite Sache dagegen alles; Dutzende verschiedener Rassen leben und arbeiten in einer menschenfreundlichen und friedlichen Gemeinschaft zusammen. Das sich daraus ergebende farbige, lebhafte, verheißungsvolle Bild verfehlte nicht, ungewöhnlich anregend auf die dort weilenden Schriftsteller und Künstler zu wirken. Es scheint etwas sehr Bedeutsames zu sein, daß trotz der großen Anstrengungen, die Rußland hinter sich hat, die Hauptstadt des Landes naturgemäß zu einem Ort geworden ist, der im weitesten Sinne des Wortes günstig für das Wachstum der Kultur ist. Darüber hinaus ist diese Hauptstadt von den beiden führenden Gedanken beherrscht, die allein die Zivilisation zu retten vermögen: von dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit und dem Gedanken des Weltfriedens. Die sowjetischen Schriftsteller, denen ich begegnete, waren sich dessen bewußt; sie schienen sowohl äußerst beschäftigt als auch von einem hochgestimmten Optimismus erfüllt. Anderenorts waren mir die Schriftsteller erschöpft, apathisch oder einfach arbeitslos und verarmt vorgekommen; hier aber steckten sie buchstäblich bis zum Hals in Arbeit; alle möglichen Projekte waren im Entstehen; alle möglichen Forderungen wurden an einen jeden gestellt, der Fähigkeit oder Ansehen besaß. Es herrschte eine Art Konjunktur in der Literatur, in der Journalistik, im Theater. Jedoch erschien das nicht verwunderlich und war nicht außergewöhnlicher oder unnatürlicher als die Konjunktur in der Produktion, 127
die die Sowjets zu einer Zeit der Stagnation in der übrigen, der kapitalistischen Welt, geschaffen hatten. Welches nun war die Haltung der sowjetischen Schriftsteller? Wie war ihre Einstellung? Waren es „Künstler in Uniform", 168 wie ihnen so oft in gewissen schlechtinformierten oder übelmeinenden Kreisen vorgeworfen wird? Das ist ein schreckliches Wort, besonders im Munde derjenigen Schriftsteller, die in der Uniform unserer kommerziellen Magazine oder Sonntagsbeilagen oder in der gelben Lakaienuniform der Zeitkungskette eines Mr. Hearst 169 arbeiten. Diese Leute reden, als ob die „reine" Literatur in den Vereinigten Staaten gepflegt und verhätschelt würde. Doch viele der russischen Schriftsteller, die ich besuchte, sprachen mit soviel Stolz und solcher Begeisterung von ihrer Arbeit, einer Arbeit, zumeist mit dem verbunden, was man hierzulande „Propaganda" nennt, daß ich die Berichte der Panikmacher bald vergaß. Die russischen Schriftsteller arbeiten in einer Situation, die von derjenigen, die wir, sagen wir einmal, im kapitalistischen Amerika im 20. Jahrhundert haben, völlig verschieden ist. Sie sind der Ansicht, daß die Schriftsteller, weit davon entfernt, als eine „Klasse für sich" in der Gelehrtenwelt, einer Art inneren Welt, zu leben, unmittelbar mit dem wirtschaftlichen und dem politischen Leben ihrer Gesellschaft verbunden sind. Mit Marx behaupten sie, daß Kunst und Literatur, ja sogar persönliches Genie durchaus Produkte der materiellen Umwelt sind. Nach ihrer Auffassung hätte Passivität in dem Jahre zurückliegenden Bürgerkrieg schlechthin Unterstützung der Angreifer bedeutet. Zahlreiche von ihnen kämpften als Soldaten in der Revolution und im Bürgerkrieg; andere schrieben für Soldatenzeitungen an der Front, widmeten sich sodann mit ihrem Talent dem Klassenkampf wie auch dem Ringen um das neue industrielle Programm, das schließlich den Sozialismus in Rußland begründen wird. Westliche Schriftsteller mögen sich noch immer mit zahllosen Variationen des Themas „wie der Junge das Mädchen kriegt" abplagen ; sie dagegen haben als Thema ihrer Werke das Abenteuer des sozialistischen Aufbaus gewählt. Für die russischen Schriftsteller war der Vormarsch der sozialen Revolution in ihrem Land mit dem größten Abenteuer und einem gewissen modernen Heldentum verbunden. Die Erschließung Sibiriens — ihres Grenzlandes, könnte man sagen —, die Errichtung neuer Industriestädte in den Steppen oder Gebirgen, die Schaffung von Eisenbahnlinien, Fluglinien, selbst einer Nordpassage durch den Arktischen Ozean und schließlich die Epoche machende Revolution auf dem Lande anhand der Maschinen und der Kollektivierung — all das trug zum Charakter des Heldenhaften bei, den das sowjetische Handeln entfaltet. Auch in Amerika, wenn ich den Vergleich mit unserer jüngsten Geschichte anstellen darf, haben wir die industrielle Revolution unseres Landes nach unserem Bürgerkrieg und der Erschließung des weiten Westens gefeiert. Auch wir haben vormals unsere nationalen Feiertage gehabt. Blasorchester präsentiert, Festessen im Freien und Bankette veranstaltet, wenn der Bau von Brücken, Eisenbahnen oder Stahlwerken vollendet war. Doch in unserem Falle beherrsch128
ten Ausbeuter diese öffentlichen Einrichtungen einzig zu dem Zweck des Privatprofits. Allzu oft folgten auf diese Feiertage Skandal und ökonomischer Bankrott. Und es dauerte gar nicht lange, da setzte das ausgebeutete Volk gar keinen Stolz mehr in Mr. Goulds Brücke oder Mr. Vanderbilts'Tunnel. Doch was wäre, wenn all diese Bauwerke von sozialistischen Staatsmännern für das Volk, das sie erbaute und benutzt, geplant und geleitet würden? Wäre es dann für unsere Schriftsteller nicht eine ehrenvolle Aufgabe, sie zu feiern? In Rußland zumindest empfindet der Schriftsteller keinen Widerspruch zwischen seinem Idealismus und dem des Volkes, das das Werk des sozialistischen Aufbaus vollführt. Er empfindet sich als eins mit ihm; seine Stimmung ist eher eine bestätigende und optimistische als eine kritische und destruktive, wie sie es in einem kapitalistischen Land sein würde; er ist eher bemüht, an dem großen Fortschritt teilzuhaben, als sich in eine mystische und abgeschlossene Welt zurückzuziehen, über Rosen und Sonnenuntergänge zu schreiben oder gleich einem Hinduphilosophen Nabelschau zu halten. Jedoch habe ich von einem Verbot der Lilienschönfarberei und Nabelschau in der Literatur nichts gehört. Die Arbeit der russischen Schriftsteller ist dem sozialistischen Programm in verschiedener Weise gewidmet. Da gibt es die umfangreiche Presse, in der Journalisten einen Großteil Reportagen und Berichte gegenwärtiger Ereignisse bringen. Es gibt Teilzeitaufträge, die solche Einrichtungen wie den Geflügeltrust behandeln und popularisieren — das klingt zwar unserer Werbung, unserem Reklamewesen gefährlich ähnlich —, doch wir müssen uns vergegenwärtigen, daß der im zweiten Fünfjahrplan jetzt in Rußland erfolgreich verbreitete Geflügeltrust eine an keinen Profit gebundene Einrichtung ist — vielmehr eine Hoffnung, ein Segen und kein Schwindelunternehmen. Ferner gibt es Betriebsblätter und Wandzeitungen, die für die Fabrikarbeiter und die Brigaden der Kollektivfarmen auf dem Lande herausgegeben werden. Sergej Tretjakow, ein begabter russischer Romancier, Verfasser von Ein chinesisches Testament,170 sprach mit mir ausführlich über diese Art von Arbeit. Er selbst schreibe hauptsächlich über die K o l c h o s e n oder Kollektivfarmen. Überall in diesen Kolchosen sei der Ruf nach Lesbarem aller Art laut geworden. Die russischen Volksmassen erlernten das Lesen und Schreiben in einem Tempo, schneller, als daß die Schriftsteller damit Schritt halten könnten; es gebe nicht genügend Papier, den Bedarf zu decken. Es gebe nicht genügend Autoren. Seltsame Dinge geschehen, wenn die Massen befreit werden. Für Tretjakow war die Kollektivierung der Landwirtschaft Rußlands ein Ereignis, vergleichbar an Bedeutung nur der zwei Jahrhunderte zurückliegenden industriellen Revolution in Westeuropa. „Erstaunliche Dinge geschehen vor unseren Augen", sagte er. „Die Geschichte der Kolchosen allein enthält großartiges Stoffmaterial, das fast unberührt ist." Er und seine Kollegen, so behauptete er, müßten darüber, statt über Märchen schreiben. Sie müßten Tatsachen, nichts als Tatsachen schreiben. Seiner Ansicht nach — er vertrete vielleicht einen extremen Standpunkt — „darf nichts vom Schriftsteller erfunden werden". Die Tatsachen 9
New York 1935/37
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müßten der permanenten, sich vor ihren Augen abspielenden Revolution, die schlicht „werdende Geschichte" ist, entnommen sein. Ein weiteres interessantes Experiment einer Reportage oder Dokumentation, das zur Zeit meines vorjährigen Moskauer Besuches durchgeführt wurde, fand in Verbindung mit der Fertigstellung eines großen Kanals statt. Über zwanzig Monate lang war ein Heer von 100000 Männern und Frauen mit dem Ausheben eines 224 km langen Kanals beschäftigt, der sich von dem an der Ostsee liegenden Leningrad zu einem ganzjährig eisfreien Hafen am Weißen Meer erstreckte. Dieses Projekt schloß einen gewaltigen Kampf mit den Elementen ein; es gab Materialmangel und technische Schwierigkeiten; Hunderte von Menschenleben waren zu beklagen. Doch Sommer und Winter hindurch kämpfte sich dieses Heer seinen Weg voran, bis Ende 1933 die Fertigstellung des Kanals endgültig verkündet wurde — er war vorher ein Geheimnis gewesen —, rechtzeitig noch zur Eröffnung des Kongresses der Allrussischen Sowjets. [ ] Hier war, wie mir einer der russischen Schriftsteller erklärte, der das Vorhaben verfolgt hatte, „eine Romantik der Massen", die ihre unmittelbare Anziehungskraft auf Literaten und Historiker haben müßte. Auf Einladung der Regierung, die einen ganzen Dampfer stellte, war eine Gruppe von 34 Schriftstellern aufgebrochen, um eine Besichtigungsfahrt durch den Kanal zu unternehmen. Den Vorschlag Maxim Gorkis — er leitete das Unternehmen — annehmend, beabsichtigte man, gemeinschaftlich eine Dokumentation, ein literarisches Monument des Belnostroi Kanals zu schreiben. Man studierte die Baulager, interviewte Hunderte von Arbeitern, notierte sich ihre Berichte und Biographien. Eine Vielzahl moralischer wie menschlicher Probleme, neue Aspekte der Sozialpsychologie ergaben sich für sie. Man beschloß, genauso schnell und gut wie die Kanalarbeiter arbeiten zu wollen. Bei ihrer Rückkehr nach Moskau wurde ein Dreierkomitee gewählt, das Thematik und Vorhaben umriß und diese auf einer allgemeinen Sitzung mit den übrigen Schriftstellern beriet. Kapitel oder Abschnitte wurden je nach Wunsch an einzelne vergeben; das Werk wurde sodann individueller Kritik unterworfen, nochmal dem Gesamtgremium vorgelesen, redigiert und schließlich als ein über 500 Seiten umfassendes Buch veröffentlicht, wobei die einzelnen Beiträge anonym blieben.171 Ich führe dieses Beispiel an, um, so wie es auf einen amerikanischen Gast Eindruck macht, einen Begriff oder ein Bild davon zu geben, welche neuartigen Aktivitätsformen von Schriftstellerorganisationen im modernen Rußland unternommen werden. Ich überschätze nicht die Bedeutung solcher Arbeit; sie entspricht eher politischer oder polemischer als schöpferischer Literatur. Auf jeden Fall stellt sie ein Experiment in unmittelbarer Zusammenarbeit mit dem Sozialprogramm des Landes dar. Es gibt natürlich auch höhere literarische Gattungen, mit denen eine Vielzahl russischer Schriftsteller sich befaßt, den Gesellschaftsroman und das Gesellschaftsdrama, wie sie am besten durch das Werk Gorkis vertreten sind. Die literarische 130
Form dieser Werke leitet sich von der Realismustradition des neunzehnten Jahrhunderts her, wobei ihr Hauptcharakterzug jedoch jetzt der entschiedene revolutionäre Inhalt und Standpunkt sind. Der Gesellschaftsroman wird als Mittel der politischen Erziehung betrachtet, der stets die Stärke der Arbeiterklasse aufzeigt und ihren schließlichen Sieg verkündet. Der Wert solcher Werke ist für mich stets daran zu messen, wieweit der Künstler seine Bemühung und sein Anliegen verbirgt. Engels sprach sich vor langer Zeit für eine Tendenzliteratur aus; doch gleichzeitig schien er die alte Maxime, große Kunst verberge sich, voll zu akzeptieren. Ich möchte die Aufmerksamkeit besonders auf eine spätere Entwicklung lenken, die für die zeitgenössische russische Prosa sehr charakteristisch ist. Ich meine den historischen Roman, der von jüngst vergangenen oder sogar von gegenwärtigen Ereignissen handelt. Als ich in Moskau war, beschäftigte sich eine Anzahl von Schriftstellern, denen ich begegnete, intensiv damit, zu untersuchen, ob die Methode Walter Scotts — ohne die mittelalterlichen Kostüme, versteht sich — für die Zwecke der sozialistischen Literatur zu adaptieren sei. Um es kurz zu umreißen: Der historische Roman hat in der Regel unbekannte Gestalten vor einem Hintergrund erkennbarer Geschichtsereignisse, Schlachten, Revolutionen und dergleichen gezeichnet; das sorgfaltig belegte historische Material wurde gewöhnlich in den Text eingebaut, um eine ergänzende, jedoch untergeordnete Rolle zu spielen, zum Konflikt oder zur Handlung, denen das Hauptinteresse des Autors galt. Nun schlagen die Russen, die einen sehr logischen und methodischen Geist besitzen, vor, den historischen Roman, in dem die Geschichte meist aus malerischen oder scheinhaften Gründen verwendet wird, zu übernehmen und der Geschichte die Hauptrolle zuzuweisen. Zahlreiche Erzählungen und Romane über den Bürgerkrieg, wie die Iwanows und Scholochows, veranschaulichen diese Technik. Doch in noch jüngerer Zeit wurde das Experiment unternommen, die Ereignisse des beinahe vorvorigen Abends, die gewöhnlich als Gegenstand eines Leitartikels dienen, aufzugreifen und sie zum Thema historischer Romane zu machen. So hatte ein junger Mann, den ich traf, gerade einen Roman über die Entwicklung der großen Baumwollplantagen in einer südlichen Provinz Rußlands beendet; in einem anderen Fall hatte eine Schriftstellerin mit großem Erfolg einen Roman über den Bau eines zu Beginn des ersten Fünfjahrplanes errichteten Wasserkraftwerkes in Russisch-Armenien veröffentlicht; Scholochow hat in einem zweiten Roman Neuland unterm Pflug172 den Kampf um die Gründung von Kolchosen unter den wilden Kosaken des Dongebiets geschildert. In einem Moskauer Theater hat man ein auf dem gleichen Stoff aufbauendes Stück, dessen Sujet der tatsächlichen Chronik eines Kosakendorfes entnommen und von einer ganzen Gruppe von Autoren und Regisseuren produziert wurde, mit großem künstlerischen Erfolg aufgeführt; ein weiteres Stück hatte einen Betrieb zum Helden. Indem ich diese Versuche und Experimente beobachtete, hatte ich insgesamt das Gefühl, Zeuge einer Periode des Probierens und Irrens in der russischen revolutionären Literatur zu sein. Freilich packte man diese Literatur mit einer 9'
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Energie, Begeisterung und oft technischen Erfindungskraft an, wie sie Schriftsteller in keinem anderen Land bewiesen; der allgemeine Eindruck war der von ungeheurem Interesse und von Mannigfaltigkeit. Doch die Ergebnisse waren nicht durchweg erfolgreich. Einige der Stücke, die ich mit Dolmetschern sah, oder der Romane, die ich in Übersetzung las, blieben den geschilderten Ereignissen allzu eng verhaftet, erschöpfen sich in allzu deutlicher Reportage; der Standpunkt der Autoren, ihre allzu offensichtlichen Pietätsgefühle gerieten mit der Illusion der Wirklichkeit manchmal in Konflikt. Diese Schwächen lagen bisweilen allzu offen auf der Hand, und die amerikanischen Schriftsteller, die eine revolutionäre Literatur schaffen wollen, müssen sie studieren und vermeiden. Des weiteren ist zu beachten, daß die Probleme der revolutionären Literatur für die amerikanischen Schriftsteller keineswegs dieselben sind wie für die Russen. Dort hat man die Klassenrevolution gewonnen und ist mit der Verteidigung der neuen Ordnung beschäftigt. Hierzulande ist ein Gutteil Unterminierungs- und Zerstörungsarbeit noch zu leisten. Hierzulande besteht beispielsweise ein Bedürfnis nach so starker Satire, wie sie die Russen vor dem Oktober 1917 gebrauchten. Ich denke, daß ein ehrlicher Schriftsteller, ein Schriftsteller, der im Innersten kein Konservativer oder Kapitalist ist, seinen Stoff nicht mehr angehen kann, ohne unmittelbar und zutiefst von den revolutionären Notwendigkeiten und Hoffnungen, kurz, von der marxistischen Auffassung vom Wesen der Gesellschaft und den ihr innewohnenden Konflikten beeinflußt zu sein. Doch diese Methode zu besitzen, löst keineswegs das Problem der Schaffung einer Literatur von bleibendem Wert; sie sichert niemand Vortrefflichkeit auf diesem Gebiet zu. Auch sollte sie uns nicht die Augen vor Fehlern verschließen, vor Unreife und Trägheit, die heute in Marxens Namen verkündet werden, wie sie früher im Namen anderer Philosophien verkündet wurden. Es muß ein handwerkliches Können geben, wie es ein ideologisches Können geben muß; sonst mögen die Absichten löblich sein, doch die Ergebnisse bleiben für die fragliche Sache gleichgültig. Abschließend möchte ich sagen, daß eine der Hauptlehren, die wir der Erfahrung der heutigen Sowjetschriftsteller verdanken, sich hauptsächlich auf ihren kühnen neuartigen Versuch bezieht, direkt mit dem politisch-industriellen Programm der Arbeiterklasse zusammenzuarbeiten. Das hat ihnen das Bewußtsein verliehen, an den großen Bewegungen der Zeit teilzuhaben, ein Bewußtsein, das die Mehrzahl der Schriftsteller in den kapitalistischen Ländern gar nicht kennt. Sie nehmen an den Dingen teil, indem sie ihr Handwerk in ein Instrument der Revolution verwandeln. Ihre Beteiligung und Einflußnahme geschieht auch formell als Mitglieder eines großen Schriftstellerverbandes, als Mitglieder der Kooperativkomitees innerhalb dieses Verbandes und vermittels der Beratungen ihres Jahreskongresses, der von bedeutsamer, inoffizieller Wirkung auf die öffentliche Meinung ist. Eine weitere bedeutende Lehre ist die, daß eine Revolution der Arbeiterklasse Lernen, Lesen und fast jede kulturelle Tätigkeit in einem Maße stimuliert, das nur 132
wenigen von uns bisher vorstellbar war, und das keiner der Verteidiger des Kapitalismus bis jetzt einzugestehen bereit ist. Dieses erstaunliche Ergebnis eines breiten Interesses an der Kunst wie einer breiten künstlerischen Praxis weist unmißverständlich auf die Vorbedingung hin, die in der Vergangenheit stets zur Blüte einer großen Kultur geführt hat. Das heftige Bedürfnis der russischen Massen nach Zeitungen, Zeitschriften, Büchern aller Art und Sprachen hat eine einmalige Situation entstehen lassen. Die Schriftsteller wenden sich an ein riesenhaftes Publikum; der Staatsverlag vertreibt billige Auflagen von sechs und mehr Millionen zu buchstäblich einigen Pfennigen pro Exemplar; und infolgedessen erfreuen sich Schriftsteller, die auf der Grundlage von Tantiemen bezahlt werden, einer besonders günstigen Lage. Die Sicherheit, der Wohlstand, den ich bei russischen Schriftstellern bemerkte, steht in deutlichem Gegensatz zu den Bedingungen der Schriftsteller in meinem Lande, wo es nur wenigen gelingt, ein mageres Auskommen zu haben und zu den minderbezahlten Arbeitern der Gesellschaft zu gehören, während die Mehrzahl noch immer in ihren Dachkammern buchstäblich hungert. Es scheint mir also nur eine Lösung zu geben: Es muß, bevor wir den Status des Arbeiters auf dem Gebiet der Literatur anheben können, eine soziale Revolution stattfinden. Dann wird die Literatur, nicht länger abhängig vom zufalligen Ehrgeiz kapitalistischer Philanthropen oder von den Launen und dem Geschmack der Unternehmer, eine breite Unterstützung in den Volksmassen, ihrem Staat, ihren Institutionen finden.
20 Eugen Clay Der Neger in der jüngeren amerikanischen Literatur Trotz der in Amerika stattfindenden ständig tiefer greifenden Wandlungen ist die Mehrzahl der farbigen Intellektuellen gegenüber der wachsenden Linksbewegung im amerikanischen Denken gleichgültig geblieben. Die meisten haben weiterhin unverzagt versucht, ihre individuellen Probleme im Rahmen des Kapitalismus zu lösen. Sie sind überdies außerstande gewesen, die wahre Tradition des Negervolkes zu begreifen. Sie scheinen nicht imstande zu sein, die Traditionen der Rebellion ihres eigenen Volkes zu sehen. Vor 1860, als die große Mehrheit der Neger an eine feudale Landwirtschaft gebundene Knechte und Sklaven waren, gab es Hunderte von Erhebungen. Durch die einheitlichen materiellen Bedingungen der Plantagenwirtschaft des Südens nahmen die Emotionen und Bestrebungen der Sklaven eine wachsende nationale Einheit an. In der Periode der Wiedereingliederung 173 der Südstaaten kämpfte die schwarze Bauernschaft für die Aufteilung des Landes der 133
wenigen von uns bisher vorstellbar war, und das keiner der Verteidiger des Kapitalismus bis jetzt einzugestehen bereit ist. Dieses erstaunliche Ergebnis eines breiten Interesses an der Kunst wie einer breiten künstlerischen Praxis weist unmißverständlich auf die Vorbedingung hin, die in der Vergangenheit stets zur Blüte einer großen Kultur geführt hat. Das heftige Bedürfnis der russischen Massen nach Zeitungen, Zeitschriften, Büchern aller Art und Sprachen hat eine einmalige Situation entstehen lassen. Die Schriftsteller wenden sich an ein riesenhaftes Publikum; der Staatsverlag vertreibt billige Auflagen von sechs und mehr Millionen zu buchstäblich einigen Pfennigen pro Exemplar; und infolgedessen erfreuen sich Schriftsteller, die auf der Grundlage von Tantiemen bezahlt werden, einer besonders günstigen Lage. Die Sicherheit, der Wohlstand, den ich bei russischen Schriftstellern bemerkte, steht in deutlichem Gegensatz zu den Bedingungen der Schriftsteller in meinem Lande, wo es nur wenigen gelingt, ein mageres Auskommen zu haben und zu den minderbezahlten Arbeitern der Gesellschaft zu gehören, während die Mehrzahl noch immer in ihren Dachkammern buchstäblich hungert. Es scheint mir also nur eine Lösung zu geben: Es muß, bevor wir den Status des Arbeiters auf dem Gebiet der Literatur anheben können, eine soziale Revolution stattfinden. Dann wird die Literatur, nicht länger abhängig vom zufalligen Ehrgeiz kapitalistischer Philanthropen oder von den Launen und dem Geschmack der Unternehmer, eine breite Unterstützung in den Volksmassen, ihrem Staat, ihren Institutionen finden.
20 Eugen Clay Der Neger in der jüngeren amerikanischen Literatur Trotz der in Amerika stattfindenden ständig tiefer greifenden Wandlungen ist die Mehrzahl der farbigen Intellektuellen gegenüber der wachsenden Linksbewegung im amerikanischen Denken gleichgültig geblieben. Die meisten haben weiterhin unverzagt versucht, ihre individuellen Probleme im Rahmen des Kapitalismus zu lösen. Sie sind überdies außerstande gewesen, die wahre Tradition des Negervolkes zu begreifen. Sie scheinen nicht imstande zu sein, die Traditionen der Rebellion ihres eigenen Volkes zu sehen. Vor 1860, als die große Mehrheit der Neger an eine feudale Landwirtschaft gebundene Knechte und Sklaven waren, gab es Hunderte von Erhebungen. Durch die einheitlichen materiellen Bedingungen der Plantagenwirtschaft des Südens nahmen die Emotionen und Bestrebungen der Sklaven eine wachsende nationale Einheit an. In der Periode der Wiedereingliederung 173 der Südstaaten kämpfte die schwarze Bauernschaft für die Aufteilung des Landes der 133
Plantagenbesitzer, mit dem einzigen Erfolg, daß sie wieder in ihre alte Knechtschaft zurückgeworfen wurde. Dies sind Traditionen, die der Neger vergessen hat. Dies sind die in den Massenkunstformen reflektierten Traditionen, die der Aneignung und Weiterführung bedürfen. Der schwarze Intellektuelle kennt weder diese Tradition noch hat er von der irreführenden Rolle, die Booker T. Washington und Dr. Du Bois spielten, einen Begriff. Er sieht nicht den Klassencharakter der literarischen Laufbahn so begabter Schriftsteller wie Charles Chesnutt und Paul Laurence Dunbar. In der Periode nach dem Weltkrieg, zu einer Zeit, als sich europäische Länder am Rande proletarischer Erhebungen bewegten, wußten diese Intellektuellen nichts vom sozialen und politischen Charakter der sie umgebenden Ereignisse. Während das Negervolk diskriminiert und gelyncht wurde, handelten die Intellektuellen dieses Volkes, als sähen sie die Not nicht, und protestierten nicht dagegen. Um diese Zeit wurde der Neger „entdeckt", begann die „Harlemtradition". Die soziale Basis für diese Entdeckung ist nicht schwer zu finden. Die amerikanische Bourgeoisie hatte bei der Neuverteilung von Raub und Gewinn großen Wohlstand erworben. Sie verlangte neue Vergnügungen und neue Sensationen. In New York begann sie den „neuen Neger" zu umschmeicheln und als Berühmtheit zu behandeln. Diese „neuen Neger" brüsteten sich mit der Tatsache, daß sie genauso gut schauspielern, singen, malen und Schriftstellern konnten wie ihre weißhäutigen Gönner. Sie waren am Ziel. Als die Krise kam, hätten die schwarzen Intellektuellen unter den ersten sein müssen, die aus der Lethargie erwachten, die das Land erfaßt hatte. Viele von ihnen hatten die Verbindung mit ihrer Klasse verloren und waren verarmt; viele waren gezwungen, ihr Studium zu unterbrechen, weil „Investitionen geringe Einnahmen einbrachten"; Universitätsstellungen waren Einsparungen zum Opfer gefallen. Doch jetzt müssen sie die ihren sozialen Status bestimmenden Kräfte erkennen, so wie sie mit den neuen Belastungen für den elenden Lebensstandard des Negervolkes und der neuen Welle des gegen sie entfesselten Terrors konfrontiert werden. Sie müssen erkennen, daß sämtliche „Negerprobleme" ihre Wurzeln tief im ökonomischen System der Vereinigten Staaten, in der Fortdauer des alten Sklavensystems im Schwarzen Gürtel, in der Unterdrückung des Negervolkes als einer nationalen Minderheit wie im Grundcharakter kapitalistischer Ausbeutung der arbeitenden Massen haben. Dann werden sie die Gründe für die Rassendiskriminierung und Lynchjustiz verstehen, dann werden sie begreifen, daß die Rettung für den schwarzen Intellektuellen in seiner Identifizierung mit der Bewegung der revolutionären Arbeiterklasse der ganzen Welt liegt. Angesichts der sich vertiefenden Krise und der stürmischen Linksentwicklung bekanntester amerikanischer Schriftsteller können die farbigen Schriftsteller nicht länger passiv bleiben. Sie müssen sich entscheiden. Zumindest einige von ihnen beginnen zu begreifen, daß ihr Werk nur in einer neuen Gesellschaft sowohl für sie selbst wie für die Menschheit von Wert sein wird. 134
Das bemerkenswerteste Beispiel eines Künstlers, der den entscheidenden Schritt nach links getan hat, ist Langston Hughes. In seinem Sammelband von Erzählungen Ways of White Folks (Die Art der weißen Leute) gibt es entschiedene Vorstöße in eine revolutionäre Perspektive. Hughes ist dem rückschrittlichen Weg seiner Kollegen von der „Neuen Neger"-Renaissance nicht gefolgt. Die Werke von 1926 bis 1931 sind Bindeglieder seiner Entwicklung, die nur gelegentliche Rückwärtsbewegungen wie Dream Keeper (Traumwärter) und Popo and Fifina enthält. 174 In seinem Werk zeichnet sich jetzt eine gegen die bürgerliche Intelligenz gerichtete Perspektive ab. Man darf vorausschauend sagen, daß Hughes weiter nach links gehen wird als Countee Cullen, Claude McKay, Rudolph Fisher oder Wallace Thurman. Die vierzehn Geschichten des Bandes Ways of White Folks sind nicht alle in realistischer Weise antibürgerlich oder revolutionär. Sie zeigen nicht die Klarheit der besten Geschichten dieses Bandes, Father and Son (Vater und Sohn), Cora Unashamed (Unerschrockene Cora). Viele der Geschichten erschienen vorher in beliebten Zeitschriften und wurden von bürgerlichen Kritikern gerühmt, weil ihre Schmähungen der Gewohnheiten schwarzer Bourgeois falsch interpretiert wurden. Wenn diese Geschichten verletzen, so sollen sie es. Das ist einer ihrer Zwecke. Wenn sie der schwarzen wie der weißen Bourgeoisie in gleicher Weise sagen, daß die Gründe für ein NichtZustandekommen echter kultureller Beziehungen zwischen ihnen soziale und ökonomische Gründe sind, um so besser. Als ein wirksamer Schlag gegen die Pseudoannäherung von Schwarz und Weiß in ihren künstleririschen Beziehungen sind viele dieser Geschichten unübertroffen. Sie sind noch wirksamer, wenn sie den dünnen Schleier der gönnerhaften Menschenliebe hinwegziehen. Es gelingt ihnen auch, so ehrwürdige Klischees zu vernichten wie der „Neger als ein treuer Diener" und der „zufriedene Neger", solche Lügen wie „die Stimme des Blutes", „der Neger fürchtet seinen weißen Arbeitskollegen", „der Neger ist von Geburt aus glücklich", und „die Rettung (für den Weißen) kommt durch die Negerkunst." Das ist nützliche Arbeit und muß von schwarzen wie weißen Schriftstellern gleichermaßen geleistet werden. Warum wählte er gerade die von ihm dargestellten Figuren und keine Arbeiter? Die einzige gültige Antwort darauf ist, er wählte die Charaktere, die er am besten kannte. Hughes muß nach seiner Beziehung zu seinem Werk beurteilt werden, nach Maßgabe dessen, was er als Schriftsteller zum Ausdruck bringen will. Wir können zwar auf die Dinge, die er nicht zum Ausdruck bringt, hinweisen, doch nur im Zusammenhang mit dem von uns untersuchten Werk. Mit anderen Worten, wir müssen Werk und Schriftsteller gleichzeitig beurteilen. Solange wie Hughes' Technik und künstlerische Zielsetzung eine Aufwärtsentwicklung verzeichnen, können wir hoffen, sein Werk gedeihen zu sehen. In Father and Son, einer der fesselndsten Geschichten des Bandes, bezeugt der Schriftsteller seinen Glauben an die Gewißheit, daß die Einheit weißer und schwarzer Arbeiter die einzige Kraft sein wird, die den amerikanischen Kapitalismus zerschlagen wird. „Schmelztiegel des Südens — finde nur das rechte Pulver 135
und du wirst nicht wieder zu erkennen sein: Die Baumwolle wird flammen, die Hütten werden brennen, die Ketten werden zerbrochen werden, und die Menschen werden sich plötzlich die Hände reichen — Schwarze und Weiße, so wie Stahl klirrt gegen Stahl." Die meisten Gedichte von Hughes zeichnen sich durch ihren Stil und ihre Technik aus. Bisweilen wird die für seine früheren Werke bezeichnende Plattheit deutlich. Oft findet sich, wenn er revolutionäre Themen behandelt, ein Ton erzwungener Effektbemühtheit, wie in diesem Gedicht das in New Masses115 erschien • Revolution Großer Mob, nichts fürchtend mehr, Tritt her! Zum Schlag heb an Gegen diesen Mann Aus Eisen, Stahl und Gold Der Wucher treibt Mit dir, Mit mir Seit tausend Jahr. Tritt her, Großer Mob, nichts fürchtend mehr, Reiß ab ihm Glied um Glied, Schneid ihm die goldne Kehle durch Von Ohr zu Ohr, Und ende dieses Jahr, Ende jetzt Seine Ewigkeit, Großer Mob, nichts fürchtend mehr. Letter to The Academy (Brief an die Akademie), ein in Nummer fünf der International Literature176 erschienenes Gedicht, zählt zu den besten, die Hughes je geschrieben hat: Aber bitte — meine bärtigen Herren, die Ihr so klug und so alt seid und besser schreibt als wir und deren Seele (trotz Hunger und Kriegen und Verbrechen in Eurer Nähe) frohlockt und deren Bücher sich in Ruhe und Schönheit fern vom Getümmel zu den Bibliotheksregalen und Schreibpulten der Studenten erhoben haben und nun Klassiker sind — treten Sie vor und sprechen Sie Über das Thema der Revolution. Uns interessiert, was zum Teufel Sie zu sagen haben! 136
Die Dichtung Sterling Browns ist in zunehmendem Maße realistischer und proletarischer geworden. Nicht nur, daß die Handhabung des Stoffes geschickter geworden ist, sondern seine Ironie ist schärfer, der revolutionäre Gehalt sicherer, sein Humor olympischer und die Perspektive weiter geworden. Er hat die reineren englischen literarischen Formen nicht wegen ihrer mangelnden Wirksamkeit aufgegeben, sondern weil sein Metrum besser zu dem erdhaften, „anheimelnden" Dialekt seiner Arbeiter, die er so gut kennt, paßt. Er will erst seine Arbeiter, Sträflinge, Straßendirnen, Bischöfe mit einer Deutlichkeit darstellen, die sich zu einem Realismus höchster Art ausweitet, um sodann den Ausweg zu zeigen. Ob das der richtige und der einzige Weg ist, hängt von dem Künstler und seinen Motiven ab. Denn der Künstler hat durchaus recht, wenn er weiß, daß er allzu oft straucheln würde, wenn er darzustellen versucht, was er nicht kennt. Brown ist sich der Nichtigkeiten und barbarischen Sitten der schwarz-weißen Gesellschaft erschreckend bewußt. Er kann das, wenn er die Rolle der „lieben Onkel Toms", der „Prediger und Bischöfe", die kriecherischen, gönnerhaften Weißen entlarvt, in höchst wirksamer Weise deutlich machen. Die folgenden Verse aus Slim Hears the Call177 ist für seine Satire und Ironie kennzeichnend: Herr, Herr, ja, Herr Ich hör den Ruf, Und ich gehorche dir, oh Herr, reg dich nicht auf. Ich mach dir einen Bischof, Da ist alles dran echt, Krieg meinen Kuchen hier Und meine Torte im Himmel. Treff 'nen Kumpel neulich, Kenn ihn gut, Der gerissenste Hund Diesseits der Hölle. Blieb 'ne Weile stehen, Sah, wie er Zaster kassierte Mit 'nem Maß Grips Und 'ner Pulle Schnaps. Bettelte für seine sterbende Schule Bei der Kirchenkonferenz, Nahm neuntausend Dollar ein Und achtzig Cent. Und ich schwöre, so wahr ich Slim Greer heiße, Der Schule hat er glatt Sechzehn Dollar abgegeben. 137
Ich gäbe dir einen Bischof ab, Hätte das Zeug dazu, Bin durch Bücherlesen Nicht verdorben. Ich versteh zwar nichts Vom Heiligen Geist, Doch bin mehr als auf alles andre Auf große Scheine aus. Ich kann 'ne ganze Menge zusammenschwatzen, Wie ihr wißt, Und versteh mich auf Frauen, ¡Sie können's bezeugen. Und ich sag es allen Bischöfen, Die mein Lied hören: Wenn dir die Mütze paßt, Bruder, Setz sie dir auf. Seine größte Errungenschaft war seine wachsende Einsicht in die Möglichkeit der Einheit weißer und schwarzer Arbeiter im Süden. Brown kennt den Süden, kennt seine Sitten, seine „Legenden", seinen Humor, seine Sonderbarkeiten. Er kennt auch den umherstreifenden Wanderarbeiter in Georgia. Er kennt die Grenzen dieses Arbeiters, weiß, wie engherzig er durch die beschränkenden Klassenbeziehungen, wie sie im tiefen Süden existieren, geworden ist. Daß er das klar und deutlich sieht, geht aus dem Gedicht hervor: Schwarzer Arbeiter und weißer Arbeiter „Ist lange her, seit wir zusammen waren, Sam." „Lange — ich weiß gar nicht mehr, wann!" „Klar weißt du das, als wir Bengels warn, Vor langer Zeit —" „Ich weiß nur, wie du mich und meine Brüder Vom Kricketplatz gejagt hast, und weiß nur, Daß, als du uns durch Cottontown bis an den Bahndamm getrieben hast, Wir nicht zusammen kamen." „Die Bosse haben uns dahin gekriegt, wo sie wollten, Sie quetschen uns beide aus und lassen nicht locker. Wir müssen zusammenhalten, wir müssen durch, Oder wir sind verloren, Junge." 138
„Ich hätt es dir schon lange sagen können, Mister Charles, Gemeinheit schickt sich nicht, Wenn wir beide vom Leben Mehr abhaben wollen." „Schlag ein, Sam. Wir sind jetzt Kumpels, Und schlagen uns gemeinsam." „Gut, hier ist meine Hand. Ich hab sie früher nie gegeben, Aus Angst, man risse sie mir ab." „Doch es kommen schwere Zeiten — das ist noch gar nichts, Und in den schweren Zeiten, an die ich mich erinnere, Standen die Weißen gemeinsam auf unseren Schultern Und gaben es uns ordentlich. Darum sag ich dir wie der Ochsenfrosch zum Adler, Als der hoch über den Steinbruch flog: Tu es nicht, tu es nicht, Großer, tu es mir nicht an, Nicht, wenn wir so hoch am Himmel fliegen . . ." Die Dichtung Richard Wrights ist von außergewöhnlicher Qualität. Zwar finden sich einige Mängel, doch sind sie auf seine Jugend, seinen Übereifer zurückzuführen. Seine Arbeiten erscheinen in Left Front, The Anvil, New Masses118 wie anderen linken Organen. Gestatten Sie mir aus einem der Gedichte zu zitieren : Überall, auf riesigen und nichtrauchenden Schornsteinen, auf den Silos verlassener Farmen, auf der rostigen Schneide der Holzfalleraxt, auf den russigen Eisenträgern nicht beendeter Wolkenkratzer sitzt er, der kalte, dichte, feuchte Nebel des Unbehagens . . . Auf den ersten Blick scheint das Gedicht eine verwirrende Vielfalt von Bildern zu enthalten und an Schematismus und Klischees zu leiden. Liest man es erneut, so staunt man über das Fehlen der sonst üblichen Identität von Gegenstand und rassenmäßiger Zugehörigkeit. Ist das wünschenswert? Natürlich, besonders bei einem Gedicht, dessen Thema Arbeiter und nicht nur schwarze Arbeiter sind. Der revolutionäre Dichter braucht sich nicht zu spezialisieren und je so rassistisch zu werden, daß er andere Probleme übersieht. Das zweite Überraschende des Gedichts ist seine Einfachheit, ein Merkmal, das in der gegenwärtigen revolutionären Dichtung sonst auffallend fehlt. Richard Wright ist ein Dichter der sich in kurzer Zeitspanne schnell entwickelt hat. Es ist leicht ersichtlich, daß er, was künstlerische Technik und Bildassoziation betrifft, eine größere Meisterschaft erworben hat. / Haxe Seen Black Hands 139
(Ich sah schwarze Hände . . .) ist eingestandenermaßen eines der besten Gedichte, die in New Masses erschienen sind. Ich bin schwarz und ich habe schwarze Hände Sich neben den weißen Fäusten weißer Arbeiter zur Faust der Rebellion erheben sehen, Und eines Tags — und das ist das einzige, was mich aufrecht hält — Eines Tages werden es Millionen und Abermillionen sein, Eines roten Tages in einer berstenden Woge von Fäusten vor einem neuen Horizont! Mit Come in at the Door (Komm herein zur Tür), einem Roman von William March, einem weißen Bürger aus Mississippi, der auch Company K. schrieb, 179 haben wir einen der besten Romane unserer Generation. Die Bedeutung dieses Romanschriftstellers liegt in seiner radikal veränderten Auffassung der Negergestalt. Freilich nimmt sein gebildeter Mulatte ein tragisches Ende, doch man spürt, daß hier das Klischee des „tragischen Mulatten" nicht fortgeführt, vielmehr ein ehemaliges, wahres Bild eines frustrierten Negers gezeichnet wird, der den ihm wesenseigenen Aberglauben nicht überwinden konnte. Seine Darstellung von Chesters Vater, der mit Chesters Amme Mitty, die ihm sechs Kinder gebiert, in ehelicher Verbindung lebt — sie leben alle zusammen in seinem Haus — ist nicht nur für Süd- wie Nordstaaten gleichermaßen ungewöhnlich, sondern Gegenstand eines Tabus. Solche Dinge mochten zwar vorkommen, doch es ist ein unerbittliches Gesetz des Südens, daß man ihrer nicht Erwähnung tun darf. March hat einen wertvollen Dienst geleistet, was immer auch seine Motive sein mögen. Er hat über eine niedergehende, kranke, vom Wahnsinne befallene und gegen das Unvermeidliche ankämpfende Familie geschrieben, und es gehört Mut zu der Art, in der William March das getan hat. Unifished Cathedral (Der unvollendete Dom)160 ist T. S. Striblings bester Roman. Hier haben wir ein beeindruckendes, leidenschaftsloses, gleichsam erschlagendes Porträt der Südstaaten, gezeichnet von einem Südstaatler, der weiß, worüber er schreibt und keine Angst vor der Wahrheit hat. Das Buch hat nichts Revolutionäres an sich. Striblings Ziele liegen in anderer Richtung. Stribling ist ein emanzipierter Südstaatler, ist ein Autor, der die Dinge mit zwingender Kraft an den Pranger stellt. In seinem Roman findet sich weder das versteckte Mitleid von Carmers Stars Fell on Alabama (Sterne über Alabama)181 noch die volkstümliche Gönnerhaftigkeit Julia Peterkins. Stribling hat sich jedoch um seine nahezu revolutionäre Konzeption der Negerfigur höchst verdient gemacht. Der Roman ist eine erstaunlich direkte Anklage all dessen, was als Tradition der Südstaaten gilt. Er zeigt, wie der Grundstücksboom in Florida, der Scottsboro-Prozeß 182 , der Ku-Klux-Klan und faschistische Organisationen sich zu etwas verflochten haben, das als Symbol für die barbarische Hölle der Südstaaten steht. Er schont keine Gefühle, viele seiner Neger sind so, wie Neger im Süden eben s i n d : militante, gebildete Schwarze, leisetreterische Onkel Toms, kriecherische Diener, unter140
würfige (doch hinter dem Rücken lachende) „Nigger" und die wachgerüttelten Neger, denen Unrecht geschehen ist. Im Verlauf des ganzen Buches, obwohl es oft überzogen und unecht scheint, zeigt Stribling, wie genealogisch verdreht, wie rassenmäßig und biologisch gemischt seine Figuren sind. Er zeigt, wie eng die führenden Aristokraten mit den Jungs verwandt sind, die er als Scottsboro-Boys symbolisch darstellt, und wie diese Blutsverwandtschaft eine der Grundlagen der dem Südstaatler angeborenen Furcht vor dem Neger ist.
21 Joseph North Die Reportage Jedes Zeitalter bringt seine charakteristische Literatur hervor. Das zwanzigste Jahrhundert — Geschichte in Siebenmeilenstiefeln — hat eine Vielzahl von Formen entwickelt, die alle von der Schnellebigkeit der Zeit gekennzeichnet sind. Allerorts sehen wir alte Formen vergehen — allerorts sehen wir neue entstehen. Die Reportage ist eine der neuen Formen; doch sie besitzt bereits eine Geschichte. Sie entstand vorgestern. Egon Erwin Kisch, wohl heute der größte Reporter der Welt, sagte: „Zola hat die moderne Reportage geschaffen", doch Amerika hat unabhängig davon frühe Meister in dieser Kunst entwickelt; Schriftsteller, die den Vergleich mit den besten ihrer europäischen Kollegen nicht zu scheuen brauchen. Frankreich mag seinen Albert Londres, Deutschland seinen Egon Erwin Kisch, die Sowjetunion ihren Tretjakow haben, doch Amerika hat seine Agnes Smedley, seinen Spivak. Der Name John Reed steht für revolutionären Journalismus, für Autorenschaft von Reportagen schlechthin. Die Reportagen John Reeds, Agnes Smedleys, Spivaks entstammten der Tradition eines Stephen Crane, Richard Harding Davis, der Tradition der großen „Schmutzaufwirbler" 183 wie Lincoln Steffens und Ida Tarbell. Diese Tradition hat sich heute zu einer der bedeutendsten literarischen Formen der revolutionären Bewegung entwickelt. Ten Days That Shook the World (Zehn Tage, die die Welt erschütterten)184 ist ein klassisches Beispiel. Diese Art der Berichterstattung, die wir neuerlich „Reportage" nennen, ist mehr als oberflächliche Beobachtung. Sie gibt nicht nur eine Antwort auf die Fragen wer, warum, wann, wo. Das reicht längst nicht aus. Der Reportagenverfasser muß diese Fragen beantworten . . . plus. Das Plus macht den Unterschied. Er darf dem Leser nicht nur berichten, was geschehen ist, er muß dem Leser das Ereignis erleben helfen. Dadurch wird die Reportage bleibende Literatur. Reportage heißt dreidimensional berichten. Der Verfasser verdichtet die Realität nicht nur, er trägt dazu bei, daß der Leser das Geschehen empfindet. Die besten Reporter sind Künstler in des Wortes vollster Bedeutung. Sie leisten die Arbeit, die sonst der politische Leitartikel leistet, durch ihre Bildsprache. 141
würfige (doch hinter dem Rücken lachende) „Nigger" und die wachgerüttelten Neger, denen Unrecht geschehen ist. Im Verlauf des ganzen Buches, obwohl es oft überzogen und unecht scheint, zeigt Stribling, wie genealogisch verdreht, wie rassenmäßig und biologisch gemischt seine Figuren sind. Er zeigt, wie eng die führenden Aristokraten mit den Jungs verwandt sind, die er als Scottsboro-Boys symbolisch darstellt, und wie diese Blutsverwandtschaft eine der Grundlagen der dem Südstaatler angeborenen Furcht vor dem Neger ist.
21 Joseph North Die Reportage Jedes Zeitalter bringt seine charakteristische Literatur hervor. Das zwanzigste Jahrhundert — Geschichte in Siebenmeilenstiefeln — hat eine Vielzahl von Formen entwickelt, die alle von der Schnellebigkeit der Zeit gekennzeichnet sind. Allerorts sehen wir alte Formen vergehen — allerorts sehen wir neue entstehen. Die Reportage ist eine der neuen Formen; doch sie besitzt bereits eine Geschichte. Sie entstand vorgestern. Egon Erwin Kisch, wohl heute der größte Reporter der Welt, sagte: „Zola hat die moderne Reportage geschaffen", doch Amerika hat unabhängig davon frühe Meister in dieser Kunst entwickelt; Schriftsteller, die den Vergleich mit den besten ihrer europäischen Kollegen nicht zu scheuen brauchen. Frankreich mag seinen Albert Londres, Deutschland seinen Egon Erwin Kisch, die Sowjetunion ihren Tretjakow haben, doch Amerika hat seine Agnes Smedley, seinen Spivak. Der Name John Reed steht für revolutionären Journalismus, für Autorenschaft von Reportagen schlechthin. Die Reportagen John Reeds, Agnes Smedleys, Spivaks entstammten der Tradition eines Stephen Crane, Richard Harding Davis, der Tradition der großen „Schmutzaufwirbler" 183 wie Lincoln Steffens und Ida Tarbell. Diese Tradition hat sich heute zu einer der bedeutendsten literarischen Formen der revolutionären Bewegung entwickelt. Ten Days That Shook the World (Zehn Tage, die die Welt erschütterten)184 ist ein klassisches Beispiel. Diese Art der Berichterstattung, die wir neuerlich „Reportage" nennen, ist mehr als oberflächliche Beobachtung. Sie gibt nicht nur eine Antwort auf die Fragen wer, warum, wann, wo. Das reicht längst nicht aus. Der Reportagenverfasser muß diese Fragen beantworten . . . plus. Das Plus macht den Unterschied. Er darf dem Leser nicht nur berichten, was geschehen ist, er muß dem Leser das Ereignis erleben helfen. Dadurch wird die Reportage bleibende Literatur. Reportage heißt dreidimensional berichten. Der Verfasser verdichtet die Realität nicht nur, er trägt dazu bei, daß der Leser das Geschehen empfindet. Die besten Reporter sind Künstler in des Wortes vollster Bedeutung. Sie leisten die Arbeit, die sonst der politische Leitartikel leistet, durch ihre Bildsprache. 141
Um die Tatsache, die Begebenheit in allen ihren offensichtlichen wie verborgenen Aspekten darzustellen, müssen sie die Beziehung dieser Tatsache zu den ihr vorausgehenden wie den ihr nachfolgenden Phänomenen darstellen. Egon Erwin Kischs Berichterstattung über die Börse185 veranschaulicht vielleicht am besten den Unterschied zwischen einem als Hauptnummer aufgemachten Artikel, sagen wir, der World-Telegram und der Reportage eines Kisch. Der Verfasser eines solchen Sensationsartikels wird einen bestimmten aufregenden Tag an der Börse beschreiben, er wird ein Bild der vielen, sich heftig überbietenden Männer zeichnen, wird einige von ihnen beschreiben, wird Teile ihrer Konversation wiedergeben, Lokalkolorit schildern, und schon hat man den Artikel! Kisch am gleichen Ort beschreibt nicht nur das Äußere, die erregte Atmosphäre der Börse. Wenn er seine Arbeit zu Ende gebracht hat, versteht der Leser den innersten Zusammenhang des Kapitalismus. Er beschreibt nicht nur, was er gesehen hat, er beschreibt, was der Beobachter an der Wallstreet gar nicht sehen kann. Kisch schildert die großen und die kleinen Börsenmakler, wie sie in Chicago, Los Angeles, Tokio, Berlin um den Telegraphenapparat sitzen. Man sieht den gesamten Prozeß der Produktion und Akkumulation des Kapitals. Mit anderen Worten: Für den Verfasser der Reportage ist die von ihm beschriebene Tatsache keine tote Sache, sie lebt, sie hat einen Platz auf dieser Erde. Bestimmte Erscheinungen haben sie hervorgebracht, nun bringt sie ihrerseits andere Erscheinungen hervor. Kisch formuliert es sehr treffend: „Das Geschehen ist für den Reporter nur der Kompaß; auf seiner Reise braucht er auch ein Steuer — das der logischen Phantasie." Große Reporter finden sich heute auf beiden Seiten. Wir haben Smedley und Spivak, doch auch Duranty und Knickerbocker sind begabt. Den bürgerlichen Reportern sind jedoch, durch ihre Klassenhaltung bedingt, Grenzen gesetzt. Sie sind pragmatisch, undialektisch. Für den bürgerlichen Reporter ist die Tatsache ein Leichnam. Die revolutionären Reporter haben ihnen gegenüber einen großen Vorteil. Sie wissen, daß es eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft gibt, und sie berücksichtigen die Beziehung, in der das Ereignis zu den es umgebenden Faktoren steht. Smedley, Tretjakow und Kisch sind nicht nur Spiegel, Photograph. Sie haben nicht nur das Auge einer Kamera. Ihr Bericht ist sowohl Analyse wie Erfahrung und gipfelt in einer miteinbegriffenen Handlungsrichtung. Untersuchen wir die besten Reportagen des vergangenen Jahres. Nur wenige von uns können einige der großartigen Szenen in Agnes Smedleys Chinese Destinies (Chinesische Schicksale) oder in China's Red Army Marches (China kämpft)186 vergessen. Das war in der Tat für diese literarische Form ein fruchtbares Jahr: Es beweist genau, wie eine Zeit schneller, gewalttätiger Aktionen, eine revolutionäre Zeit, eine Form wie die Reportage verlangt, um die Tatsachen einer möglichst großen Anzahl von Menschen mitzuteilen. Die von John Spivak verfaßte und in New Masses erschienene Reportagenreihe über den Zustand Amerikas von 1934 war eine bemerkenswerte Leistung: Wildcat Wil142
liams (Williams, die Wildkatze), Silver Shirts Among the Gold (Silberhemden auf Goldgrund) und natürlich der von der vierzehnjährigen Tochter eines Landarbeiters verfaßte Letter to the President (Brief an den Präsidenten). Andere Beispiele der Reportage in der Wochenzeitschrift New Masses waren: Albert Halpers Morning with the Doc (Morgens mit dem Doktor), Meridel Le Sueurs I Was Marching (Demonstration) ; ausgezeichnete Arbeiten, die dem Leser die Erfahrung des Verfassers vermittelten und dennoch die Schilderung eines Ereignisses, einer Episode brachten. 187 Da ist John Dos Passos' In All Countries (An allen Ortenj,189 eine ausgezeichnete Arbeit, eine schnelle Widerspiegelung von Temperament und Wesen eines Landes, durch das er reiste. Studiert man alle diese Arbeiten, um eine bestimmende Ähnlichkeit zu entdekken, so wird man als erstes eine nahezu unbeschränkte Flexibilität dieser Form feststellen. Sie kann die Form einer Charakterskizze annehmen wie in Spivaks Erkundungen unter den Nazis und werdenden Nazis Amerikas. Hier sehen wir, wie der Verfasser das Besondere, Individuelle gewählt hat und durch Entwicklung desselben Merkmale des Allgemeinen hervorbringt. Und das geschieht ohne Leitartikel-Manier. Die Erklärung ist im Bild miteinbegriffen. In der Mehrzahl der Fälle hat Spivak wie Kisch einen Erfahrungsaustausch zwischen Verfasser und Gegenstand beschrieben. Der Verfasser fehlt in seiner Reportage nicht — er benutzt diese Methode zur Dramatisierung seines Stoffes —, man sieht den Verfasser mit seinem Thema ringen, ob es der Organisator der Revolverhelden in Wildcat Williams ist oder der faschistische Organisator in Silver Shirts Among the Gold. In allen diesen Arbeiten ist Spivak der Fragende — ist er Bestandteil seiner Geschichte. In Agnes Smedleys Berichten über China dagegen ist der Verfasser hinter der Geschichte völlig verborgen. Der Stoff wird unterschiedlich gehandhabt, beruht jedoch auf Tatsachen, auf den sich ihr darbietenden Phänomen. Sie hält den Stoff für episch, die Geschichte wird von vierhundert Millionen Menschen gemacht und gestattet keine Einbeziehung des Verfassers in den Bericht. Smedley ist niemals Fragende. Sie beobachtet, wählt aus und zeichnet auf, was auf der riesigen, turbulenten Bühne, die China darstellt, das Wichtigste ist. Wir finden Charakterskizzen und Kurzgeschichten — und all das etwa hat unter die Überschrift Reportage zu fallen. Denn schließlich ist es ein Bericht — die Tatsache, das unmittelbare Geschehen dominiert. Aus einer Studie all dieser Arbeiten ersehen wir, wie die Grenzlinien dauernd verwischt werden. Der Reportagenverfasser mag einmal eine ausgezeichnete Kurzgeschichte erzählen, ein ander Mal einen Charakter mit wenigen, schnellen Strichen umreißen. Wieder bietet sich Egon Erwin Kischs Ausspruch an: „Die Tatsache ist nur der Kompaß des Reporters. Für seine Reise braucht er auch ein Steuer — das der logischen Phantasie." 190 Er mag auf seiner Reise eine Kurzgeschichte schreiben, er mag eine Charakterfigur zeichnen, das Gesamtergebnis seiner Arbeit mag als Roman zu bezeichnen sein — und doch war das nicht das Ziel des Verfassers. Es 143
war sein Ziel, ein besonderes Geschehen in allen seinen verborgenen wie offensichtlichen Erscheinungen vorzuführen. Da diese Epoche Revolution und Krieg entgegeristrebt, brauchen die Massen eine schnelle Antwort auf die vielfältigen, sich täglich ergebenden Fragen. Die Reportage ist deshalb von ständig wachsendem Wert. Das bedeutet selbstredend keine Rivalität zwischen Reportage und, sagen wir, Roman. Beide Formen sind unerläßlich — jede besitzt ihre spezifische Funktion. Ihrer Natur gemäß vermag die Reportage kein vollständiges, abgerundetes Bild eines Milieus, einer Figur zu geben. Die Reportage vermag den Roman nie zu ersetzen. Ihre Beziehung zum Roman ist, sagen wir, die Beziehung der Skizze zum Wandgemälde. Wir brauchen beides; im Grunde helfen die Skizzen des Zeichners ihm (wenn die Revolution ihm die Zeit dazu läßt) das Wandgemälde zu schaffen. Ähnliches gilt für den Verfasser der Reportage. Doch sie ist — so wie die Skizze — an sich bedeutsam, eine wertvolle und wichtige Form in dieser Zeit, da eine Welt täglich auf Fragen, die sich hinter den Schlagzeilen verstecken, Antwort heischt.
22 Moissaye J. Olgin Der erste Allunionskongreß sowjetischer Schriftsteller Einige Zahlenangaben zum ersten sowjetischen Schriftstellerkongreß. Zahl der Delegierten: 597. Davon 377 mit Stimmrecht. Dabei sind nicht mitgerechnet: 40 ausländische Gäste. 96,3% männliche Delegierte; 3,7% weibliche Delegierte. Durchschnittsalter 35,9 Jahre. Durchschnittliche Dauer der schriftstellerischen Tätigkeit 13,2 Jahre. Soziale Herkunft der Delegierten: Arbeiter 27,3 %; Bauern 42,6 %; werktätige Intelligenz 12,9 %; 2,4 % der Delegierten entstammten dem Adel und 1,7% dem Klerus. Parteizugehörigkeit: 52,8% Mitglieder der Allunionskommunistischen Partei; 7,6% Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes; 39,6% Parteilose. Genremäßig: 32,9% Prosa, 19,2% Lyrik, 4,7% Dramatik, 6,4% Prosa und Lyrik, 2% künstlerische Reportage, 1,3% Jugendliteratur, 1,8% Journalismus, 12,7% Literaturkritik, 19% Vermischtes. Nationalitäten: 201 Russen, 113 Juden, 28 Georgier, 25 Ukrainer, 19 Tartaren, 19 Armenier, 17 Weißrussen, 14 Türken, 12 Usbeken, 8 Tadshiken, 6 Deutsche. Einundviersig andere Nationalitäten waren durch einen bis sechs Delegierte vertreten. Die sechsundzwanzig überfüllten Sitzungen dauerten vom 17. August bis zum 1. September. In einem kurzen Überblick eines Ereignisses solchen Ausmaßes ist jeder Versuch, ein angemessenes Bild zu zeichnen, vergeblich. Nicht einmal die Lektüre des stenographischen Protokolls des Kongresses — 718 kleingedruckte, doppelspaltige Folioseiten — würde dieses Bild vermitteln, da die gesellschaftliche Atmo144
war sein Ziel, ein besonderes Geschehen in allen seinen verborgenen wie offensichtlichen Erscheinungen vorzuführen. Da diese Epoche Revolution und Krieg entgegeristrebt, brauchen die Massen eine schnelle Antwort auf die vielfältigen, sich täglich ergebenden Fragen. Die Reportage ist deshalb von ständig wachsendem Wert. Das bedeutet selbstredend keine Rivalität zwischen Reportage und, sagen wir, Roman. Beide Formen sind unerläßlich — jede besitzt ihre spezifische Funktion. Ihrer Natur gemäß vermag die Reportage kein vollständiges, abgerundetes Bild eines Milieus, einer Figur zu geben. Die Reportage vermag den Roman nie zu ersetzen. Ihre Beziehung zum Roman ist, sagen wir, die Beziehung der Skizze zum Wandgemälde. Wir brauchen beides; im Grunde helfen die Skizzen des Zeichners ihm (wenn die Revolution ihm die Zeit dazu läßt) das Wandgemälde zu schaffen. Ähnliches gilt für den Verfasser der Reportage. Doch sie ist — so wie die Skizze — an sich bedeutsam, eine wertvolle und wichtige Form in dieser Zeit, da eine Welt täglich auf Fragen, die sich hinter den Schlagzeilen verstecken, Antwort heischt.
22 Moissaye J. Olgin Der erste Allunionskongreß sowjetischer Schriftsteller Einige Zahlenangaben zum ersten sowjetischen Schriftstellerkongreß. Zahl der Delegierten: 597. Davon 377 mit Stimmrecht. Dabei sind nicht mitgerechnet: 40 ausländische Gäste. 96,3% männliche Delegierte; 3,7% weibliche Delegierte. Durchschnittsalter 35,9 Jahre. Durchschnittliche Dauer der schriftstellerischen Tätigkeit 13,2 Jahre. Soziale Herkunft der Delegierten: Arbeiter 27,3 %; Bauern 42,6 %; werktätige Intelligenz 12,9 %; 2,4 % der Delegierten entstammten dem Adel und 1,7% dem Klerus. Parteizugehörigkeit: 52,8% Mitglieder der Allunionskommunistischen Partei; 7,6% Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes; 39,6% Parteilose. Genremäßig: 32,9% Prosa, 19,2% Lyrik, 4,7% Dramatik, 6,4% Prosa und Lyrik, 2% künstlerische Reportage, 1,3% Jugendliteratur, 1,8% Journalismus, 12,7% Literaturkritik, 19% Vermischtes. Nationalitäten: 201 Russen, 113 Juden, 28 Georgier, 25 Ukrainer, 19 Tartaren, 19 Armenier, 17 Weißrussen, 14 Türken, 12 Usbeken, 8 Tadshiken, 6 Deutsche. Einundviersig andere Nationalitäten waren durch einen bis sechs Delegierte vertreten. Die sechsundzwanzig überfüllten Sitzungen dauerten vom 17. August bis zum 1. September. In einem kurzen Überblick eines Ereignisses solchen Ausmaßes ist jeder Versuch, ein angemessenes Bild zu zeichnen, vergeblich. Nicht einmal die Lektüre des stenographischen Protokolls des Kongresses — 718 kleingedruckte, doppelspaltige Folioseiten — würde dieses Bild vermitteln, da die gesellschaftliche Atmo144
Sphäre, in der der Kongreß lebte und arbeitete, fehlte. Diese Atmosphäre entstand durch das Überwältigefide Interesse, das Millionen von Intellektuellen, die aus der Arbeiterschaft, aus der Kolchosbauernschaft und der Roten Armee stammen, der Literatur überhaupt und den Vorgängen des Kongresses insbesondere entgegenbrachten. Diese Atmosphäre war erfüllt von einem Enthusiasmus, einer Liebe, einer Bewunderung und einem Stolz der Massen für die Leistungen der Sowjetkultur und ihrem Bedürfnis nach einer Literatur hohen Ranges. In den dem Kongreß vorausgehenden Monaten waren die Probleme der Literatur zum Hauptanliegen breitester Schichten der werktätigen Bevölkerung geworden. Literarische Diskussionen in Betrieben und Bergwerken, Dörfern und Kasernen, Universitäten und Maschinen-und-Traktoren-Stationen, Abhandlungen über Literatur in sämtlichen Zeitungen und Zeitschriften, das persönliche Auftreten von Schriftstellern auf Arbeiterversammlungen und das Erscheinen von Arbeiterdelegationen auf Autorenversammlungen bildeten Bestandteile dieser Vorbereitungen. Die Diskussionen, soweit ich das nach persönlichen Eindrücken beurteilen konnte, befaßten sich nicht nur mit allgemeinen Prinzipien, sondern auch mit der Einschätzung einzelner Schriftsteller und einzelner Werke, Betriebsgruppen proletarischer Schriftsteller erhöhten beträchtlich ihre Aktivität. Der Verkauf von Literatur stieg gewaltig an. Besondere Kongreßausgaben alter und neuer Literatur erschienen. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat es eine so lebendige Beziehung zwischen den Schöpfern von Kunst und den Volksmassen gegeben. Der Kongreß fand statt, während buchstäblich Millionen Augen auf ihn gerichtet waren. Die Schriftsteller wußten, daß jedes Wort, das sie sprachen, im ganzen riesigen Land gehört wurde. Sie wußten, daß dasjenige, zu dessen Entstehung sie hier zusammengekommen waren, im ganzen Lande g e b r a u c h t wurde. Das war selbst für die UdSSR neu. Die siegreiche proletarische Revolution, die Dutzende von Millionen früherer Unterdrückter und Ausgebeuteter zum kulturellen Leben erweckt hatte, richtete ihr kollektives Denken auf die Probleme der Kultur. Der Kongreß war eine Kundgebung und ein Beweis des ungeheuren Wachstums der Sowjetkultur im allgemeinen und der Literatur im besonderen. Der Kongreß gab einen Überblick über die nachrevolutionäre Entwicklung der Sowjetliteratur. Gleich nach 1917: ein Boykott der proletarischen Revolution durch die gesamte Schriftstellergilde mit der rühmlichen Ausnahme Gorkis, Serafimowitschs und einer Handvoll anderer — und folglich eine literarische Krise erster Größenordnung, ein fast völliger Mangel an Literatur, wenn man die Imaginisten 191 von 1918 bis 1921 nicht mitzählt, die die Revolution im Grunde verspotteten. Fünf Jahre nach dem Oktober: die ersten Anfange einer neuen Literatur, wobei die Mehrheit der Schriftsteller hinsichtlich der Ergebnisse ziemlich skeptisch war, doch sich von dem Reichtum des anschaulichen Materials, das der neuerschlossene soziale Boden eines Sechstels der Erde bot, begeistert zeigte. Gleichzeitig: nur ein schma10
New York 1935/37
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les Rinnsal echter proletarischer Literatur, das heißt, einer Literatur von Schriftstellern, die die Bedeutung der Revolution begreifen, mit ihren Zielen übereinstimmen und den sozialen Wandel in seinen wahren historischen Perspektiven zu schildern versuchen. Viele Jahre lang bildeten die proletarischen Schriftsteller nur eine kleine Gruppe innerhalb einer großen Schar schöpferischer Talente, die es fertig brachte, die treibenden Kräfte der Revolution einfach nicht wahrzunehmen, und daher ihre außergewöhnlichen Gestaltungskräfte oft eher Trivialitäten als dem Hauptstrom des Lebens widmete. Siebzehn Jahre nach der Revolution haben wir einen wahren Sturzbach schöpferischer Leistung, eine Vielzahl von Werken, zum Teil von hoher Qualität, in denen die Autoren den sozialistischen Aufbau als Ziel der Revolution in der Hauptsache akzeptieren, das Proletariat als Führer der Revolution anerkennen, der Bolschewistischen (Kommunistischen) Partei als Vorhut dessen, was im Lande der Sowjets schöpferisch ist, die Führungsrolle zugestehen und bereitwillig und freudig an der Seite der proletarischen Schriftsteller marschieren, die den Weg gebahnt haben. Der Kongreß bildete den Höhepunkt eines zwischen den Schriftstellern auf der einen Seite und der Kommunistischen Partei und der Sowjetregierung auf der anderen Seite stattfindenden Versöhnungsprozesses, der bereits in den vorhergehenden Jahren im Gange war. Die überwältigenden Erfolge beim sozialistischen Aufbau, vor dem Hintergrund des zerfallenden kapitalistischen Systems in der übrigen Welt gesehen, erleichterten diese Versöhnung. Autoren, die sich vor noch gar nicht so langer Zeit zynisch über den Sozialismus geäußert und über die „Träume" der Kommunistischen Partei gehöhnt hatten, waren durch ihre täglichen Erfahrungen gezwungen, ihren Irrtum einzugestehen. Es war in der Tat schwierig, eine spöttische oder indifferente Haltung zu wahren, in einer Situation, in der sich das Antlitz der Erde in einer fast an ein Wunder grenzenden Weise wandelte, in der neue Menschheitstypen entstanden, in der Unternehmungen von ungeahnter Farbe, Tiefe, Weite, Kühnheit alltäglich wurden. Die Sowjetschriftsteller, zu ihrer Ehre sei es gesagt, beharrten nicht in ihrem Irrtum. Romanciers wie Leonow, Ehrenburg, Pilnjak, Schaginjan, Erzähler wie Wsewolod Iwanow und Seifuliina wie Dutzende anderer machten den sozialistischen Aufbau zu ihrem Hauptthema. Auf der anderen Seite traten die Kommunistische Partei und die Regierung, als sie diesen bedeutsamen Wandel unter den Schriftstellern erkannten, am 23. April 1932 mit einem Gesetz hervor, das den Verband Proletarischer Schriftsteller192 abschaffte. Dieses Gesetz wurde von manchen als ein Rückzug von der vorherigen Position aufgefaßt. Das war es bei weitem nicht. Das Gesetz verkündigte lediglich die Tatsache, daß die überwältigende Mehrheit der Sowjetschriftsteller sich zu dem Weg bekannt hatte, den die proletarischen Schriftsteller der vorhergehenden Epoche gebahnt hatten. Es bestand keinerlei Notwendigkeit mehr, eine besondere Organisation proletarischer Schriftsteller zu einem Zeitpunkt beizubehalten, da fast alle Schriftsteller die Richtigkeit der proletarischen Linie anerkannt hatten. 146
Der Kongreß verlieh dieser Anerkennung den Stempel der Billigung. Der Kongreß bestätigte die Richtigkeit der Linie der Kommunistischen Partei hinsichtlich der Literatur. „Nur der Linie der proletarischen Revolution folgend, ist es in unserer Epoche möglich, große künstlerische Werke zu schaffen", hieß es auf dem Kongreß. Die Hauptthese des Kongresses lautete, daß die Literatur eine gesellschaftliche Funktion habe; daß die Schöpfer der Literatur Bestandteil der großen Front des sozialistischen Aufbaus seien; daß die „Schriftsteller Ingenieure der menschlichen Seele" seien; daß sie den Charakter und den Geist des Menschen formen würden; daß sie, in erster Linie dadurch, daß sie den neuen Menschen schaffen, dazu beitragen müßten, die neue Ordnung zu schaffen. Noch nie ist schöpferisch begabten Schriftstellern eine größere Aufgabe gestellt worden. Die vom Kongreß gebilligte Methode hatte Stalin den s o z i a l i s t i s c h e n Real i s m u s genannt. Er unterscheidet sich von dem Realismus der bürgerlichen Schriftsteller dadurch, daß er nicht nur die „obejktive Realität" widerspiegeln, sondern sie in ihrer revolutionären Entwicklung, die eine Entwicklung zum Sozialismus ist, vorführen soll. „Der sozialistische Realismus", sagt Radek in seinem Referat, „bedeutet nicht nur eine Kenntnis der Realität, wie sie ist, sondern der Realität in ihrer Bewegungsrichtung. Diese Bewegung führt zum Sozialismus, führt zum Sieg des internationalen Proletariats. Und das vom sozialistischen Realismus geschaffene künstlerische Abbild ost ein Bild, das das Ergebnis des Kampfes der Widersprüche zeigt, wie sie der Künstler im Leben gesehen hat und in seinem Werk widerspiegelt." Der sozialistische Realismus, auf den sozialistischen Realismus geschaffene künstlerische Abbild ist ein Bild, das das Ergebnis Handeln, als schöpferische Tätigkeit, deren Ziel die ständige Entwicklung der wertvollsten individuellen Fähigkeiten des Menschen für den Sieg über die Naturkräfte ist, für ein gesundes und langes Leben, für das große Glück, auf der Erde zu leben, die der Mensch entsprechend seinen ständig wachsenden Bedürfnissen in eine schöne Wohnstätte der zu einer Familie vereinigten Menschheit verwandeln will." 193 Der Vorsitzende des Kongresses war Gorki; doch sein tatsächlicher Anreger war Stalin. Unter seiner Führung fanden all die wunderbaren Veränderungen, die in der UdSSR geschehen sind, statt. Durch seine Anregung entwickelte sich die Kultur in solchem Umfang. Und durch seine Initiative wurde die RAPP abgeschafft. Stalin huldigend, billigte der Kongreß eindeutig die Linie der Kommunistischen Partei. Trotzdem — oder vielmehr gerade deshalb — konnte von einer „Uniformierung" der auf dem Kongreß versammelten Schriftsteller nicht die Rede sein. Der Kongreß unterstrich die Freiheit des individuellen Schriftstellers. Der Kongreß bot die Möglichkeit, die individuelle Erfahrung der Schriftsteller zum gemeinsamen Nutzen aller und zur weiteren Entwicklung ihrer schöpferischen Persönlichkeiten auszutauschen. Im Namen des Politbüros der Kommunistischen 10*
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Partei sprechend, erklärte Shdanow, einer seiner Sekretäre: „Organisiert die Arbeit eures Kongresses sowie die künftige Arbeit des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, damit die Schöpferkraft der Schriftsteller den bereits errungenen Siegen des Sozialismus entspricht. Schafft Werke von höchster Meisterschaft, höchstem ideologischen und künstlerischen Gehalt." Und Gorki erklärte, daß die Kommunistische Partei den Schriftstellern das Recht genommen habe, sich gegenseitig zu befehlen, und ihnen stattdessen das Recht gegeben habe, voneinander zu lernen, ihre Erfahrungen auszutauschen. Der Kongreß wirkte äußerst anregend auf die schöpferische Tätigkeit. Wenn die sowjetischen Schriftsteller eines weiteren Beweises dafür bedurften, daß sie Bestandteil des Lebens sind, daß ihr Wort von Millionen eifrig aufgenommen wird, so hatten sie diesen reichlich in den erfreulichen Sitzungen, die ständig unterbrochen wurden durch Delegationen von Arbeitern, Rotarmisten, Studenten, Fliegern; Wissenschaftlern, Kolchosbauern, Jungen Pionieren, die ihren kollektiven Dank für die Leistungen der Schriftsteller zum Ausdruck brachten und eine bessere und wahrere Literatur forderten. Der Kongreß war nicht „russich". Es war ein Kongreß aller Literaturen der zur Sowjetunion gehörenden Nationalitäten. Die Berichte über die Entwicklung der führenden nationalen Literaturen waren das Ergebnis angestrengter marxistischer Forschung auf dem Gebiet der Geschichte dieser Literaturen. Der Kongreß offenbarte ein Anwachsen der Literaturen der einzelnen Nationalitäten, das nicht minder bemerkenswert war als das Anwachsen der russischen Literatur. Der Kongreß trug dazu bei, engere Beziehungen zwischen den verschiedenen nationalen Literaturen zu knüpfen; und das Organ des Sowjetischen Schriftstellerverbandes Krasnaja Now trug durch den Abdruck von Übersetzungen aus den nationalen Literaturen dazu bei, die große russische Leserschaft mit dem bekannt zu machen, was in den Literaturen der Minderheitsnationalitäten vor sich geht. Der Kongreß hörte Berichte über die Literatur insgesamt, über Dichtung, Drama und Jugendliteratur. Über die Literaturkritik wurde nicht referiert. Es wurde betont, daß die literarische Kritik hinter der Entwicklung der Literatur zurückbleibe. Weit entfernt davon, das kulturelle Erbe der vergangenen Gesellschaftsordnung zu verwerfen, legte der Kongreß besonderen Nachdruck auf die Notwendigkeit, sich das Wertvollste, was man von der literarischen Tradition vorangegangener Epochen ererbt habe, anzueignen. „Eine kritische Aneignung des literarischen Erbes aller Epochen ist eine Aufgabe, ohne die Sie keine Ingenieure der menschlichen Seele werden", sagte Shdanow. Der Kongreß war von Richtungskämpfen nicht frei. Er führte seine Auseinandersetzungen sowohl gegen die Rechte wie gegen die „Linke". Iii Genossen Bucharins Referat über die Dichtung gab es eine Tendenz, die Bedeutung solch proletarischer Dichter wie Bezymenskij und Demjan Bedny im Vergleich zu den großen Meistern nichtproletarischer Dichtung, wie Pasternak und anderen, herabzusetzen. Diese Tendenz wurde unter den Mitgliedern des Kongresses stark 148
bekämpft. Es gab einige „Links"-Tendenzen, die sich in einem gewissen, Mißtrauen gegenüber den „übergewechselten" Schriftstellern äußerten. Auch dagegen trat man auf. Die Schriftsteller gingen aus dem Kongreß einheitlicher und entschlossener denn je hervor, entschlossen dazu, große, wahre Literatur zu schaffen. Der Kongreß war sich der Tatsache bewußt, daß er nicht nur für die sowjetischen Schriftsteller, sondern für die revolutionären Schrifststeller der ganzen Welt sprach. Das Referat Radeks und ein Großteil der Diskussion waren der revolutionären Literatur der kapitalistischen Länder gewidmet. Wenn Radek auch keine spezielle Analyse der revolutionären Literatur in den verschiedenen Ländern brachte — eine Aufgabe, die auf einem solchen Kongreß kaum möglich ist —, so betonte er doch den lähmenden Einfluß des niedergehenden Kapitalismus auf die Literatur und wies auf den Sozialismus als die einzige progressive Kraft hin, die imstande ist, die schöpferischen Aktivitäten der Schriftsteller anzuregen. Es eröffnen sich den Schriftstellern in den bürgerlichen Ländern zwei Wege, hieß es auf dem Kongreß: entweder der Weg in den Morast des bürgerlichen Pazifismus und Individualismus, der Weg zur Diktatur der Bourgeoisie, zum Faschismus; oder der Weg an die Front des Klassenkampfes der Arbeiter, der Weg zur Diktatur des Proletariats, zum Kommunismus. An die anwesenden ausländischen revolutionären Schriftsteller und durch sie an die Schriftsteller der Welt gerichtet, sagte Radek: „Wir, der Kongreß sowjetischer Schriftsteller, reichen unsere brüderliche Hand allen Schriftstellern, die sich auf dem Wege zu uns befinden, gleichgültig, wie weit sie noch von uns entfernt sind, wenn wir bei ihnen nur den Wunsch und den Willen feststellen, der Arbeiterklasse in ihrem Kampf, der Sowjetunion zu helfen. Wir sagen zu ihnen: Die beste Hilfe, die ihr uns erweisen könnt, erweist ihr uns, wenn ihr euch Schulter an Schulter neben die Arbeiterklasse eures Landes, neben ihre revolutionäre Minderheit stellt, im Kampf gegen alle jene Gefahren, die euch aus eurem Schlaf geweckt, die euch die Ruhe der Ästheten geraubt haben . . . " Radek verwies auf den Niedergang des Kapitalismus, seine Entartung, die auch den Niedergang und die Entartung der Literatur bedeute, und hob die Tatsache hervor, daß die bürgerliche Literatur, während sie noch Werke von beträchtlicher künstlerischer Qualität hervorbringt, nicht mehr imstande sei, große Werke zu schaffen; er sagte: „Ein moderner Künstler, der kein Sänger der Ausbeutung, kein Sänger der Bücherverbrennung, kein Sänger der Hinrichtung der besten Söhne des Volkes sein will, ein Künstler, der nicht der Barde des sinnlosen, alles zerstörenden neuen imperialistischen Krieges sein will, muß die verseuchten Ufer verlassen und nach neuen Ufern aufbrechen, wo sein neues Leben blüht. Und derjenige, der wünscht, daß eine Weltliteratur sich wieder entwickelt, der wünscht, daß eine wertvolle Literatur existiert, der wünscht, daß jener große Aufschwung für die Entwicklung der Menschheit, der der Menschheit die größte Freude schenkt, der das Leben vieler Menschen ausfüllt, der die Quelle großen Schöpfergeistes ist, leben und gedeihen soll, muß jene Küste verlassen, nach neuen 149
Wegen zu uns suchen, muß sich dem Proletariat in dem Ringen gegen den Kapitalismus, in dem Ringen gegen den Faschismus anschließen; denn nur durch dieses Ringen wird die Literatur, die eine große Literatur sein wird, entstehen, sich entfalten und erstarken." Das ist die Botschaft des Allunionskongresses auch an diesen ersten Kongreß revolutionärer amerikanischer Schriftsteller.194
23 Malcolm Cowley Was die revolutionäre Bewegung für einen Schriftsteller tun kann Es ist vor allem wichtig, dasjenige zu definieren, was die revolutionäre Bewegung für einen Schrifsteller nicht tun kann, damit niemand Wunder erhofft, die nicht geschehen werden. Sie vermag ihm keine persönliche Erlösung zu bringen. Sie ist keine Kirche, die ihn auffordert zu glauben, seine Zweifel aufzugeben, die Last der Ängste abzulegen und fortan den sicheren Pfad zu wandeln, den geheiligte Wegbereiter für ihn vorgezeichnet haben. Heute wird ein Messias nicht nur von beschäftigungslosen Predigern, von Ingenieuren und von Ladenbesitzern, die ihr Geschäft verloren haben, beschworen, sondern auch von verwirrten Romanciers und von Dichtern, die nicht mehr dichten können. Weder Marx noch Lenin sind als Messias aufgetreten; sie waren Wissenschaftler der Tat. Ihr Ziel war es nicht zu bekehren, sondern zu überzeugen. Ferner kann die revolutionäre Bewegung Schriftsteller, Menschen, die es gewöhnt sind, eigene Wege zu gehen und über persönliche Schwierigkeiten zu rätseln, nicht in politische Anführer der Arbeiterklasse verwandeln. Die Arbeiterklasse wird ihre eigenen Anführer hervorbringen. Und noch einmal: Die revolutionäre Bewegung kann drittrangige bürgerliche Romanschriftsteller nicht in bedeutende proletarische Romanautoren verwandeln. Sie dürfte nicht imstande sein, bürgerliche Romanciers überhaupt in proletarische irgendeiner Güte zu verwandeln. In diesem Zusammenhang verwende ich den Begriff „proletarischer Roman" nicht in dem sehr weiten Sinne, den ihm gestern Edwin Seaver195 zu geben versuchte. Ich definiere ihn in einem weitaus engeren Sinne als einen Roman, der vom revolutionären Standpunkt aus über Gestalten der Arbeiterklasse geschrieben ist. Es besteht heutzutage ein großes Bedürfnis für solche Romane; doch es herrscht auch beträchtlicher Zweifel daran, weil viele davon von Männern geschrieben werden, die ihre Laufbahn -als Romanautoren der Mittelklasse begannen. Natürlich kann das solchen Leuten nach einer Zeit von Jahren, nachdem sie unter Arbeitern gelebt, aktiv an ihren Kämpfen teilgenommen und die Welt von ihrem Standpunkt aus sehen gelernt haben, gelingen. Es kann ihnen auch gelingen, indem sie, wie Emile Zola, mit einem Notizbuch herumlaufen und sich ihrem Stoff 150
Wegen zu uns suchen, muß sich dem Proletariat in dem Ringen gegen den Kapitalismus, in dem Ringen gegen den Faschismus anschließen; denn nur durch dieses Ringen wird die Literatur, die eine große Literatur sein wird, entstehen, sich entfalten und erstarken." Das ist die Botschaft des Allunionskongresses auch an diesen ersten Kongreß revolutionärer amerikanischer Schriftsteller.194
23 Malcolm Cowley Was die revolutionäre Bewegung für einen Schriftsteller tun kann Es ist vor allem wichtig, dasjenige zu definieren, was die revolutionäre Bewegung für einen Schrifsteller nicht tun kann, damit niemand Wunder erhofft, die nicht geschehen werden. Sie vermag ihm keine persönliche Erlösung zu bringen. Sie ist keine Kirche, die ihn auffordert zu glauben, seine Zweifel aufzugeben, die Last der Ängste abzulegen und fortan den sicheren Pfad zu wandeln, den geheiligte Wegbereiter für ihn vorgezeichnet haben. Heute wird ein Messias nicht nur von beschäftigungslosen Predigern, von Ingenieuren und von Ladenbesitzern, die ihr Geschäft verloren haben, beschworen, sondern auch von verwirrten Romanciers und von Dichtern, die nicht mehr dichten können. Weder Marx noch Lenin sind als Messias aufgetreten; sie waren Wissenschaftler der Tat. Ihr Ziel war es nicht zu bekehren, sondern zu überzeugen. Ferner kann die revolutionäre Bewegung Schriftsteller, Menschen, die es gewöhnt sind, eigene Wege zu gehen und über persönliche Schwierigkeiten zu rätseln, nicht in politische Anführer der Arbeiterklasse verwandeln. Die Arbeiterklasse wird ihre eigenen Anführer hervorbringen. Und noch einmal: Die revolutionäre Bewegung kann drittrangige bürgerliche Romanschriftsteller nicht in bedeutende proletarische Romanautoren verwandeln. Sie dürfte nicht imstande sein, bürgerliche Romanciers überhaupt in proletarische irgendeiner Güte zu verwandeln. In diesem Zusammenhang verwende ich den Begriff „proletarischer Roman" nicht in dem sehr weiten Sinne, den ihm gestern Edwin Seaver195 zu geben versuchte. Ich definiere ihn in einem weitaus engeren Sinne als einen Roman, der vom revolutionären Standpunkt aus über Gestalten der Arbeiterklasse geschrieben ist. Es besteht heutzutage ein großes Bedürfnis für solche Romane; doch es herrscht auch beträchtlicher Zweifel daran, weil viele davon von Männern geschrieben werden, die ihre Laufbahn -als Romanautoren der Mittelklasse begannen. Natürlich kann das solchen Leuten nach einer Zeit von Jahren, nachdem sie unter Arbeitern gelebt, aktiv an ihren Kämpfen teilgenommen und die Welt von ihrem Standpunkt aus sehen gelernt haben, gelingen. Es kann ihnen auch gelingen, indem sie, wie Emile Zola, mit einem Notizbuch herumlaufen und sich ihrem Stoff 150
von außen her nähern. Doch Zolas Art von Objektivität ist für die Mehrzahl der zeitgenössischen Autoren, die mehr „Innerlichkeit", eine gründlichere Kenntnis der von ihnen beschriebenen Charaktere fordern, nicht gänzlich befriedigend. Diese Art „Innerlichkeit" ist nicht innerhalb weniger Monate oder Jahre zu erreichen, da sie von einem langen, allmählichen Prozeß der Erwerbung von Sympathien und Bindungen abhängt. Es finden sich selbstredend Beispiele großer Prosadichtung über Mitglieder der einen Klasse, verfaßt von einem Mann oder einer Frau aus einer anderen Klasse. Elizabeth Madox Roberts vortrefflicher Roman The Time of Man (Des Menschen ZeitJ196 gehört zu dieser Kategorie; es ist ein Buch über eine Pächtersfrau, geschrieben von einer Frau, die der landbesitzenden Klasse angehört. Tolstoi, dem Adligen, gelang es schließlich, sich völlig mit den russischen Bauern zu identifizieren. Doch von Joshua Kunitz habe ich erfahren, daß Tolstoi einst versuchte, einen Roman über einen Juden zu schreiben und das Projekt aufgab. Seine Vorstellung war annehmbar, seine Gedanken waren verständnisvoll, doch er bemerkte, daß er sich nicht in seine Gestalt hinein versetzen konnte. Mir scheint, einige jüngst erschienene Bücher über das Proletariat oder das Lumpenproletariat wären nie geschrieben worden, wären ihre Autoren ebenso gewissenhaft gewesen wie Tolstoi. Zwei Beispiele dafür sind ein Roman von Catherine Brody, Nobody Starves (Niemand verhungert),191 der in sich eine verschwommene Art Herablassung birgt und das Leben der Arbeiter trostloser, hoffnungsloser und apathischer erscheinen läßt, als es in Wirklichkeit ist, und Sherwood Andersons vor drei Jahren erschienener, sogenannter kommunistischer Roman Beyond Desire (Jenseits der BegierdeJ,198 der die Arbeiter sentimental und unzüchtig darstellt, sexuell anrüchig macht. Gute Romane über die Arbeiterklasse werden gegenwärtig dringender gebraucht als jede andere Art von Literatur. Doch das bedeutet nicht, daß diejenigen, die gute revolutionäre Romane über die Mittelklasse schreiben können, sich verpflichtet fühlen, schlechte Romane über die Arbeiterklasse zu schreiben. Sie können auf andere Weise zweckdienlich sein. Ich habe vielleicht einen allzu großen Teil meiner kurzbemessenen Zeit diesen negativen Gesichtspunkten der revolutionären Bewegung gewidmet. Es ist jedoch wichtig, keine unerfüllbaren Hoffnungen zu erwecken. Schriftsteller, die sich der revolutionären Bewegung in der Erwartung anschließen, erlöst zu werden oder mit Führerschaft betraut zu werden oder eine Wiedergeburt ihres Talentes zu erleben, werden diese wahrscheinlich plötzlich verlassen — so wie Sherwood Anderson es nach dem Mißerfolg seines Romans tat. Andere, die mit vernünftigeren Hoffnungen gekommen sind, werden wohl bleiben. Denn in der Tat kann und wird die revolutionäre Bewegung für die Schriftsteller mehr leisten als die Schriftsteller für die revolutionäre Bewegung. Es ist eine Tatsache, daß sie ihnen praktische Anreize bieten kann — sicher keine finanziellen Anreize, denn sie wird sie niemals reich machen; aber dennoch Anreize, die für sie weitaus wertvoller sind als Geld. 151
Erstens bietet sie ihnen ein Lesepublikum — das begierigste, aufgeschlossenste, empfanglichste, das es heute gibt. Einen Teil dieses Publikums erlebten wir gestern abend im Mecca Temple, als unsere Diskussionen einen Abend lang aus der Atmosphäre des Studierzimmers und Gaststättenhinterzimmers in eine größere Welt getragen wurden. Wir hörten etwas über dieses Publikum von den Delegierten, die für die Seeleute und die „Amerikanische Liga gegen Krieg und Faschismus" sprachen. Wir können noch mehr darüber von Alexander Trachtenberg hören, der uns berichten kann, wie von der International Publishers Company herausgegebene Broschüren in Auflagen von fünfzig- und hunderttausend Exemplaren gedruckt werden und nahezu am Tag der Veröffentlichung vergriffen sind. Jedoch das beeindruckendste Zeugnis für die Beschaffenheit des revolutionären Publikums lieferte vor wenigen Wochen Archibald MacLeish. Gegenwärtig kann man wohl kaum sagen, daß MacLeish ein revolutionärer Schriftsteller ist. Mike Gold bezeichnete ihn einst als jemand, der ein „unbewußter Faschist" sei. Ich hielt diesen Vorwurf damals für zumindest verfrüht, doch später schien er durch weitere Gedichte und Artikel, die MacLeish schrieb, gerechtfertigt. Wir waren alle erstaunt, als wir hörten, daß er Vorkehrungen für eine Sonderaufführung seines Stückes Panic (Panikgetroffen habe, das zur Unterstützung von The New Theater und The New Masses gespielt werden sollte. Nach der Vorstellung erklärte er, indem er dem Publikum für seine Aufmerksamkeit, für seinen Applaus, für seine Kritik, für seine allgemeine lebhafte Anteilnahme dankte, zum Teil seine Gründe. Der eigentliche Grund ist der, daß dieser Dichter, der den Pulitzerpreis200 bekommen hat, der Herausgeber und Autor des Fortune201 sich an ein revolutionäres Publikum wenden mußte, um den Widerhall zu finden, ohne den ein Schriftsteller das Gefühl hat, in einem Vakuum zu leben und mit unsichtbarer Tinte zu schreiben. Zweitens bietet die revolutionäre Bewegung Schriftstellern einen ganz neuen Themenkreis. Mir scheint, daß es während des halben Jahrhunderts, das 1930 endete, unter ernsthaften Romanciers und Dramatikern eine wachsende Tendenz gab, sich mit einem einzigen Thema zu befassen: dem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen dem Künstler und der Welt. Dieses Thema ist in Hunderten, in Tausenden schlechter Romane und in einigen wenigen guten Romanen, die wir fast alle gelesen haben, abgehandelt worden. James Joyce' A Portrait of the Artist as a Young Man (Ein Porträt des Künstlers als junger Mann)202 ist vielleicht der beste von allen — doch es gehören auch The Way of All Flesh (Der Weg allen Fleisches), New Grub Street (Schriftstellerproletariat), Of Human Bondage (Der Menschen Hörigkeit), The Hill of Dreams (Der Berg der Träume), Manhattan Transfer (Manhattan Transfer), Look Homeward, Angel (Schau heimwärts, Engel), OfTime and the River (Von Zeit und Strom)203 dazu. Einige wenige Merkmale haben alle Romane dieser Art gemeinsam. Eins besteht darin, daß der Held für gewöhnlich als eine große, für die gesamte Menschheit typische Figur — als „eine Legende vom Hunger des Menschen in der Jugend" — 152
dargestellt wird, während er in Wirklichkeit nichts anderes kennzeichnet als den übermäßigen gebildeten und zu wenig angepaßten jungen Mann der unteren Mittelklassen, der entdeckt, daß die Traumwelt der Bücher der eintönigen Wirklichkeit, die er tatsächlich antrifft, vorzuziehen ist. Ein weiteres Charakteristikum besteht darin, daß, obwohl diese Romane einen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft darstellen, die Hauptbetonung, die ganze Liebe und Sympathie, dem Individuum gelten. Die Gesellschaft, die Außenwelt, werden in den Augen des Künstlers immer trüber, immer verworrener. Es findet der Versuch statt, aus ihr in eine Innenwelt, ins Unterbewußte zu entrinnen, bis diese Romane mit dem Thema Künstler und Welt schließlich zu inneren Monologen werden. Nun wurde der innere Monolog anfangs als ein vortreffliches neues Mittel zur Bereicherung der Prosastruktur begrüßt und gefeiert. In Wirklichkeit war seine Wirkung eine gegenteilige. Nach einigen Jahren bemerkten wir, daß die Innenwelt, die er ausleuchten sollte, gar nicht sehr interessant und sehr neu war. Die Innenwelt des einen der Mittelklasse angehörenden Romanautors war der Innenwelt eines anderen, derselben Klasse angehörenden Autors ziemlich ähnlich. Und die befreiende Wirkung der revolutionären Bewegung bestand darin, daß sie das Interesse der Romanautoren von sich selbst löste und es in die heftigen Widersprüche und Kämpfe der realen Welt hineintrug. Drittens vermittelt die revolutionäre Bewegung dem Künstler eine Sicht auf sich selbst — eine Vorstellung davon, daß seine eigenen Erfahrungen nichts Zufalliges und Einmaliges sind, sondern Teil eines großen Musters. Die revolutionäre Bewegung lehrt ihn, daß die Kunst kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Produkt ist — daß sie aus den Erfahrungen der Gesellschaft entsteht, und daß, wenn diese Erfahrungen aufhören und der Künstler nicht mehr an dem ihn umgebenden Leben teilnimmt, die ganze Quelle seiner Inspiration versiegt, daß sie wie eine flache Lache nach dem Regen verdunstet. Viertens verknüpft die revolutionäre Bewegung die Interessen der Schriftsteller mit denen einer aufsteigenden Klasse, anstatt mit den Interessen einer verwirrten, nutzlosen und im Niedergang begriffenen Klasse. Sie erschließt ihnen eine neue Kraftquelle. Ich habe gesagt, daß die revolutionäre Bewegung keine Wunder bewirken kann, und dennoch bringt sie bei Schriftstellern, besonders bei Dichtern, bisweilen Wirkungen hervor, die wie ein Wunder erscheinen. Nehmen Sie beispielsweise William Wordsworth. In drei oder vier Jahren seiner langen Laufbahn schrieb er großartige Gedichte; in der übrigen Zeit ließ er sich als der fähigste, hochherzigste und vollkommenste Langweiler in der englischen Literatur nieder. Kritiker und Collegestudenten haben sich von jeher über dieses Phänomen den Kopf zerbrochen. Erst in den letzten Jahren kam etwas Licht in die Sache — wir haben erfahren, wie er Frankreich auf dem Höhepunkt der französischen Revolution bereist hat, wie er von der revolutionären Begeisterung erfüllt war, wie er es lernte, in weltweiten Begriffen zu denken — und wie er dann enttäuscht wurde, den Blick nach innen wandte, die zeitlose Korrektheit und Abgedroschenheit der 153
britischen Gesellschaft akzeptierte und die letzten fünfzig Jahre müßiggängerisch in einem Garten verbrachte. Wir könnten gegenüber der Quelle, aus der Wordsworth seine Kraft schöpfte, skeptisch sein, begegneten wir nicht dem gleichen Muster im Leben anderer Dichter. William Blake nannte sich selbst einen Jakobiner, er trug in den Londoner Straßen eine Freiheitskappe zur Schau, er schrieb vortreffliche Gedichte — sodann wurde auch er enttäuscht, er entschied, daß die erste Revolution „in der Seele des Menschen" stattfinden müsse und schrieb jene Prophetischen Bücher, die heute keiner liest, eben weil sie nicht lesenswert sind. Selbst Baudelaire machte eine ähnliche Erfahrung. Im französischen Revolutionsjahr 1848 trat er für die Revolutionäre ein. Er trat für sie sowohl im Februar ein, als die Mittelklassen und die Arbeiterklassen sich gemeinsam erhoben, und noch einmal im Juni, als nur die Arbeiter die Barrikaden besetzten. Er schrieb zumindest ein proletarisches Gedicht, das in seiner Ideologie stimmig genug ist, um in der Prawda oder L'Humanité abgedruckt zu werden, wäre es 1935 geschrieben worden. Er schrieb zu dieser Zeit und unmittelbar danach viele andere Gedichte ; es war die produktivste Zeit seines Lebens. Doch die Arbeiterklasse wurde geschlagen, und Baudelaire verlor sein Interesse und seine Energie. Heinrich Heine, Algernon Swinburne — das Muster wäre im Leben vieler anderer zu verfolgen, und das ist eine Aufgabe, die ich revolutionären Kritikern besonders empfehle. Doch das anschaulichste Beispiel von allen ist Arthur Rimbaud. In vier Jahren seines Lebens, vom 15. bis 19. Lebensjahr, schrieb er Gedichte, die sicherlich zu den Meisterwerken der französischen Literatur gehören ; sodann, für den Rest seines Lebens, schrieb er überhaupt nichts mehr. Dieses Wunder — dieses echte Wunder — hat die Kritiker stets verwirrt. Soviel ich weiß, hat nicht einer von ihnen auf den offenbaren Zusammenhang mit den Kämpfen der französischen Arbeiterklasse verwiesen. Rimbaud begann während des Französisch-Preußischen Krieges, zu der Zeit, als Napoleon III. gestürzt wurde, zu schreiben. Im Alter von fünfzehn Jahren entwarf er die Verfassung eines kommunistischen Idealstaates. Während der Pariser Commune war er auf dem Lande, fern von den Kämpfen, doch er war bemüht zu helfen — er warb Soldaten in Landschenken an und versuchte, sich durch die Linien der Belagerer nach Paris durchzuschlagen. Die ungestüme Energie, die er in den wenigen nächsten Jahren bewies, war nicht nur die seine; es war die Kraft der Arbeiterklasse des revolutionären Frankreich. Doch die Commune wurde zerschlagen und sein Energiereservoir nicht wieder aufgefüllt. Rimbaud wandte sich gänzlich von der Literatur ab und widmete sich Abenteuern, Forschungsreisen und dem Waffenschmuggel nach Abessinien. Sein Leben wurde zur Parabel dessen, was unter dem Faschismus geschieht. Vielleicht verwende ich allzu viel Zeit auf diese aus der Literatur anderer Länder gewählten Beispiele. Doch ich möchte deutlich machen, daß unsere in diesem Raum stattfindenden Diskussionen, so weitschweifig sie bisweilen erscheinen mögen, in direkter Beziehung zu dem stehen, was in der großen Welt der mensch154
lichen Angelegenheiten geschehen ist und gerade geschieht. Und dieses Bewußtsein der Zusammenhänge ist meiner Ansicht nach das entscheidende und hauptsächliche Geschenk, daß die revolutionäre Bewegung Schriftstellern machen kann. Es gibt ihnen das Verständnis dafür, daß das menschliche Leben kein Gewirr von Zufallen, sondern ein zusammenhängender und kontinuierlicher Prozeß ist. Es verknüpft die Dinge miteinander und läßt die Romanautoren den Zusammenhang sehen zwischen den Dingen, die heute in unserer eigenen Umgebung, vor den Werktoren, in den Hinterhöfen, an der Straßenecke, geschehen und der deutschen Konterrevolution, dem Kampf um die Kollektivierung in Rußland, dem Bürgerkrieg, der heute im Inneren Chinas tobt; und es verbindet all diese Ereignisse mit den Kämpfen der Vergangenheit. Es setzt Wertmaßstäbe, liefert die einheitliche Interpretation, ohne die man weder gute Geschichte noch gute Tragödien schreiben kann. Im vergangenen Jahr hatte ich als Leser und Kritiker verschiedentlich Gelegenheit, Bücher, die von einem revolutionären Standpunkt aus geschrieben waren, mit Büchern zu vergleichen, die von einem liberalen Standpunkt aus geschrieben waren, wobei beide Autoren dasselbe Thema behandelten. In fast jedem Fall waren die revolutionären Bücher, nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch in literarischer, besser. Um ein Beispiel anzuführen, sowohl Pearl S. Buck als auch André Malraux haben Romane geschrieben über das Leben in Schanghai zu der Zeit, als die proletarischen Anführer hingerichtet wurden. 204 Die Romane beider Schriftsteller enthalten eine Episode, in der der Held inhaftiert ist und auf seinen Tod wartet. In Pearl S. Bucks Roman weiß er im Grunde gar nicht, warum er festgenommen worden ist; die ganze Sache scheint ein bedauerlicher und nicht sonderlich erregender Zufall. In Malraux' Roman weiß der Held genau, warum er getötet werden soll : Er hat bewußt dem Tod die Stirn geboten, um die Revolution zu unterstützen. Und dieses deutlichere Bewußtsein, diese Zielgerichtetheit, dieses Gefühl der Verbundenheit mit seinen Genossen sind Eigenschaften, die die Geschichte von der Ebene des Zufalligen auf die des Tragischen erheben. Des weiteren schrieben sowohl Konrad Heiden, ein liberaler Journalist, als Ernst Henri, ein kommunistischer Journalist, Bücher über die Nationalsozialistische Partei in Deutschland. Von den beiden ist Heiden, der Liberale, besser informiert und verfügt über den besseren Stil. Dennoch ist der Haupteindruck, den seine Geschichte des Nationalsozialismus205 hinterläßt, der von Verwirrung und Bestürzung. Heiden selbst revidierte das Manuskript für die englischsprachige Veröffentlichung und merkte, daß er nach zwei Jahren viele seiner Einschätzungen und Prophezeiungen zu ändern hatte. Und das Merkwürdige ist, daß seine Änderungen von 1934 den ersten Teil des Buches weniger interessant und weniger gültig machen, als es 1932 war. Was nun Ernst Henri betrifft, den Autor des Buches Hitler Over Europe (Hitler über Europa),206 so ist er nur ein mittelmäßig guter Marxist — und dennoch gut genug, den Verlauf der Ereignisse zu skizzieren, gut genug, ein Buch zu schreiben, das selbst heute keiner ernstlichen Änderung be155
darf, da es sowohl die Zukunft wie die Vergangenheit des Nationalsozialismus erhellt. Und noch einmal: es gibt zwei Männer, die Tatsachenberichte über die Qualen, die sie in faschistischen Konzentrationslagern erlitten, geschrieben haben. Der eine ist Dr. Seger, ein aus der Mittelklasse stammendes, sozialdemokratisches Mitglied des Reichstages; in diesem Lande wäre er wahrscheinlich ein RooseveltDemokrat. Der andere, Karl Billinger, ist ein im Untergrund lebender kommunistischer Organisator. Bei Segers Buch 207 haben wir den Eindruck, nur eine persönliche Schreckensgeschichte zu lesen. In Billingers Buch 208 finden wir noch weitaus mehr Schrecknisse, dennoch liegt der Akzent woanders, nämlich auf dem Heldentum und der Solidarität der deutschen Arbeiter. Segers Buch ist ein Dokument ; Billingers Buch gehört zur Literatur. Ich will damit nicht andeuten, daß jemand von uns, nur indem er seine unwandelbare Treue zum Proletariat verkündet, ein Buch, das so gut ist wie Billingers Fatherland (Schutzhäftling Nr. 880), schreiben kann. Es gibt einen prahlerischen, auf Schaustellung bedachten revolutionären Geist, den wir gut täten zu meiden. Ich für meinen Teil bin kein proletarischer Schriftsteller und bezweifle, ob ich jemals einer werde. Meine Herkunft, meine Familie und meine Erziehung verweisen mich alle eindeutig in die Mittelklasse. Vielleicht kann man mich als einen sehr klassenbewußten kleinbürgerlichen Kritiker bezeichnen. Doch ich glaube, daß die Interessen meiner eigenen Klasse aufs engste mit denen des Proletariats verbunden sind, und ich glaube ferner, daß Schriftsteller besonders von diesem Bündnis profitieren können. Ihre Seelen werden nicht errettet werden, und kein Wunder wird ihnen Talent vermitteln, wenn sie es nicht schon besitzen. Doch sie werden, wenn sie sich der revolutionären Bewegung ohne Stolz, Illusion oder Kriecherei nähern, gewisse praktische Vorteile erhalten. Literatur und Revolution hängen nicht nur durch ihr gemeinsames Ziel, die Befreiung des menschlichen Geistes, zusammen, sondern auch durch unmittelbare Bindungen gemeinsamer Interessen.
24 Granville Hicks Die Dialektik in der Entwicklung der marxistischen Kritik Wie Joseph Freeman dargelegt hat, 209 ist die Auffassung vom gesellschaftlichen Ursprung und von der gesellschaftlichen Funktion der Literatur keineswegs neu, sondern wurde von bürgerlichen Revolutionären vom Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt. Allerdings trifft es zu, daß sich — jedenfalls in unserem Lande — die Grundsätze und Methoden marxistischer Kritik als unmittelbare Antwort auf die ökonomischen und kulturellen Verhältnisse herausgebildet haben. Es sind in ihnen natürlich bürgerliche Einflüsse festzustellen, 156
darf, da es sowohl die Zukunft wie die Vergangenheit des Nationalsozialismus erhellt. Und noch einmal: es gibt zwei Männer, die Tatsachenberichte über die Qualen, die sie in faschistischen Konzentrationslagern erlitten, geschrieben haben. Der eine ist Dr. Seger, ein aus der Mittelklasse stammendes, sozialdemokratisches Mitglied des Reichstages; in diesem Lande wäre er wahrscheinlich ein RooseveltDemokrat. Der andere, Karl Billinger, ist ein im Untergrund lebender kommunistischer Organisator. Bei Segers Buch 207 haben wir den Eindruck, nur eine persönliche Schreckensgeschichte zu lesen. In Billingers Buch 208 finden wir noch weitaus mehr Schrecknisse, dennoch liegt der Akzent woanders, nämlich auf dem Heldentum und der Solidarität der deutschen Arbeiter. Segers Buch ist ein Dokument ; Billingers Buch gehört zur Literatur. Ich will damit nicht andeuten, daß jemand von uns, nur indem er seine unwandelbare Treue zum Proletariat verkündet, ein Buch, das so gut ist wie Billingers Fatherland (Schutzhäftling Nr. 880), schreiben kann. Es gibt einen prahlerischen, auf Schaustellung bedachten revolutionären Geist, den wir gut täten zu meiden. Ich für meinen Teil bin kein proletarischer Schriftsteller und bezweifle, ob ich jemals einer werde. Meine Herkunft, meine Familie und meine Erziehung verweisen mich alle eindeutig in die Mittelklasse. Vielleicht kann man mich als einen sehr klassenbewußten kleinbürgerlichen Kritiker bezeichnen. Doch ich glaube, daß die Interessen meiner eigenen Klasse aufs engste mit denen des Proletariats verbunden sind, und ich glaube ferner, daß Schriftsteller besonders von diesem Bündnis profitieren können. Ihre Seelen werden nicht errettet werden, und kein Wunder wird ihnen Talent vermitteln, wenn sie es nicht schon besitzen. Doch sie werden, wenn sie sich der revolutionären Bewegung ohne Stolz, Illusion oder Kriecherei nähern, gewisse praktische Vorteile erhalten. Literatur und Revolution hängen nicht nur durch ihr gemeinsames Ziel, die Befreiung des menschlichen Geistes, zusammen, sondern auch durch unmittelbare Bindungen gemeinsamer Interessen.
24 Granville Hicks Die Dialektik in der Entwicklung der marxistischen Kritik Wie Joseph Freeman dargelegt hat, 209 ist die Auffassung vom gesellschaftlichen Ursprung und von der gesellschaftlichen Funktion der Literatur keineswegs neu, sondern wurde von bürgerlichen Revolutionären vom Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt. Allerdings trifft es zu, daß sich — jedenfalls in unserem Lande — die Grundsätze und Methoden marxistischer Kritik als unmittelbare Antwort auf die ökonomischen und kulturellen Verhältnisse herausgebildet haben. Es sind in ihnen natürlich bürgerliche Einflüsse festzustellen, 156
aber hauptsächlich in der Form des Reagierens auf bürgerliche Theorien der Gegenwart. Die Entwicklung einer weitgehend eigenständigen und in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart wurzelnden marxistischen Theorie war dialektisch. Die Anfänge marxistischer Kritik sind darin zu finden, daß bestimmte Schriftsteller auf ihrem Recht beharren, proletarische Stoffe zu verwenden, das heißt, die Erfahrungen der Arbeiterklasse ernsthaft und verständnisvoll zu behandeln. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als Upton Sinclair den Roman The Jungle (Der Sumpf)210 schrieb, mußten er und andere, weniger bekannte Sozialisten ihre Themenwahl verteidigen. Es ist der Erwähnung wert, daß fast zwanzig Jahre später auch Michael Gold vor der Notwendigkeit stand, das Recht des Romanschriftstellers auf die Verwendung eines solchen Stoffes geltend zu machen, der später in seinem Jews Without Money (Juden ohne Geld)211 durch ihn berühmt werden sollte. Vom Verfechten der Gültigkeit proletarischer Thematik ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Kritik am bürgerlichen Schriftsteller, für den diese Thematik nicht existiert. Überdies stellte sich die Diskussion bald auf breitere Basis, indem sie von der Frage der Themen zur Frage der Haltungen überging. Die sozialistischen Schriftsteller der Vorkriegszeit unterstrichen ihre positive Einstellung zur Arbeiterklasse. Sie begannen auch bürgerliche Schriftsteller anzugreifen, die direkt und unmißverständlich das Proletariat verurteilten oder ausdrücklich für die Ausbeutung eintraten. Diese noch unausgegorene, trotzdem aber bedeutsame Art parteilicher Kritik tritt in großem Umfang in Upton Sinclairs Mammonart (Die goldene Kette)212 zutage. Upton Sinclair und einige andere sozialistische Intellektuelle taten erste Schritte in Richtung einer marxistischen Kritik. Ihr Werk war jedoch zu betont politisch und nicht literarisch genug, um einen nachhaltigen Eindruck auf die Welt der Literatur erzielen zu können. Es blieb den Kritikern der Gruppe Masses-Liberator213 vorbehalten, eine Überbrückung der Kluft zwischen Politik und Literatur zu versuchen. Diese Kritiker ließen keinen Zweifel an ihrer zustimmenden Haltung gegenüber den Schriftstellern, die die Partei des Proletariats ergriffen, und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber denjenigen, die auf der Gegenseite standen; sie bemühten sich aber, ihre Kriterien nur auf diejenigen Werke anzuwenden, die ausdrücklich die augenfälligsten Stadien des Klassenkampfes behandelten. Sie waren weit besser informiert als Upton Sinclair und sein Kreis und hatten ein feineres Gespür für literarische Erfahrung. Ihr Interesse galt der Literatur, die unmittelbar den Klassenkampf schilderte, aber sie interessierten sich gleichzeitig auch für diejenige Literatur, die, soweit sie das erkennen konnten, nichts mit Kapital und Arbeit zu tun hatte. Aus diesem Grunde hielten sie sich mehr oder weniger offen an zwei verschiedene Maßstäbe der Beurteilung: einen literarischen und einen politischen. Floyd Dell war der fähigste Vertreter der Gruppe. (Max Eastman hatte damals ebensowenig vom schöpferischen Prozeß und von der gesellschaftlichen Rolle der Literatur begriffen wie heute.) 157
Der große Vorzug dieser Art Zweigleisigkeit besteht darin, daß sie in vollem Maße ehrlich ist. Der Durchschnittsmarxist ist bürgerlicher Herkunft und hat seine Bildung in bürgerlichen Einrichtungen erhalten. Seine Sympathie für die Arbeiterklasse ermöglicht es ihm, gewisse eindeutige Spielarten von Fälschung in der bürgerlichen Literatur zu erkennen. Bemerkt er aber solche Fälschung, so verurteilt er sie, und findet er das Leben der Arbeiterklasse dargestellt, spricht er sich anerkennend aus. Im übrigen aber huldigt er der Geschmacksrichtung, die ihm durch Herkunft und Erziehung mitgegeben wurde. Diese grobe Zweiteilung der Literaturkritik wird mit der Entwicklung der revolutionären Bewegung unmöglich. Kritiker, die die Rolle des Proletariats begriffen haben, können mit einer innerlich derart widersprüchlichen Methode nicht zufrieden sein. Trotzdem halten sich verfeinerte Varianten dieser Zweiteilung. Wenn John Strachey in seiner Arbeit Literature and Dialectical Materialism (Literatur und dialektischer MaterialismusJ214 auf einem Doppelmaßstab besteht, bringt ihn das, wie die bürgerliche Kritik einmütig und schadenfroh vermerkt, in ernste Schwierigkeiten. Denn wenn ein literarisches Werk literarisch gut ist, dann ist es eben gut. Der unausweichliche Schluß daraus ist, wie Malcolm Cowley feststellt, daß der Marxismus als kritische Methode nur auf einen schmalen Teilabschnitt der Literatur anwendbar sei. Das hätten die Kritiker der Gruppe MassesLiberator auch eingeräumt, nicht aber Strachey. (Ich nehme an, daß Strachey seine Auffassung inzwischen revidiert hat, und verwende ihn lediglich als Beispiel.) Die erwähnte Zweigleisigkeit hatte ihre Blütezeit in den Jahren zwischen 1913 und 1923. In den mittleren Zwanzigern erkannten die Marxisten jedoch die Notwendigkeit eines einheitlichen Systems der Kritiker, das die Beurteilung jederart Literatur, älterer und moderner, proletarischer und bürgerlicher, ermöglichen würde und alle Aspekte der literarischen Arbeit zu berücksichtigen imstande wäre. Joseph Freeman und Joshua Kunitz leisteten Pionierarbeit bei der Entwicklung eines solchen Systems. Lange Zeit standen sie dabei so gut wie allein; inzwischen haben sich nun Dutzende von Kritikern ihnen angeschlossen. Das Bemühen, einen einheitlichen Maßstab der Kritik zu schaffen, war nicht allein eine Reaktion auf das unlogische Verfahren der zweigleisig arbeitenden Kritiker, sondern auch, wie bereits angedeutet, eine Antwort auf die in den amerikanischen Lebensverhältnissen vorgegangenen Veränderungen. Insbesondere seit der Depression ist es für Kritiker mit bürgerlicher Bildung leichter geworden, sich den proletarischen Standpunkt zu eigen zu machen, weil er so sehr viel klarer geworden ist. Das Fortschreiten der revolutionären Bewegung hat einen großen Anteil an der Herausbildung eines einheitlichen Systems der Kritik. Aber wie zu erwarten stand, ist nicht sofort ein vollkommener Erfolg erreicht worden. Wenn ich meine eigene Arbeit und die bestimmter anderer Kritiker überprüfe, kann ich feststellen, daß wir die Vereinheitlichung durch ein Eliminationsverfahren erreicht haben, das sich in manchen Fällen kaum und in anderen katastrophal ausgewirkt hat. Wir haben noch nicht zu Ende geführt, was wir uns 158
vorgenommen haben; es sind noch nicht alle Aspekte der Literatur miteinbezogen. Wir können uns da durchaus rechtfertigen. Ein wirklich umfassendes System der Kritik zu schaffen, war im Augenblick noch unmöglich. Zum mindesten haben wir aber die revolutionäre Kritik von ihrer unhaltbaren Zweigleisigkeit befreit, und mehr noch, wir haben auch, wie ich glaube, gewisse wichtige Grundprinzipien angemeldet, die jedes umfassende System zu berücksichtigen haben wird. Natürlich müssen aber die Mängel beseitigt werden: Und der dialektische Prozeß ist bereits am Werk, sie zu korrigieren. Zwei besonders ernstzunehmende Schwächen bestanden im Mangel an Aufmerksamkeit für die technischen Probleme des Schriftstellers und in der ungenügenden Beschäftigung mit den vielfältigen Beziehungen zwischen Erfahrung und schöpferischer Arbeit. Und gerade diesen beiden Punkten haben einige Kritiker, namentlich die aus dem Kreis um die Partisan Review,215 in letzter Zeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Es sollte unterstrichen werden, daß diese neue Entwicklung nicht nur als das Bemühen um die Korrektur noch vorhandener Unzulänglichkeiten zu sehen ist. Sie ist in gewissem Maße auch eine Reaktion auf einige von den kritischen Bemerkungen, die bürgerliche Kritiker gegen den Marxismus erhoben haben; in gewissem Maße auch eine Antwort auf die Forderung proletarischer Schriftsteller nach mehr Aufmerksamkeit für ihre spezifisch schriftstellerischen Probleme und in gewissem Maße schließlich ein Ergebnis des Bildungszuwachses auf Seiten der Leser marxistischer Kritik. Was man als Vorform eines einheitlichen Systems der Kritik bezeichnen könnte, hat seinen Zweck erfüllt, ist aber inzwischen überholt. Nicht allein, weil es zwingende Einwände gegen die Methode der übertriebenen Vereinfachung gibt; die Tatsache, daß diese Form der Kritik die revolutionäre Bewegung insgesamt und dazu eine große Zahl sympathisierender Intellektueller von der Richtigkeit ihrer Grundsätze überzeugt hat, macht deren Weiterentwicklung nicht nur möglich, sondern unbedingt notwendig. Wie jedoch nicht zu vermeiden, ist das Bemühen, die Mängel der Vorform des einheitlichen Systems zu korrigieren, selbst in Gefahr, zu zwar entgegengesetzten, aber gleichermaßen schwerwiegenden Irrtümern zu führen. Die vorwiegende Beschäftigung mit technischen Problemen könnte zum Formalismus führen, der dann rart-pour-l'art-Dogmen zur Hintertür hereinlassen würde. Der Versuch, Kritiken mehr auf der Grundlage von Erfahrung und verstandesmäßigem Urteil als auf der Grundlage von Ideen und Haltungen zu verfassen, könnte — wenn das auch sicherlich eine gesunde Tendenz ist — zu Ungenauigkeit, Ästhetizismus und einer elfenbeinturmartigen Haltung führen. Das Reagieren auf Sektierertum könnte Fehlurteile und eine falsche Auffassung von den Klasseneinflüssen mit sich bringen, wie das meiner Meinung nach in bestimmten Fällen, besonders im Falle von Archibald MacLeishs Panic (Panik)216, schon geschehen ist. Die Stärke der marxistischen Kritik liegt darin, daß sie den gesellschaftlichen (das heißt Klassen-)Ursprung und die gesellschaftliche Funktion der Literatur erkennt. Mit anderen Worten, sie erkennt die Identität des Künstlers mit anderen 159
Menschen in einer realen Welt der ökonomischen Kräfte. Ihr schwacher Punkt ist es gewesen, daß sie zu oft jene Eigenschaften des Künstlers außer acht ließ, die ihn als Individuum und vor allem als Künstler von anderen Menschen unterscheiden. Diese Schwäche ist nicht dem Marxismus inhärent, sondern hat ihre Ursache in den persönlichen Grenzen der marxistischen Kritiker. Sie kann und muß abgelegt werden. Nichts kann jedoch gewonnen werden und viel verlorengehen, wenn in dem Bestreben, die schwache Seite des Marxismus zu kurieren, seine Stärken geopfert würden. Die erwähnten Gefahren sind allerdings — wenn auch ernst genug, um aufmerken zu lassen — nicht wirklich beunruhigend. Die Bewegung ist bereits zu stark, um Übertreibungen oder Irrtümer irgendwelcher Art lange zu tolerieren. Das zweigleisige Verfahren der Gruppe Masses-Liberator konnte sich ein Jahrzehnt lang halten, weil die revolutionäre Bewegung im Bereich der Literatur nicht fest in den Kämpfen des Proletariats integriert war. Das in den zwanziger Jahren so verbreitete Sektierertum war das Ergebnis der tatsächlichen Isoliertheit der revolutionären Kräfte von der Arbeiterklasse insgesamt. Heute werden andererseits Schriftsteller aller Art durch die drohende Gefahr von Krieg und Faschismus in den aktiven Kampf hineingezogen, und dieser Kampf erfaßt in immer stärkerem Umfang die Arbeiterklasse. Gleichermaßen bedeutsam ist das Vorhandensein einer umfangreichen proletarischen Literatur. Die beeindruckende Vielfalt unserer proletarischen Dichtung, Romanliteratur und Dramatik läßt die Enge des Denkens nicht zu, die noch vor zehn, fünf oder selbst drei Jahren beinahe unumgänglich war. Der Kritiker, der über die Art von Literatur schreibt, von der er wünschte, es gäbe sie, erweckt unvermeidlich den Eindruck des Dogmatikers, der Vorschriften erteilt. Hat er aber wirklich geschriebene Arbeiten in großer Zahl vor sich, die vielfache Erfahrungen, vielerlei interessante Handschriften und ein großes Spektrum von Talenten umfassen, dann kann er nicht nur konkrete Probleme behandeln, sondern auch einen positiven, dynamischen Einfluß auf die Herausbildung eines gutinformierten und feinfühligen Lesepublikums ausüben. So sind wir dabei, ein weit zweckmäßigeres vereinheitlichtes System der Literaturkritik zu erreichen als das, von dem hier die Rede war. Lassen Sie uns aber nicht annehmen, daß dieses nun das endgültige sein könnte. Der in der Partisan Review erschienene Artikel von Rahv und Phelps 217 über Kritik scheint eine Andeutung — wohl unbeabsichtigt, aber sicherlich in den Text hineinlesbar — dahingehend zu enthalten, daß eine marxistische Ästhetik entwickelt werden könnte und solite, die für alle Zeiten gültig wäre. Das geht ganz offensichtlich nicht. Es werden neue Probleme auftreten. Neue Irrtümer werden zu korrigieren sein. Der dialektische Prozeß wird fortschreiten.
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25 Henry Hart Das heutige Verlagswesen und der revolutionäre Schriftsteller Eine der Ironien, deren die Buch- und Zeitschriftenverleger, die die kapitalistische Gesellschaft so inbrünstig verteidigen, nicht gewahr werden, besteht darin, daß das Verlagswesen im Kapitalismus ein höchst mißliches Unterfangen ist. Im Grunde ist das Profitsystem an sich genug — mehr als genug — jeden Verleger, ehe er auch nur anfangt, zugrunde zu richten. Es gibt heute drei Arten bürgerlicher Verlage in diesem Land. Die erste ist die riesige Aktiengesellschaft, deren Papiere sich in vielen Händen (oder in den Händen einer einzigen Familie) befinden. Diese Art Verlagshaus kann wegen der Größe ihres Aktienkapitals (der für alte Rechtstitel stehende Firmenname wird sich jahraus, jahrein mühelos verkaufen) Bankkredite erhalten. Die zweite ist die Firma, die einst groß war und siqh jetzt nur noch durch ihre einstige Schwungkraft erhält. Die dritte ist der kleine, neue Verleger. Nun müssen die Männer, die heute in diesem Lande jeden dieser drei Typen von Buchverlagen kontrollieren, Privatvermögen besitzen und besitzen es auch. Ich glaube, es ist unbestreitbar, daß niemand einen Buchverlag begründen und länger als zwei oder drei Jahre erhalten kann, wenn er nicht ein Kapital und eine verfügbare Reserve von insgesamt etwa 250000 Dollar hat. Das bedeutet natürlich, daß die Arbeiter, die sich in der tatsächlichen Technik des Veröffentlichens auskennen — die Redakteure, Setzer, Buchgestalter, Graphiker, Werbe- und Reklamefachleute, Absatzleiter — im Kapitalismus niemals selber einen Verlag gründen können. Nun werden freilich nicht nur Bücher, sondern auch Zeitschriften um des Profites willen gedruckt und vertrieben. Und wie mit den Büchern so ist es auch mit den Zeitschriften. Der Kapitalismus hat auch keinen Platz für sie. Scribner's218 verliert seit Jahren Geld; der American Mercury219 hat soviel Verluste gehabt, daß man ihn gerade an einen früheren Zeitungsverleger verkauft hat, dessen reiche Frau ihm ein Spielzeug kaufen wollte. Die Nation,220 seit Jahren von Oswald Garrison Villard und verschiedenen Gönnern unterstützt, ist gerade von einem Bankier mit liberalen Neigungen aufgekauft worden. Die frühere Mrs. Willard Straight — eine Whitney — und jetzige Mrs. Elmhirst subventioniert die New Republic, das Theater Arts Magazine, Asi'a und Antiques. Harpens und das Atlantic Monthly sollen augenblicklich nicht in den roten Zahlen sein. Die Verluste des Forum werden von der reichen Frau des Chefredakteurs bezahlt. Die North American Review hat einen Geldgeber. Seward Collins unterstützt The Bookman. Die Familie Kirstein ermöglichte die jüngst eingegangene Hound and Horn. Schofield Thayer kam für die Dial auf. 221 Und so weiter. Doch das Bedeutsame daran ist, daß das Profitstreben zusätzlich zu dem be11
New York 1935/37
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wußten und unbewußten Faschismus der Buch- und Zeitschriftenverleger (die so treffliche Beispiele für die Widersinnigkeit des Kapitalismus sind) noch für eine weitere Zensur sorgt. Wenn ein Buchmanuskript nicht erfolgreich zu sein verspricht, d. h., wenn es kein Geld einzubringen scheint, wird es nicht angenommen. Die Vermutung des Verlegers kann natürlich in die falsche Richtung gehen, oder er kann ein Manuskript echter Qualität aus Prestigegründen verlegen. Wenn er das tut, nennt er den Verlust, den ihm das Buch einbringt, nicht einen tatsächlichen Verlust, sondern schreibt ihn als Werbekosten ab. Ich möchte hier sehr deutlich machen, daß sowohl in der Bücher- wie der Zeitschriftenbranche die Literatur vom Profitstreben beherrscht wird. Bernard Smith, der Leiter des Knopf Verlages, hat kürzlich Verkaufszahlen von Romanen revolutionärer Schriftsteller zusammengestellt. Diese Zahlen sind vom Standpunkt des Verlegers, das heißt, vom Standpunkt des Profits, sehr schlecht. Ein Absatz von etwa 2000 Exemplaren ist erforderlich, damit ein Verleger die investierten Kosten wieder einbringt — bevor er überhaupt etwas verdient. Cantwells Land of Plenty (Land der Fülle)222 hatte den höchsten Absatz: 3000 Exemplare. Von Jack Conroys The Disinherited (Die Enterbten)223 wurden 2700 Stück verkauft, doch 1000 Exemplare davon mit einem beträchtlichen Rabatt. Von William Rollins' ausgezeichnetem Roman The Skadow Before (Schatten vorausJ224 wurden keine 1200 verkauft. Romane, die Sie alle kennen und gelesen haben, die Sie bewundert haben, wurden mit weniger als 1000 Exemplaren verkauft. Absatzziffern wie diese bedeuten, daß die bürgerlichen Verleger sich bald weigern werden, unsere Romane zu verlegen. Und natürlich werden sie sich jetzt weigern, sie zu verlegen, da der im Entstehen begriffene Faschismus wächst. Im Augenblick kann ein Verleger noch immer sagen, wie einer von ihnen neulich gesagt hat: „Es ist modern, Kommunist zu sein." Doch, ich habe es bereits sagen hören, proletarische und revolutionäre Romane verkaufen sich nicht. Es hat keinen Zweck, wenn wir uns über den Wahnwitz und das Verbrecherische einer Gesellschaft verbreiten, die bereit ist, ihre schöpferischen Schriftsteller verhungern zu lassen, ihre besten schöpferischen Schriftsteller, bloß weil aus ihren Werken kein Profit zu schlagen ist. Das ist von jeher die historische Lage jedes Künstlers gewesen. Doch das Menschengeschlecht hat seinen langen Kampf gegen die Natur gewonnen, und es ist für alle Menschen Reichtum da und Zeit genug, das wunderbare Schauspiel der menschlichen Existenz zu verfolgen, so wie die Schriftsteller es tun. Es hat keinen Zweck, sich darüber zu verbreiten, doch ist es ganz bestimmt nützlich, etwas daran zu ändern. Es ist etwas getan worden, man hat einen Plan für einen linksgerichteten Buchklub 225 entworfen, der Book Union heißen soll. Die Book Union will bei einem jährlichen Beitrag von einem Dollar Mitglieder werben und allmonatlich ein Buch vertreiben, das von einem unentgeltlich arbeitenden Verlegerausschuß ausgewählt wird. Mitglieder erhalten diesen Auswahlband mit Rabatt, des weiteren ein monatliches Informationsblatt, und sie können andere, von der Book Union 162
empfohlene Bücher zu einem beträchtlich ermäßigten Preis erwerben. Der erste von der Book Union ausgewählte Band wird im September bekannt gegeben. Die Bedeutung, die die Book Union für revolutionäre Schriftsteller hat, ist gar nicht zu überschätzen. Wenn wir eine bestimmte Leserschaft für unsere Bücher schaffen können, wird der bürgerliche Verleger sie weiterhin verlegen, denn die durch die Book Union verkauften Exemplare werden ihm die Herstellungskosten ersetzen und die Werbung für diese Titel ermöglichen. Doch außerdem entsteht damit eine feste Leserschaft, die der'faschistische Terror nicht auseinandertreiben kann. Unsere Buchläden mögen geschlossen werden, doch wir kennen die Leser, und unsere Bücher werden den direkten Weg zu ihnen finden. Ich bedaure, nicht auf alle diejenigen Aspekte des heutigen Verlagswesens, die sich auf den revolutionären Schriftsteller auswirken, eingehen zu können. Doch ich habe, hoffe ich, genug gesagt, um zu zeigen, wie notwendig die Book Union für den Schriftsteller ist, und wie notwendig es darum ist, daß die Schriftsteller sie unterstützen. Mit Unterstützung meine ich, daß sie mit ihrem Wort dafür eintreten, Mitglieder werben und in jeder nur möglichen Art und Weise daran mitarbeiten.
26 Alexander Trachtenberg Die Veröffentlichung revolutionärer Literatur Gleichzeitig mit der wachsenden Radikalisierung der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten beobachten wir eine Anhebung des kulturellen Niveaus der Massen. Das findet seinen Niederschlag in der steigenden Nachfrage nach theoretischer Literatur in diesem Land. Besonders seit Entwicklung der ökonomischen Krise ist die Nachfrage nach marxistisch-leninistischer Literatur ständig gestiegen. Arbeiter aus Industrie und Landwirtschaft, Intellektuelle und Künstler wenden sich, eine Antwort auf ihre unmittelbaren Probleme suchend, unserer Literatur zu. Besonders unter den von der Kommunistischen Partei beeinflußten Bevölkerungsgruppen wird jetzt die Bedeutung theoretischer Literatur als Anleitung zum Handeln vollauf begriffen. Es ist uns in bemerkenswertem Grade gelungen, die Tatsache klarzumachen, daß theoretische Literatur eine wichtige Waffe im Klassenkampf ist. Diese Tatsache wird in unserer Bewegung inzwischen allgemein anerkannt. Zu dem Interesse für diese Literatur kommt in der revolutionären Bewegung eine wachsende Nachfrage nach schöngeistiger Literatur hinzu. Doch trotz des allgemeinen Interesses an revolutionärer Prosa und Lyrik verkaufen sich Romane und Gedichtbände, in denen es um die Arbeiterklasse geht, nur sehr schlecht, wie Hart in seinem vorhergehenden Bericht gezeigt hat. 226 In der Mehrzahl der 11»
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empfohlene Bücher zu einem beträchtlich ermäßigten Preis erwerben. Der erste von der Book Union ausgewählte Band wird im September bekannt gegeben. Die Bedeutung, die die Book Union für revolutionäre Schriftsteller hat, ist gar nicht zu überschätzen. Wenn wir eine bestimmte Leserschaft für unsere Bücher schaffen können, wird der bürgerliche Verleger sie weiterhin verlegen, denn die durch die Book Union verkauften Exemplare werden ihm die Herstellungskosten ersetzen und die Werbung für diese Titel ermöglichen. Doch außerdem entsteht damit eine feste Leserschaft, die der'faschistische Terror nicht auseinandertreiben kann. Unsere Buchläden mögen geschlossen werden, doch wir kennen die Leser, und unsere Bücher werden den direkten Weg zu ihnen finden. Ich bedaure, nicht auf alle diejenigen Aspekte des heutigen Verlagswesens, die sich auf den revolutionären Schriftsteller auswirken, eingehen zu können. Doch ich habe, hoffe ich, genug gesagt, um zu zeigen, wie notwendig die Book Union für den Schriftsteller ist, und wie notwendig es darum ist, daß die Schriftsteller sie unterstützen. Mit Unterstützung meine ich, daß sie mit ihrem Wort dafür eintreten, Mitglieder werben und in jeder nur möglichen Art und Weise daran mitarbeiten.
26 Alexander Trachtenberg Die Veröffentlichung revolutionärer Literatur Gleichzeitig mit der wachsenden Radikalisierung der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten beobachten wir eine Anhebung des kulturellen Niveaus der Massen. Das findet seinen Niederschlag in der steigenden Nachfrage nach theoretischer Literatur in diesem Land. Besonders seit Entwicklung der ökonomischen Krise ist die Nachfrage nach marxistisch-leninistischer Literatur ständig gestiegen. Arbeiter aus Industrie und Landwirtschaft, Intellektuelle und Künstler wenden sich, eine Antwort auf ihre unmittelbaren Probleme suchend, unserer Literatur zu. Besonders unter den von der Kommunistischen Partei beeinflußten Bevölkerungsgruppen wird jetzt die Bedeutung theoretischer Literatur als Anleitung zum Handeln vollauf begriffen. Es ist uns in bemerkenswertem Grade gelungen, die Tatsache klarzumachen, daß theoretische Literatur eine wichtige Waffe im Klassenkampf ist. Diese Tatsache wird in unserer Bewegung inzwischen allgemein anerkannt. Zu dem Interesse für diese Literatur kommt in der revolutionären Bewegung eine wachsende Nachfrage nach schöngeistiger Literatur hinzu. Doch trotz des allgemeinen Interesses an revolutionärer Prosa und Lyrik verkaufen sich Romane und Gedichtbände, in denen es um die Arbeiterklasse geht, nur sehr schlecht, wie Hart in seinem vorhergehenden Bericht gezeigt hat. 226 In der Mehrzahl der 11»
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Fälle wird nicht einmal die erste Auflage der besten proletarischen Romane verkauft. Das ist eine sehr enttäuschende Situation. In anderen Ländern hat die schöpferische Literatur von großen Schriftstellern wie Gorki und Andersen-Nexö einen Einfluß auf das Leben großer Teile der Arbeiterklasse gehabt. Auch in den Vereinigten Staaten müssen unsere Schriftsteller eine wirksame Rolle im Klassenkampf spielen; denn nicht nur die theoretische Literatur ist eine Anleitung zum Handeln, auch die schöpferische Literatur kann, indem sie Arbeiter bei Streiks und anderen Kämpfen schildert, Arbeiter erreichen, die nicht genügend gebildet sind, um theoretische Literatur aufzunehmen. Man kann leicht beobachten, wie Romane, die Klassenkämpfe behandeln, diejenigen beeinflussen können, die die theoretische Behandlung der gleichen Probleme nur schwer verstehen. Ein Roman oder eine Kurzgeschichte über einen Streik kann manchmal mehr als theoretische Literatur dazu beitragen, jene Arbeiter wachzurütteln, denen theoretische Schriften noch Schwierigkeiten bereiten. Das gilt auch für große Teile der Mittelklasse, die zu den größten Verbrauchern bürgerlicher Prosa in diesem Lande gehören. Erzählungen, die die Kämpfe von südlichen Teilpächtern, von schwarzen Stauern, von Kohlekumpeln, Grubenarbeitern und Stahlwerkern des mittleren Westens, in Betrieben und Werkstätten des ganzen Landes behandeln — solche Erzählungen tragen in äußerst wirksamer Weise dazu bei, Zorn und Haß gegen den Kapitalismus zu wecken und ebenso dazu, den revolutionären Weg aufzuzeigen, den die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten einschlagen müssen. Wir müssen zugeben, daß der Wert der schöpferischen Literatur in der revolutionären Bewegung nicht genügend betont worden ist. Man unterschätzt noch immer, in welch bedeutendem Maße Romane, Gedichte und Theaterstücke die Volksmassen beeinflussen. Es obliegt uns, in unseren Arbeiterschulen, in unseren Buchläden, auf unseren Zusammenkünften, in unseren Studiengruppen und Lesezirkeln, diese in unserer Arbeit vorhandene Lücke zu schließen und die proletarische Literatur den Arbeitern nahe zu bringen. Es muß darauf hingewiesen werden, daß ein Teil der Ursache für die geringe Verbreitung revolutionärer Romane der hohe Preis ist, zu dem sie verkauft werden. Selbst die Arbeiter, die an solcher Literatur ernstlich interessiert sind, können keine Bücher kaufen, weil der Preis unerschwinglich ist. Das gilt gleichfalls für einen Teil unserer theoretischen Literatur. Dessen eingedenk haben wir eine Zahl theoretischer Klassiker in billigen broschierten Ausgaben veröffentlicht. Indem solche Werke der Klassiker wie Grundlagen des Leninismus, Staat und Revolution, Brief an amerikanische Arbeiter, Kommunistisches Manifest227 in Auflagen von 100000 Exemplaren gedruckt wurden, haben wir sie zum niedrigsten, den meisten Arbeitern leicht erschwinglichem Preis anbieten können. Wir müssen gleichfalls Schritte unternehmen, um Romane in billigen Ausgaben zu veröffentlichen und sie so den Massen zugänglich zu machen. Was noch wichtiger ist, wir müssen einen ideologischen Feldzug organisieren, um die Bedeutung der schöpferischen Literatur nicht nur bei der Hebung des 164
kulturellen Niveaus der Massen zu betonen, sondern auch als ein Werkzeug, um die Arbeiter zur revolutionären Bewegung zu führen. In einem solchen Feldzug ist es für die Schriftsteller wesentlich, daß sie eng mit dem unter unserer Verfügungsgewalt stehenden Veröffentlichungs- und Verteilungsapparat zusammenarbeiten. Mit der Gründung der Liga amerikanischer Schriftsteller werden wir eine Organisation haben, durch die diese Schriftsteller die Arbeiterklubs, Gewerkschaftszentren, literarischen Vereine, Massenorganisationen erreichen und ihnen die von proletarischen Schriftstellern verfaßten Prosa-, Lyrik- und dramatischen Werke zuführen können. Die Schaffung der Book Union228 ist ebenfalls ein bedeutsamer Schritt in dieser Richtung. Sie kann als ein Hebel dazu dienen, eine breite Leserschaft für schöngeistige wie theoretische Literatur zu erreichen. Der Verlag International Publishers229 hat auch verschiedene Projekte geplant, darunter die Auflage billiger Nachdrucke proletarischer Romane, die den proletarischen Dichtern und Romanautoren helfen werden, ein breiteres Publikum zu erreichen. Alle unsere revolutionären Presseorgane werden auch dazu genutzt werden, solche Bücher zu besprechen und populär zu machen. Wenn wir unsere Anstrengungen in dieser Arbeit vereinen, werden wir etwas zuwegebringen, das es in den Vereinigten Staaten noch nie zuvor gegeben hat: ein Massenpublikum für wahre Literatur.
27 Louis Aragon Vom Dadaismus zu Rotfront Ich war ein Schriftsteller, der sich rühmte, den großen Krieg erlebt zu haben, ohne ein Wort darüber geschrieben zu haben. Darein setzte ich meinen Stolz, als Vorzug gegenüber jenen Dichtern von Paul Fort bis Guillaume Apollinaire, die ihre literarischen Metaphern in die französische Flagge hüllten. Meine Revolte gegen die mich umgebende Welt fand auf ganz natürliche Weise ihre Quelle im Dadaismus. Die Fehde, in die ich mich einließ, war eine seit vielen vergangenen Generationen währende, doch immer noch ergebnislos gebliebene. Ich stellte den Schriftsteller gegen das Publikum. Was immer Allgemeinheit war, war ein Feind. So kam es, daß die Dadaisten, meine Freunde und ich, auch einige wenige Amerikaner, Malcolm Cowley und Matthew Josephson, nicht nur die Tradition Rimbauds sondern auch die Vignys fortführten. Das Publikum beschimpfte uns, wir beharrten. Doch inmitten der Demonstrationen und Beleidigungen verschlossen einige wenige Männer, die das skandalöse Banner der Dichtung als Drohung akzeptiert hatten, vor den außerhalb ihres Kampfes geschehenden Dingen nicht völlig die Augen. Wir waren, ob wir es wollten oder nicht, Männer der Nachkriegszeit, die unter der strengen Herrschaft des Versailler Vertrages lebten und ein 165
kulturellen Niveaus der Massen zu betonen, sondern auch als ein Werkzeug, um die Arbeiter zur revolutionären Bewegung zu führen. In einem solchen Feldzug ist es für die Schriftsteller wesentlich, daß sie eng mit dem unter unserer Verfügungsgewalt stehenden Veröffentlichungs- und Verteilungsapparat zusammenarbeiten. Mit der Gründung der Liga amerikanischer Schriftsteller werden wir eine Organisation haben, durch die diese Schriftsteller die Arbeiterklubs, Gewerkschaftszentren, literarischen Vereine, Massenorganisationen erreichen und ihnen die von proletarischen Schriftstellern verfaßten Prosa-, Lyrik- und dramatischen Werke zuführen können. Die Schaffung der Book Union228 ist ebenfalls ein bedeutsamer Schritt in dieser Richtung. Sie kann als ein Hebel dazu dienen, eine breite Leserschaft für schöngeistige wie theoretische Literatur zu erreichen. Der Verlag International Publishers229 hat auch verschiedene Projekte geplant, darunter die Auflage billiger Nachdrucke proletarischer Romane, die den proletarischen Dichtern und Romanautoren helfen werden, ein breiteres Publikum zu erreichen. Alle unsere revolutionären Presseorgane werden auch dazu genutzt werden, solche Bücher zu besprechen und populär zu machen. Wenn wir unsere Anstrengungen in dieser Arbeit vereinen, werden wir etwas zuwegebringen, das es in den Vereinigten Staaten noch nie zuvor gegeben hat: ein Massenpublikum für wahre Literatur.
27 Louis Aragon Vom Dadaismus zu Rotfront Ich war ein Schriftsteller, der sich rühmte, den großen Krieg erlebt zu haben, ohne ein Wort darüber geschrieben zu haben. Darein setzte ich meinen Stolz, als Vorzug gegenüber jenen Dichtern von Paul Fort bis Guillaume Apollinaire, die ihre literarischen Metaphern in die französische Flagge hüllten. Meine Revolte gegen die mich umgebende Welt fand auf ganz natürliche Weise ihre Quelle im Dadaismus. Die Fehde, in die ich mich einließ, war eine seit vielen vergangenen Generationen währende, doch immer noch ergebnislos gebliebene. Ich stellte den Schriftsteller gegen das Publikum. Was immer Allgemeinheit war, war ein Feind. So kam es, daß die Dadaisten, meine Freunde und ich, auch einige wenige Amerikaner, Malcolm Cowley und Matthew Josephson, nicht nur die Tradition Rimbauds sondern auch die Vignys fortführten. Das Publikum beschimpfte uns, wir beharrten. Doch inmitten der Demonstrationen und Beleidigungen verschlossen einige wenige Männer, die das skandalöse Banner der Dichtung als Drohung akzeptiert hatten, vor den außerhalb ihres Kampfes geschehenden Dingen nicht völlig die Augen. Wir waren, ob wir es wollten oder nicht, Männer der Nachkriegszeit, die unter der strengen Herrschaft des Versailler Vertrages lebten und ein 165
Deutschland, in dem man die Revolution zerschlagen hatte, vor Augen hatten. Ich erinnere mich noch, mit welcher großen Anteilnahme ich den Kongreß von Tours 230 verfolgte, als Clara Zetkin, der Polizei trotzend, sich erhob und die Französische Kommunistische Partei geboren wurde. Es waren unterdessen in dem Nebel der Ideologien und Widersprüche, über die wir uns vom Dadaismus bis zum Surrealismus stritten, viele Jahre notwendig, damit ich und die Mehrzahl meiner Freunde zu einem neuen Bewußtsein gelangten. Die Welt, die uns so mißhandelt hatte niederzureißen, war nicht einfach eine Frage bloßer Begeisterung, sondern Teil unserer Aufgabe als Schriftsteller. Lange Zeit fand diese heftige emotionale Reaktion ihren Ausdruck in der Form des Anarchismus, und lange Zeit applaudierte der alte Dadaist lediglich mit Gesten und Worten, ohne gewahr zu werden, wo seine wahren Verbündeten standen, diejenigen, mit denen er sich verbünden sollte. Waldo Frank erinnert sich gewiß an den verrückten Abend, als ich ihn zu einer Anarchistenveranstaltung mitnahm, ich, der ich damals dachte, Germaine Bertons Heldentat, nämlich ihr Mord an Marius Plateau, bilde den Gipfel des Wahren und Schönen. Zu dem Zeitpunkt beachtete ich das Proletariat und seine tägliche Aufgabe nicht. Den Bruch, den großen Schock jedoch bildete für mich wie für viele andere der Krieg in Marokko. Als unsere, den Frieden stets im Munde führende Bourgeoisie den systematischen Massenmord von Marokkanern unternahm, die genauso für ihre Unabhängigkeit kämpften wie das „arme, unglückliche Belgien", mit dessen Lage man uns während des Krieges in den Ohren gelegen hatte; als wir abermals einen von unserem eigenen Lande, mit Unterstützung der Akademiemitglieder, vom Zaun gebrochenen Krieg erlebten, war das für uns ein Schlag und für mich der Wendepunkt meines Lebens. Wie beneidete ich John Dos Passos, den ich traf, als er gerade im Begriffstand, nach Marokko zu Abdal-Krim zu reisen. Wenn wir nur begriffen hätten, worauf es ankam, hätten wir verstanden, daß unsere Arbeit im Lande, ja sogar in Paris, war, wo wir kaum für etwas anderes Augen hatten als hübsche moderne Plakate, oder die merkwürdigen kleinen Theater besuchten, die die niederste Form der Prostitution darstellten, oder einer Kunst nachgingen, die täglich mehr ihre Wurzeln vergaß und im Winde trieb. Fünf Jahre durchlebte ich; fünf Jahre, die ich von verschiedenen kleinen Aversionen, von dem entstellten Kult einer poetischen Welt, die ich und meine Freunde uns gesponnen hatten, von dem Strudel, in den ich mich zu werfen versucht hatte, beansprucht war. Fünf Jahre des Zögerns, der Umwege. Der Surrealismus stand damals auf seinem glänzenden Höhepunkt. Damals, zu Beginn des Interregnums der Ängste und Zweifel, traf ich auf jemand, der mein ganzes Leben veränderte. Die Begegnung fand in einem jener Cafés auf dem Montparnasse statt, in dem ich wie so viele andere meine Zeit vertrödelte. Es war ein Herbstabend, mit Lichtern und Frauen, und einem schwarzweißen Hund auf einem Stuhl, der wie ein Spielzeug aussah. Plötzlich rief jemand meinen Namen: „Der Dichter Wladimir Majakowski 166
bittet Sie, an seinen Tisch zu kommen." Da war er, er machte eine Handbewegung, er sprach kein Französisch. Doch dieser Augenblick sollte mein ganzes Leben verändern. Der Dichter, der die Dichtung zur Waffe gemacht hatte, der Dichter, der außerhalb der Revolution keinerlei Existenz besaß, sollte das Bindeglied zwischen einer Welt und mir werden. Das erste Glied einer Kette, die ich annahm und heute jedermann zeige, einer Kette, die mich wieder mit der Außenwelt verbindet, mit jener Außenwelt, die die Mietlinge von Philosophen mich gelehrt hatten zu leugnen; mit jener Außenwelt, die wir Materialisten verändern können und in der ich hinfort nicht nur das Schreckensantlitz des Gegners, sondern auch die tiefgründigen Augen von Millionen Männern und Frauen sehe, die Augen jener, die — wie mich der Dichter Majakowski gelehrt hat — auf möglichst einfache Weise anzusprechen sind — jene nämlich, die diese Welt verändern werden und die ihre verstümmelten Fäuste, von denen eine zerrissene Kette herabhängt, emporrecken. Weil die Gerichte meines Landes gezwungen werden, diese Geschichte zu verbreiten, weiß man, daß ich 1930 in der Sowjetunion war, und daß ich nach meiner Rückkehr nicht mehr derselbe Mensch, nicht mehr der Autor des Pariser Landleben, sondern der Front Rouge (Rot Front)231 war. Mir war offenbar geworden, daß das Wichtigste, das einzige eines Menschen und Dichters Würdige darin bestand, die Schönheit der neuen Welt zu preisen; und gleichzeitig begriff ich, daß es für einen Schriftsteller nicht genügt, Dinge zu verkünden, Manifeste zu verfassen; man muß wissen, wie man sein Handwerk, den innersten Geist seines Handwerks, zum Nutzen der neuen Welt verwendet. Als ich aus der Sowjetunion zurückkehrte, war ich nicht mehr derselbe Mensch. Dennoch blieben tausend, fein wie ein Spinnennetz gesponnene Bande, die ich zerreißen mußte. Daß ich die Kraft besaß, sie zu zerreißen, danke ich, wie ich weiß, der praktischen Arbeit, der gesellschaftlichen Arbeit, die das Proletariat meines Landes leistete. Es geschah, weil ich mich danach am tagtäglichen Kampf der neuen Titanen des gesellschaftlichen Horizontes beteiligte. Und es bedeutet, daß ich bis auf zwei oder drei Ausnahmen mit allen meinen Freunden zu brechen hatte, die in den Wolken schwammen und nicht begriffen, daß ich mit den Füßen auf der Erde wandeln wollte. Sie haben soviel Tinte gegen mich verschwendet, soviele Beleidigungen gegen mich vorgebracht, daß ich hier nicht weiter auf sie einzugehen brauche. Auf jeden Fall habe ich mit diesen Schriftstellern, diesen Künstlern gebrochen, mit ihnen, die mich für einen der ihren hielten und die die Höchstleistung menschlichen Denkens in der Ära des Imperialismus mit all seiner Größe und Schwäche vertreten — ich meine die Surrealisten. Ich habe mit jenen gebrochen, die zwar beständig von der Revolution redeten, doch denen manches auf der Welt wertvoller war als die Revolution. Hier bin ich zu euch gekommen — oder zumindest meine Botschaft ist es. Euer Kongreß ist der dritte seiner Art, den ich besucht habe. 1930 war ich ein Gast des Internationalen Schriftstellerkongresses in Charkow, 232 ein Gast, der nur Fragen beantwortete. 1934 in Moskau auf dem Kongreß sowjetischer Schriftsteller 233 167
war ich für zahlreiche Menschen Dolmetscher, Menschen, die es für bedeutsam hielten, daß ich auf dem Podium der Säulenhalle vor Gorki, Scholochow, Pasternak sprach. Ich sprach über mein Land, unsere Traditionen auf dem Gebiet der Kultur und die vor uns liegenden großen Aufgaben. Ich habe heute das Gefühl, ein vollkommen neuer Mensch zu sein, mit neuer Energie geladen, und wenn ich den Menschen betrachte, der ich vorher war, so kommt es mir vor, als schaute ich zurück auf jene vergangenen Jahrhunderte, als unsere Vorfahren ständig fürchteten, der Himmel stürze über ihnen zusammen. Der Mensch, der ich gewesen bin, kommt mir wie ein Schattenwesen vor. Ich sehe den langen Prozeß seiner Umerziehung. Diese Erziehung ging nicht schmerzlos vor sich, es gab Schwankungen, Rückschritte, doch er steht heute vor Ihnen, gesund, dieser neue Mensch, von seiner sozialen Krankheit geheilt. Schaut ihn euch an, Genossen, und sagt, habe ich nicht ein Recht, stolz zu sein? Der alte Materialismus, hat Marx gesagt, besaß als Grundlage eine bürgerliche Gesellschaft. Der neue Materialismus besitzt die neue Gesellschaft, „die menschliche Gesellschaft oder die vergesellschaftete Menschheit" als Grundlage. Und ich möchte euch hier auch sagen, daß jede legitime intellektuelle Tätigkeit, jeder lebendige Teil menschlichen Denkens, der mit der Zukunft der Menschheit verbunden ist, heute dieselbe Grundlage hat wie der neue Materialismus, die neue siegreiche Gesellschaft in der Sowjetunion, die unter Kämpfen auch in Eurem Land, in unserem Land, in der ganzen Welt entsteht. Die Literatur von morgen hat zur Grundlage die neue Menschheit, die aus der proletarischen Revolution entsteht und in ihrem Feuer geschmiedet wird. Die Literatur von morgen kann keine andere Grundlage haben. Doch diese Verwandlung meiner Perspn wie meines Werkes durch die Sowjets und durch die tatsächliche Arbeit in den revolutionären Organisationen ist keine einfache Tatsache meiner Biographie. Vergleicht die ganze Welt mit der Sowjetunion, mit den Menschen der Sowjetunion, die die besten ihrer Schriftsteller an sich gezogen und sie verwandelt haben, nicht selten auf Kosten ihrer bisherigen literarischen Vorleistungen. Ich wende mich an euch, Dreiser, Dos Passos, Waldo Frank. Denkt an unseren André Gide, an Jean-Richard Bloch, Jean Giono, André Malraux, Victor Margueritte, die sich mit Henri Barbusse und Romain Rolland verbrüdert haben. Von welcher Zukunft träumt Bernard Shaw heute? In welche Richtung hat Hitler Thomas Mann getrieben? In Japan, in China ist eine große, im Blute der Arbeiter entstandene Literatur im Werden. Renn ist im Gefängnis. Kisch wird von Land zu Land getrieben. Erst gestern wurde Barbusse in der Schweiz verboten. Über dieser lebendigen Literatur weht die rote Fahne des neuen Materialismus, die Fahne der Sowjetliteratur der ganzen Welt. Genau zu dem Zeitpunkt, da man auf einem Sechstel der Erde den Sozialismus zu errichten begonnen hat, beginnt eine in ihrem innersten Wesen wirklich sozialistische Literatur sich zu entfalten. Sie fiel nicht vom Finanzhimmel, sie ist aus den Massen, aus der sozialen Realität erwachsen. Die Erfahrung der Sowjetschriftsteller ist im Hinblick auf die Literatur von morgen eine für alle wahren Schriftsteller gültige Grunderfahrung. Aus dieser 168
Erfahrung wie aus den gesündesten Traditionen, die wir von den Dichtern der Vergangenheit übernommen haben, erwächst die Literatur der Zukunft. Unsere Genossen in der Sowjetunion haben diese Methode, den sozialistischen Realismus, definiert. Warum zögern wir, mit dieser neuen Waffe umzugehen? Ich sähe es gern, wenn jeder Kongreßteilnehmer sein Gewissen überprüfen und versuchen würde, in Erfahrung zu bringen, was ihn noch immer vom sozialistischen Realismus abhält und warum einige von euch diesen Weg bereits beschritten haben. Was mich anlangt, der ich genauso wie ein Arbeiter vor seinen Kollegen Rechenschaft vor euch ablege, so präsentiere ich euch meine beiden letzten Bücher, die Gedichte des Bandes Hurra, Ural sowie meinen Roman Die Glocken von Basel234, und ich frage euch, Genossen, ob ihr sie für gut befindet. Wir sind die Schöpfer der Kultur von morgen. Für uns ist diese Kultur keine in den Wolken schwebende Idee, sie ist vielmehr nicht von den wirklichen Menschen zu trennen, die den Boden und die Saat dieser neuen Kultur, für deren Schicksal wie für ihr eigenes bilden. Diese ihnen gehörende Literatur lebt in dem Dreck und Blut des Alltags. Glaubt ihr im Jahre 1935, daß es ein vereinzeltes Problem der Kultur war, das, vor einem Hintergrund aus Schrapnells und Giftgas, mit einem Heiligenschein versehen wurde? Die vornehmste Aufgabe der Schöpfer der Kultur von morgen besteht darin, zu verhindern, daß die Menschen zu der Barberei von vor zwanzig Jahren zurückkehren, wo nur für Hörner und Blaskapellen, Kanonen und Leichen Platz war — prächtige Symbole großer Kunst unserer Bourgeoisie. Glaubt ihr, daß es für Menschen wie euch, die diese Idee und ihre Zukunft achten, unter der ständigen Bedrohung durch Krieg und Faschismus, dieser sich von Land zu Land ausbreitenden Leprakrankheit, die die Patrioten der französischen Bourgeoisie bei Hitler tadeln und bei La Rocque begrüßen, eine Möglichkeit gibt, dieser Idee zu folgen? Diese bourgeoisen Patrioten vermögen nur die Werke in den Museen und Bibliotheken zu zerstören, während in den gemarterten Leibern der Besten die Dichtung eines Mühsam, der Marxismus eines Scheer weiterleben. Weil wir die Zukunft der Kultur verteidigen, zählen wir notwendigerweise zu ihren Erben. Ihre Sache ist die unsere; wir stehen auf seiten der Arbeiterklasse, auf seiten der Arbeiter, die im Kapitalismus täglich auf den Straßen erschossen oder in den Fabriken umgebracht werden. Wir stehen auf seiten der Arbeiter, die ohne vorherige Warnung an der nächsten Straßenecke zusammengeschlagen werden, wenn sie die Stimme des Hungers laut werden lassen. Wir stehen auf seiten der Arbeiter. Wir Schriftsteller des Landes eines Babeuf und Varlin, wir Schriftsteller des Landes eines Rimbaud, Zola und Valles stehen auf seiten der Arbeiter. Wir stehen auf seiten der Helden von Wien und Asturien, auf seiten der Metallarbeiter aus Toronto und Boulogne, wir unterstützen die Kämpfer der Februartage in Paris und der Oktoberrevolution in Rußland. Wir stehen auf seiten der heldenhaften Massen in Deutschland, die bereit sind, wieder der Stimme Liebknechts zu lauschen. Wir stehen zu den militanten Arbeitern Frankreichs in den Werften und Kasernen, die gegen jene kämpfen, die, nachdem 169
sie Jaurès ermordet haben, ihren deutschen Komplizen die Waffe gegeben haben, die Karl und Rosa traf. Und die Größe der vor eurem Kongreß liegenden Aufgaben besteht darin, daß sie sich nicht mehr mit akademischen Erörterungen über die drei Einheiten der Kunstum-der-Kunst-willen oder über den freien Vers befassen, sondern daß diese Aufgaben es den größten Schriftstellern, den Meistern der Kunst, zur Pflicht machen, aus dieser Kunst ein rotes Banner zu machen, wehend über dem Freudenfeuer 235 der Menschheit, über der Feste der Hoffnung, die das Proletariat der Welt beherrscht. 236
28 John Dos Passos Der Schriftsteller als Fachmann Jeder, der Worte zu Papier bringen kann, ist in gewissem Sinne ein Schriftsteller. Aber die Fähigkeit, schreiben zu können, macht den Menschen ebensowenig zum professionellen Schriftsteller wie etwa die Tatsache, daß er im Erdboden graben und etwas aussäen kann, ihn zum Bauern macht, oder daß er eine Leine über Bord werfen kann, zum Fischer. Das ist ziemlich leicht zu verstehen. Die Schwierigkeit beginnt dann, wenn man herauszuarbeiten versucht, wodurch sich professionelles Schreiben von den Briefen des Durchschnittsmenschen an seine Familie und Freunde unterscheidet. In einer Zeit der Wirrungen und raschen Veränderung wie der gegenwärtigen, in der die Begriffe sich ständig wandeln und die Namen der Dinge ihre Bedeutung kaum von einem Tag zum andern behalten, ist es unmöglich, zwei ehrliche Sätze niederzuschreiben, ohne innezuhalten und jede einzelne von den Abstraktionen genau unter die Lupe zu nehmen, die in den Köpfen unserer Väter so schön ordentlich in verzierten Marmornischen aufgereiht waren. Die ganze Frage, was Schreiben denn eigentlich sei, ist während jener Jahre, in denen die Industrie des gedruckten Wortes an Fülle und Reichtum, und in gewissem Maße auch an Macht, ihren Höhepunkt erreicht hat, besonders verwickelt geworden. Drei Begriffe, die ihre Bedeutung noch bewahrt haben und die wir meiner Meinung nach auf alles professionelle Schreiben anwenden können, sind Entdeckung, Originalität und Erfindungsgabe. Der Berufsschriftsteller entdeckt irgendeinen Aspekt der Welt und erfindet auf Grund des Sprachgebrauchs seiner Zeit eine besonders treffende und originelle Art und Weise, ihn zu Papier zu bringen. Ist das Ergebnis überzeugend und wichtig genug, dann verändert und beeinflußt es die Denkvorgänge bis zu dem Punkt, wo die Sprache — das Denken der Gruppe — sich verändert und neu formt. Der Prozeß ist nicht sehr verschieden von dem der wissenschaftlichen Entdeckung und Erfindung. Die Bedeutung eines Schriftstellers hängt wie die eines Wissenschaftlers von seiner Fähigkeit ab, das Weiterdenken 170
sie Jaurès ermordet haben, ihren deutschen Komplizen die Waffe gegeben haben, die Karl und Rosa traf. Und die Größe der vor eurem Kongreß liegenden Aufgaben besteht darin, daß sie sich nicht mehr mit akademischen Erörterungen über die drei Einheiten der Kunstum-der-Kunst-willen oder über den freien Vers befassen, sondern daß diese Aufgaben es den größten Schriftstellern, den Meistern der Kunst, zur Pflicht machen, aus dieser Kunst ein rotes Banner zu machen, wehend über dem Freudenfeuer 235 der Menschheit, über der Feste der Hoffnung, die das Proletariat der Welt beherrscht. 236
28 John Dos Passos Der Schriftsteller als Fachmann Jeder, der Worte zu Papier bringen kann, ist in gewissem Sinne ein Schriftsteller. Aber die Fähigkeit, schreiben zu können, macht den Menschen ebensowenig zum professionellen Schriftsteller wie etwa die Tatsache, daß er im Erdboden graben und etwas aussäen kann, ihn zum Bauern macht, oder daß er eine Leine über Bord werfen kann, zum Fischer. Das ist ziemlich leicht zu verstehen. Die Schwierigkeit beginnt dann, wenn man herauszuarbeiten versucht, wodurch sich professionelles Schreiben von den Briefen des Durchschnittsmenschen an seine Familie und Freunde unterscheidet. In einer Zeit der Wirrungen und raschen Veränderung wie der gegenwärtigen, in der die Begriffe sich ständig wandeln und die Namen der Dinge ihre Bedeutung kaum von einem Tag zum andern behalten, ist es unmöglich, zwei ehrliche Sätze niederzuschreiben, ohne innezuhalten und jede einzelne von den Abstraktionen genau unter die Lupe zu nehmen, die in den Köpfen unserer Väter so schön ordentlich in verzierten Marmornischen aufgereiht waren. Die ganze Frage, was Schreiben denn eigentlich sei, ist während jener Jahre, in denen die Industrie des gedruckten Wortes an Fülle und Reichtum, und in gewissem Maße auch an Macht, ihren Höhepunkt erreicht hat, besonders verwickelt geworden. Drei Begriffe, die ihre Bedeutung noch bewahrt haben und die wir meiner Meinung nach auf alles professionelle Schreiben anwenden können, sind Entdeckung, Originalität und Erfindungsgabe. Der Berufsschriftsteller entdeckt irgendeinen Aspekt der Welt und erfindet auf Grund des Sprachgebrauchs seiner Zeit eine besonders treffende und originelle Art und Weise, ihn zu Papier zu bringen. Ist das Ergebnis überzeugend und wichtig genug, dann verändert und beeinflußt es die Denkvorgänge bis zu dem Punkt, wo die Sprache — das Denken der Gruppe — sich verändert und neu formt. Der Prozeß ist nicht sehr verschieden von dem der wissenschaftlichen Entdeckung und Erfindung. Die Bedeutung eines Schriftstellers hängt wie die eines Wissenschaftlers von seiner Fähigkeit ab, das Weiterdenken 170
zu beeinflussen. In seinem Verhältnis der Gesellschaft gegenüber ist ein professioneller Schriftsteller ebensosehr Fachmann wie ein Elektroingenieur. Wie in der industrialisierten Wissenschaft umfaßt das Schreiben alle Stufen zwischen dem vollkommen fabrikmäßigen Fließbandsystem der Produktion und dem Ein-Mann-Handwerksbetrieb. Zeitungen, Anzeigebüros, Filmstudios und politische Propaganda-Agenturen produzieren den kollektiven Typus des Schreibens, bei dem die individuelle Arbeit innerhalb der industriellen Produktionsweise nicht mehr erkennbar ist. Historische und wissenschaftliche Werke entstehen zumeist nach der Labormethode, bei der verschiedene Mitglieder eines Arbeitskollektivs unter der Aufsicht eines Einzelnen tätig sind. Lieder und Balladen^sind oft das Ergebnis spontaner Empfindungen einer gemeinsam arbeitenden Gruppe. Geschichten und Gedichte sind zur Zeit üblicherweise Leistung des isoliert arbeitenden Fachmanns. Jeder Schriftsteller, der einmal in einem dieser Kollektivunternehmen gearbeitet hat, kennt die Schwierigkeiten des Kampfes gegen die Routine und die bürokratische Kontrolle, die unverzichtbarer Bestandteil großer industrieller Unternehmen zu sein scheint, ob ihr Ziel nun darin besteht, Geld zu scheffeln, oder darin, die menschliche Gesellschaft zu verbessern. Es ist eine Binsenwahrheit, daß die geschäftlichen Ziele, die darin bestehen, billig zu kaufen und teuer zu verkaufen, oft im Gegensatz zu den Zielen des Fachmanns stehen, die, soweit er wirklich Fachmann und nicht Opportunist ist, in der Weiterentwicklung seines Materials und der technischen Möglichkeiten seiner Arbeit bestehen. Das Hauptproblem im Leben eines jeden Fachmanns ist es, sich genügend Freiheit von der Einmischung seitens der Manager der Gesellschaft, in der er lebt, zu sichern, um seine Arbeit tun zu können. Da die Ära des freien Wettbewerbs von der des Monopols verdrängt wird, wozu wachsende Verwaltungskontrolle, die interne Bürointrige und die anderen erstickenden Krankheiten der Bürokratie gehören, wird es für den Fachmann immer schwieriger, sich diese Freiheit zu erhalten. Selbst in einem Lande, das den Aufbau des Sozialismus organisiert anstatt die Vermehrung des Reichtums und der Macht einiger weniger Bosse, erschwert die Notwendigkeit funktioneller Hierarchien enormen Maßstabs und die Schwierigkeit, diese Hierarchien durch die Kontrolle des Volkes lebendig zu erhalten, die Position des Fachmanns außerordentlich, weil er, eben auf Grund seiner Funktion, seine Zeit für seine Arbeit anstatt für „organisatorische Probleme" verwenden muß. Berücksichtigt man dazu die Tatsache, daß die Leute hinter den Büroschreibtischen die Polizeigewalt unter ihrer Kontrolle haben — in unserem Lande mittelbar, aber in vielen anderen Ländern auch unmittelbar —, so daß sie je nach Laune irgendeiner Gruppe Angestellter einen Menschen ins Gefängnis bringen oder ihm das Leben schwer machen und ihm alles nehmen kann, was ihm das Leben lebenswert macht, dann erkennt man, daß der Fachmann sich — trotz des täglichen Wachsens der in seiner Macht befindlichen mechanischen Mittel — in einer Position zunehmender Gefahr und Unsicherheit befindet. Den einzigen Namen, den man einer Situation geben kann, in der der Fachmann 171
die bestmögliche Arbeit leisten und jenen Zweifeln und nicht klassifizierbaren Impulsen der Neugier die Zügel schießen lassen kann, die die Quelle des Erfindens und Entdeckens und des selbständigen Denkens sind, ist Freiheit. Freiheit als Abstraktion ist außerhalb philosophischer Schachspielerei bedeutungslos. Hinzu kommt, daß der Begriff verschiedene irreführende politische Färbungen angenommen hat. In Amerika bezeichnet er die Freiheit des Ausbeuters, die Löhne zu beschneiden und die Arbeiter, wenn sie dagegen aufbegehren, auf die Straße zu setzen. In den meisten Zeitungen der Welt bezeichnet das Wort Freiheit etwas, was mit den Privilegien der kommerziellen Klassen zu tun hat. Aber unter all dem steckt immer noch eine Bedeutung, die wir alle kennen, so wie wir wissen, daß ein Fünfer ein Fünfer ist, auch wenn der Indianer und der Büffel abgegriffen sind. 237 Ein Schriftsteller, also ein Fachmann, darf es sich meinem Empfinden nach nie erlauben — gleichgültig, wieweit ihn selbst das edelste politische Engagement im Kampf um die soziale Gerechtigkeit mit sich fortreißt — zu vergessen, daß sein wahres politisches Ziel, für sich selbst und für seine Kollegen, die Freiheit ist. Man kann nichts entdecken, nichts in Gang bringen, nichts erfinden, wenn man nicht wenigstens moralisch frei und frei von Furcht oder Vorurteil in bezug auf die eigene Arbeit ist. Diese Position angesichts der dazu im Widerspruch stehenden Anforderungen des organisationsbestimmten Lebens zu behaupten, kostet ein gewisses Maß an Nervenkraft. Sie können diesen Sachverhalt en miniature beobachten, sooft ein Mensch auch nur die kleinste technische Aufgabe ausführt, wie etwa das Reinigen eines Vergasers oder das Zielen mit einem Gewehr. Der Seelenzustand des Betreffenden unterscheidet sich vollkommen von dem des Eigentümers des Wagens, der damit an einen bestimmten Ort gelangen möchte, oder auch von seinem eigenen, eine Sekunde vor dem Anlegen des Gewehrs, wenn ihn der Wunsch erregt, den Kampf zu gewinnen, oder panische Angst, der Feind könnte ihm zuvorkommen. Dieser seelische Zustand, in der ein Mensch bereit ist, gute Arbeit zu leisten, ist ein Zustand selbstloser Gelassenheit, ohne Sorgen oder Bedrängnis außerhalb der zu lösenden Aufgabe. Er ist mit einer Art Glücksgefühl verbunden, das dem viel näher kommt, was ein gewöhnlicher Tagelöhner empfindet, als dem, was etwa ein Priester, Propagandist oder Drehstuhlkonstrukteur fühlt. Jeder, der den Krieg kennengelernt hat, kennt den erstaunlichen Unterschied zwischen der Einstellung der Männer an der Front, die töten und sterben, und der von Schrecken heimgesuchten Bevölkerung des Hinterlandes. In diesem besonderen geschichtlichen Augenblick, in dem Technik und Institutionen so über die Fähigkeit des Geistes, sie zu beherrschen, hinausgewachsen sind, brauchen wir mehr denn je kühnes und originelles Denken. Es ist die Sache der Schriftsteller, solche Gedanken zu verbreiten, und sich nicht zu Galionsfiguren politischer Konflikte machen zu lassen. Ich will damit nicht sagen, daß ein Schriftsteller nicht wie jeder andere Bürger verpflichtet wäre, sich wenn möglich am Kampf gegen die Unterdrückung zu beteiligen, sondern daß seine Funktion als Bürger und seine Funktion als Fachmann zwei verschiedene Dinge sind, wenn auch das letzten Endes angestrebte Ziel in beiden Fällen das gleiche sein kann. 172
Um gegen die Unterdrückung kämpfen und nach besten Kräften für eine gesunde Organisation der Gesellschaft tätig sein zu können, brauchen wir den Geisteszustand der Freiheit nicht aufzugeben. Tun wir es, dann lassen wir zur Hintertür herein, was wir vor der Haustür bekämpfen. Ich kann nicht einsehen, wie es möglich sein sollte, sich wirksam für die Freiheit und die menschlichen Werte des Lebens einzusetzen, ohne während jeder Minute des Kampfes die Freiheit der Untersuchung, der Rede und der Diskussion zu schützen und zu fordern, die den Hauptteil des Ergebnisses dieses Kampfes bilden soll. In jeder Organisation gibt man seine Handlungsfreiheit auf. Das ist notwendige Disziplin. Aber wenn Menschen die Freiheit des Denkens aufgeben, dann folgt daraus nur die Halsabschneiderei und die administrative Stagnation der Herrschaft der Bosse. Es ist einfach, sich von der zeitweiligen Effektivität der Boss-Herrschaft bluffen zu lassen, aber diese hat noch immer, im Kleinen wie im Großen, damit geendet, daß ihre Opfer ausgeblutet und heruntergekommen auf der Strecke blieben, während all die Probleme einer lebendigen Gesellschaft freier Menschen ungelöst blieben. Das Dilemma, vor dem alle ehrlichen Fachleute der ganzen Welt heute stehen, ist: Wie können sie die herrscherhaften und bürokratischen Züge der Gruppen bekämpfen, mit deren Zielen sie sich identifizieren, ohne dadurch dem Feind Hilfe und Zuspruch zu gewähren. Bedingt durch den Charakter seiner Funktion als Fachmann befindet sich der Schriftsteller in der gefahrlichen und unangenehmen vorderen Linie dieses Kampfes. In solch einer Position ist man einem Kreuzfeuer ausgesetzt und kann ebenso wahrscheinlich von seinen Freunden wie von seinen Feinden niedergemäht werden. Der Schriftsteller muß darauf gefaßt sein. Seine einzige Sicherheit liegt in der Tatsache, daß die Arbeit eines fähigen Fachmanns unersetzlich ist. Sie ist nützlich und bringt der Menschheit Vergnügen. Wäre das nicht so — und die Tatsache wird, wenn auch widerwillig, überall und immer anerkannt —, dann wäre der ganze Stamm der Zweifler, Erfinder und Entdecker schon so oft ausgerottet worden, daß die Rasse schon gar keine Typen mit jenen eigentümlichen Merkmalen mehr hervorbrächte. Es ist ein altes Wort, aber sehr zutreffend, daß ein Schriftsteller schreibt, nicht um erlöst, sondern um verdammt zu werden. Ich denke mir, daß amerikanische Schriftsteller, die den Wunsch haben, wertvollste Arbeit zu leisten, feststellen werden, daß sie dabei sind zu versuchen, unter der Oberfläche von Meinungen, orthodoxen und ketzerischen Auffassungen, Geschwätz und dem journalistischen Tagesmüll die tiefliegende Strömung der geschichtlichen Veränderungen zu entdecken. Sie werden feststellen, daß ihre Aufmerksamkeit auf die einfachen, realen Bedürfnisse der Menschen gerichtet bleiben muß. Ein Schriftsteller kann Propagandist im begrenztesten Sinne des Wortes sein, oder er kann seine Fähigkeiten zu parteipolitischen Ausfällen oder persönlichen Schmähungen benutzen — immer muß das lebendige Material seiner Arbeit das sein, was man mit dem Begriff Menschlichkeit zu bezeichnen pflegt: das Verlangen nach der reinen Wahrheit und scharf herausgearbeiteten Exakt173
heiten, die menschlichen Instinkte und Zwänge, menschliches Hungern und Dürsten. Selbst wenn ein Mensch in der nächsten Minute sterben soll, muß er kühl und leidenschaftslos sein, wenn er sein Gewehr in Anschlag bringt. Man kann der Tatsache einfach nicht entgehen, daß man es als Schriftsteller mit allem Menschlichen zu tun hat, mit der Redeweise aller Menschen des eigenen Sprachbereichs und der eigenen Generation, mit ihren aus der Vergangenheit überkommenen Traditionen, ihren Gefühlen und Vorstellungen. Ganz gleich, wie eng das System von Auffassungen ist, von dem man ausgeht: Während man sich müht, tiefer und tiefer in die vorgefundenen Menschen und Ereignisse einzudringen, wird man feststellen, daß man immer weniger dazu imstande ist, nach genauen Vorschriften einer Doktrin zu arbeiten; und man wird mehr und mehr feststellen, daß man auf der Seite der Männer, Frauen und Kinder steht, die gerade jetzt leben, und daß man sich gegen all die Maschinerien und Organisationen stellt, wie großartig ihre Ziele auch sein mögen, die diese Menschen verwirren. Und daß man ohne Phrasen und Redereien wirklich und wahrhaftig auf der Seite der Freiheit, der Brüderlichkeit und der Menschlichkeit steht. Diese Worte sind alt und verstaubt und mit den schmutzigen Flaggen von tausend unaufrichtigen Reden behängt, aber darunter sind sie immer noch unbeschädigt. Was die Menschen einst mit diesen Worten ausdrücken wollten, muß heute wieder von Menschen verteidigt werden. Und wenn diejenigen, die im Verlauf der Geschichte auf geraden Wegen und Umwegen aller Art für diese Begriffe aufgestanden sind, nicht jetzt wiederum aufstehen, um sie gegen die Räuberei der Bosse und den Eifer der Bürokraten zu verteidigen, dann wird die Welt zu einem noch schlimmeren Ort für das Leben der Menschen werden, als sie es jetzt schon ist. 238
29 Henry Hart Einführung Der sich auf die gesamte Welt auswirkende ökonomische Niedergang hat alle jene menschlichen Beziehungen zerbrechen lassen, die von den gebildeten Klassen des Westens seit Generationen als normal und ewig galten. Die Krise nahm ihren Anfang in Kolonialgebieten wie Asien und Südamerika; sodann brach sie über Europa herein. Eine kurze Zeitlang gaben sich die Amerikaner einem Wunschdenken hin: Sie hofften (und glaubten daher), daß sie dem Zusammenbruch der alten Kultur und dem damit verbundenen Verfall des materiellen und geistigen Lebens entgehen würden. Die Wirklichkeit riß uns aus solchen selbstgefälligen Träumereien heraus, und als ein integraler Bestandteil jenes Teils der Welt, der das Privateigentum an den Mitteln der Produktion und ihrer Verteilung weiter aufrechterhält, teilten wir das allgemeine Schicksal. 174
heiten, die menschlichen Instinkte und Zwänge, menschliches Hungern und Dürsten. Selbst wenn ein Mensch in der nächsten Minute sterben soll, muß er kühl und leidenschaftslos sein, wenn er sein Gewehr in Anschlag bringt. Man kann der Tatsache einfach nicht entgehen, daß man es als Schriftsteller mit allem Menschlichen zu tun hat, mit der Redeweise aller Menschen des eigenen Sprachbereichs und der eigenen Generation, mit ihren aus der Vergangenheit überkommenen Traditionen, ihren Gefühlen und Vorstellungen. Ganz gleich, wie eng das System von Auffassungen ist, von dem man ausgeht: Während man sich müht, tiefer und tiefer in die vorgefundenen Menschen und Ereignisse einzudringen, wird man feststellen, daß man immer weniger dazu imstande ist, nach genauen Vorschriften einer Doktrin zu arbeiten; und man wird mehr und mehr feststellen, daß man auf der Seite der Männer, Frauen und Kinder steht, die gerade jetzt leben, und daß man sich gegen all die Maschinerien und Organisationen stellt, wie großartig ihre Ziele auch sein mögen, die diese Menschen verwirren. Und daß man ohne Phrasen und Redereien wirklich und wahrhaftig auf der Seite der Freiheit, der Brüderlichkeit und der Menschlichkeit steht. Diese Worte sind alt und verstaubt und mit den schmutzigen Flaggen von tausend unaufrichtigen Reden behängt, aber darunter sind sie immer noch unbeschädigt. Was die Menschen einst mit diesen Worten ausdrücken wollten, muß heute wieder von Menschen verteidigt werden. Und wenn diejenigen, die im Verlauf der Geschichte auf geraden Wegen und Umwegen aller Art für diese Begriffe aufgestanden sind, nicht jetzt wiederum aufstehen, um sie gegen die Räuberei der Bosse und den Eifer der Bürokraten zu verteidigen, dann wird die Welt zu einem noch schlimmeren Ort für das Leben der Menschen werden, als sie es jetzt schon ist. 238
29 Henry Hart Einführung Der sich auf die gesamte Welt auswirkende ökonomische Niedergang hat alle jene menschlichen Beziehungen zerbrechen lassen, die von den gebildeten Klassen des Westens seit Generationen als normal und ewig galten. Die Krise nahm ihren Anfang in Kolonialgebieten wie Asien und Südamerika; sodann brach sie über Europa herein. Eine kurze Zeitlang gaben sich die Amerikaner einem Wunschdenken hin: Sie hofften (und glaubten daher), daß sie dem Zusammenbruch der alten Kultur und dem damit verbundenen Verfall des materiellen und geistigen Lebens entgehen würden. Die Wirklichkeit riß uns aus solchen selbstgefälligen Träumereien heraus, und als ein integraler Bestandteil jenes Teils der Welt, der das Privateigentum an den Mitteln der Produktion und ihrer Verteilung weiter aufrechterhält, teilten wir das allgemeine Schicksal. 174
Inmitten der Erschütterungen des schnellen gesellschaftlichen Wandels begannen zahlreiche von uns das wahre Wesen der Gesellschaft, in der wir leben, zu erkennen. Zwei Kulturen waren in einen tödlichen Zweikampf verwickelt. Verfechter und Begünstigte der alten Ordnung versuchten verzweifelt, sie auf Kosten der großen Mehrheit der Menschen aller Länder u n d auf K o s t e n d e r wertv o l l s t e n G ü t e r d e r m e n s c h l i c h e n Z i v i l i s a t i o n zu erhalten; sie versuchten es mit Blut und Eisen. Armut, Arbeitslosigkeit, Faschismus, die Kriegsvorbereitung, all das enthüllte den wahren Zweck der verderbten Reaktion Mussolinis in Italien, Hitlers in Deutschland, Hearsts 239 in Amerika. Seit 1930 ergriffen immer mehr amerikanische Schriftsteller — ähnlich wie ihre Berufskollegen in anderen Ländern — in dem weltweiten Kampf zwischen Barbarei (einer von einer Handvoll Eigentümern gezüchteten Barbarei) und den Lebensinteressen der Masse der Menschheit Partei. Während der letzten fünf Jahre sind sich diejenigen, deren Aufgabe es ist, das menschliche Leben — im Roman, in der Erzählung, im Gedicht, im Essay, im Theaterstück — zu schildern und zu interpretieren, im steigenden Maße bewußt geworden, daß ihre Interessen mit den Interessen der Besitzlosen und Unterdrückten untrennbar verbunden sind. Die amerikanische Literatur hat begonnen, die Hoffnungen, Kämpfe und Leiden der M a s s e der Amerikaner darzustellen. Selbst diejenigen Schriftsteller, die immer noch den alten ästhetischen Haltungen verhaftet sind, werden allmählich gewahr, daß, wenn die Kultur überleben soll, alle Männer und Frauen, die sie hervorbringen, aufnehmen und pflegen, sich mit jenen gesellschaftlichen Kräften v e r b ü n d e n müssen, die die Welt vor Reaktion und Finsternis erretten können. Amerikanische Schriftsteller haben sich auf verschiedenen Gebieten und auf verschiedene Art und Weise mit den Kräften des Fortschritts gegen die herrschende Kriegsgefahr, gegen Faschismus und Vernichtung der Kultur vereint. Es zeigte sich sehr bald, daß der Schriftsteller wie andere Mitglieder der amerikanischen Gesellschaft sich zum Zwecke eigener Verteidigung organisieren muß. Im Januar 1935 veröffentlichte eine Gruppe von Schriftstellern folgenden Aufruf: „Das kapitalistische System zerfallt so schnell vor unseren Augen, daß, während vor zehn Jahren noch kaum mehr als eine Handvoll Schriftsteller genügend weitsichtig und mutig war, für die proletarische Revolution einzutreten, heute Hunderte von Dichtern, Romanciers, Dramatikern, Kritikern und Shortstory-Autoren die Notwendigkeit eines persönlichen Beitrags anerkennen, der der beschleunigten Zerstörung des Kapitalismus und der Gründung einer Arbeiterregierung dient. Wir stehen vor zwei Arten von Problemen: erstens, den Problemen wirksamer politischer Aktion. Die Gefahren von Krieg und Faschismus sind überall offenbar; wir alle können die ständige Entwicklung der Völker zum Krieg und die Verwandlung sporadischer Gewalt in organisierten faschistischen Terror mitansehen. Die Frage lautet: Wie können wir am erfolgreichsten gegen diese beiden Bedrohungen wirken? Zweitens sind da die Probleme, die besonders uns als Schriftsteller betreffen, 175
Probleme, wie wir in unserem Schaffen das neue Verständnis der amerikanischen Position, das aus unserer Beteiligung an der revolutionären Sache erwachsen ist, darstellen. Der Welt steht eine neue Renaissance bevor; jeder Schriftsteller hat die Gelegenheit, sowohl die neue Lebensweise als den revolutionären Weg zu ihrer Erreichung zu verkünden. Man wird in der Tat in der historischen Perspektive sehen, daß allein diese beiden Dinge zählen. Der revolutionäre Geist durchdringt die Reihen der schöpferischen Schriftsteller. Viele revolutionäre Schriftsteller leben buchstäblich isoliert; ihnen fehlt jede Möglichkeit, lebenswichtige Probleme mit ihren Berufskollegen zu erörtern. Andere sind derart von der revolutionären Sache in Anspruch genommen, daß sie wenig Gelegenheit zu gründlicher Überprüfung und Analyse haben. Noch niemals sind die Schriftsteller der Nation zu grundsätzlicher Diskussion zusammengekommen. Wir schlagen daher vor, einen Kongreß revolutionärer amerikanischer Schriftsteller am 26., 27. und 28. April 1935 in New York zu veranstalten. Zu diesem Kongreß sollten alle Schriftsteller eingeladen werden, die auf ihrem jeweiligen Gebiet zu Ansehen und Namen gelangt sind, die ihre Sympathie mit der revolutionären Sache eindeutig bekundet haben ; die nicht vom Niedergang des Kapitalismus, von der Unvermeidlichkeit der Revolution erst überzeugt werden müssen. Wir wollen in der Folge versuchen, auf diejenigen Schriftsteller, die noch nicht davon überzeugt sind, Einfluß zu nehmen und sie für unsere Sache zu gewinnen. Dieser Kongreß wird es sich zur Aufgabe machen, alle Phasen einer Teilnahme der Schriftsteller am Kampf gegen Krieg darzustellen ; er wird sich der Erhaltung der Bürgerrechte und der Zerschlagung faschistischer Tendenzen, wo immer man sie antrifft, widmen. Er wird die Möglichkeiten eines breiteren Vertriebs revolutionärer Bücher entwickeln sowie die revolutionäre Presse wie die Beziehungen zwischen revolutionären Schriftstellern und bürgerlichen Verlegern und Herausgebern verbessern. Er wird eine fachgemäße Diskussion literarischer Anwendungsmöglichkeiten marxistischer Philosophie wie eine Diskussion der zwischen Kritiker und Literaturproduzenten bestehenden Beziehungen führen. Er wird unsere Reihen festigen. Wir denken, daß solch ein Kongreß einen der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller240 angegliederten Verband Amerikanischer Schriftsteller gründen sollte. In europäischen Ländern bildet die I.V.R.S. die Vorhut literarischer und politischer Aktion. In Frankreich beispielsweise steht sie, angeführt von solchen Persönlichkeiten wie Henri Barbusse, Romain Rolland, André Malraux, André Gide und Louis Aragon, in vorderster Reihe des großartigen Kampfes der vereinigten, militanten Arbeiterklasse gegen den Faschismus. Das Programm der Liga Amerikanischer Schriftsteller sollte auf dem Kongreß ausgearbeitet werden und müßte auf folgender Grundlage beruhen : Kampf gegen imperialistischen Krieg und Faschismus ; Verteidigung der Sowjetunion gegen kapitalistische Aggression; für die Entwicklung und Stärkung der revolutionären 176
Arbeiterbewegung; gegen weißen Chauvinismus (gegen alle Formen der Negerdiskriminierung und -Verfolgung) und gegen die Verfolgung der Minderheitengruppen und der im Ausland geborenen Bürger; Solidarität mit Kolonialvölkern in ihrem Freiheitskampf; gegen den Einfluß reaktionärer Ideologien in der amerikanischen Literatur; gegen die Einkerkerung revolutionärer Schriftsteller und Künstler wie anderer Gefangener des Klassenkampfes in der ganzen Welt. Ihrer eigentlichen Natur gemäß würde unsere Organisation die Zeit und Kraft ihrer Mitglieder nicht durch administrative Aufgaben beanspruchen, stattdessenwürde sie vermittels gemeinschaftlicher Diskussion die wirksamsten Möglichkeiten aufzeigen, in der Schriftsteller als S c h r i f t s t e l l e r in der sich schnell entwickelnden Krise wirken können." Der Aufruf wurde unterzeichnet von: Nelson Algren, Arnold B. Armstrong, Nathan Asch, Maxwell Bodenheim, Thomas Boyd, Earl Browder, Bob Brown, Fielding Burke, Kenneth Burke, Robert Coates, Erskine Caldwell, Alan Calmer, Robert Cantwell, Lester Cohen, Jack Conroy, Malcolm Cowley, Theodore Dreiser, Edward Dahlberg, Guy Endore, James T. Farrell, Kenneth Fearing, Ben Field, Waldo Frank, Joseph Freeman, Michael Gold, Eugene Gordon, Horace Gregory, Henry Hart, Clarence Hathaway, Josephine Herbst, Robert Herrick, Granville Hicks, Langston Hughes, Orrick Johns, Arthur Kallet, Lincoln Kirstein, Herbert Kline, Joshua Kunitz, John Howard Lawson, Tillie Lerner, Meridel Le Sueur, Melvin Levy, Robert Morss Lovett, Louis Lozowick, Grace Lumpkin, Lewis Mumford, Edward Newhouse, Joseph North, Moissaye J. Olgin, Samuel Ornitz, Myra Page, John Dos Passos, Paul Peters, Allen Porter, Harold Preece, William Rollins Jr., Paul Romaine, Isidor Schneider, Edwin Seaver, Ciaire Sifton, Paul Sifton, George Sklar, John L. Spivak, Lincoln Steffens, Philip Stevenson, Genevieve Taggard, Alexander Trachtenberg, Nathanael West, Ella Winter und Richard Wright. Dieser Aufruf war in der amerikanischen Literatur einzigartig. Er erging von Schriftstellern von beträchtlichem Rang und Ansehen an alle amerikanischen Schriftsteller, unabhängig von ihren künstlerischen oder politischen Ansichten, die bereit waren, sich zu einem gemeinsamen Programm zur Verteidigung der Kultur gegen die Bedrohung durch Faschismus und Krieg zusammenzuschließen. Die Reaktion darauf führte zu dem ersten Schriftstellerkongreß, der in der amerikanischen Geschichte jemals abgehalten wurde. Als der Kongreß im Mecca Temple, New York, am Abend des 26. Aprils 1935 eröffnet wurde, waren als Delegierte 216 Schriftsteller aus sechsundzwanzig Staaten und 150, die als Gäste daran teilnahmen, sowie Bruderdelegationen aus Mexiko, Kuba, Deutschland und Japan anwesend. Der Saal war dicht besetzt mit 4000 Zuschauern — Intellektuellen, Künstlern und Arbeitern —, die dieses beispiellose Ereignis der amerikanischen Literatur begrüßen wollten. Die Tatsache, daß der Kampf zur Verteidigung der Kultur gegen die Bedrohungen der Reaktion ein weltweiter ist, beweist das von den amerikanischen Schriftstellern für den Kongreß gewählte Ehrenpräsidium: 12
New York 1935/37
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Louis Aragon, Henri Barbusse, André Gide, André Malraux und Romain Rolland aus Frankreich. Johannes Becher, Heinrich Mann, Theodor Plivier, Ludwig Renn und Anna Seghers aus Deutschland. Giovanni Germanetto aus Italien. Martin Anderson-Nexö aus Dänemark. Rafael Alberti aus Spanien. Juan Mannello und Rejino Pedroso aus Kuba. Juan de la Cabada und José Mancisidor aus Mexiko. Jaques Roumain aus Haiti. Hu Lan Chi, Hwa Han, Liu Pen-Shu und Li Sing aus China. Kirohata Kurahara aus Japan. Sergej Dinamow, Maxim Gorki, Fjodor Gladkow, Michail Scholochow und Sergej Tretjakow aus der Sowjetunion. Grußbotschaften und Grüße gingen aus allen Teilen der Welt ein. Romain Rolland schrieb: „Wir in Europa und Sie in Amerika müssen unsere Bemühungen vereinigen. Ich begrüße eine Bewegung, die nicht nur an der notwendigen sozialen Aktion zur Neuordnung der Welt auf breiteren und gerechteren Grundlagen teilnehmen wird, sondern auch an der Aktion zur Erneuerung des menschlichen Geistes und der darauffolgenden Wiedergeburt der Kunst." Der „Schutzverband Deutscher Schriftsteller", 241 dessen Büro sich in Paris befindet, und zu dessen Exekutivkomitee Johannes R. Becher, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Rudolf Leonhard, Heinrich Mann, Anna Seghers und weitere führende deutsche Schriftsteller gehören, telegraphierte: „Wir sind überzeugt, daß die amerikanischen Schriftsteller, die diesen Kongreß einberufen haben, mit der Ernsthaftigkeit der Verantwortung, die diese Stunde erfordert, all ihre Kräfte der Bewahrung der großen kulturellen Werte der Menschheit vor den Übergriffen der Barbarei widmen werden." Der große sowjetische Schriftsteller Maxim Gorki sandte ein Telegramm, in dem es heißt: „Meine brüderlichen Grüße dem amerikanischen Schriftstellerkongreß, organisiert für den geistigen Kampf gegen den Faschismus und einen neuen blutigen Krieg. Wir weilen bei euch, teure Freunde. Mit Freude und Genugtuung sehen wir, wie die Kräfte der ehrlichen Menschen, die mutig klassenmäßiger Ausbeutung und Rassenunterdrückung entgegentreten, in der ganzen Welt wachsen." Die Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller schrieb : „Obwohl durch Ozeane, Meere und Tausende von Meilen Land getrennt, verbindet der gemeinsame Kampf für eine neue Welt die revolutionären Schriftsteller. Heutzutage, da der Schatten des Faschismus die Erde verdunkelt, da man die Kriegstrommeln hört, müssen die revolutionären Schriftsteller mit wachsender Deutlichkeit begreifen, daß es nur eine Kraft gibt, die imstande ist, den Faschismus niederzuhalten und den Krieg abzuschaffen : die Kraft des revolutionären Prole178
tariats. Heute hat der beste Teil der Menschheit die alte Welt verworfen und begrüßt die Revolution. Wir müssen unsere Ziele klar vor uns sehen und die großen historischen Aufgaben der kämpfenden Arbeitermassen begreifen. In dieser Stunde ist die Waffe des Schriftstellers sein schöpferisches Werk. Um mit ihr zu siegen, muß diese Waffe scharf und stark sein. Schärft eure 'Waffe! Entfaltet die Kunst der Revolution! Stärkt den Mut und Heroismus der Massen und ihren Siegeswillen! Möge euer Kongreß der Impuls für eine breite Kampfesfront gegen den Faschismus, gegen imperialistische Kriege und zur Verteidigung der Sowjetunion, des Vaterlands der Werktätigen der ganzen Welt, werden. Leidenschaftliche revolutionäre Grüße dem-ersten amerikanischen Kongreß revolutionärer Schriftsteller." Briefe, Telegramme und Fernschreiben gingen ebenfalls ein von AndersenNexö, dem dänischen Romancier, von Agnes Smedley aus China, von Johannes R. Becher und Anna Seghers, beide im Pariser Exil; von Boris Pilnjak, Sergej Tretjakow, Fjodor Gladkow, Dinamow, Apletin und anderen aus der Sowjetunion; von den Herausgebern der International Literature ; 242 von der chinesischen Liga linker Schriftsteller; dem Sowjetischen Schriftstellerverband 243 sowie von vielen Organisationen in den Vereinigten Staaten. Henri Barbusse sandte eine Kabeldepesche, deren Schlußsatz die Intellektuellen aufforderte, „der breiten Masse der Arbeiter zu folgen wie sie zu unterweisen". Und von Madame Sun YatSen aus China empfing der Kongreß ein langes Schreiben, das die folgenden Zeilen enthielt: „Wir in China gehören zu den letzten Leidtragenden der Reaktion, die die Kultur und den wissenschaftlichen Fortschritt zerstört. Zahllose kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen, die zu errichten es Jahrhunderte bedurfte, haben die japanischen Imperialisten in wenigen Stunden ausgelöscht. Die finsterste Reaktion herrscht in China, und während die japanischen Militaristen unser Land ausplündern und berauben, werden die Verräter von Nanking zu japanischen Handlangern, um ihre Macht auszudehnen. Es kommt gegenwärtig fast täglich zu Massenverhaftungen und Folterungen von Arbeitern, Professoren, Schriftstellern und Studenten, die sich unserer Vereinigung angeschlossen haben." Einige dieser Botschaften wurden auf der ersten Zusammenkunft des Kongresses — der einzigen öffentlichen — von dem Vorsitzenden verlesen. Den Vorsitz hatte Granville Hicks, der einen Monat später wegen seiner Teilnahme an solchen Aktivitäten, wie sie der Kongreß darstellt, vom Rensselaer Polytechnischen Institut, wo er Englisch gelehrt hatte, entlassen wurde. Einige der Vorträge, die diesen Band ausmachen, wurden bereits an jenem Abend gehalten — so die von Waldo Frank, Friedrich Wolf (die Eröffnungsrede des Kongresses), Earl Browder, Langston Hughes und Moishe Nadir. Auch Malcolm Cowley zählte zu den Rednern, doch die von ihm an dem Abend vorgestellten Gedanken finden eine ausführlichere Behandlung in dem in diesem Buch enthaltenen Vortrag, den er auf einer späteren Sitzung des Kongresses hielt. Josephine Herbst sprach von „der erregenden Bewegung", deren Augenzeuge 12*
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sie in so weit auseinanderliegenden Orten wie Iowa und Kuba war, wo sie unlängst weilte, wie auch in Pennsylvanien, wo sie unter Arbeitern und Farmern lebt. „Die Ausdrucksweise ist dieselbe", sagte sie, „wiewohl Sprache, Tonfall und Rhythmus wechseln. Diese Männer und Frauen werden sich der ökonomischen Realitäten hinter ihren Sorgen bewußt, und sie beginnen zu kämpfen. Was hat das mit dem Schreiben zu tun? Soweit es mich betrifft, alles. Es ist mir unmöglich, mich daran zu hindern, über etwas so Reales zu schreiben. Das ist ein inspirierender Stoff. Es wäre eine sehr dunkle Welt heute, gäbe es nicht die in die Arbeiterklasse zu setzende Hoffnung. Es ist eine herrliche Zeit, in der wir leben. Sie ist unvergleichlich besser als 1890, als die Literatur sich T r i v i a l i t ä t e n widmete. Heute schreiben wir über alles andere a u ß e r Trivialitäten." Derselbe Gedanke wurde auf andere Weise, von einem anderen Standpunkt von Hays Jones, dem Herausgeber der Marine Workers1 Voice,244 dessen schlichtes aufrichtiges Auftreten reichlich Beifall erweckte, zum Ausdruck gebracht. Mr. Jones sagte: „Ich möchte erst einmal Vorstellungen zurückweisen, ich könnte den Titel eines Schriftstellers für mich beanspruchen. Ich mag in gewisser Weise ein Propagandist sein, doch ein Schriftsteller, nein. Doch ich möchte im Namen der New Yorker Arbeiter und vor allem der Seeleute eine Einladung ergehen lassen und ein Ultimatum stellen. Die Schriftsteller hier sind alle Berufsschriftsteller. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt mit Schreiben, und ich frage mich bloß, ob sie heutzutage verhungern wollen oder nicht. Denn wenn sie nicht verhungern wollen, müssen sie gewisse Dinge tun, und das heißt, an den Ort hinuntersteigen, wo sie einen Markt haben. Sicher kennen Sie die Geschichte von dem Dichter, der wunderschöne Gedichte schreibt, während er sich in einer Dachkammer zu Tode hungert. Daraus wird nichts. Als Berufsschriftsteller sollten sie nach weißgekachelten Badezimmern und dergleichen streben, und ich werfe ihnen das nicht vor, denn auch wir Arbeiter streben nach diesen Dingen. Ich stelle mir vielmehr vor, daß diese Schriftsteller auch die Hoffnung aufgeben, so etwas je im Kapitalismus vorzufinden, es sei denn, daß sie einige ausgesprochen unerfreuliche Dinge betreiben. Lange Zeit herrschte die Vorstellung, daß es in der Arbeiterklasse kein Leben, nichts Interessantes, nur eine tote, trübe Masse gäbe, die der Schriftsteller als Stoffquelle nicht zu beachten brauche. Doch ich behaupte, daß die Arbeiterklasse heute das einzige Lebendige in der kapitalistischen Gesellschaft ist. Der Tag im Leben eines Mannes, der neun Stunden vor einer Stanze oder auf einem Schiff verbringt, besitzt mehr Wirklichkeit, mehr Schönheit und mehr Harmonie, als man sie in der gesamten Park Avenue mit ihrer Langeweile, ihrer Zeitverschwendung und ihrer Suche nach einer nicht existierenden Freude finden wird. Darum wollen wir an die heute abend hier versammelten Schriftsteller die Aufforderung ergehen lassen, zu den Arbeitern zu kommen, um dieses Leben zu finden und seine Darstellung mit ihren Werkzeugen als Schriftsteller zu schaffen. Das ist freilich eine große Aufgabe. Einige von uns haben wohl ihre Bedenken. Wenn die Schriftsteller 180
unsere Einladung annehmen, so werden wir den Markt für ihre Werk liefern, und das ist genau das, was sie suchen. Dagegen stellen wir ihnen, falls sie unsere Einladung nicht annehmen, ein Ultimatum. Sie dürfen weiter über das Tote schreiben, bis wir sie schließlich selbst ins Grab schieben und mit Erde bedecken müssen." Der letzte Redner, Michael Gold, wurde als „der beliebteste amerikanische revolutionäre Schriftsteller" vorgestellt; er sprach über „Die Arbeiter als Leserschaft für die Schriftsteller". Er spielte auf das riesige Publikum an, das die Theater Union und das Group Theater sich geschaffen hätten; auf die Riesenauflagen der Sachbroschüren und Bücher, die der Verlag International Publishers veröffentlicht hat; auf die riesigen Auflagen von Romanen, Stücken und Gedichten, die man in der Sowjetunion herausgebracht hätte. „Unsere Schriftsteller müssen lernen, daß die Arbeiterklasse", sagte er, „die in der Sowjetunion eine große Zivilisation geschaffen hat, imstande ist, eine ähnliche Zivilisation in diesem Lande zu schaffen. Sie besitzt Heroismus, Intelligenz, Mut. Wir dürfen niemals vergessen, daß eine Klasse, die solche Tiefen schöpferischer Fähigkeit besitzt, nur die beste Literatur verdient, die wir ihr geben können. Der Vorwurf ist laut geworden, Schriftsteller, die sich den Arbeitern anschließen, seien Künstler in Uniform. 245 Dieser Vorwurf wurde von Intellektuellen erhoben, die glauben, daß sie keine Uniform, die Uniform der Bourgeoisie, trügen. Nun, wir sind stolz auf unsere Rolle. Diese große Veranstaltung heute abend, die von über viertausend Menschen besucht ist, von denen viele Arbeiter sind, hätte durch kein bürgerliches Publikum, durch keine Gruppe bürgerlicher Schriftsteller zusammengebracht werden können. Diese Veranstaltung und der Kongreß, den sie eröffnet, sind ein Beweis der tiefen schöpferischen Potenzen, die in den arbeitenden Massen liegen. Möge dieser Kongreß der Anfang einer großen, neuen Literatur sein, die das Ringen der Arbeiter, die Seele der Arbeiter, die Seele des einfachen Amerikaners wahrheitsgetreu widerspiegelt. Möge dieser Kongreß ein weiterer Meilenstein in der amerikanischen Geschichte sein, an dem unsere glücklicheren Nachfahren die Schritte unserer Entwicklung zu einem reicheren und sozialeren Leben und einem intelligenteren Amerika ermessen." Es fanden sechs Sitzungen des Kongresses statt: die öffentliche am Freitagabend, Vormittags- und Nachmittagssitzungen am Sonnabend und Sonntag für die Delegierten und Gäste, sowie eine Gruppe kleiner Gattungssektionen am Sonnabendabend. Ich habe einen zusammenfassenden Bericht dieser Sitzungen vorbereitet, man findet ihn in einem „Diskussion und Sitzungsberichte" betitelten Anhang. Die Reihenfolge der im vorliegenden Band zusammengefaßten Vorträge entspricht nicht der Abfolge, in der sie vor dem Kongreß gehalten wurden. 246 Es wurde versucht, sie so zu ordnen, daß es für den Leser leichter ist, die allgemeinen Ziele und den Themenbereich des Kongresses zu erkennen: die Position des Schriftstellers in der heutigen Welt, die Gefahren, die ihm drohen und die sein 181
Bündnis mit der einzigen revolutionären Klasse erforderlich machen; die Ergebnisse eines solchen Bündnisses in der Sowjetunion; die handwerklichen und allgemeinen Probleme des revolutionären Schriftstellers sowie ihre Lösung. Einige Beiträge trafen zu spät ein, um vor dem Kongreß verlesen und von ihm diskutiert zu werden, nämlich die Beiträge von Louis Aragon und John Dos Passos. Die Veröffentlichung der Sitzungsberichte dieses ersten Kongresses Amerikanischer Schriftsteller war keine leichte Aufgabe, da sie einige mehr oder minder willkürliche Entscheidungen, wie sie mit einem Temperament wie dem meinen nicht vereinbar sind, nach sich zog. Die Arbeit, ein so umfangreiches Material in eine zur Veröffentlichung bestimmte Form zu bringen, war beträchtlich, und ich möchte Joseph Freeman danken, der einige der Anfangssätze dieser Einführung schrieb und große Teile der Diskussion (aus Stenogrammen während der Sitzungen bewahrt) auf verwendbare Maße brachte; des weiteren gilt mein Dank Kenneth Burke und Edwin Seaver, die viele der Beiträge redaktionell bearbeiteten, damit ihre individuelle Länge nicht die Platzerfordernisse überschreitet.
30 Henry Hart Diskussionen und Sitzungsberichte Die zweite Sitzung des Kongresses amerikanischer Schriftsteller wurde am Morgen des 27. April im Auditorium der New School for Social Research eröffnet. Der Vorsitzende war John Howard Lawson. Er verkündete, daß wegen der Vielzahl der Referate und wegen der Notwendigkeit, den Großteil der letzten Sitzung der Organisation der Liga amerikanischer Schriftsteller zu widmen, die Diskussion der einzelnen Referate statt ans Ende jedes einzelnen Referats ans Ende jeder Sektionssitzung verlegt werden müsse. Grundsätzlich bewährte sich das: Die Redner wiederholten - sich nicht. Bevor er den ersten Redner, Joseph Freeman, vorstellte, verlas Mr. Lawson die Namen derjenigen Schriftsteller, die von ihren Kollegen, die in monatelanger Arbeit den Kongreß vorbereitet hatten, als Präsidium vorgeschlagen worden waren. Die Nominierten, von denen alle von den Delegierten akzeptiert wurden, waren: Michael Blankfort, Harry Carlisle, Jack Conroy, Malcolm Cowley, Joseph Freeman, Michael Gold, Eugene Gordon, Henry Hart, Granville Hicks, Orrick Johns, John Howard Lawson, Meridel Le Sueur, Isidor Schneider, Edwin Seaver, Bernard J. Stern und Alexander Trachtenberg. Paul Romaine wurde zum Schriftführer ernannt. Zwei Referate riefen die größte Diskussion der Sitzung hervor. Es waren Edwin Seavers „Der proletarische Roman" und Kenneth Burkes „Revolutionäre Symbolik in Amerika". 247 Martin Russak widersprach Seavers Behauptung, daß der proletarische Roman so definiert werden könne, daß er jedes Thema behandele, vorausgesetzt, er tue es vom Standpunkt des Proletariats aus und in dessen Interesse. „Ich denke", sagte 182
Bündnis mit der einzigen revolutionären Klasse erforderlich machen; die Ergebnisse eines solchen Bündnisses in der Sowjetunion; die handwerklichen und allgemeinen Probleme des revolutionären Schriftstellers sowie ihre Lösung. Einige Beiträge trafen zu spät ein, um vor dem Kongreß verlesen und von ihm diskutiert zu werden, nämlich die Beiträge von Louis Aragon und John Dos Passos. Die Veröffentlichung der Sitzungsberichte dieses ersten Kongresses Amerikanischer Schriftsteller war keine leichte Aufgabe, da sie einige mehr oder minder willkürliche Entscheidungen, wie sie mit einem Temperament wie dem meinen nicht vereinbar sind, nach sich zog. Die Arbeit, ein so umfangreiches Material in eine zur Veröffentlichung bestimmte Form zu bringen, war beträchtlich, und ich möchte Joseph Freeman danken, der einige der Anfangssätze dieser Einführung schrieb und große Teile der Diskussion (aus Stenogrammen während der Sitzungen bewahrt) auf verwendbare Maße brachte; des weiteren gilt mein Dank Kenneth Burke und Edwin Seaver, die viele der Beiträge redaktionell bearbeiteten, damit ihre individuelle Länge nicht die Platzerfordernisse überschreitet.
30 Henry Hart Diskussionen und Sitzungsberichte Die zweite Sitzung des Kongresses amerikanischer Schriftsteller wurde am Morgen des 27. April im Auditorium der New School for Social Research eröffnet. Der Vorsitzende war John Howard Lawson. Er verkündete, daß wegen der Vielzahl der Referate und wegen der Notwendigkeit, den Großteil der letzten Sitzung der Organisation der Liga amerikanischer Schriftsteller zu widmen, die Diskussion der einzelnen Referate statt ans Ende jedes einzelnen Referats ans Ende jeder Sektionssitzung verlegt werden müsse. Grundsätzlich bewährte sich das: Die Redner wiederholten - sich nicht. Bevor er den ersten Redner, Joseph Freeman, vorstellte, verlas Mr. Lawson die Namen derjenigen Schriftsteller, die von ihren Kollegen, die in monatelanger Arbeit den Kongreß vorbereitet hatten, als Präsidium vorgeschlagen worden waren. Die Nominierten, von denen alle von den Delegierten akzeptiert wurden, waren: Michael Blankfort, Harry Carlisle, Jack Conroy, Malcolm Cowley, Joseph Freeman, Michael Gold, Eugene Gordon, Henry Hart, Granville Hicks, Orrick Johns, John Howard Lawson, Meridel Le Sueur, Isidor Schneider, Edwin Seaver, Bernard J. Stern und Alexander Trachtenberg. Paul Romaine wurde zum Schriftführer ernannt. Zwei Referate riefen die größte Diskussion der Sitzung hervor. Es waren Edwin Seavers „Der proletarische Roman" und Kenneth Burkes „Revolutionäre Symbolik in Amerika". 247 Martin Russak widersprach Seavers Behauptung, daß der proletarische Roman so definiert werden könne, daß er jedes Thema behandele, vorausgesetzt, er tue es vom Standpunkt des Proletariats aus und in dessen Interesse. „Ich denke", sagte 182
er, „daß der proletarische Roman ein solcher Roman sein sollte und es auch bereits ist, der die Arbeiterklasse behandelt. Ich glaube nicht, daß unsere Romane sich mit den Gefühlen und Reaktionen und Werten der Ober- oder Mittelklasse oder des Lumpenproletariats befassen sollten. Ich glaube nicht, daß die Lebenserfahrung von Vagabunden und Landstreichern, so wie sie in einem Teil unserer jüngsten Literatur dargestellt wird, ein legitimes Thema bildet. Ich glaube, daß wir, wenn wir das Wesen der Klassentrennung von Grund auf begreifen würden, nicht behaupten könnten, alle Menschen seien gleich. Die Arbeiterklasse besteht aus Menschen mit einem Gefühlsleben und einer Psychologie, die deutlich von andern unterschieden sind, und das sollten wir behandeln." Als Jack Conroys Referat diskutiert wurde, setzte sich Michael Gold mit Mr. Russak auseinander, warnte jedoch zugleich vor der Gefahr, daß „unsere literarische Bewegung zu einer kleinbürgerlichen Bewegung würde." Er sagte: „Ich glaube, daß ein Teil der Diskussion von heute morgen interessant ist, weil sie abermals die beiden Standpunkte gegenüberstellte, die in unserer Welt der proletarischen Literatur solange miteinander kämpfen, wie ich mich erinnern kann. Wir wissen, daß unsere Gegner die Verleumdung aufgebracht haben, proletarische Literatur sei eine Literatur von Männern mit behaarter Brust, aus Elendsvierteln usw., und daß kein bürgerlicher Schriftsteller Zugang zu diesen Dingen habe. Andererseits haben alle Proletarier behauptet, die bürgerlichen Schriftsteller und ihre Thematik hätten keinen Platz in der revolutionären Bewegung. Ich glaube, einen Vorgeschmack davon hat uns Martin Russak gegeben. Wenn in den letzten wenigen Jahren etwas geklärt worden ist, dann ist es dies: daß die Revolution eine von der Arbeiterklasse angeführte Revolution ist und daß die unteren Mittelklassen die Verbündeten der Arbeiterklasse sind. Deshalb gibt es innerhalb der Revolution Platz für die Literatur aller dieser Gruppen. Wichtig ist dabei, wie Edwin Seaver sagte, der Standpunkt. Ein Mensch mit einer revolutionären Gesinnung und Auffassung kann ein revolutionäres Buch schreiben. Darum müssen wir die Auffassung, daß die proletarische Literatur nur Raum für Romane über die Arbeiterklasse hat, eine Auffassung, die heute morgen mehr oder minder angedeutet wurde, genauso ablehnen wie die Auffassung, daß Romane über die Arbeiter nicht von Bedeutung seien. Jemand hat gesagt, daß, wenn wir uns mit einem Klassenmythos befassen, wir diesen Klassenmythos manipulieren können. Die bloße Anerkennung dieser von dem bürgerlichen Kritiker I. A. Richards vorgebrachten Auffassung, daß der Mythos von der Arbeiterklasse ein mit anderen, z. B. mit faschistischen Mythen zu vergleichender Mythos sei, ist ein Eingeständnis in einem sehr wesentlichen Punkt. Wir können nicht, so wie viele Liberale das tun, eine derartige Einstufung anerkennen, derzufolge Kommunismus und Faschismus gleiche Methoden zur Lösung von Problemen der Gesellschaft, zur Sozialisierung der Gesellschaft sind. Wir können die Auffassung, daß der Klassenkampf ein Mythos ist oder daß die Arbeiterklasse ein Mythos ist, nicht anerkennen. 183
Ich glaube, daß der Ton vieler Referate von heute morgen bewies, daß unsere literarische Bewegung in Gefahr ist, eine kleinbürgerliche Bewegung zu werden. Ich denke, daß wir uns davor hüten müssen. Das kann sie nicht werden. Das darf sie nicht werden. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, daß sich in den Vereinigten Staaten eine starke Arbeiterklasse entwickelt, die die revolutionäre Bewegung führt. Wir können sie nicht anführen. Darum denke ich, daß es eine der Hauptaufgaben eines jeden Schriftstellers ist, für das Wachstum einer von Arbeitern verfaßten proletarischen Literatur zu sorgen, es zu fördern und zu ermutigen. Ich denke, daß wir alle lernen müssen, Lehrmeister der Arbeiterklasse zu werden. Es gilt, um uns eine Gruppe begabter Arbeiter, die schreiben wollen, zu scharen, genau wie es Gorki vor fünfundzwanzig Jahren in Rußland getan hat. Wir müssen begreifen, daß nur diese Literatur eine Antwort auf die intellektuellen Abstraktionen zu geben vermag, in die Kleinbürger verfallen. Ein Großteil der proletarischen Literatur wird die konkreten Tatsachen veranschaulichen. Sie wird unser Gesicht zeigen. Sie wird das stärkste Argument sein, das wir jenen gegenüber vorbringen können, die mit den Theorien des Kommunismus und Faschismus jonglieren. Wir müssen ein wahres Abbild der Arbeiterklasse in diesem Lande schaffen. Wir müssen dieses Abbild realen Lebens, des realen Kampfes der Arbeiterklasse als letztes und überzeugendes Argument gebrauchen. Wir müssen es als die endgültige Antwort gebrauchen, die wir auf die intellektuellen Abstraktionen der Bourgeoisie zu geben imstande sind." Die Diskussion von Kenneth Burkes Referat konzentrierte sich vor allem auf die Gründe, die gegen die von ihm vorgeschlagene Einsetzung des Symbols „Volk" für „Arbeiter" sprechen. Sie begann mit Allen Porters Bemerkungen, daß eine der von der Ausbeuterklasse in Kampfzeiten verwendeten Propagandamethoden darin bestehe, die Forderungen der Arbeiter so erscheinen zu lassen, als ob sie dem „Wohle des V o l k e s " entgegen stünden. „Die Unterscheidung zwischen den Arbeitern und dem Volk wird absichtlich gemacht", sagte er, „um zu verwirren, so wie zum Beispiel Father Coughlin und General Johnson letzten Sommer den Generalstreik in San Francisco mit der Begründung angriffen, die Arbeiter würden ,das Volk behindern'. Mit der Verwendung des Symbols ,das ganze Volk' wurde geschlußfolgert, daß das gemeinsame Interesse den Interessen der Arbeiter gegenüberstand. Dasselbe Symbol wurde 1926 während des Generalstreiks in Großbritannien in genau der gleichen Weise verwendet. Die A r b e i t e r griffen das V o 1 k an. Der Versuch,,Volk' für ,Arbeiter' zu setzen, ist von unserem Gesichtspunkt aus sehr gefahrlich. In historischer Sicht war es stets eine List der Ausbeuterklasse, die Grundproblematik zu verschleiern. Darüber hinaus ist das Wort ,Volk' historisch gesehen mit einer Demagogie übelster Art belastet". Friedrich Wolf unterstützte diese Ansicht, er sagte: „Es liegt eine große Gefahr in dem Begriff ,das Volk'. Hitler und Rosenberg verwendeten ihn. Sie sagten, 184
reden wir nicht mehr von den Arbeitern, reden wir vom Volk. 1918 waren es die deutschen reformistischen Führer, die genau den selben Begriff benutzten. Scheidemann und Ebert sagten, wir brauchen eine Politik für den Arbeiter und den kleinen Kaufmann und das mittlere Bürgertum. Der Hitlerfaschismus ist eine Fortsetzung dieser Politik. Hitler war klug genug, diesen ideologischen Kunstgriff als Ergänzung für seine Totschläger und Maschinengewehre zu gebrauchen. Die Verwendung des Mythos vom ,Volk' ist ein wesentlicher Bestandteil der reformistischen Methode. Sie hat in meinem Land unmittelbar zu der faschistischen Machtübernahme geführt. Das Symbol ,Arbeiter' muß erhalten bleiben, um die überwiegende Masse der Bevölkerung — die echten Arbeiter und Bauern — zu kennzeichnen. Setzt man dafür das Symbol ,Volk', so verschleiert man die Interessen dieser grundlegenden und überaus bedeutsamen Klasse und zeichnet ein Gesellschaftsbild, das nicht nur unmarxistisch ist, sondern das die Geschichte als für die Fortführung der Macht der Ausbeuterklasse notwendig erwiesen hat." Joseph Freeman, der diesen Angriffen gegen Burkes Vorschlag beistimmte, erklärte, daß es notwendig sei, zu zeigen, warum das Proletariat „die einzige revolutionäre Klasse sei". „Wenn wir die Sache zuerst vom Standpunkt der Realität und dann erst vom literarischen Standpunkt betrachten, ist es möglich, daß wir mit Burke nicht im Widerspruch stehen", sagte er und fuhr fort: „Das Symbol Volk kam mit der bürgerlichen Revolution auf. Die Bourgeoisie forderte die Abschaffung der Klassenprivilegien. Darum zählte das gesamte Volk zu ihren Anhängern. Doch dann stellte sich heraus, daß das Volk in Klassen geteilt war. Das Wort Volk wurde sodann zum reaktionären Schlagwort — und zwar nicht wegen irgendeiner Mythenphilosophie, sondern weil es die Realität, den tatsächlichen, lebendigen Antagonismus zwischen den sozialen Klassen verhüllte. Die durch das Wort Volk verkörperte Art Mythos kann so weit gehen, daß man die Realität selbst im Namen der proletarischen Revolution, selbst im Namen Lenins verschleiern kann. Sehen wir uns einmal die Demagogie der faschistischen Regierung in Mexiko näher an. Als ich in Mexiko war, sah ich Staatsgouverneure — einer von ihnen wurde Präsident der Republik —, die bäuerlichen Delegationen ein Leninporträt zu überreichen pflegten. Das offizielle Organ der herrschenden reaktionären Partei veröffentlichte am 7. November besondere prosowjetische Beilagen. Es veröffentlichte auch den vollen Wortlaut des Aufrufs zu unserem Schriftstellerkongreß. Die mexikanischen Arbeiter und Bauern sind so revolutionär, daß sich niemand in Mexiko politisch betätigen kann, ohne ,drei Hochrufe auf die rote Fahne' und ,drei Hochrufe auf die p r o l e t a r i s c h e Revolution' auszubringen. Selbst die katholische Kirche und ihre politischen Vertreter tun das. Wenn das P r o l e t a r i a t in den Händen der Reaktion zu einem gefahrlichen politischen Mythos werden kann, um wieviel gefahrlicher ist dann das unklare Symbol Volk. Wir dürfen solche Mythen nicht fördern. Wir sind am Mythos nicht interessiert. Unser Interesse richtet sich auf Enthüllung der Wirklichkeit. Wir haben das,Symbol' des Arbeiters geschaffen auf Grund der Rolle, die der Arbeiter in der Wirklichkeit spielt. Gleich als Hitler zur Macht kam, waren die meisten ameri185
kanischen bürgerlichen Korrespondenten in Berlin gegen ihn. Warum äußerten sich Burchell von der Times248 und die anderen amerikanischen Reporter so begeistert über Dimitroff und die übrigen vor Gericht gestellten kommunistischen Arbeiter? Weil die Arbeiter in der günstigsten Lage sind, gegen die Reaktion zu kämpfen. Selbst die proletarischsten Schriftsteller und Intellektuellen können keinen Generalstreik ausrufen. Sie können nicht das elektrische Licht ausschalten, die Straßenbahnen und Betriebe zum Stehen bringen, die Schiffe festmachen; sie können nicht auf die Straße gehen, zur Waffe greifen und kämpfen. Wir haben gestern abend von Friedrich Wolf 249 gehört, warum die deutschen Schriftsteller und Intellektuellen auf die Seite der Arbeiterklasse übergetreten sind. Er berichtete uns, wie der Dichter Erich Mühsam mit der Internationale auf den Lippen in einem Nazigefangnis starb. Warum dieser Wandel? Unter dem blutigen Druck des Faschismus haben die Intellektuellen diese äußerst wichtige Tatsache erkannt, daß allein die Arbeiter sozial, industriell, politisch in der Lage sind, die Industrie im Kapitalismus lahmzulegen, und sie im Sozialismus zu übernehmen. Die Intellektuellen haben gelernt, daß allein die Arbeiter eine militante und wirksame Führungsrolle im Kampf gegen die Reaktion übernehmen können. Das ist auf die gesellschaftliche Stellung des Proletariats zurückzuführen. Darum ist sie auch die einzige revolutionäre Klasse in der modernen Gesellschaft. Wenn einige von uns das ,positive' Symbol Volk als Ersatz für das ,negative' Symbol Arbeiter fordern, so geschieht das deshalb, weil wir das Proletariat als einen zu engen Begriff empfinden, um die Intellektuellen miteinzubeziehen. Doch wir brauchen keine Sorge zu haben. Hier liegt kein echter Konflikt begründet. Wir wollen in die fortschrittliche Klasse miteinbezogen werden — und wir werden miteinbezogen. Das Proletariat allein vermag eine für das ganze Volk gerechte Gesellschaft zu schaffen. Der Proletarier ist nicht nur einfach jemand, der arbeitet. Ein englischer Journalist erzählte mir neulich, der Prinz von Wales 250 habe einen Nervenzusammenbruch. Er arbeite zuviel. In der Tat arbeitet der Prinz von Wales sehr angestrengt — und wir wissen, woran er arbeitet. Doch das macht ihn noch nicht zu einem Proletarier. Ein Proletarier ist jemand, der nichts anderes als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat. Er arbeitet nicht nur, sondern hängt von seiner Arbeit als einzigem Existenzmittel ab. Darum ist er der Ausgebeutetste und Unterdrückteste in der kapitalistischen Gesellschaft; darum ist er der einzige der imstande ist, mit dieser Gesellschaft völlig zu brechen. Der Intellektuelle vermag den Kampf um die neue Welt nicht anzuführen. Seine althergebrachten Interessen liegen in der alten Welt. Für ihn ist der Bruch mit der alten Kultur schwer. Er geht sechzehn Jahre lang zur Schule, macht seinen Doktor phil., nimmt die alten Gedanken auf, arbeitet mit ihnen — und hat nun das Gefühl, daß das Proletariat ihn aus der alten Kultur entwurzeln will. Das ist schrecklich. Andererseits fühlt er, daß der Begriff Volk nicht nur ihn, sondern auch seine einstigen Gedanken umfassen könnte. Doch er braucht keine Furcht zu haben. Das Proletariat übernimmt von der alten Kultur alles, was wertvoll ist. Was wir uns vor allem gegenwärtig halten müssen, ist die führende Rolle, die der 186
Arbeiter bei der Umgestaltung der Gesellschaft spielt. Der Arbeiter hat nichts als seine Ketten zu verlieren. Er allein ist durch seine Lage gezwungen, revolutionär zu sein, er allein kann das Volk befreien. Wenn wir uns nicht in .Mythen' verlieren, wenn wir uns an die Realität halten wollen, so können die anderen ausgebeuteten Klassen der Gesellschaft — einschließlich der Intellektuellen — ihre Führung nur in der Arbeiterklasse finden." Kenneth Burke wurde sodann gebeten, auf diese Kritik einzugehen, und sagte im Laufe seiner Ausführungen: „Die Antwort auf das von mir vorgetragene Thema habe ich erwartet, sie enttäuschte mich nicht. Doch ich hätte es gern gesehen, wenn jemand das Problem unter meinem Blickwinkel, eben als Propagandaproblem, diskutiert hätte. Ich denke, wir stimmen alle darin überein, daß wir eine für die Arbeiter günstige Position zu verteidigen suchen, daß wir uns für die Sache der Arbeiter stark machen wollen. Das steht unumstößlich fest. Das Wichtige ist: wie wir selbst in diesem speziellen sozialen Gefüge wirksam werden? Ich versuche deutlich zu machen, daß es ein erstes Stadium gibt, wo es die vornehmste Pflicht des Schriftstellers ist, die Menschen zu entwaffnen. Erst klopft man an die Tür — und später erst wird man dann ganz deutlich. Was meine Verwendung des Wortes Mythos betrifft, so sprach ich sachkundig vor einer Gruppe von Literaturkennern, daher fühlte ich mich berechtigt, das Wort in einem besonderen Sinne zu gebrauchen. Die Mythen eines Dichters, versuchte ich klarzumachen, sind in dem. Sinne real, wie sie eine notwendige Aufgabe erfüllen. Sie programmieren den Geist in der Weise, daß sie ihm die Erfassung der Wirklichkeit ermöglichen. Denn der Mythos verkörpert einen Sinn für Beziehungen. Doch Beziehungen kann man nicht mit so einfachen Gegenständen wie einem Haus oder einem Stein vergleichen; man kann nicht mit dem Finger auf sie zeigen. In solchem Sinne hatte ich an B e z i e h u n g e n (ich nenne sie manchmal ,zweite Realität') gedacht, als ich das Wort Mythos verwendete. Was den Vorwurf betrifft, ich mache den Kommunismus zu einer Art Religion: Das mag vielleicht eine Schwäche meinerseits sein, doch ich habe nie ernstlich darüber nachgedacht. Da das lateinische r e l i g i o V e r b i n d u n g bedeutet, halte ich Religion und Kommunismus insofern für gleich, als beide die Menschen verbindende Systeme sind; und der Hauptunterschied im Augenblick liegt für mich in der Tatsache, daß der kommunistische Wortschatz das Verbinden in einem genaueren Sinne unternimmt als der religiöse. Einigen wir uns dahin, daß wir sagen, der Kommunismus ist eine Ethik, eine Moral. Doch immer, wenn man über eine Ethik redet, muß man auch über Dinge reden, die die Religion betreffen. Was den Gebrauch des Begriffes Volk betrifft: Ein mich ablehnender Redner bestätigte mich in der Tat, als er sagte, Lenin habe den Begriff V o l k bis 1917 gebraucht. Ich glaube, daß wir uns in genau der gleichen Lage wie Rußland vor 1917 befinden. Ich hätte wahrscheinlich nicht die Worte p o s i t i v und n e g a t i v zur Unterscheidung zweier Symbolarten gebrauchen sollen. Ich wollte damit nicht sagen, 187
daß das Arbeitersymbol an sich etwas Negatives besitze, sondern nur insofern, als es dazu neigt, das Interessen- und Schwerpunktsgebiet eines Schriftstellers übermäßig zu beschränken. Praktisch f ü h r t es dazu, daß sich die Aufmerksamkeit eines Schriftstellers auf die Charakterzüge konzentriert, die unsere S y m p a t h i e gewinnen — wohingegen ich mit einem p o s i t i v e n Symbol eines meinte, das nicht nur unsere S y m p a t h i e n , sondern auch unseren E h r g e i z weckt. MancheRedner hoben hervor,daß es keinen Widerspruch zwischen dem A r b e i t e r und dem Volk gebe. Ich stimme ihnen nachdrücklich zu. Doch es wurde darauf hingewiesen, daß die Demagogen in Kalifornien einen Widerspruch hatten vortäuschen können, daß sie den Anschein erweckt haben, als ob die Arbeiter gegen das Volk stünden. Und genau diesen demagogischen Trick muß der Propagandist bekämpfen. Ich denke, Ihr Symbol muß so beschaffen sein, daß dieser scheinbare Widerspruch zwischen Arbeitern und Volk gar nicht erst aufkommen kann. Wenn man ausschließlich das Arbeitersymbol betont, gibt man den Reaktionären die beste Gelegenheit, den Anschein zu erwecken, als ob die A r b e i t e r und das Volk gegeneinander stünden. Doch wenn man das Arbeitersymbol mit dem Volkssymbol verknüpft, können solche Dinge, wie sie in Kalifornien geschehen sind, nicht vorkommen. Ich denke, das genügt als Antwort auf alle vorgebrachten Einwände. Was ich als grundlegend abermals betonen möchte, ist meine Überzeugung, daß der Propagandist vor einer anderen Aufgabe steht als der Organisator. Der Propagandist muß in der Hauptsache entwaffnen. Im Verlaufe des Entwaffnens setzt er sich gewissen Gefahren aus. Er kann keinen deutlichen Trennungsstrich ziehen, denn wenn er das täte, wäre er nicht imstande, sich in außerhalb liegende Bezirke zu begeben. Der Organisator muß diese anderen Gefahren streichen. Wenn man diese Leute für die Partei gewonnen hat, kann man ihnen ein genaueres Verständnis dessen, worauf man hinaus will, vermitteln. Doch im Anfangsstadium muß der Propagandist bestimmte Begriffe benutzen, die eine gewisse Zweideutigkeit besitzen und die ihm gerade deshalb Zugang zu anderen Gebieten ermöglichen." Meridel Le Sueur führte den Vorsitz der dritten Sitzung am Sonnabendnachmittag. Corliss Lamont, der für die Gesellschaft der „Freunde der Sowjetunion" sprach, deren nationaler Vorsitzender er ist, wies darauf hin, daß augenblicklich eines der größten Erfordernisse Artikel, Erklärungen, Rundfunkansprachen, öffentliche Ansprachen und Interviews seien, um die Verleumdungen zu widerlegen, die von William Randolph Hearst und den Faschisten in allen Teilen der Welt gegen die Sowjetunion vorgebracht würden, gegen eben jenes Land, das, wie er erklärte, gegenwärtig dabei sei, die Ideale zu verwirklichen, die die Menschen aller Weltteile seit Generationen zwar verehrt, doch nicht hätten verwirklichen können. „Wir k ö n n e n sagen", erklärte er abschließend, „daß, so wie zu verschiedenen Zeiten der Menschheitsgeschichte verschiedene Nationen in der Welt führend waren — Griechenland, Rom, Frankreich, England, die Vereinigten Staaten —, heute die Sowjetunion die Hoffnungen und Bestrebungen alles dessen, was es an Gutem, Klugen und Fortschrittlichem in der Zivilisation gibt" verkörpert. 188
Vier mexikanische Delegierte nahmen an dem Kongreß teil. José Mancisidor, Chefredakteur der Ruta251, bestätigte, als er das Wort erhielt, Joseph Freemans Anspielung auf den demagogischen Gebrauch des Symbols „das V o l k " in Mexiko und erklärte, daß „Renegaten der revolutionären Bewegung, wie der Maler Diego Rivera, auch andere Phrasen und Symbole wie das von der ,Vierten Internationale' verwenden würden, um ihren Verrat zu bemänteln." Emilio Enricos aus Mexiko führte diesen Gedanken weiter und schilderte die Strategie verschiedener reaktionärer Regierungen in Mexiko, die anscheinend radikale Schriftsteller anwerben, mit Geschenken und Sonderrechten überschütten und ihre wahren räuberischen Ziele hinter einer falschen revolutionären Front verbergen würden. Er schilderte die Übernahme eines jüngst von der mexikanischen Regierung einberufenen Schriftstellerkongresses durch die echt revolutionären Schriftsteller und die Verabschiedung von Resolutionen, die die Wiederaufnahme mexikanischer Beziehungen mit der Sowjetunion, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die ungehinderte Verbreitung des kommunistischen Organs El Machete252 sowie das Recht aller Arbeiterorganisationen auf freie Betätigung forderten. Unsere Erfahrung ermutigt uns, den Vorschlag eines Panamerikanischen Kongresses revolutionärer Schriftsteller zu unterbreiten", sagte er. „Ich hoffe, die Liga amerikanischer Schriftsteller, die, wie ich höre, auf diesem Kongreß gebildet werden soll, wird einen in Mexico City abzuhaltenden panamerikanischen Kongreß unterstützen, einen Kongreß, zu dem wir unsere Kollegen aus Kanada, den lateinamerikanischen Republiken sowie den britischen, holländischen, französischen und amerikanischen Kolonien einladen wollen." Angel Flores, die diese Ausführungen übersetzte wie auch die von Juan de la Cabada (der über die Lage der Indianer in Mexiko sprach, die, wie er sagte, mit der des Negers in den Vereinigten Staaten vergleichbar ist), kündigte eine demnächst in New York erscheinende Zeitschrift in spanischer Sprache an, die sich an die arbeitenden Massen aller lateinamerikanischen Länder richten wird. Einer der Gäste der dritten Sitzung war Angelo Herndon, der junge Neger, den man zu achtzehn bis zwanzig Jahren Haft als Kettensträfling in Georgia verurteilt hatte, nur weil er einige weiße und schwarze Arbeiter zum Rathaus von Atlanta geführt hatte, um Lebensmittel zu fordern, und dessen Berufung gegen das Urteil zum Zeitpunkt des Kongresses vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten noch nicht abgelehnt war. Mr. Herndon wies mit großer Deutlichkeit darauf hin, daß der Mooneyprozeß, der Scottsboroprozeß 253 sowie sein eigener Fall für Schriftsteller eine Thematik sein könnte, die alle menschlichen Gefühlsregungen beinhalte, um den Klassencharakter der Gesellschaft zu enthüllen und den Weg zu zeigen, den Menschen kämpfend beschritten hätten und beschreiten würden, bis der Sieg errungen sei. Weitere Beweise für die faschistische Realität legte Harry Carlisle aus Kalifornien vor, der sagte : „ D a s Problem des Faschismus, wie wir es gegenwärtig im Westen erleben, darf 189
in keinerlei Hinsicht leicht genommen werden. Es häufen sich Nachrichten über die politische Lage der Gefangenen in Kalifornien, die sehr ernst ist. Als wir vor zwei Wochen in Hollywood aufbrachen, hatten wir gerade den längsten Strafprozeß in der amerikanischen Geschichte hinter uns. Acht Verurteilte wurden kis Gefängnis geschickt; und die sehr hohe Kaution, die von den Richtern festgesetzt werden soll, wird wahrscheinlich verhindern, daß auch nur einer von ihnen auf freien Fuß kommt. Ferner kam es im Augenblick unserer Abreise zur GallupAffaire. 254 Wenn man Hollywood so verläßt und auf den Kampf in Kalifornien und Gallup Rückschau hält, wird einem bewußt, daß wir ein Problem haben: nicht nur hinsichtlich einer integrierten Literatur, sondern hinsichtlich der Erkenntnis, wie der Faschismus Gewalt über uns hat. Und zwar so sehr, daß wir vor dem Problem stehen, wie wir den Schriftsteller mit seinem sozialen und ökonomischen Umfeld integrieren und ihn zu Schritten bewegen, doch nicht mehr in dem Sinne, daß er eine Protesterklärung unterzeichnet oder erlaubt, den Öffentlichkeitswert seines Namens für gewisse Zwecke zu verwenden, sondern daß er entschieden und schnell zupackt mit aller Leidenschaftlichkeit, deren er fähig ist. In Sacramento rief der Prozeß eine dramatische Verwirrung von solchen Ausmaßen hervor, daß es für einen Schriftsteller nahezu unmöglich ist, alle seine Anzeichen völlig zu erfassen. Der Sacramentoer Prozeß ist der Höhepunkt bitterer Jahre des Kampfes und Elends, eines uns künstlich aufgezwungenen Kampfes, der vor 15 Jahren mit der Verfolgung der I.W.W. 255 - Anführer begann und weiter zurückreicht, als bis zu der Zeit, als die Eisenbahn in Südkalifornien als Schwellen die Körper toter Chinesen hatte, von Chinesen, eingeführt von denselben Kaliforniern, deren Nachkommen heute diesen Staat im eisernen Griff haben, die den Faschismus zu einer riesigen Bedrohung machen und Studenten niederschlagen, wenn sie protestieren. Wir sind Augenzeugen des Baus von Konzentrationslagern unmittelbar auf den landwirtschaftlichen Flächen, in die man die Arbeiter treiben will, sollten sie demnächst streiken. Das sind epische Themen, von denen Gebrauch zu machen jeder Schriftsteller stolz sein sollte, wenn er nur die Lage kennen würde. Hollywood ist im Niedergang begriffen, doch es ist selbst in seinem Niedergang ein System von außergewöhnlicher Anziehungskraft. Und es raubt uns täglich Schriftsteller, sogar solche, die Protesterklärungen unterzeichnet haben, sogar solche, die hervorgetreten sind und tatsächlich protestiert und im gewissen Maße am Kampf teilgenommen haben — es raubt uns jene Schriftsteller, entfernt sie von uns, so daß selbst die revolutionärsten unter ihnen zu schwanken bebeginnen und ihre schöpferische Kraft, ihr Talent zur Unterstützung des Kapitalismus herangezogen werden. So tolerieren Schriftsteller, die offen für die Arbeiterklasse eintreten, Hollywood und verwenden ihre Beredsamkeit, ihr sprachliches Talent nicht dazu, es zu verurteilen und zu entlarven. Angesichts der in Gallup entstandenen Situation, angesichts des jüngsten Vorfalls, der unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, nämlich des Versuches, 190
MacNamara als Anführer und Beteiligten bei dem jüngsten Gefangnisausbruch im kalifornischen Gefängnis hinzustellen, möchte ich den Vorschlag einer Resolution unterbreiten, die den weißen Terror in Kalifornien verurteilt." Solch eine Resolution wurde entworfen, vom Kongreß einstimmig angenommen und dem Gouverneur von Kalifornien übersandt. John Chamberlain war Gast des Kongresses und erhielt im Verlaufe der Diskussion das Wort. „Ich habe in den vergangenen beiden Jahren, teils der Pflicht gehorchend, teils aus Interesse, eine Menge proletarischer Romane gelesen", sagte er, „und ich finde, daß es eine Art Konflikt gibt, die meistens ausgespart wird: der moralische Konflikte. Nun sind die großen Romane, deren ich mich stets entsinne, Romane wie Lord Jim (Lord Jim)256, der das schreckliche innere Problem eines Einzelmenschen behandelt. André Malraux' Roman über die chinesische Revolution So lebt der Mensch251 enthält etwas davon. Die meisten proletarischen Romane, die ich gelesen habe, bringen entweder Geschichten einer Wallfahrt oder, wie in William Rollins' The Skadow Before (Schatten voraus)25* den Kampf des Menschen gegen den Menschen, der Arbeiter gegen die Unternehmer, die Geschichte eines Fabrikkampfes. Ich habe vor längerem eine andere Art von Konflikt vorgeschlagen, die verwendet werden sollte: das seelische Ringen eines Menschen mit Problemen der Zugehörigkeit. Ich würde gern einen guten Roman über die Sorgen eines Arbeiterführers lesen, der zwischen seiner Treue zu der langfristigen Philosophie von Marx und Lenin und den kurzfristigen Erfordernissen seiner Stellung hin und hergerissen wird. Es muß auf dem linken wie dem rechten Flügel der American Federation of Labor259 viele Arbeiterführer geben, die sich mit solchen Fragen abplagen. Es gibt auch ähnlich gelagerte Probleme, wie den Kampf in einem Individuum zwischen seiner Treue zu seiner Gewerkschaft und zu seiner Familie. Das könnte als Schluß eine Niederlage oder keine haben. Ich persönlich bin daran nicht sonderlich interessier^ würde aber gern einen guten Roman darüber geschrieben sehen. Wenn sich mehr proletarische Schriftsteller in dieser Richtung bewegen würden, so könnte möglicherweise ein solcher Roman entstehen, wie Dostojewski ihn schrieb." Im Namen des Kongreßpräsidiums gab der Herausgeber dieses Bandes vor der Vertagung der dritten Sitzung bekannt, was an Vorüberlegungen und Vorarbeiten für die vorgeschlagene Liga amerikanischer Schriftsteller geleistet worden sei — die Struktur der Liga, die Zeitschrift, die sie herausgeben könnte, die Aufgaben, für die Kandidaten zu finden seien. Die Delegierten wurden zu einer abendlichen Zusammenkunft gebeten, um Vorschläge hinsichtlich der Liga zu erörtern. Die Zusammenkunft fand statt, und eine Vielzahl von Ideen kam zur Sprache bei dieser kleinen abendlichen Begegnung, die von Delegierten besucht wurde, die dafür ihre Teilnahme an den Kommissionen oder kleinen Sektionen, die man für die Romanciers, Dichter, Kritiker und Dramatiker arrangiert hatte, opferten. 191
Die dritte Sitzung wurde damit beschlossen, daß sich die gesamte Zuhörerschaft zum Gedenken an Thomas Boyd erhob, dem Granville Hicks den folgenden Nachruf widmete: „Sie wissen selbstredend, daß Tom Boyd einer der ersten Unterzeichner des Aufrufs zu diesem Kongreß war. Gleichzeitig kannten wir ihn vor allem als den Autor eines ausgezeichneten, vor etwa zehn Jahren erschienenen Kriegsromans Through the Wheat (Durch das Weizenfeld)260 und als einen Menschen, der in einer aufeinander folgenden Reihe von Romanen und Biographien eine etwas verschwommene Suche nach einem grundsätzlichen Verständnis des amerikanischen Lebens bewiesen hat. Erst vor kurzem, in den letzten beiden Jahren, entdeckte er, daß dieses Verständnis eintrat, als er sich mit der Arbeiterklasse verbündete. Ich weiß sehr wohl, daß es mir mit dem, was ich in New Masses261 und anderenorts über Tom Boyd geschrieben habe, nicht im entferntesten gelungen ist, darzustellen, was für ein Mensch er war. Ich habe niemals seine menschliche Ehrlichkeit, seine Aufrichtigkeit und seinen Mut verdeutlichen können. Als es ihm klar wurde, daß er Kommunist war, gab es kein Zögern für ihn. Er schloß sich der Kommunistischen Partei in Vermont an, die natürlich dort nicht sehr stark ist, wo aber seine Mitarbeit von großer Bedeutung war. Trotz der Tatsache, daß er durch seine schriftstellerische Arbeit beansprucht war, stürzte er sich in die Parteiarbeit, besonders im Zusammenhang mit der Wahl von vorigem Herbst, als er sich als Kandidat der Kommunistischen Partei für das Gouverneursamt aufstellen ließ. Wie sie wissen, ist er letzten Januar gestorben, und mit seinem Tode verlor dieser Kongreß, verlor die Liga amerikanischer Schriftsteller, glaube ich, einen ausgezeichneten Menschen, einen fähigen Schriftsteller, einen treuen Revolutionär, eine wertvolle, tatkräftige, im Arbeiten wie im Hassen tüchtige Persönlichkeit. Ich denke, daß wir uns für einen Augenblick des Gedenkens für Tom Boyd erheben sollten." Auf der vierten Sitzung, am Sonntagvormittag, deren Vorsitz Eugene Gordon führte, kam es zu den wertvollsten Diskussionen. Sie bezogen sich teilweise auf Gedanken, die man am Sonnabendabend in den verschiedenen Sektionen diskutiert hatte. Charles Quinn, ein Bergarbeiter aus Gallup, Neumexiko, sprach sich in unmittelbaren und schlichten Worten lobend über Albert Maitz' Stück Black Pit (Der schwarze Schacht)262 aus. Er sagte, es sei schade, daß man es nicht von Bergarbeiterlager zu Bergarbeiterstadt bringen könne. Er legte den Delegierten nahe, kurze Skizzen, Parodien, Einakter zu schreiben, die man vor Bergarbeitern aufführen k ö n n e . Er forderte die Schriftsteller auf, zu den Bergleuten zu gehen und ihr Leben, ihren Kampf, ihre Bestrebungen kennenzulernen. „Wir erwarten Erzählungen und Bücher, die uns die Wahrheit über uns enthüllen", sagte er, „und keine Romane, Bücher oder Stücke, die von jemand geschrieben wurden, der auf einem Podest steht und auf uns herabschaut." Am Schluß seines Referats machte Granville Hicks einige freigesprochene Be192
merkungen über die Kritikersektion, die er am vorhergehenden Abend besucht hatte. „Einige von uns diskutierten die Zeitschrift, die die Liga amerikanischer Schriftsteller herausgeben wird", sagte er. „Und wenn es auch zu einigen Meinungsverschiedenheiten kam, so scheint doch die allgemeine Ansicht dahinzugehen, daß sie so breit gefächert gehalten werden sollte, wie die Liga selber ist. Deshalb könne sie sich, was die Kritik betrifft, nicht gänzlich auf marxistische Kritiker beschränken; da wir auch andere Kritiker auffordern, sich der Liga anzuschließen, müssen auch sie in dem Organ zu Wort kommen. Es sollte völlig klar sein, daß diese Zeitschrift weder primär, noch ausschließlich, noch offiziell ein marxistisches Organ sein wird. Sie ist ein Organ der Liga und wird verschiedenartige Standpunkte vertreten. Wir haben auch ausführlich den Grund erörtert, warum soviel davon die Rede ist, daß die Kritiker zu katalogisieren versuchen, daß sie versuchen, Schriftsteller und Kritiker in besondere Kategorien zu zwängen. Wir diskutierten beispielsweise die Tatsache, daß in den letzten Monaten in New Masses viele verschiedene Standpunkte vorgestellt worden seien. Trotzdem wird jemand, wenn er sich mit dem Marxismus befassen will oder mit besonderen Tendenzen in der marxistischen Kritik, sich einen dieser Artikel auswählen und ihn so behandeln, als wäre er unsere offizielle Erläuterung der marxistischen Position. Wenn man also die marxistische Kritik angreifen will, braucht man nur eine der zwanzig verschiedenen Ansichten herauszugreifen und zu sagen, daß der gesamte Marxismus darin enthalten ist. Wie dieser besondere Eindruck entstanden ist, bildet ein Problem. Dennoch gestehen wir, daß er entstanden ist. Wir möchten, daß begriffen wird, daß es keine Einzelperson, keine Zeitschrift, daß es niemand gibt, der eine Aussage darüber, was die offizielle marxistische Position in der Kritik ist, treffen kann oder versuchen sollte zu treffen. Wir glauben selbstverständlich, daß es eine richtige marxistische Position gibt. Jeder einzelne von uns glaubt, daß er sie hat, und wir sagen nur, daß andere Leute sich bewußt sein sollten, daß jeder von uns das zum Ausdruck bringt, was er für den richtigen marxistischen Standpunkt hält; und niemand kann, außer für sich selbst als Individuum, sagen, daß seine Position die marxistische Position ist, daß dies falsch und jenes richtig ist, oder daß jemand anders recht oder unrecht hat. Wer immer sich für einen Marxisten hält und den Marxismus studieren will, hat durchaus das Recht, sich als ein Marxist zu äußern, und alle übrigen haben durchaus das Recht, anderer Meinung als er zu sein. Ich denke, das sollte man klar erkennen. Es ist nur seine eigne Grundlage. Würde das generell anerkannt, dann könnten, statt viel über die Enge und Dogmatik marxistischer Kritiker zu reden, nützliche Gespräche über den konkreten Dogmatismus von Herrn X geführt werden. Mit anderen Worten: Hören wir doch auf, über die marxistische Literaturkritik als ganzes zu reden, wenn wir die besonderen Mängel oder besonderen Verdienste einer besonderen Person meinen." Revolutionäre Schriftsteller sollten nicht das Kind vernachlässigen — diese Warnung sprach die junge Redakteurin des New Pioneer263 Martha Campion 13 New York 1935/37
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vor dem Kongreß aus. „Es ist von größter Wichtigkeit, daß einige unserer guten Schriftsteller anfangen, für Kinder zu schreiben", sagte sie. „Die Halbwüchsigen, die jetzt fünfzehn sind, werden in drei Jahren achtzehn sein: alt genug, um zum Militär eingezogen zu werden, um als Streikbrecher verwendet zu werden, und auch alt genug, um in die faschistische Organisation, die S.A., hineingezogen zu werden." Robert Gessner, der Dichter, sagte, er wäre über die sichere Publikumskenntnis, die die Dramatiker bewiesen hätten, wie über die Verwirrung in der Dichtersektion hinsichtlich des Lyrikpublikums sehr erstaunt gewesen. Er bemerkte, daß die Verwirrung der Dichter wahrscheinlich daher rühre, daß der Dichter sich als besondere, über dem Klassenkampf stehende Person empfinde. „Der proletarische Dichter ist bislang nicht genügend revolutionär gewesen", sagte er. „Die Mehrheit der revolutionären Dichtung ist von der Vogel StraußGattung. Gestern abend bemerkten die jiddischen Schriftsteller, daß sie, wenn sie ihre Gedichte unmittelbar vor einem breiten Publikum jüdischer Arbeiter lesen, viele nützliche Anregungen erhielten und begeisterte Aufnahme fänden. Maxim Gorki wies auf dem Schriftstellerkongreß in Moskau 264 darauf hin, daß jeder Dichter, der sich von den Gestalten entferne, über die er schreibe, ein verkümmertes Dasein führe. Das ist eine Kontaktfrage. Arbeiter sind auf diesem Kongreß aufgetreten und baten uns, sie aufzusuchen und sie so zu sehen, wie sie tatsächlich sind, ihr Leben zu leben und ihre Probleme aus erster Hand kennenzulernen. Einer der Gründe, der revolutionäre Schriftsteller davon abhält, das zu tun, ist die Angst, die Technik des Schreibens zu verlieren. Hängt eure Technik an den Zaun. Sie wird euch mit eingeknifienem Schwanz folgen." Alfred Hayes widersprach dem, was er „Robert Gessners verächtliche Kritik" nannte. Er sagte, es würden heute viel mehr revolutionäre Dichter revolutionäre Dichtung schreiben als vor fünf Jahren, und sie sei von höherer Qualität. Die Beschäftigung mit revolutionären Themen, sagte er, hätte zu Schwierigkeiten geführt, denen andere Dichter nicht ausgesetzt seien, und die noch nicht gelöst seien. „Es mag sein, daß die heute schreibenden Dichter vergessen werden", führte er aus, „und daß eine gänzlich neue Gruppe von Dichtern auftritt, die der wahre Sprecher der Arbeiterklasse sein wird. Wenn die heute verfaßte Dichtung nicht den wahren menschlichen Konflikten von heute Ausdruck verleiht, wird sie absterben und eine andere Dichtung wird ihren Platz einnehmen. Doch ehe diese Dichtung kommt, sollten wir, denke ich, uns mit der Dichtung von heute befassen und sie als einen echten Ausdruck, als eine echte Haltung zur Arbeiterklasse betrachten." J. S. Balch aus St. Louis spielte, auf die Kurzgeschichte eingehend, auf den verbreiteten Irrtum an, daß „ein proletarischer Schriftsteller einer sei, der es nicht geschafft habe, Harpers Bazaar265 zu erreichen, ein Schriftsteller, der sich auf proletarische Literatur festlegt, weil sie leicht zu schreiben sei." „Wir wissen alle, wie falsch und wie widersinnig das ist", sagte er. „Doch ich hatte Gelegenheit dazu, eine Vielzahl von Kurzgeschichten im Manuskript zu lesen, und sehe, daß sie in bestimmte Kategorien gehören. Viele haben das, was ich das proletarische 194
Happy-end nenne. Am Schluß schwenkt man eine rote Fahne oder läßt einen Streik stattfinden, und das soll aus einem Menschen einen proletarischen Schriftsteller machen. Gewöhnlich geschieht das am Schluß einer peinlich zusammenhanglosen Geschichte und ist völlig wertlos — als Kunst, als Propaganda, als eine Kurzgeschichte." Richard Wright machte einige bewegende Bemerkungen über die Isolation des jungen Negerschriftstellers. „Vielleicht verstehen Sie es nicht", sagte er. „Ich glaube nicht, daß' Sie es verstehen können, es sei denn, Sie fühlen es. Sie mögen zwar die Ursachen begreifen und gegen sie ankämpfen, doch die menschlichen Ergebnisse sind auf ganz besondere Weise tragisch. Einige der offener zu Tage liegenden Ergebnisse sind Kontaktmangel mit anderen Schriftstellern, ein Mangel an persönlicher Kultur, eine Neigung zu Mechanismen des Escapismus von einer erfindungsreichen, heimtückischen Art. Weitere Ergebnisse seiner Isolation sind die Eintönigkeit des Gegenstandes, und daß er das Opfer einer Art traditioneller Negerfigur wird. Ich glaube, daß diese Isolation überwunden werden kann, doch das wird schreckliche Anstrengungen erfordern. In dieser Hinsicht vermag die gesamte linke Bewegung etwas ?u tun. In dem Maße, wie sich der farbige Arbeiter nach links entwickelt, wird auch der farbige Kaufmann ein wenig sympathischer werden. Schließlich sind es Parasiten. Sie sind von dem abhängig, was der farbige Arbeiter verdient. Und wenn die Kaufleute ein wenig sympathischer sind, werden die Zeitungen und die Menge es spüren. Es wird eine bessere, von unten kommende Haltung herrschen. Der junge Negerschriftsteller kann sich auch selber helfen, indem er seine eigene Geschichte gründlich begreift. Das ist eine ziemlich merkwürdige Angelegenheit. Die Geschichte der Neger ist unter zwei Gesichtspunkten verzerrt dargestellt worden, vom Gesichtspunkt der herrschenden Klasse und vom Gesichtspunkt gewisser farbiger Historiker, die die Geschichte mit rassischen Begriffen eingefarbt haben. Der letzte Gesichtspunkt ist vielleicht der bedeutsamste, er zeigt an, wie völlig isoliert zahlreiche junge farbige Schriftsteller sind. Manche von ihnen haben keinerlei Kenntnis, wie breit das Feld experimenteller Dichtung in den kleinen Zeitschriften ist." Merle Colby warnte vor dem, was er für eine der ernstesten Gefahren für den revolutionären Schriftsteller hielt. „Ich denke, ein Schriftsteller sollte s c h r e i b e n " , sagte er. „Ich habe mich auf diesem Kongreß mehrfach nach dem und dem erkundigt, der einst ein bemerkenswerter Schriftsteller war. Man sagte mir, er habe den Namen gewechselt, sich einen Bart wachsen lassen und leite eine Gewerkschaft. Mir scheint das sehr ernst zu sein, denn unter dem Vorwand, tatsächlich am Klassenkampf teilzunehmen, hören wir zu schreiben auf. Wir sind hier etwa dreihundert Schriftsteller und schreiben vielleicht im Durchschnitt zehn bis zwölf Bücher im Jahr. Dieser Durchschnitt ist durchaus zu klein. Wir halten uns für 13«
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Männer der Tat. Nun, Schreiben ist die erschöpfendste Arbeit, die ich kenne. Fast alles andere ist leichter. Bleiben wir bei unserer Arbeit." Der letzte Diskussionsredner war Edward Dahlberg, er erklärte, die revolutionäre Bewegung müsse „unsere Schriftsteller fördern". Er erklärte, daß ihre Vernachlässigung in den bürgerlichen Literaturmedien von der revolutionären Presse nicht wiederholt werden dürfe. „Was wirklich geschehen ist", sagte er, „ist dies, daß man jemand, der sich mit Kontroversen und kritischen Auseinandersetzungen befaßt, augenblicklich den Vorwurf macht, einen persönlichen Groll gegen den und den zu hegen, nur weil er leidenschaftlich an die Literatur glaubt und eine Literatur aufbauen will. Man kann ohne Leidenschaftlichkeit keine Literatur aufbauen, und wenn man keine Leidenschaft besitzt, so soll man besser ganz und gar aufhören zu schreiben." Die fünfte und letzte Sitzung, deren Vorsitz Michael Gold führte, war die inhaltsreichste und dramatischste von allen. Ein angemessener Teil der Referate wurde gehalten, einige Gäste sprachen ausführlich, und die gesamte mit der Gründung der Liga amerikanischer Schriftsteller verbundene Arbeit wurde geleistet. Albert Maitz berichtete auf der gleichen Sitzung über die Dramatikersektion, die am Vorabend getagt hatte. Mr. Maitz faßte seinen Bericht über die Tätigkeit dieser Sektion wie folgt zusammen: „Die Arbeit der Dramatikersektion bestand aus einer Untersuchung der Lebenstüchtigkeit der Arbeitertheater und einem Arbeitsplan für ihre unmittelbare Zukunft. Zur Teilnahme an der Sektion eingeladen waren nicht nur die auf dem Kongreß weilenden Dramatiker, sondern auch andere Mitarbeiter der Theater. Anwesend waren Vertreter des New Theater aus Philadelphia, des Theater of Action, der Theater Union, der New Theater League und des New Theater Magazine. Uber das Group Theater kann keinerlei Bericht geliefert werden, da sein Vertreter nicht kommen konnte. 266 John Howard Lawson berichtete über die Arbeiterkinos. Er sagte, daß zur Zeit eine künstlerische Waffe von einer solchen Größenordnung ungenutzt bleibe, daß daneben die Arbeitertheater vergleichsweise winzig erscheinen. Es sei das Medium des Films. Voriges Jahr habe man Pudowkins Mutter, einen Achtzehnmillimeterfilm, in fast jedem Industriezentrum, jeder Kleinstadt, jeder Farmergemeinde des Landes gezeigt. Mit einer einzigen Aktion hatten wir ein Beispiel erhalten, wie ein Werk der Arbeiterkunst nicht Tausende, sondern Millionen Menschen erreichen kann. Es gebe jetzt in New York City zwei Organisationen, die Film and Photo League und die New York Kino, die Arbeiterfilme produzieren würden. Ihre Entwicklung hänge von zwei Dingen ab: dem Interesse der Schriftsteller, hochwertige Drehbücher zu schreiben, die in den technischen Rahmen dieser Organisationen passen, und der Entwicklung, oder vielmehr der Organisierung vorhandener Wege, um diese Filme zu zeigen. Denjenigen, die einige der bereits hergestellten Kurzfilme gesehen haben, wird bewußt sein, daß sie durch das Szenarium, nicht 196
durch die technischen Herstellungsmöglichkeiten beschränkt sind; diese Möglichkeiten bilden eine Mischung von Erfindungsreichtum und Energie und gleichen den Mangel an Geld und Dekoration zum großen Teil aus. Und wie an Schriftstellern fehlt es auch an denjenigen, die für das Medium genügend Interesse besitzen, um Zeit und Kraft für die erforderliche organisatorische Arbeit in der gleichen Weise aufzubringen, wie viele sie bereits für die Belange des Arbeitertheaters aufgebracht haben. Die Zukunft des billigen Arbeiterfilms von hoher künstlerischer Qualität liegt in unseren Händen, wenn wir sie in die Hände nehmen. Das Ergebnis kann nur etwas sein, das alle bisherigen Versuche, eine Kunst der Arbeiterklasse zu entwickeln, die breite Volksmassen erreichen kann, übertrifft. Dr. Friedrich Wolf erklärte, daß das revolutionäre Theater in den Vereinigten Staaten in zwei oder drei Jahren erreicht habe, was in Deutschland sechzehn Jahre gedauert habe, und daß andererseits eine große Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen den existierenden Theatern und den Theaterarbeitern bestehe. Dr. Wolf wurde bevollmächtigt, eine Einrichtung zum Austausch der neuesten sowjetischen Stücke und der neuesten amerikanischen revolutionären Stücke zu schaffen. Wir hier, sagte er, haben keinerlei Ahnung von den neuen sowjetischen Stücken, und für die Sowjetunion seien die einzigen amerikanischen Stücke die am Broadway gespielten Stücke. Manuel Gomez, der über die Theater Union berichtete, sagte, daß in zwei Spielzeiten fünfhunderttausend Zuschauer die vier Stücke der Theater Union gesehen hätten. Davon seien fünfundsiebzig Prozent Arbeiter gewesen, von denen viele vorher noch nie ein Theater besucht hätten. Ein Stück der Theater Union habe jetzt die glänzende Aussicht, auf zehn Wochen im voraus durch ein Anrechtspublikum ausverkauft zu sein. Das sei mit der Theater Guild zu vergleichen, die ein Abonnementspublikum von nur fünf Wochen habe. Die Dramatist Guild267 zahle regelrechte Tantieme, und man suche Stücke für künftige Aufführungen. In den zwei Jahren seit Gründung der Theater Union seien nach dessen Vorbild professionelle Theater in Philadelphia, Los Angeles, San Francisco und New Orleans entstanden, die Stücke der Theater Union und alle anderen revolutionären Stücke, deren sie habhaft werden könnten, für eine durchschnittliche Spieldauer von drei Wochen aufführen würden. Peter Martin, der über das Theater of Action sprach, sagte, daß das Theater of Action, früher das Workers Laboratory Theater, als mobiles Theater begonnen habe und dies noch immer sei: die Mobilität bestünde darin, daß es sich im buchstäblichen Sinne mit der U-Bahn bewege, wobei die Schauspieler ihre Dekorationen unterm Arm tragen würden. Mit Laiendarstellern arbeitend, in der größten persönlichen wie kollektiven Armut, habe diese Gruppe, die ihre Agitpropstücke gemeinsam schreibe, in fünf Jahren in Arbeitersälen, vor Streikpostenketten, vor Werktoren und in Hafengebieten vor zweihundertundfünfzigtausend Arbeitern fünfhundert Vorstellungen gegeben. Das Theater of Action sei im Begriff, sich von seinen parodistischen Formen zu entfernen und zur Aufführung 197
kürzerer und längerer realistischer Stücke überzugehen. In wenigen Wochen wolle es in einem Stadttheater mit einem Abend füllenden, realistischen Stück The Young Go First (Die Jugend kommt zuerst dran)26S beginnen. Hinter dieser Aufführung verberge sich ein doppelter Zweck: einmal die Begründung einer bodenständigen Repertoirebühne mit einer festen Darstellergruppe; zum anderen die Sicherung einer Hilfsquelle, mit der die Beweglichkeit des Theaters innerhalb und außerhalb New Yorks ausgedehnt werden kann. Man will mit langen und kurzen Stücken das Land bereisen. Wie wertvoll und einflußreich auch immer stationäre Bühnen sein mögen, unterliegen sie doch naturgemäß leichter der Zensur. Doch das mobile Theater spielt und ist verschwunden. Wir dürfen keinesfalls wertvolle Energien diesem mobilen Theater entziehen und sie in das stehende Theater stecken. Beide müssen sich nebeneinander entwickeln. 1932 gab es in Berlin fünf stehende Bühnen. Sie wurden von Hitler geschlossen. Doch das Vorhandensein der mobilen Theater hielt die Dinge in Fluß. Anstatt zu warten, daß die Arbeiter ins Theater kommen (was nicht mehr möglich war), bereisten Gruppen das gesamte Land. Ein Stückeschreiber des Theater of Action wird Mitglied der Theaterorganisation. Er erhält, während sein Stück gespielt wird, Tantieme, und er erhält Wohnung und Nahrung, wenn sein Stück umgeschrieben oder geprobt wird. Manuskripte werden benötigt. Herbert Kline, der über die New Theater League sprach, erklärte, daß sie sich auf ein Minimalprogramm eines Kampfes gegen Krieg, Faschismus und Zensur festgelegt habe. Sein Zweck sei dreifach: die Ideologie der Arbeitertheater zu entwickeln und dafür zu sorgen, daß sie so schnell wie möglich anhand künstlerischer Richtlinien Fortschritte machten, um zu vermeiden, daß ihre Arbeit, wie so oft in der Vergangenheit, durch künstlerische wie politische Rückständigkeit, häufig eine Folge ihrer Isolation, gelähmt würde; zweitens, organisatorische Informationen zu verschicken und bei der Gründung neuer Arbeiterbühnen mitzuwirken; und schließlich als Quelle für ein Repertoiretheater zu dienen. Herbert Kline berichtete ebenfalls über die Zeitschrift New Theater, die, wie er erklärte, nicht nur ein kulturelles Organ, sondern auch ein Berichterstatter, ein ideologischer Wegweiser und Organisator sei. Nichts spiegele das Wachstum der Arbeitertheaterbewegung so deutlich wider, wie das Wachstum der Zeitschrift New Theater selber. Sie habe von Mai 1934 bis Januar 1935 ihre Auflage von zweitausend auf zwölftausend steigern können. Abschließend stellte die Dramatikersektion dieses Kongresses fest, daß es heute in den Vereinigten Staaten dreihundert arbeitsfähige Arbeitertheater gebe. Wieviele es in einer Woche sein werden, vermögen wir nicht zu sagen. Sie entstehen allerorts mit einer so erstaunlichen Vitalität, daß sie an vielen Orten die alten kleinen Bühnen übernehmen, die viele Jahre spielten. Nicht alle diese Theater sind imstande, lange Stücke aufzuführen, doch manche tun es, und alle sind imstande, Stücke von einer Spieldauer von fünfzehn Minuten bis zu einer vollen Stunde aufzuführen. Was sie am dringendsten brauchen, sind Manuskripte. Die verschiedenen 198
zentralen Büros der New Theater League werden immer mehr von inständigen Bitten um Manuskripte überschwemmt. Die Dichter diskutierten gestern abend, wie man mir sagte, in ihrer Sektion Methoden, wie sie sich für ihre Gedichte ein Publikum schaffen könnten. Das ist sicher nur eine üble Nachrede. Aber auf jeden Fall sagt die Bewegung der Arbeitertheater ihnen: „Schreibt eure besten Gedichte und schreibt sie in Form von Theaterstücken. Es gibt dreihundert Arbeitertheater, die Stücke suchen.' Den Romanautoren, deren Bücher sich vielleicht von dreihundert bis zweitausend Exemplaren verkaufen, sagt die Arbeitertheaterbewegung: ,Es gibt bereits ein Publikum von über einer Million, das wartet und hören will, was ihr zu sagen habt, wenn ihr in Form von Theaterstücken schreibt.' Besonders die bereits etablierten revolutionären Dramatiker sollten dazu beitragen, diesen Hunger nach Manuskripten zu befriedigen. Ein Dutzend gelungener Beispiele der Kurzform, verfaßt von Berufsschriftstellern, wird nicht nur die Situation verbessern, sondern auch zwei Dutzend junger Dramatiker anleiten und hervorbringen, Dramatiker, die nach einer Anleitung für ihre Arbeit Ausschau halten. Die New Theater League hat eine Form der Zahlung von Tantiemen ausgearbeitet, die zwar noch gering sind, doch in anbetracht der Zahl der Theater eine stattliche Summe werden; und die Schriftsteller können in der Gewißheit eines festen und wachsenden Einkommens arbeiten, wenn ihre Stücke nur aufführungswert sind. In der vorgeschriebenen Zeit war es fast unmöglich, das wahre Wachstum und die Lebenskraft der neuen revolutionären Theaterbewegung auch nur annähernd vollständig zu beleuchten. Doch dieses neue Theater in Amerika erlebt heute eine Blüte wie keine andere revolutionäre Kunst. Schreiben Sie für dieses Theater und tragen Sie zu seiner Entwicklung bei." Lola de la Torriente, eine der Delegierten aus Kuba, erregte mit ihrer Ansprache sehr die Gemüter. Sie begann mit der Erklärung, daß zwei der führenden kubanischen Schriftsteller, Juan Marinello und Rejino Pedroso, die man als Delegierte für den Kongreß gewählt hatte, in Kuba im Gefängnis säßen. „Sie sitzen im Gefängnis", sagte sie, „weil sie zusammen mit anderen Schriftstellern in der vordersten Front des kämpfenden kubanischen Volkes standen. In Kuba erleben wir heute die Revolution. Sie wird in unserer Literatur widergespiegelt. Diese revolutionäre Literatur ist heutzutage in Kuba die einzige, die gelesen wird. Die alte Literatur — über die Liebe, den Gesang vom Schönen — ist in Kuba nicht mehr notwendig. Acosta, der einst Gedichte über Kuba schrieb, ist heute kein Dichter mehr. Er ist Mendiettas Sekretär. Seine Dichtung ist tot. Rejino Pedroso hat in die kubanische Dichtung das ganze Feuer der Revolution, der Schlacht, des Kampfes in den Straßen von Havanna hineingetragen. Sein Gedicht Fight Against the World (Kämpfe gegen die Welt)169 wird in den Betrieben, den Zuckerfabriken, auf den Zuckerrohrfeldern gesungen. Juan Marinello, der Professor an der kubanischen Universität war, ist heute unser 199
größter Prosaschriftsteller, ist derjenige, dem sich die Massen mehr als jedem anderen Anregung suchend zuwenden. Ich unterstütze von ganzem Herzen den Vorschlag, einen panamerikanischen Schriftstellerkongreß einzuberufen, und ich hoffe, daß die Liga amerikanischer Schriftsteller, die Sie gründen wollen, zusammen mit der Delegation, die in Kürze Kuba besuchen wird, um die tatsächlichen Zustände, unter denen das kubanische Volk lebt, zu untersuchen, einen Vertreter entsenden wird." Miss Ishigaki aus Japan schilderte die Festnahme und Ermordung von Schriftstellern in Japan „seit dem Einfall in die Mandschurei, einem Zeitpunkt, da die Woge der Reaktion alles japanische Leben überflutete. Aber trotz dieser Vorgänge und mitten darin haben wir, wiewohl es massenweise zu Verhaftungen gekommen ist, fünf Organisationen revolutionärer Schriftsteller und fünf revolutionäre Zeitschriften. Die amerikanischen Arbeiter und Intellektuellen müssen m sich mit den japanischen Arbeitern und Intellektuellen verbünden, wenn die weltweite Gefahr im pazifischen Raum vereitelt werden soll." Der letzte Delegierte hatte gesprochen, der letzte Beitrag war gehalten worden, und Michael Gold sagte: „Nun also, Genossen, Freunde und Kollegen, nähern wir uns einem äußerst ernsthaften und historischen Augenblick dieses Kongresses. Wir stehen unmittelbar vor der Gründung einer ständigen Organisation amerikanischer Schriftsteller, damit die Arbeit dieses Kongresses im nächsten Jahr weiter ausgedehnt werden kann." Er stellte sodann Orrick Johns vor, der sagte: „Die Mitglieder des Präsidialkomitees wie des ihm zur Vorbereitung des Kongresses vorausgegangenen Organisationskomitees kommen sich ungefähr so wie Leute vor, die einen jungen Setzling gegossen und daran lange Zeit hindurch Tag für Tag schwer gearbeitet haben und ihn nun plötzlich zu einem Baum herangewachsen sehen. Dieses Komitee nun ist imstande, seine Arbeit niederzulegen. Wir schlagen daher vor, daß an seiner Stelle ein ständiges Gremium und ein ständiges Komitee von einem dem literarischen Niveau der Organisation, die heute entsteht, angemessenerem Charakter seine Arbeit aufnimmt, damit wir einen festen Rahmen haben, innerhalb dessen die Schriftsteller weiter als positive Kraft in den um uns vor sich gehenden Kämpfen wirken können, ohne ein Jota ihrer Identität wie ihrer beruflichen Unabhängigkeit als Schriftsteller einzubüßen. Die Hauptstruktur der Liga amerikanischer Schriftsteller wird vor allem aus einer Exekutivkomitee genannten und von einem Vorsitzenden angeführten Körperschaft bestehen. Dieses Komitee ist in einer größeren Gruppe enthalten, die sich Nationalrat nennt und etwa fünfzig Mitglieder umfaßt. Mit der Schaffung dieser beiden Gruppen, die den Kontakt mit der gesamten Mitgliederschaft wahren sollen, umgehen wir die Notwendigkeit, lokale Sektionen der Liga zu gründen. Es ist für Berufsschriftsteller offensichtlich unangebracht, neue lokale Organisationen zu bilden; und die Erfahrung hat gezeigt, daß die Gefahr, in diese Arbeit hineingezogen zu werden und Zeit zu verlieren, die für die schöpferische Arbeit besser verwendet wäre, allzu groß ist. 200
Die Schriftsteller werden als Einzelperson Mitglieder der Liga. Sie fungieren als Einzelperson und als breite, nationale Körperschaft. Das sie verbindende Element ist die zentrale Organisation, der Vorsitzende, das Exekutivkomitee und der Nationalrat sowie das literarische Organ, dessen Herausgabe wir vorgeschlagen haben. Dieses Exekutivkomitee muß offensichtlich aus angesehenen Schriftstellern bestehen, und nicht nur das, aus Schriftstellern, die imstande sind, Arbeit zu leisten, die so aktiv sind, wie sie nur können, die schnell zu erreichen sind und sich in Abständen, sagen wir, eines Monats treffen können. Das bedeutet, daß seine Mitglieder ständig in New York wohnhaft sein müssen. Die Mitglieder des Nationalrates sollten ebenfalls repräsentative Schriftsteller sein, von angesehener Stellung in ihren jeweiligen Gruppen und Lokalitäten, die jedoch nicht so aktiv zu sein brauchen wie das kleinere Exekutivkomitee. Das Exekutivkomitee wird die Vollmacht haben, neue Mitglieder unter den Mitgliedern des Nationalrates zu ernennen, falls es in seinen Reihen zu Vakanzen kommt. Das Exekutivkomitee als ganzes wird die Aktivitäten der Liga unter der Führung des Vorsitzenden leiten, und es wird mit der Vorbereitung von Veranstaltungen des Nationalrates betraut. Die Mitglieder des Nationalrates sollten sich mindestens einmal jährlich treffen. Kongresse sollten alle zwei Jahre einberufen werden. Das Exekutivkomitee wird den Mitgliedern auch in ihren Wohngebieten Aktivitäten vorschlagen, und das Exekutivkomitee wird sich in fünf Unterkomitees mit je drei Mitgliedern teilen: ein Mitgliederkomitee, ein Publikationskomitee, ein Komitee für Projekte, ein Finanzkomitee und ein Komitee für Öffentlichkeitsarbeit. Die fünf Vorsitzenden dieser Komitees bilden eine kleinere Körperschaft von beauftragten Mitarbeitern, die sich ständig untereinander erreichen. Wir kommen nun zur Nominierung dessen, der ein Eckstein jedes zu erwartenden Erfolges ist: zur Person des Vorsitzenden. Es versteht sich von selbst, daß der Vorsitzende der Liga den höchsten Rang amerikanischer Literatur vertreten muß, daß er eine Persönlichkeit sein muß, die imstande ist, für unsere Literatur zu sprechen, ein Schriftsteller von Autorität, eine Persönlichkeit, die im Ausland als führende Gestalt unserer Literatur bekannt ist. Das Komitee ist der festen Überzeugung, daß seine Wahl für diese exponierte Stellung — wie auch seine Wahl der Mitglieder des Nationalrates und des Exekutivkomitees — auf Ihre vollste Zustimmung stoßen wird. Mr. John Howard Lawson wird später über die Nominierungen berichten. Das schließt das Bild der zentralen Organisation ab. Bleiben nur noch einige Details aus dem Statut zusammenzufassen. Erstens ist ein Schatzmeister vom Exekutivkomitee zu wählen; zweitens ist die Wahl des Exekutivkomitees bei den alle zwei Jahre stattfindenden Sitzungen der Liga abzuhalten — das Gremium ist berechtigt, wie ich bereits sagte, Vakanzen neu zu» besetzen; drittens wird die Liga ein Minimaleinkommen zur Deckung der Kosten für ein exekutives Amt wie für einen bezahlten Angestellten brauchen. Die Gebühren, wie vom Präsidialkomitee vorgeschlagen, werden entgegengenommen und hier von der Versammlung diskutiert. Zusätze zum Statut können vom Exekutivkomitee oder von fünf201
undzwanzig Prozent der Mitglieder eingebracht und von sechzig Prozent der Mitgliederschaft bestätigt werden. Das Programm unserer Aktivitäten kennen Sie. Wir brauchen es jetzt nicht durchzugehen. Das Exekutivkomitee wird jedoch das, was die Grundlage dieses Programms und die Präambel des Statuts bilden wird, diskutieren und im vollen Wortlaut der Liga unterbreiten. Schließlich wird die Liga ihre Aktivitäten durch die Veröffentlichung eines literarischen Organs beleben, das von dem von den Mitgliedern des Exekutivkomitees ernannten Publikationskomitee betreut wird. Es wird kein Informationsblatt sein, sondern eine Vierteljahresschrift mit den besten literarischen Werken, die das Redaktionskollegium entweder von Mitgliedern der Liga oder außenstehenden Schriftstellern, die der Liga nahestehen, erhalten kann. Die Zeitschrift wird die Aufgabe haben, die Liga vor der Öffentlichkeit zu präsentieren . . . Ich bin nicht gekommen, das Präsidialkomitee dieses Kongresses zu rühmen, sondern es zu bestatten. Ein so bedeutsames Ereignis, wie diese Zusammenkunft im Mecca Temple — triumphaler in seinem Verlauf, als es je einer von uns erwartet hat — sowie die große Ernsthaftigkeit und das gleichbleibende Interesse und die Lebensfülle der in diesem Raum abgehaltenen Sitzungen — das alles sind vielversprechende Zeichen einer echten Zukunft. Der Faschismus wird die Schriftsteller nicht unvorbereitet antreffen. Er hat einiges von ihrer Organisation zu befürchten." John Howard Lawson richtete sodann das Wort an den Kongreß: „Wie Mike Gold sagte, dies ist ein sehr feierlicher Augenblick. Spannend und anregend und wichtig wie die Vorgänge auf diesem Kongreß waren, nehmen wir nunmehr eine viel ernsthaftere Aufgabe in Angriff : die ständige Entwicklung und Entfaltung des Kongresses zu verwirklichen. Ich glaube, wenn es etwas gibt, das auf diesen Zusammenkünften beeindruckender als alles andere bewiesen wurde, so ist es die Tiefe und Breite und Größe der kulturellen Aufgaben der Arbeiterklasse, der revolutionären Bewegung. Wenn man über den einen oder anderen Aspekt der Kultur der Arbeiterklasse spricht, dürfen wir nicht vergessen, daß wir, weil dies unser Hauptprogramm ist, alle fraglos der Überzeugung sind, daß die Kultur der Zukunft der Arbeiterklasse gehört. Das bedeutet, denke ich, mit Sicherheit, daß alles, was in der Kultur von Vergangenheit und Gegenwart an Wertvollem vorhanden ist, Bestandteil dieser großen kulturellen Entwicklung ist. Ich möchte über die Arbeit des Kongresses und die Art, wie sie tatsächlich organisiert wurde, nur kurz sagen, daß diejenigen, die die eigentliche organisatorische Arbeit dieses Kongresses leisteten, ein Komitee waren, bestehend aus Malcolm Cowley, Henry Hart, Michael Blankfort, Alexander Trachtenberg, Edwin Seaver, Orrick Johns und anderen. Sie scharten zahlreiche weitere Schriftsteller um sich, die die verschiedenen Sitzungen besuchten, die Referate diskutierten, die Entwürfe zu den Referaten lasen, so daß etwa fünfzig bis sechzig Schriftsteller an der Organisierung der Arbeit, die diesen Sitzungen vorausging und sie ermöglichte, beteiligt waren. Die tatsächliche Handhabung der Einzelheiten des
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Kongresses, sowie der Druck und die Veröffentlichung der Arbeitsrichtlinien lag in den Händen des Präsidialkomitees, und das Präsidialkomitee übernahm auch die Aufgabe, einen Vorsitzenden und die Mitglieder des Exekutivkomitees und des Nationalrates zu nominieren, und ihre Nominierungen werden Ihnen sogleich unterbreitet. Eingedenk der Ernsthaftigkeit dieser Aufgabe möchte ich im Namen des Präsidialkomitees sagen, daß ein Großteil der Überlegungen und Erwägungen auf dieses Problem gerichtet war; denn wir sind uns bewußt, daß der Erfolg und die Einheit und die Dauer der Organisation von der Wahl derjenigen Schriftsteller abhängen, die diese Aufgaben übernehmen und die Liga amerikanischer Schriftsteller vertreten. Es wurde sowohl als notwendig erachtet, eine möglichst breite Front von gegen Krieg und Faschismus gerichteten Schriftstellern zu bilden, wie auch so viele geographische Bezirke wie möglich zu vertreten; ferner die Tatsache, daß Lyrik, Prosa, Drama und Literaturkritik sowie die verschiedenen anderen literarischen Gattungen vertreten sein müssen. Die schöpferischen Schriftsteller wie diejenigen, die auf publizistischem wie auf kritischem Gebiet tätig sind, sollten sorgfaltig berücksichtigt werden; auch die verschiedenen Gruppen mußten in jeder Hinsicht berücksichtigt werden, damit die verschiedenen Standpunkte, die auf dem Kongreß zum Ausdruck kamen, in vollem Umfange zur Geltung kommen können und damit dieser Rat die verschiedenen Standpunkte und die Gesamtheit der Aspekte der kulturellen Bewegung, die diese Liga verwirklichen soll, tatsächlich vertritt." Jack Conroy verkündete sodann den Namen des Mannes, den man nominiert hatte, um der Liga amerikanischer Schriftsteller voranzustehen: Waldo Frank. Die Nominierung wurde einstimmig bestätigt. Mr. Conroy verlas die Namen der folgenden Kandidaten für das Exekutivkomitee, Namen, die sämtlich bestätigt wurden: Kenneth Burke, Harold Clurman, Malcolm Cowley, Waldo Frank, Joseph Freeman, Michael Gold, Henry Hart, Josephine Herbst, Granville Hicks, Matthew Josephson, Alfred Kreymborg, John Howard Lawson, Albert Maitz, Isidor Schneider, Edwin Seaver, Genevieve Taggard und Alexander Trachtenberg. Die Mitglieder des schließlich bestätigten Nationalrates waren: Nelson Algren, Michael Blankfort, Maxwell Bodenheim, Van Wyck Brooks, Sterling Brown, Fielding Burke, Alan Calmer, Robert Cantwell, Harry Carlisle, Eugene Clay, Merle Colby, Jack Conroy, Edward Dahlberg, Leonard Ehrlich, James T. Farrell, Kenneth Fearing, Angel Flores, Horace Gregory, Robert Herrick, Sidney Howard, Orrick Johns, Joshua Kunitz, Tillie Lerner, Meridel Le Sueur, Robert Morris Lovett, Grace Lumpkin, Lewis Mumford, Moishe Nadir, Clifford Odets, M. J. Olgin, Joseph Opatoshu, Paul Peters, Rebecca Pitts, William Rollins Junior, George Sklar, Agnes Smedley, Lincoln Steffens, James Waterman Wise und Richard Wright. Der Bericht des Resolutionskomitees wurde dann von Michael Blankfort verlesen. Resolutionen wurden angenommen, die die Freilassung revolutionärer Intellektueller in allen Teilen der Welt forderten, einschließlich des deutschen 203
Romanschriftstellers Ludwig Renn und des hervorragenden deutschen Publizisten Carl von Ossietzky; Korea Sanda, der zuerst Anerkennung als Emperor Jones in einer japanischen Fassung von O'Neills Stück 270 errungen hatte ; und des in Japan inhaftierten Ryokichi Sugimoto ; des haitischen Romanziers und Dichters Jacques Roumain, den man der Konspiration gegen die Regierung Stenio Vincent beschuldigt hatte, nur weil er Flugschriften über den Scottsboroprozeß 271 besessen hatte; Juan Marinellos und Rejino Pedrosos und anderer Redakteure der Masas, die man in Kuba wegen ihrer Leitartikel gegen die amerikanische imperialistische Kontrolle des Landes durch eine Militärdiktatur gefangenhielt; sowie nahezu zwanzig, von Tschiangkaischek gefangengehaltener chinesischer Schriftsteller. Protestresolutionen wurden angenommen gegen die Unterdrückung der Bürgerrechte, das Anzünden von Schulen und die Schließung von höheren Bildungsanstalten sowie die Ermordung Intellektueller in Kuba; gegen die Zensur und Unterdrückung der Presse in Mexiko sowie gegen den Anschlag auf das Büro der mexikanischen kommunistischen Partei; gegen verschiedene Deportations- und Aufruhrgesetze, die von den gesetzgebenden Körperschaften dieses Landes beantragt worden sind; gegen William Randolph Hearst und seine Publikationen; gegen den Terror in Gallup und die Urteile der Prozesse in Sacramento; gegen die Verfolgung Mooneys, Angelo Herndons sowie der Scottsborojungs. Die von Romain Rolland, André Malraux, Louis Aragon und Henri Barbusse ergangene Einladung, Delegierte zu dem in Paris Ende Juni stattfindenden Kongreß zur Verteidigung der Kultur zu entsenden, wurde angenommen und das Exekutivkomitee bevollmächtigt, Delegierte zu entsenden. 272 Der Vorschlag zu einem panamerikanischen Schriftstellerkongreß wurde bestätigt. Michael Gold erteilte Waldo Frank, dem Sekretär der Liga amerikanischer Schriftsteller das Wort. Als Mr. Frank durch die Sitzreihen ging und aufs Podium stieg, erhoben sich die Delegierten. Sichtlich bewegt sagte Waldo Frank : „Es war in meiner Laufbahn wahrscheinlich niemals notwendiger gewesen als jetzt, mich auf eine Rede vorzubereiten. Doch ich komme mit leeren Händen, und vermutlich ist das ebensogut, weil wir alle müde sind. Das eine, was ich jetzt sagen möchte, ist die Umkehrung der alten Formel : nicht ,Gruß und Lebewohl', sondern ,Lebewohl und Gruß'. Es hat hier eine Menge erregter Diskussionen gegeben, wiewohl große Teile davon mittelbar das Thema Dogmatismus behandelten. Granville Hicks wies heute morgen darauf hin, daß die beiden Grundhaltungen, die die revolutionäre Literatur in den letzten fünfzehn Jahren geprägt haben — der Dualismus der beiden alten Blätter Masses und Liberator213 sowie der Sektierergeist der jüngsten Jahre — begraben worden sind. Es gibt noch keinen festen orthodoxen Rahmen literarischer Vorschriften und Regeln, die uns als Schriftsteller leiten können. Wir müssen unsere Philosophie der revolutionären Literatur in dem Maße, wie wir leben, schaffen. Wir müssen sie aus unserer Erfahrung schaffen, als in diesem revolutionären Zeitalter lebende Männer und Frauen, und auch aus unserer 204
Erfahrung als Schriftsteller. Wir werden diese Philosophie durch unsere Werke und die darauf erfolgenden Reaktionen schaffen. Wir stehen erst am Anfang. Alles Zurückliegende könnte man eine Art trügerischen Dämmerschein nennen, oder wenn Sie so wollen, den allerfrühesten Teil der Dämmerung, bevor die Sonne aufgeht. Ich denke, wir können jetzt mit gutem Gewissen sagen, daß die Sonne aufgeht. Meridel Le Sueur hat heute morgen in ihrer Ansprache einen sehr schönen Ausdruck gebraucht. Sie sprach von dieser großen Zeit der Gärung, dem Bedürfnis nach Wärme. Es freut mich, daß sie einen Ausdruck gebrauchte, den ich oft zu verwenden pflege — das Wort,organisch' — organische Erfahrung. Malcolm Cowley wies in der Sitzung im Mecca Temple daraufhin, daß die Neubelebung, die wir erleben, in gewisser Weise mit dem literarischen Gärungsprozeß in Deutschland zu vergleichen ist, den Hitler, dessen bin ich sicher, nur zeitweilig abgeschafft oder gedämpft hat. Wir, meine Kollegen, leben in dieser Zeit der Gärung. Wir bedürfen der Wärme, wir bedürfen der Freiheit, von der diese Delegierten gesprochen haben. Doch wir brauchen auch Disziplin, unnachgiebiges geistiges und ästhetisches Training. Gärung allein genügt nicht. Wir müssen aufbauen, harte Schläge austeilen und auch nehmen können. Wir müssen gegen jede vorzeitige Verfestigung gewappnet sein; weil die große Gefahr in unserem amerikanischen Kulturleben in vorzeitiger Kristallisation besteht, was nur einen anderen Ausdruck für Fehlschlag bedeutet. Ich möchte sagen, daß ich jetzt sicherer bin, als ich es war, als ich den Beitrag für die Mecca-Temple-Sitzung schrieb; sicherer, daß es zu keinem Fehlschlag kommen wird. Ich bin jetzt sogar davon überzeugt. Ich bin sicher, daß in uns nicht nur die Gärung, die Wärme, die Kraft, sondern auch der Wille stecken, gedanklich ernst mit den Problemen zu ringen, der Wille, unsere Rolle im revolutionären Kampf mit aller Härte auf uns zu nehmen. Die Philosophie, die uns zu Schriftstellern macht, muß aus unserer Lebens-, Denk- und Gefühlsweise hervorgehen. Unsere revolutionäre Auffassung vom Leben muß eine Lebensweise sein. Doch wir müssen uns noch umfassender begreifen, nicht nur als revolutionäre Mitstreiter, sondern als Kunstschaffende innerhalb eines Kunstprozesses; und das erfordert große, Klarheit und eisernes Heldentum. Wir müssen an unsere Arbeit wie an die Notwendigkeit der Autonomie unserer Arbeit als Kämpfer und Schriftsteller glauben. Das ist in einer so bewegten Zeit wie der unseren sehr schwer. Es ist deshalb so schwer, weil es, wie ich gestern abend sagte, so viele unmittelbare Aufgaben gibt, an deren Lösung wir mitarbeiten müssen: Aufgaben im täglichen Kampf. Und eben gerade aus diesem Hexenkessel der Widersprüche heraus schafft der Schriftsteller, wenn er es wirklich schafft, an seinen klar gefaßten Anschauungen festzuhalten, diejenigen substantiellen Werke von bleibendem Wert, aus denen sein Werk — unser schöpferisches Werk — hervorgehen muß, will es leben und sein Ziel erreichen. 205
Ich möchte eine weitere Bemerkung machen, die mir gestern abend im Zusammenhang mit einigen jüngeren Schriftstellern hier einfiel. Ich war äußerst überrascht, festzustellen, daß unter uns Schriftsteller weilen, die das Gefühl haben, solche Graubärte wie Jim Farrell und Ed Dahlberg und ich — wie auch andere — würden ihren Problemen nicht die gebührende Beachtung schenken, wie sie jüngere Schriftsteller brauchen. Lassen Sie mich diesen jüngeren Schriftstellern sagen, daß, wenn wir Graubärte das versäumt haben, es nur deshalb geschah, weil uns völlig entgangen ist, daß wir nicht alle eines Alters sind; weil wir uns alle (zumindest ich in meinem Falle bin mir dessen sicher) so jung fühlen, von Anfang an so jung gefühlt haben, daß uns diese Altersunterschiede überhaupt nicht zu Bewußtsein gekommen sind. Doch wenn ich an die jüngsten Schriftsteller denke — und es sind wahrscheinlich Schriftsteller hier, die zwanzig Jahre jünger sind als ich, und das ist heutzutage viel, besonders wenn man zwanzig Jahre weiter denkt — so lassen Sie mich aufrichtig sagen, daß meine eigene Teilnahme an diesem Kongreß hauptsächlich ihnen gilt : Und wenn ich weiter meine Zeit opfern werde, so deshalb, weil ich der Aufgabe, eine Welt zu schaffen, in der diese jüngsten Schriftsteller leben werden, leidenschaftlich ergeben bin. Insofern, wie wir alle für die Existenz einer Welt kämpfen, in der die Jugend — Jugend im schöpferischen Sinne des Wortes — leben kann, schwindet und entfallt das Alter. Zumindest in der revolutionären Bewegung entfallt das Alter. Die jüngsten Schriftsteller des heutigen Europa sind die Männer, die, gleichgültig wieviel Jahre sie zählen, in der revolutionären Bewegung großgeworden sind. Die alten — viele von ihnen noch keine dreißig — sind die reaktionären Schriftsteller, nicht Männer wie Romain Rolland, der mit siebzig jung ist, wie André Gide, der mit fünfundsechzig jung ist. In dem Maße, wie man lebendig bleibt, kann man nicht altern. Und ich denke, ich kann das insofern sagen, wie wir heute lebendig bleiben : wir stehen deshalb in der revolutionären Bewegung, weil das der Platz des Lebens ist. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie bedeutsam dieser Kongreß ist. Ich brauche nicht all die Worte auszusprechen, die zum Ausdruck bringen würden, was wir hinsichtlich seiner Bedeutung empfinden; weil das die Worte sind, die wir geschult und ausgebildet sind zu meiden. Es sind Worte — ernsthafte, große und feierliche Worte voller weltweiter Bedeutung —, deren Inhalt wir heute vielleicht am besten würdigen, wenn wir schweigen. Lassen Sie mich also schließen, wie ich sagte, als einen Beginn. Wir haben den uralten Gruß ave atque vale ,Gruß und Lebewohl' umgekehrt zu .Lebewohl und Gruß'. 274 Lassen Sie jnich mit einem Zitat eines großen revolutionären Kämpfers, eines Mannes, den ich gerade erwähnte, Romain Rollands, schließen. Ich entsinne mich noch, wie ich vor zwanzig Jahren im Kriege diese Worte von ihm las. Er war mein Freund, und mehr als alles andere war es sein Beispiel, das mich in jenen ersten Kriegsjahren in eine Richtung schwenken ließ, die sich jetzt, wie ich glaube, einem Ziel annähert, da sie mir so viele Kampfgefährten eingebracht hat. Mit diesen Worten möchte ich den Kongreß nicht beenden, sondern die Liga 206
amerikanischer Schriftsteller eröffnen. Romain Rolland sagte: ,Es muß noch alles gesagt werden. Es bleibt noch alles zu tun. Gehen wir ans Werk!'" Als der Beifall verebbte, erhob sich James Farrell und schlug vor, der Kongreß möchte seine letzte Sitzung mit dem Singen der Internationale beenden. Man tat das.
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1. Mecca Temple, New York, Ort der E r ö f f n u n g s v e r a n s t a l t u n g des ersten Schriftstellerkongresses 1935
2. Waldo Frank Erster Präsident der League of American Writers 1935
3. Friedrich Wolf
1 M Ì i
8. Clarence Hathaway
Tir
9. Matthew Josephson
10. Joseph North
11. Louis Aragon
12. John Dos Passos
13. Albert Maitz
14. Michael Gold
15. Philip Stevenson
16. Richard Wright
17. Carnegie Hall, New York, Ort der E r ö f f n u n g s v e r a n s t a l t u n g des zweiten Schriftstellerkongresses 1937
18. Donald Ogden Stewart Zweiter Präsident der LoAW 1937
Edward Dahlberg Waldo Frank und die Linke (New Masses, 23. April 1935) Es wird immer zweifelhafter, ob es möglich ist, daß sich eine wichtige literarische Richtung ohne Hilfe und Erläuterung von seiten der Kritiker durchsetzen kann. Von beiden Seiten, sowohl von rechts als von links herrscht heute ein Wirrwarr von Kriterien, der eher zur Beerdigung von Kunstwerken als zu ihrer Hervorbringung beiträgt. „Die Erziehung eines Volkes hinsichtlich der Kultur", sagte Nietzsche, „ist im wesentlichen eine Frage von guten Vorbildern." Die Saturday Review of Literature ist gewöhnlich von jener besonderen James'schen Krankheit befallen, die als Gigantismus bekannt ist. Jeden dritten Monat pflegt sie ein ungeheures Genie zu entdecken, und jeden vierten Monat beklagt sie die Tatsache, daß keine bedeutenden Romane veröffentlicht werden. Diese anhaltende „bereitwillige Gläubigkeit" in der literarischen Kritik führt seitdem beständig und gradlinig abwärts. Die wahren Gegner dieses Gigantismus sind entweder verschwunden oder haben sich zurückgezogen. Louis Vernon Parrington, ein Kritiker von Rang und umfassendem Verständnis, ist tot; Van Wyck Brooks, am meisten von der amerikanischen Literatur begeistert und an ihr verzweifelnd, hat sich von der gegenwärtigen Szene zurückgezogen; und Edmund Wilson, hochbegabt, Verfasser jener bemerkenswerten Studie auf dem Gebiet der schönen Literatur AxeVs Castle (Axels Burg), hat in der Einsamkeit Zuflucht gesucht. In einer solchen Periode der Verwirrung, in der graduelle Unterscheidungen zwischen Büchern von untergeordneter Bedeutung sind, ist Waldo Franks The Death and Birth of David Markand (Tod und Geburt des David Markand) erschienen. Dieses Werk ist ein Schwanengesang des amerikanischen Bürgertums und Waldo Franks Abschied von dieser Klasse. Für eine gerechte Bewertung des Buches ist hier eine Art Überblick über seinen Inhalt angebracht: David Markand, ein Aktionär der Vereinigten Tabakindustrie ist entwurzelt, befindet sich in einer verwickelten Situation und wünscht, dem tödlichen Sumpf seiner Umgebung zu entfliehen. Seine Frau sucht Zuflucht im Katholizismus; aber Markand, solchen betrügerischen Heilmitteln völlig abgeneigt, möchte in die Welt der Produktion und der Arbeit gelangen, zu den unterdrückten Bauern und dem Proletariat, um von ihrem Leben zu lernen. Seine rastlose Wanderschaft, mit industriellen, sozialen und erotischen Erkundungen, ist endlos. Markand — gequält und verwirrt — hungert, arbeitet als Wanderarbeiter in den Schlachthöfen von Chicago, als Heizer und als Barmixer in New Orleans. Er lernt arme Bauern aus Georgia, schwarze Teilpächter, Zimmermädchen, Gewerkschaftler und Marxisten kennen. Jeder Winkel einer Stadt, einer Straße, jedes Ereignis bedeutet für ihn eine weitere qualvolle Erfahrung, eine „Umwertung aller Werte". Die viel zu kurze Schilderung von John Byrne, einem Führer der Arbeiter14«
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klasse, und Jane Priest, die sich von einer armen Weißen zu einer klassenbewußten Organisatorin entwickelt hat, sowie die Schilderung der Schurkerei und der völligen Verruchtheit der Unternehmer in der Kohlenindustrie gehören zu den autenthischsten literarischen Darstellungen der Arbeitswelt im amerikanischen Roman. Zweifellos ist es eine Beschreibung der Terrorherrschaft in Harlan, Kentucky, wo Waldo Frank als Mitglied des Untersuchungsausschusses der Schriftsteller von der Polizei niedergeschlagen wurde. Diese Prosa ist prägnant und politisch zugespitzt: „Die vier Männer erhoben sich. Lowrie, der größte Unternehmer am Ort und der reichste Mann in Howton, war untersetzt, hatte eine froschähnliche Figur mit gerötetem Gesicht, in dem kleine grüne Augen schimmerten, und einen Mund wie ein Fangnetz. Neben ihm stand Richter Freeter, Amtmann des örtlichen Bezirksgerichtshofes, ein sehr großer Mann, mit lichtem graugelocktem Haar, Adlernase und grimmigen kleinen Augen. An der anderen Seite von Lowrie stand als Kläger Bezirksanwalt Lincoln, ein forscher junger Mann mit niedrigen Augenbrauen, der mit dem Phi Beta Ä"a-Abzeichen an seiner Weste spielte; und neben dem Richter stand ein Mann mit einem Vollmondgesicht, mit wasserblauen Augen, einer Boxernase und fleischigen Händen — Gouverneur Garent. Sie schüttelten den Bergarbeitern die Hände und beteuerten immer wieder: ,Mächtig erfreut, Sie zu sehen.' Die Bergarbeiter legten ihre Pistolen vorsichtig unter den Tisch . . . In diesem Augenblick lebte die Wahrheit zwischen ihnen auf dem Tisch. Der Gouverneur öffnete die Lippen, um sie zu verbannen; seine Stimme, die aus dem Mondgesicht tönte, war ein wohlklingender Tenor, sanft für das nächste Ohr, jedoch, das spürte man, noch auf dem fernsten Appalachenhügel vernehmbar. Er sagte: ,. . . denn ich bin hier, das möchte ich betonen, um Ihnen als Gouverneur Ihres Staates zu versichern, so wahr Ihre Forderungen berechtigt sind, berechtigt für Amerikaner, bei Gott, Ihr Herren, sie sollen genehmigt werden.' Und 24 Stunden später lagen die Streikführer John Byrne und Jane Priest begraben unter einem frischen Hügel von nasser Erde, der mit den Füßen festgestampft war, ermordet durch vom Gouverneur gedungene Meuchelmörder." Als typisches Beispiel für eindringliche Schilderung ist folgender Abschnitt des Buches hervorzuheben: „Er reiste nach Minneapolis und staunte über den Unterschied zu St. Paul. Eine freundliche, helle Stadt, in den Farben dem Getreide ähnlich, und doch hatte sie eine gehörige Härte, die Markand den Haß der Bauern auf den Mittelstand begreifen ließ. Denn es war eine Stadt des Mittelstandes. Den Mittestand abschaffen, würde bedeuten, Minneapolis abschaffen — ihre stolzen Häuser und protzigen Boulevards. St. Paul war dunkler und fröhlicher." Der Roman ist unterschiedlich hinsichtlich Stil und Struktur; es gibt erotische Partien, die mit jenen von John Donne wetteifern, und es gibt andere sexuelle Episoden, die den Leser in derselben Weise schockieren, wie es bei D. H. Lawrence oft geschieht. Wie Bildhaftigkeit, Farbigkeit und gesellschaftlicher Einblick in grelle und kühne Anschaulichkeit zusammengedrängt sind, kann der Leser an folgendem Beispiel 212
erkennen: „Die Straße aus rotem Ton grub sich durch die Dämme, hoch oder niedrig: junger Mais und Zuckerrohr wogend im Wind; die schon feste Baumwolle, und ständig die rote Straße... Hütten auf Stelzen stehend, damit plötzlicher Regen darunter fließen kann und sie trocken läßt: Hütten rhythmisch angeordnet und verwittert wie der Widerschein von getüpfelten Blumen auf dem Wasser. Einzelne Gehöfte von Weißen, größer, stabiler, mit mehr Schutt auf den Höfen; und immer die rote Straße. Schwarze zu Fuß unterwegs, nur schwach aus der roten Erde unter dem blau-goldenen Himmel auftauchend, wie ihre roten Schweine; vereinzelt Weiße, Splitter aus einer fremden Welt der Kühle und der Kanten . . ." Man vergleiche die hier zitierte Partie mit den dumpf dröhnenden Tiefgründigkeiten von Thomas Wolfe, die Burton Rascoe in der Herald Tribüne als ein Beispiel tiefgründig-anschaulicher Prosa ausgewählt hat: „Nach all der blinden qualvollen Wanderschaft seiner Jugend würde jene Frau der Mittelpunkt seines Herzens werden und das Ziel seines Lebens, das Abbild unsterblichen Einsseins . . . die unsterbliche Herrschaft und Einheit des Lebens". Thomas Wolfe ist der jüngste bürgerliche Held des Gigantismus. Ein oder zwei Kritiker von The Death and Birth of David Markand haben Waldo Frank als einen Mystagogen angegriffen und haben gesagt, daß hier seine Annäherung an den Kommunismus von besonderer Art sei, gefärbt von der Religiosität eines Proselyten. Es gibt natürlich nicht d e n einen Weg, noch gibt es hundert Wege, auf denen man sich eine neue soziale und klassenmäßige Auffassung aneignen und erwerben kann. In diesem Buch ist der Fehler nicht Frank anzulasten. Er liegt in der spannungsgeladenen Verschmelzung von Abbildung und Empfindung, in seinem hohen Grad von Empfänglichkeit und dem raschen Reagieren mit literarischer Verarbeitung, die als Transzendentalismus mißverstanden oder für das gehalten wurden, was Lenin als Gott erschaffen oder Gott errichten bezeichnet. Was auch immer Frank in seiner Vergangenheit gewesen sein mag, in diesem Roman ist er kein Mystiker. Die Gottheit, wann immer der Autor auf sie anspielt, ist in jedem Fall eine literarische und soziale Erfindung, so z. B. wenn es heißt: „Es ist leicht zu erkennen, welcher der beiden Klassen von Menschen der Herr wohlgesonnen ist." Jedoch, Waldo Franks Buch fördert etliche sehr bedeutende ästhetische Probleme für den Amerikanischen Schriftstellerkongreß zutage. Revolutionäre Romane über die Mittelklasse, in denen das Proletariat keine führende Rolle spielt oder nur einen beiläufigen Platz einnimmt, haben bisher ein ziemlich schwaches Echo gefunden. Die Technik der indirekten Darstellung: Streiks, Klassenkampf, Mord und Hunger als einen dynamischen Zyklus zu benutzen, der die Qualen und die Bewußtheit des Protagonisten erhöht, also eine mehr periphere und mittelbare Annäherung an den Kommunismus in der Prosaliteratur, sind in Bausch und Bogen abgelehnt oder als ungeeignet erachtet worden. Unentschlossenheit, Widerstreit, Ängstlichkeit sind als nicht repräsentativ, als krankhafte Gefühle einer todeswürdigen Figur oder Umgebung angesehen worden. Diese Haltung ist nicht ohne einen Anflug von „Babbitt-Manie" und ein nur zu deutliches Anspielen auf 213
den Wahlspruch: Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Kurz gefaßt: Ist es wesentlich, daß eine Gestalt in einem revolutionären Roman wie ein Marchbanks aus dem Buch heraus oder von der Bühne hinweg tritt? Ist es notwendig, daß die David Markands oder die Studs Lonigans, von den alltäglichen Wirrnissen bedrängt, alles wissen, was die Leser wissen? Das arge Dilemma des armen Ernest in The Way of All Flesh (Der Weg allen Fleisches) ist ein solcher Fall. Ernest verharrt bis ganz zum Schluß des Romans bei verworrenen metaphysischen Ansichten und Axiomen; er taucht niemals triumphierend aus dem geistlich vernebelten Dunstkreis der Kirche empor — aber der Leser tut es. Das führt uns zu einem weiteren Problem: dem nach innen gekehrten psychischen Menschen. Jung, der sich mit psychologischen Typen befaßt, hat geschrieben, daß eine extrovertierte Person „ein Element karikierender Abwertung" besitze und leichter darzustellen sei als eine introvertierte Person. Aber der zeitgenössische Autor, dessen Roman fragmentarisch ist wie seine Helden, mit realistisch gezeichneten Beinen, Armen, Körpern, aber ohne Herz und Verstand, hat Empfindungsfahigkeit und Introversionen ausgespart. „Seitenlange Schilderung von Sensationen und kein Herz darin" charakterisiert den verstümmelten Protagonisten der modernen amerikanischen Romanliteratur, bürgerlich oder kommunistisch. Parrington hat das Problem in seinen Ausführungen über Sinclair Lewis dargelegt: „Diese munteren Schilderungen wirken in erstaunlichem Maße glaubhaft, sprechen eine zu bewundernde realistische Sprache, offenbaren eine überraschende Lebensechtheit — und doch bieten sie nichtsdestoweniger nur die äußeren Hüllen, aus denen das Leben entwichen ist." Und es sind diese „Hüllen", die wir zu bedauern gelernt haben, und sogar zu verachten, nicht weil sie gequält sind und ausgebeutet, sondern aus gerade den entgegengesetzten Gründen, weil sie so erbärmlich träge sind. Fast alle Charaktere in der heutigen amerikanischen fiktionalen Erzählprosa, Clyde Griffiths in An American Tragedy (Eine Amerikanische Tragödie), die Jeeters in Tobacco Road (Tabakstraße), Conroys umherziehende Halbproletarier, Dos Passos' Männer und Frauen (die immer von Ort zu Ort gehen, sich aber niemals entwickeln), sind im Hinblick auf schöpferische Kraft und Intention vordergründig. Was, neben anderen Erscheinungen, eingetreten ist, ist die Tatsache, daß das Berichten in einem Kauderwelsch, einem slangartigen Stil anstelle einer literarischen Prosa sich durchgesetzt hat. Als Methode des chronikartigen und des stenographischen Berichtes von vordergründigen Beziehungen und sensationellen Ereignissen ist das Amerikanisieren oft sehr wirkungsvoll. Aber es erlegt dem Schriftsteller bestimmte Einschränkungen auf, in dem Maße, daß ein gewissenhafter Kritiker den Leser beständig daran erinnern muß, daß diese Sprache und die darin dargestellten geistigen Prozesse nicht mit des Autors Meinungen und Verstand identisch sind. Infolgedessen können Einblicke, Nuancierungen und abgestufte Wahrnehmungen selbst durch einen sehr hochgradig formalisierten Zeitungsstil nicht erreicht werden, ebensowenig wie ein ganzer Mensch. In der Tat, wenn ein amerikanischer Romanschreiber, der links oder liberal eingestellt ist, versucht, 214
eine traurige Stimmung oder irgendeine Empfindung anzudeuten, schreibt er nur zu oft, daß die von ihm dargestellte Person sich „irgendwie dumm oder komisch vorkam". Daher ist es nicht gänzlich überraschend, daß mit dem Romanschriftsteller, der uns in einem klassenbewußten amerikanischen Roman einen höchst vollständigen Charakter, einen lebenden und atmenden Menschen in David Markand geschaffen hat, von etlichen Kritikern kurzer Prozeß gemacht wurde. The Death and Birth of David Markand gehört zu den bedeutenderen Romanen unserer Zeit. Länger als ein Jahrzehnt ist Waldo Frank eine Stimme der Mittelklasse, der Intelligenz, der Studenten, der Lehrer gewesen. Die Frustrationen, die Verwirrungen und Ängste des Markand sind, so könnte man sagen, von selbst zu repräsentativen, gängigen Gefühlen und Zweifeln des sozialen Gewissens einer ganzen Klasse und einer bestimmten Zeit geworden.
Matthew Josephson Für eine literarische Einheitsfront (New Masses, 30. April 1935) Bei dem vorgeschlagenen Kongreß der amerikanischen Schriftsteller, würde ich vor allem gerne sehen, daß die Grundlage einer literarischen Einheitsfront geschaffen werde. Ich glaube, daß die politischen Pflichten der Schriftsteller angesichts der gegenwärtigen Weltkrise in einer Reihe von Minimalforderungen dargelegt werden können, die breit genug ist, um Menschen verschiedener Uberzeugungen zu umfassen, wie auch im Falle anderer Organisationen, die kürzlich entstanden sind, um die Menschenrechte zu verteidigen und die Barbarei zu bekämpfen. Was die literarischen Pflichten der Schriftsteller betrifft, so glaube ich, daß auch dort eine klare Verständigung erreicht werden sollte, wo es viel Uneinigkeit und Streit gegeben hat. Die Uneinigkeit, auf die ich anspiele, und die ich seit ein oder zwei Jahren in der radikalen Presse bemerkt habe, und das muß betont werden, betrifft nicht wichtige menschliche und historische Grundsätze, sondern vielmehr Fragen der literarischen Technik. Sie kreist nicht um die Frage, ob wir uns damit befassen sollen, eine revolutionäre Literatur zu schaffen und die Ziele der Arbeiterklasse zu fördern, sondern darum, wie wir das tun sollen. Auf diesem Gebiet hat es meiner Meinung nach ziemlich viel „linke literarische Unreife" gegeben, die der Masse der Bevölkerung nicht wirkungsvoll geholfen hat. Im Lichte eines gewissen Formalismus haben linksgerichtete Schriftsteller erstaunlich viel Zeit darauf verwandt, die vermeintlichen technischen Unzulänglichkeiten ihrer Kollegen und Mitstreiter herauszuarbeiten. Sie haben sich gegenseitig überwacht und „berichtigt"; sie haben in einem Wirrwarr geschwelgt, den ich als falsche marxistische Literaturkritik ansehe. Und obwohl solche Tendenzen auch ermuti215
eine traurige Stimmung oder irgendeine Empfindung anzudeuten, schreibt er nur zu oft, daß die von ihm dargestellte Person sich „irgendwie dumm oder komisch vorkam". Daher ist es nicht gänzlich überraschend, daß mit dem Romanschriftsteller, der uns in einem klassenbewußten amerikanischen Roman einen höchst vollständigen Charakter, einen lebenden und atmenden Menschen in David Markand geschaffen hat, von etlichen Kritikern kurzer Prozeß gemacht wurde. The Death and Birth of David Markand gehört zu den bedeutenderen Romanen unserer Zeit. Länger als ein Jahrzehnt ist Waldo Frank eine Stimme der Mittelklasse, der Intelligenz, der Studenten, der Lehrer gewesen. Die Frustrationen, die Verwirrungen und Ängste des Markand sind, so könnte man sagen, von selbst zu repräsentativen, gängigen Gefühlen und Zweifeln des sozialen Gewissens einer ganzen Klasse und einer bestimmten Zeit geworden.
Matthew Josephson Für eine literarische Einheitsfront (New Masses, 30. April 1935) Bei dem vorgeschlagenen Kongreß der amerikanischen Schriftsteller, würde ich vor allem gerne sehen, daß die Grundlage einer literarischen Einheitsfront geschaffen werde. Ich glaube, daß die politischen Pflichten der Schriftsteller angesichts der gegenwärtigen Weltkrise in einer Reihe von Minimalforderungen dargelegt werden können, die breit genug ist, um Menschen verschiedener Uberzeugungen zu umfassen, wie auch im Falle anderer Organisationen, die kürzlich entstanden sind, um die Menschenrechte zu verteidigen und die Barbarei zu bekämpfen. Was die literarischen Pflichten der Schriftsteller betrifft, so glaube ich, daß auch dort eine klare Verständigung erreicht werden sollte, wo es viel Uneinigkeit und Streit gegeben hat. Die Uneinigkeit, auf die ich anspiele, und die ich seit ein oder zwei Jahren in der radikalen Presse bemerkt habe, und das muß betont werden, betrifft nicht wichtige menschliche und historische Grundsätze, sondern vielmehr Fragen der literarischen Technik. Sie kreist nicht um die Frage, ob wir uns damit befassen sollen, eine revolutionäre Literatur zu schaffen und die Ziele der Arbeiterklasse zu fördern, sondern darum, wie wir das tun sollen. Auf diesem Gebiet hat es meiner Meinung nach ziemlich viel „linke literarische Unreife" gegeben, die der Masse der Bevölkerung nicht wirkungsvoll geholfen hat. Im Lichte eines gewissen Formalismus haben linksgerichtete Schriftsteller erstaunlich viel Zeit darauf verwandt, die vermeintlichen technischen Unzulänglichkeiten ihrer Kollegen und Mitstreiter herauszuarbeiten. Sie haben sich gegenseitig überwacht und „berichtigt"; sie haben in einem Wirrwarr geschwelgt, den ich als falsche marxistische Literaturkritik ansehe. Und obwohl solche Tendenzen auch ermuti215
gende Anzeichen von „wachsenden Sorgen" sein mögen, Folgeerscheinungen einer löblichen, wenn auch schlecht beherrschten Begeisterung, so meine ich, daß es für einige von uns an der Zeit ist, daß wir versuchen, Ausschreitungen zu entmutigen und ein bißchen mehr Ordnung und gesunden Menschenverstand in die Situation zu bringen. Solche Ausschreitungen sind folgende: Kürzlich hat ein junger Dramatiker, der alle mögliche Ermutigung verdient, ein Werk voller Humor und Satire geschaffen, das ein Bild der Frustration einer Familie aus der unteren Mittelklasse gibt, ein Bild, das eindeutig die soziale Revolution als den einzigen Lösungsweg aus dieser Frustration heraus aufzeigt. Sogleich tadelte ein linksgerichteter streng dogmatischer Kritiker den Dramatiker wegen seines Sinnes für Humor, wegen seiner „Witzeleien", tadelte ihn, weil er „seinem Sprachgefühl und seinem Sinn für Humor freien Lauf gelassen habe" usw. Vielleicht übertreibe ich seine Kritik ein bißchen. Aber ganz gewiß hinterließ er den Eindruck, daß Proletarier niemals wieder lachen dürften, wenn es nach ihm ginge; er vergaß, daß Humor und Spott wahrscheinlich das wirksamste Mittel für die Meinungsbildung sind; daß die revolutionäre Bewegung kaum genug davon besitzen kann. Ich war daher froh zu lesen, daß dieser Kritiker in den Spalten der New Masses gehörig zurückgewiesen wurde; zu seinem eigenen Besten sollte an ihm ein Exempel statuiert werden. Zu den Ausschreitungen zähle ich auch gewisse kritische Einwände gegen unsere jüngeren Romanschreiber, John Dos Passos, Erskine Caldwell, Edward Dahlberg und andere, die eingestandenermaßen mit den hauptsächlichsten Zielen der Arbeiterklasse einverstanden sind. Dos Passos, so wird der Anschein erweckt, „habe nicht genügend die Stärke der Arbeiterklasse betont"; Caldwell „schildere in gänzlich unangemessener Weise die verborgene Macht des südlichen Proletariats . . . " und Dahlbergs Roman, so heißt es, „könnte sogar als Beweis für die Hilflosigkeit des amerikanischen Proletariats herangezogen werden". Ich meine, daß solche Beurteilungen (die bezeichnend für die engstirnige Kritik sind, gegen die ich mich wende), nicht berücksichtigen, auf welcher Stufe der sozialen Entwicklung wir uns in Amerika befinden, wie notwendig die mit unendlicher Geduld vorgenommene Enthüllungsarbeit von Seiten solcher Schriftsteller wie Dos Passos und Caldwell ist, wie notwendig das Verständnis der tatsächlichen Gebräuche und Gewohnheiten unseres Volkes. Überdies werden sie von der hohen Wertschätzung widerlegt, die den Werken eines Schriftstellers wie Dos Passos von dem revolutionären russischen Publikum zuteil wird. Ein anderer Fall: Ein zeitgenössischer Schriftsteller, dessen Interessen jüngst vorrangig auf kritischem und philosophischem Gebiet lagen, geriet eines Tages auf den Weg, auf dem er selbst sah, daß er zum Glauben an den Kommunismus gelangt war. Er beschrieb seine Überzeugungen auf seine eigene Weise. Unverzüglich nach Veröffentlichung seines beeindruckenden Glaubensbekenntnisses machte sich ein anderer junger Mann, der nur wenig früher seine Überzeugung geändert hatte, Tag und Nacht an die Arbeit, um durch ein höchst wortreiches Machwerk zu beweisen, daß mein Freund eigentlich ein „unbewußter" Faschist sei! Was für 216
ein richtiger Spürhund, was für ein vollkommener Detektiv doch dieser Kritiker ist! (Es gibt etliche solcher Sherlock Holmes', und ich meine, für das Proletariat wäre es besser, wenn diese dazu gebracht werden könnten, für jede Stunde, die sie damit zubringen, ihre Mitstreiter zu entlarven, lieber zwei Stunden darauf zu verwenden, Unterstützungsgelder für die Scottsboro-Boys zu sammeln.) Ein Kritiker sollte es sich wohl überlegen, bevor er sich entschließt, einen Schriftsteller wegen seiner „unbewußten" Irrtümer oder Vergehen zu tadeln; das heißt, die sich weder klar offenbart haben noch begangen worden sind. Ein Kritiker besitzt eine gewisse offizielle Macht, Vorurteile in den Köpfen seines Publikums zu errichten, wobei für das Publikum nur in geringem Maße die Gelegenheit besteht, sich jeweils durch Augenschein zu überzeugen. Nirgends wird ein Gerichtshof Menschen wegen ihrer „unbewußten" Haltung verurteilen; das ist nicht marxistisch, und es ist nicht einmal wahrhaft Freudianisch. Jedoch wird es von gewissen Kritikern, die gleichzeitig als Detektive, Vertreter der Anklage und Richter fungieren, ein bißchen zu leichtfertig gehandhabt. Aufrichtige und anständige Menschen könnten entsetzt sein, wenn sie sich plötzlich als „Feinde" und „Faschisten" gebrandmarkt finden; und jene, die nicht großmütig genug sind, könnten zum Verstummen und zur Gleichgültigkeit getrieben werden. Fast ebenso gefahrlich, so scheint es mir, ist die Versuchung marxistischer Kritiker, wie John Strachey aufgezeigt hat, Stil und Schreibweise zu vernachlässigen. Die revolutionäre Bewegung wird alle nur möglichen Fähigkeiten und Kunstfertigkeiten ihrer Schriftsteller benötigen. Ein Roman, der gemäß eines vorgegebenen Musters eingerichtet ist, wie es gewisse dogmatische marxistische, linksgerichtete Kritiker angeboten haben, kann sein Ziel, nämlich das Interesse seiner Leser zu fesseln, vollkommen verfehlen. Und Lenin, daran müssen wir uns erinnern, sagte sehr einfach: „Unsere Arbeiter und Bauern haben das Recht auf eine wahre und große Kunst." Die Erfahrung Sowjetrußlands bietet uns Lehren von ungeheurer Bedeutung, die wir in Begriffe der amerikanischen Bedingungen und Möglichkeiten umsetzen müssen. Aber ich bin durchaus nicht geneigt, dem von einigen zeitgenössischen russischen Belletristen mühsam hergestellten Kommentar zu Shakespeare's Hamlet dieselbe Bedeutung zuzusprechen wie Lenins politischer Betätigung in den Jahren 1917—1924, oder Stalins Tätigkeit in dem Jahrzehnt der kühnen Erneuerungen und der gesellschaftlichen Veränderungen, das darauf folgte. Die Frage einer proletarischen Literatur und einer proletarischen Ästhetik scheint mir in Rußland keinesfalls schon gelöst zu sein. Bestimmte fest umrissene Grenzen sind markiert worden. Zum Beispiel deutete Lenin an, daß er keine Literatur dulden würde, die dem revolutionären Programm widerspräche. Unter den Umständen, die damals und jetzt in Rußland gegeben sind, ist seine Haltung völlig logisch. Aber solche Ausschließungen rechtfertigen nicht die Ausschreitungen, die vor einigen Jahren im Programm der R.A.P.P. (der Organisation proletarischer Schriftsteller) vorkamen. Diese entstanden aus dem aufrichtigen und sehr begeistertem Verlangen vieler Schriftsteller, zu denen zu gehören, die „auch 217
Waffendienst leisten", wenn auch nur an der literarischen Front. Sie wünschten sich vielleicht, ebenso heldenhaft zu sein wie die Roten Garden im Bürgerkrieg. Mit der Feder zu kämpfen ist kaum dieselbe Angelegenheit! 1932 mußte die R.A.P.P. notwendigerweise aufgelöst werden. Als ich zu Beginn des vorigen Jahres in Rußland war, erklärte man mir, daß die Unerbittlichkeit der proletarischen Schriftstellergruppe mit den schwierigen und erregenden Tagen der Inangriffnahme des ersten Fünf-Jahr-Planes für die Schwerindustrie zusammentraf, eine Zeit der Selbstaufopferung und der Gefahr. Aber mit dem Vorübergehen der gefahrvollen Periode wurden immer mehr liberalere Maßstäbe für die Literatur und Kunst eingeführt. Die Philosophie von Marx und Engels hat sowohl zur Aufhellung der Geschichte der Kunst und Kultur als auch der des ökonomischen Lebensbereiches in großartiger Weise beigetragen. Sie hat vollständig jene „starken Interessen, die unklar im Hintergrund" von Büchern und Gemälden wie der nationalen Politik „wirken", aufgedeckt. Für Marx war das individuelle Genie eines Raphael nicht verständlich außer als Bestandteil seines sozialökonomischen Hintergrundes. Jedoch weder Marx noch Engels schlugen festgelegte Muster dafür vor, was proletarische Literatur sein sollte. Es gibt Gedanken in Engels' Korrespondenz, aus denen nachfolgende Wissenschaftler interessante Schlußfolgerungen gezogen haben; Schlußfolgerungen, die sich offensichtlich noch im Prozeß der Entwicklung befinden. Besondere Aufmerksamkeit ist der bemerkenswerten Aussage in einem Brief von Engels an eine englische Schriftstellerin der achtziger Jahre gewidmet worden, in der er sie auffordert, nicht nur die Leiden der Armen zu schildern, wie sie es getan hat, sondern auch, wie deren vereinte Aktion einen siegreichen Ausgang des Kampfes vorahnen läßt. Doch, zur selben Zeit sagt Engels mit bewunderswerter Einschränkung: „Ich bin weit davon entfernt, Sie zu tadeln, weil Sie nicht einen rein sozialistischen Roman geschrieben haben, einen .Tendenzroman', wie wir Deutschen es nennen, um die gesellschaftlichen und politischen Ansichten des Autors zu rühmen. Das ist es durchaus nicht, was ich meine. Der Realismus, auf den ich anspiele, kann trotz der Ansichten des Autors zum Vorschein kommen. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Balzac . . ." Für Engels wie für Marx war der Realismus Balzacs der beste bisher entwickelte Weg, um gesellschaftliche Wahrheiten zu übermitteln. Marx zollte ferner Balzacs erstaunlicher Beobachtungsgabe Anerkennung, sowie der Einsicht, die der Autor der Menschlichen Komödie besaß, obwohl er ein katholischer Royalist war. Lenin drückt eine ähnlich geteilte Bewunderung für den großartigen aber widerspruchsvollen Tolstoi aus. All das ist überaus zutreffend für uns heute; aber wir versprechen uns zu viel, wenn wir uns einbilden, daß wir auf Grund irgendeiner theoretischen Vorgabe, die sich auf Balzac oder Tolstoi gründet, oder auf Grund irgendeines anderen technischen Musters, tiefgründige Beobachtung, Durchsicht und dramatische Kraft fast automatisch hervorrufen können. Schriftsteller wie Tolstoi und Balzac erscheinen nicht auf Kommando. Das letzte postrevolutionäre Jahrzehnt ist in Rußland eine Periode ungeheurer 218
und verschiedenartiger iiterarischer Aktivität gewesen; viele seiner Werke und Persönlichkeiten sind von bemerkenswertem Interesse für uns. Es hat einen vielversprechenden Aufbruch gegeben, aus dem zu seiner Zeit eine bedeutende Literatur entstehen wird. Aber es war zu wenig Zeit und Perspektive vorhanden, zu wenig Ruhe in dem beständig revolutionierendem Tempo; die weltverändernden Ereignisse waren den Menschen zu nahe. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, daß der heldenhafte kommunistische Führer Georgi Dimitroff auf einer Konferenz der Sowjet-Schriftsteller offen bemerkte (New Masses, 16. April 1935): „Ich muß gestehen . . . daß ich nicht immer die Geduld habe, um unsere revolutionäre Literatur zu lesen. Ich kann sie nicht lesen, und ich verstehe sie nicht; ich bin kein Fachmann. Aber insofern ich die Massen kenne, die Arbeiter und ihre Mentalität, muß ich sagen: Nein, diese Literatur wird nicht viel Beifall von den Arbeitern erhalten. Die Arbeiter schauen in diese Bücher hinein und stellen fest, daß sie keine Gestalten enthalten, die Vorbilder sind, denen sie nacheifern könnten. Ein revolutionärer Schriftsteller ist nicht jemand, der nur wiederholt: Lang lebe die Revolution!" Dimitroff ist etwas ungerecht gegenüber zahlreichen ausgezeichneten Werken, aber seine Warnung ist durchaus angebracht. Die marxistische Philosophie beherrscht die Literatur in einem tieferen als nur oberflächlichen oder förmlichen Sinne. Sie wirkt jetzt in auffallender Weise als Ansporn für eine neue Generation von Schriftstellern, nicht nur in Amerika, sondern auch in England und Frankreich. Ich hoffe jedoch, daß wir amerikanischen Schriftsteller, auch wenn wir die sozialen Errungenschaften Sowjetrußlands bewundern und so weit wie möglich danach trachten, den friedlichen Aufbau des Sozialismus gegen die Aggression der faschistischen Mächte zu verteidigen, es nicht für nötig erachten sollten, die mehr vorübergehenden Theorien oder Restriktionen der russischen Literaten zu übernehmen. Andererseits, während ich dem Dramatiker, dem Romancier, dem Dichter nicht sagen kann, wie und was er schreiben sollte, möchte ich für den amerikanischen Schriftsteller darauf hinweisen, daß er seine Pflichten als Mensch und Bürger hat. Es ist einfach nicht vorstellbar, daß er in diesen Tagen der sozialen Krise nicht für die Massen des Volkes Partei ergreifen sollte. Und das Parteiergreifen im alltäglichen Kampf muß unvermeidlich den Menschen im Schriftsteller verändern, so daß das revolutionäre Wissen und sein Ziel zu einem wahren Bestandteil seines Begreifens und Empfindens wird. Die Tätigkeit des Menschen und Bürgers, wie ich bereits vor zwei Jahren an anderer Stelle geschrieben habe, übt eine tiefgreifende Wirkung auf sein schöpferisches Tun aus. Es ist ein langwieriger und besonderer Prozeß, der aus geschulter Beobachtung und Einsicht besteht, dessen Ausmaße wir nicht im voraus einschätzen oder beschreiben können, durch den nicht vorgefertigte Schlagworte und Lösungen, sondern wahrhafte Dichtung und bedeutende Dramatik entsteht. Die Beziehung des schöpferischen Menschen zu politischen Ideen ist in einem 219
kürzlich erschienenen Essay von dem jungen englischen Dichter C. Day Lewis, A Hope for Poetry (Eine Hoffnung für die Dichtung), sehr gut ausgedrückt worden. Er behauptet, die bevorstehende proletarische Revolution biete die einzige Hoffnung für die Dichtung, ja selbst für die Zivilisation. Jedoch, so führt er aus, die „poetische Funktion" des Menschen sollte nicht unmittelbar von politischen Ideen geformt werden, sondern es ist seine „Menschlichkeit", die sich mit solchen Ideen befassen müßte. „In welchem Fall sie unausbleiblich mit seiner poetischen Funktion in Kommunikation geraten und . . . seine Dichtung beeinflussen wird. . . . Wenn ein Dichter daran geht, politische Ideen zu verarbeiten, ist es wesentlich für ihn als Mensch, sich dessen deutlich bewußt zu werden . . . Der Mensch muß die Idee durch das Medium seiner Empfindung aufnehmen, bevor der Dichter daran gehen kann, sie zu verarbeiten." Hiermit drückt der junge Oxford-Dichter, der sich bereits mit Marx und Lenin befaßt hat, mit anderen Worten das aus, was Dimitroff einfacher und unkomplizierter fühlte und aussprach.
Edwin Berry Burgum Zum proletarischen Roman {Partisan Review, April—May 1935) Der proletarische Roman ist ein Roman, der unter dem Einfluß des dialektischen Materialismus vom Standpunkt des klassenbewußten Proletariats geschrieben ist. Der bürgerliche Roman ist entweder 1) ein Roman der Ausflucht, geschrieben unter dem Einfluß der idealistischen Philosophie oder 2) ein Roman der Verzweiflung, geschrieben unter dem Einfluß des Pragmatismus oder 3) ein Roman, der Elemente aus beiden verbindet. Ein Beispiel für die erste Kategorie ist Thornton Wilders Bridge of San Luis Rey (Brücke von San Luis Rey), für die zweite William Faulkners Sanctuary (Die Freistatt) und für die dritte Thomas Wolfes Of Time and the River (Von Zeit und Strom). Diese drei Arten bestehen zur Zeit; das heißt, die erste neigt dazu, von der zweiten ergänzt zu werden, und die dritte widerspiegelt den Aufstieg des Faschismus; das bedeutet, in der dritten Art werden gewisse Erscheinungen der zeitgenössischen Gesellschaft mit Abscheu erkannt und dann durch den Optimismus einer idealistischen (von Nietzsche geprägten) Sicht verzerrt. Insofern sich der bürgerliche Roman mit dem Proletariat befaßt, ist er pessimistisch; insofern sich der proletarische Roman mit dem Bürgertum befaßt, ist er pessimistisch; aber obgleich der bürgerliche Roman pessimistisch über das 220
kürzlich erschienenen Essay von dem jungen englischen Dichter C. Day Lewis, A Hope for Poetry (Eine Hoffnung für die Dichtung), sehr gut ausgedrückt worden. Er behauptet, die bevorstehende proletarische Revolution biete die einzige Hoffnung für die Dichtung, ja selbst für die Zivilisation. Jedoch, so führt er aus, die „poetische Funktion" des Menschen sollte nicht unmittelbar von politischen Ideen geformt werden, sondern es ist seine „Menschlichkeit", die sich mit solchen Ideen befassen müßte. „In welchem Fall sie unausbleiblich mit seiner poetischen Funktion in Kommunikation geraten und . . . seine Dichtung beeinflussen wird. . . . Wenn ein Dichter daran geht, politische Ideen zu verarbeiten, ist es wesentlich für ihn als Mensch, sich dessen deutlich bewußt zu werden . . . Der Mensch muß die Idee durch das Medium seiner Empfindung aufnehmen, bevor der Dichter daran gehen kann, sie zu verarbeiten." Hiermit drückt der junge Oxford-Dichter, der sich bereits mit Marx und Lenin befaßt hat, mit anderen Worten das aus, was Dimitroff einfacher und unkomplizierter fühlte und aussprach.
Edwin Berry Burgum Zum proletarischen Roman {Partisan Review, April—May 1935) Der proletarische Roman ist ein Roman, der unter dem Einfluß des dialektischen Materialismus vom Standpunkt des klassenbewußten Proletariats geschrieben ist. Der bürgerliche Roman ist entweder 1) ein Roman der Ausflucht, geschrieben unter dem Einfluß der idealistischen Philosophie oder 2) ein Roman der Verzweiflung, geschrieben unter dem Einfluß des Pragmatismus oder 3) ein Roman, der Elemente aus beiden verbindet. Ein Beispiel für die erste Kategorie ist Thornton Wilders Bridge of San Luis Rey (Brücke von San Luis Rey), für die zweite William Faulkners Sanctuary (Die Freistatt) und für die dritte Thomas Wolfes Of Time and the River (Von Zeit und Strom). Diese drei Arten bestehen zur Zeit; das heißt, die erste neigt dazu, von der zweiten ergänzt zu werden, und die dritte widerspiegelt den Aufstieg des Faschismus; das bedeutet, in der dritten Art werden gewisse Erscheinungen der zeitgenössischen Gesellschaft mit Abscheu erkannt und dann durch den Optimismus einer idealistischen (von Nietzsche geprägten) Sicht verzerrt. Insofern sich der bürgerliche Roman mit dem Proletariat befaßt, ist er pessimistisch; insofern sich der proletarische Roman mit dem Bürgertum befaßt, ist er pessimistisch; aber obgleich der bürgerliche Roman pessimistisch über das 220
Bürgertum sein kann, ist der proletarische Roman niemals pessimistisch über das klassenbewußte Proletariat. Der Grund dafür ist die Tatsache, daß sowohl durch die Beobachtung des amerikanischen Lebens als durch die marxistische Theorie das Proletariat als klassenbewußt definiert wird, wenn es in dem Glauben handelt, daß nur seine bewußte Kooperation notwendig ist, um die unmittelbare Richtung der Geschichte mit dem Ziel der Diktatur des Proletariats zu befördern. Deshalb ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der amerikanischen Geschichte der proletarische Roman mit dem revolutionären synonym; das bedeutet, der revolutionäre Roman ist der proletarische Roman, und zwar eher von seinem politischen als von seinem gesellschaftlichen oder ästhetischen Standpunkt aus. Aber ich stimme mit Edwin Seaver überein, daß der proletarische Roman nicht notwendigerweise und nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Roman sein muß, geschrieben für das Proletariat und von dem Proletariat. In manchen Fällen mag er nicht einmal hauptsächlich vom Proletariat handeln. (Die bisher getroffenen Unterscheidungen sind keine ästhetischen und können deshalb auch auf andere Gattungen der Literatur als auf den Roman angewandt werden; das heißt, ein Verwirrung stiftendes Beispiel der dritten Kategorie ist das Versdrama Panic (Panik), in dem hauptsächlich über Bankiers geschrieben wird, von einem Mann, der fast keine Berührungen mit dem Proletariat hatte, und für ein Publikum, das nicht proletarisch ist; nichtsdestoweniger ist das Stück näher an unserer Definition der proletarischen Kunst als an der der bürgerlichen). Wir müssen an diesem Punkt einige verwirrende Tatsachen betrachten. Historisch gesehen, ist der Roman der hauptsächliche bürgerliche Beitrag zu den literarischen Formen. Er entstand mit dem Aufstieg des Bürgertums (wie das Bürgertum mit dem Aufstieg des Kapitalismus entstand), und erlebte seine Blüte mit der Blüte des Bürgertums. Zur Zeit sind die größten europäischen literarischen Werke bürgerliche Romane: Mann, Proust, Joyce, Gide; aber es sind alles Romane der zweiten bürgerlichen Kategorie, zynisch. In der Tat hat es wenige große bürgerliche Romanschriftsteller gegeben, die es unterlassen haben, entweder eine Satire auf ihre Klasse zu schreiben oder ihrer Klasse zu entfliehen. Stendhal und Balzac sind Beispiele für das erstere; Hardy und James für das letztere (der erste suchte Zuflucht beim Landvolk, der zweite beim Adel). Zur gegenwärtigen Zeit wird der proletarische Roman gewöhnlich nicht vom Proletariat gelesen, ob klassenbewußt oder nicht, und ist selten von einem Proletarier geschrieben. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß zur Zeit ein klassenbewußter Proletarier weder mit der Wissenschaft noch mit der Kunst vertraut ist, obgleich er beständig tastende Versuche in diesen Richtungen unternimmt, in dem Maße wie seine Zeit und Ausbildung es erlauben. Ein „Roman" von einem Proletarier neigt zur Zeit dazu (wenn es gute Arbeit ist), nicht ein Roman zu sein, sondern Reportage, Tagebuch, Skizze; das bedeutet, er ist lobenswert nah an der Erfahrung, aber er läßt jene auswählende Ordnung der Erfahrung unter der Kontrolle eines beherrschenden gesellschaftlichen Gesichtspunktes vermissen, die die erste Voraussetzung für literarisches Gestalten bildet. 221
Gegenwärtig ist derjenige proletarische Roman am besten, der jenes Gebiet des amerikanischen Lebens darstellt, wo der Facharbeiter mit dem Kleinbürger verschmilzt, dort nämlich, wo der Arbeiter einst eine bürgerliche Erziehung und einen bürgerlichen Standpunkt hatte, und wo der Kleinbürger dabei ist, seine bürgerliche Erziehung und seinen bürgerlichen Standpunkt aufzugeben. Die Linie der Unterscheidung ist daher sehr fein zu ziehen zwischen zwei so meisterhaften Romanen wie Cantwells Land of Plenty (Land des Überflusses) (in dem der Facharbeiter sich seiner Macht bewußt wird) und Herbsts The Executioner Waits (Der Henker wartet), in welchem der Kleinbürger sich dessen bewußt wird, daß er zum Proletariat gehört. Gegenwärtig haben daher diejenigen proletarischen Romane den größten Ruhm, die zwar „vom Standpunkt" des klassenbewußten Proletariats aus geschrieben sind, tatsächlich jedoch vom und für das Kleinbürgertum geschrieben sind, nämlich von Kleinbürgern, die diesen Standpunkt unter dem Druck der Verhältnisse erworben haben oder dabei sind, ihn sich zu erringen. Aber diese Definition des proletarische Romans erhebt den Anspruch, teilweise dialektisch zu sein, da sie eher eine Richtung darstellt als eine Norm postuliert. Wie die Ereignisse sich ändern, können wir einen Wandel im Schwerpunkt erwarten, nämlich eine beständige Verlagerung des Hauptinteresses, das immer stärker auf das Proletariat selbst gerichtet wird. MacLeishs Panic konnte vor fünf Jahren nicht geschrieben werden, und wir können voraussagen, daß möglicherweise zwei Jahre später nichts Ähnliches erscheinen kann. Wir dürfen ferner voraussagen, daß Miss Herbst in ihren zukünftigen Romanen den Brennpunkt verlagern wird, weg von der Behandlung von Familienangehörigen des mittleren Bürgertums zugunsten von Problemen und Interessen der echten Proletarier. Zur selben Zeit wird eine entsprechende Aktivität innerhalb des Proletariats selbst stattfinden. In dem Maße wie das Selbstverständnis des Proletariats wächst, wird der Proletarier stärker am Roman interessiert werden, und zwar sowohl als Leser wie als Verfasser, und die Proletarier als Klasse werden aufhören, im alten Sinne sie selbst zu sein. Denn der Begriff „klassenbewußtes Proletariat" selbst stellt nicht eine bedingungslose Norm dar, sondern eine, die von Natur aus dazu neigt, unter dem Einfluß der Richtung, der sie im Fortschreiten der Geschichte folgt, verwandelt zu werden. Mit diesem Wandel im Schwerpunkt werden Veränderungen in der Technik des Schreibens einhergehen, entweder 1) hinwegführend von den großen bürgerlichen Methoden wie z. B. dem Bewußtseinsstrom oder 2) hinführend zu einer neuen Verwendung dieser Methoden, wodurch diese durch den neuen Schwerpunkt mitteilsamer und stärker mit sich selbst übereinstimmend werden oder 3) (was ich für das wahrscheinlichere halte) zuerst in der ersten Richtung und später in der zweiten. Gegenwärtig ist der Einfluß des Marxismus auf die Form des proletarischen Romans stärker als auf seine Methode der Darstellung. Der proletarische Roman muß die Konflikte zwischen dem Bürgertum und dem 222
Proletariat zur Kenntnis nehmen, da diese Erkenntnis die wesentliche und unabdingbare Voraussetzung dafür bildet, daß das Selbstbewußtsein des Proletariats wächst (was mit dem Klassenbewußtsein identisch ist). Diese notwendige Einstellung gegenüber dem Gegenstand schließt eine dialektische Umwandlung der beiden traditionellen Auffassungen der literarischen Form, der klassischen und der romantischen, ein. Wenn die klassische das Überleben des materialistischen Absoluten des Aristoteles und die romantische das des idealistischen Absoluten der Transzendentalphilosophie bedeutet, wenn die eine infolgedessen eine sogenannte „geschlossene" Form bildet und die andere eine „offene", so ist festzustellen, daß die marxistische Form der proletarischen Prosa beides sowohl annimmt als ablehnt, um es in ein drittes zu verwandeln, nämlich die Widerspiegelung der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung in der Literatur. Zum Beispiel: Die „geschlossene" Form in Malraux' Maris Fate (So lebt der Mensch) zeigt sich darin, daß der chinesische Aufstand verraten wird; in Lumpkins To Make My Bread ( Um mein Brot zu verdienen) darin, daß der Textilstreik verloren ist; aber in beiden Romanen ist der Konflikt der Ereignisse so dargestellt und am Ende in einem solchen Zustand belassen, daß wir die Entgegensetzung einer „offenen" Form spüren. Das bedeutet, wir spüren die Tatsache, daß der ganze Roman nur eine Episode in einem Konflikt darstellt, der zu seiner Zeit fortgeführt wird, ein Konflikt, der entschieden in einer bestimmten Richtung fortzuführen ist, auf ein bestimmtes Ziel hin, die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Diese „offene" Form ist jedoch nicht „offen" im romantischen Sinne, da die Richtung hergestellt ist, die nicht in eine Welt der absoluten Ideen führt, sondern vielmehr in ein neues Stadium (innerhalb) der materialistischen Entwicklung der Geschichte. Diese Tatsache bestimmt den Charakter des Glaubens und des Optimismus, der den Schluß des proletarischen Romans auszeichnen muß. Deshalb verlangt jeder proletarische Roman seine Folgerung. Jeder proletarische Roman ist ein historischer Roman, jedoch einer, der anerkennt, daß wir nur die Geschichte unserer eigenen Zeiten kennen können und niemals mit einer für literarische Gestalten ausreichenden Genauigkeit entweder die entfernte Vergangenheit oder die ferne Zukunft. Er stellt die Spanne der Erfahrungen seines Verfassers und seines Zeitalters dar, gesehen durch die Philosophie des dialektischen Materialismus in einem bestimmten Augenblick im Verlaufe der Geschichte.
Isidor Schneider Zur proletarischen Lyrik {Partisan Review, April—May 1935) Z u d e n E i n f l ü s s e n ; Ich bin überrascht über das Weglassen von E. E. Cummings in der Liste der einflußreichen Dichter. Auch Kreymborg und Bodenheim 223
Proletariat zur Kenntnis nehmen, da diese Erkenntnis die wesentliche und unabdingbare Voraussetzung dafür bildet, daß das Selbstbewußtsein des Proletariats wächst (was mit dem Klassenbewußtsein identisch ist). Diese notwendige Einstellung gegenüber dem Gegenstand schließt eine dialektische Umwandlung der beiden traditionellen Auffassungen der literarischen Form, der klassischen und der romantischen, ein. Wenn die klassische das Überleben des materialistischen Absoluten des Aristoteles und die romantische das des idealistischen Absoluten der Transzendentalphilosophie bedeutet, wenn die eine infolgedessen eine sogenannte „geschlossene" Form bildet und die andere eine „offene", so ist festzustellen, daß die marxistische Form der proletarischen Prosa beides sowohl annimmt als ablehnt, um es in ein drittes zu verwandeln, nämlich die Widerspiegelung der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung in der Literatur. Zum Beispiel: Die „geschlossene" Form in Malraux' Maris Fate (So lebt der Mensch) zeigt sich darin, daß der chinesische Aufstand verraten wird; in Lumpkins To Make My Bread ( Um mein Brot zu verdienen) darin, daß der Textilstreik verloren ist; aber in beiden Romanen ist der Konflikt der Ereignisse so dargestellt und am Ende in einem solchen Zustand belassen, daß wir die Entgegensetzung einer „offenen" Form spüren. Das bedeutet, wir spüren die Tatsache, daß der ganze Roman nur eine Episode in einem Konflikt darstellt, der zu seiner Zeit fortgeführt wird, ein Konflikt, der entschieden in einer bestimmten Richtung fortzuführen ist, auf ein bestimmtes Ziel hin, die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Diese „offene" Form ist jedoch nicht „offen" im romantischen Sinne, da die Richtung hergestellt ist, die nicht in eine Welt der absoluten Ideen führt, sondern vielmehr in ein neues Stadium (innerhalb) der materialistischen Entwicklung der Geschichte. Diese Tatsache bestimmt den Charakter des Glaubens und des Optimismus, der den Schluß des proletarischen Romans auszeichnen muß. Deshalb verlangt jeder proletarische Roman seine Folgerung. Jeder proletarische Roman ist ein historischer Roman, jedoch einer, der anerkennt, daß wir nur die Geschichte unserer eigenen Zeiten kennen können und niemals mit einer für literarische Gestalten ausreichenden Genauigkeit entweder die entfernte Vergangenheit oder die ferne Zukunft. Er stellt die Spanne der Erfahrungen seines Verfassers und seines Zeitalters dar, gesehen durch die Philosophie des dialektischen Materialismus in einem bestimmten Augenblick im Verlaufe der Geschichte.
Isidor Schneider Zur proletarischen Lyrik {Partisan Review, April—May 1935) Z u d e n E i n f l ü s s e n ; Ich bin überrascht über das Weglassen von E. E. Cummings in der Liste der einflußreichen Dichter. Auch Kreymborg und Bodenheim 223
hatten mehr Einfluß auf den Verlauf der zeitgenössischen Dichtung als der Aufsatz nachwies. Zu den D i c h t e r n : Das Werk von H. H. Lewis hat einen entscheidenden Platz in der revolutionären Dichtung. Er ist spontan, seine Stärke liegt in allgemeingültiger Erfahrung, und er hat ein ungewöhnliches Talent für literarische Schmähschriften. Z u r P o s i t i o n der D i c h t u n g : Diese konnte in der Diskussion ausgespart werden, weil sie eine ausgedehnte Behandlung und einen eigenen Aufsatz erfordern würde, nämlich die Erörterung der Frage, warum mit der Entwicklung der bürgerlichen Macht die Prosa die Lyrik als das bedeutendere literarische Instrument verdrängte. Meine Meinung ist, daß Lyrik ganz wesentlich eine gesellschaftliche Kunst ist. Viel darin ist mit dem Ausdruck in der Öffentlichkeit verbunden, mit Chorgesang, Drama, Deklamation. Die Verwendung der Lyrik in der Agitation ist schon in der sozial orientierten revolutionären Bewegung häufig. Im Versdrama und in der Verserzählung neigen die Charaktere dazu, soziale Symbole darzustellen. Die Prosa andererseits, die viel besser von einem individuellen Leser genossen werden kann, stellte sich als geeigneter für den Ausdruck des bürgerlichen Individualismus heraus. Der Roman mit seiner Vereinzelung des Helden war der Spiegel des Individuums. Die Dichter, gezwungen Prosa zu schreiben, haben ihre lyrischen Fähigkeiten und Stimmungen größtenteils der Prosa geopfert. Joyce, D. H. Lawrence, George Meredith, Emily Bronte sind Beispiele dafür. Die Universalität gewisser Romane besteht oft in dem durchbrechenden Symbolismus des Dichters. Andererseits ist es der Lyrik in jüngster Zeit, — bei dem Versuch, die Prosa nachzuahmen und zu übertreffen in dem Wettstreit, den Individualismus auszudrücken, — oft gelungen, ihre Funktion zu verfalschen. Mit all dem will ich nicht behaupten, daß Prosa keine gesellschaftliche Kunst sein kann; ich bin überzeugt, daß sie es kann. Aber ich wollte darauf hinweisen, daß Lyrik, allein von ihrer Struktur her, eine gesellschaftliche Kunst gewesen ist und wieder sein wird und daß die gegenwärtige Unausgeglichenheit zwischen Lyrik und Prosa in einer Gesellschaft von sozialisierten Individuen korrigiert werden wird. Z u m P r o b l e m des P u b l i k u m s : Der Unterschied zwischen dem bürgerlichen Publikum und . dem proletarischen, des bürgerlichen Reagierens und des proletarischen sollte betont werden. Die Bourgeoisie wünscht zerstreut zu werden, das Proletariat will belehrt und inspiriert werden. In der bürgerlichen Beziehung zwischen Publikum und Dichter fühlt sich der Dichter nur seinem eigenem künstlerischen Gewissen gegenüber verantwortlich, und gewöhnlich verachtet er sein Publikum; der Hörer oder Leser fühlt überhaupt keine Verantwortung und sieht in dem Autor nur einen bezahlten Verrichter. Die Beziehung hat das Unpersönliche, ja selbst Feindliche einer geschäftlichen Transaktion. In der proletarischen Beziehung zwischen dem Dichter und dem Publikum fühlt der Dichter sich verantwortlich gegenüber seinem künstlerischen Gewissen, seinem Publikum und dem Gefühl ihrer Vereinigung; und das Publikum fühlt sich verantwortlich gegen224
über seiner eigenen Funktion in der revolutionären Bewegung, seiner Einheit mit dem Dichter in dieser Bewegung. Die Beziehung ist jene der Teilhaberschaft. Solch eine Beziehung ist von höchstem Wert für den Dichter, und diese veränderte Atmosphäre ist ganz sicher für den Dichter von starker stimulierender Wirkung. Z u m P r o b l e m des G e g e n s t a n d e s : Der Inhalt der revolutionären Lyrik, das sollte betont werden, ist unbegrenzt. In der bürgerlichen Kunst war das Gefühl entstanden, daß der Glanz aus der Welt verschwunden sei, daß die Gegenstände abgenutzt seien, daß nichts mehr übrig blieb als Formspielereien. Die revolutionäre Lyrik stellt den Sinn für den Ruhm wieder her. Im neuen Lichte der marxistischen Erkenntnis liegt die Welt vor uns, um wieder entdeckt zu werden, und alles darin erscheint neu und bemerkenswert. Z u m P r o b l e m d e r S t r u k t u r : Der größte Mangel in der heutigen revolutionären Lyrik liegt meiner Meinung nach in ihrer Struktur. Teils als Ergebnis der Disintegration der Form, teils als Ergebnis des Einflusses von De Gourmonts Dissoziation der Ideen und von Joyce' Bewußtseinsstrom, ist die lyrische Einheit die Zeile geworden — ja in manchen Fällen die Silbe — anstatt der Strophe. Eine hervorragende traditionelle Charakteristik der Lyrik besagt, daß sie eine Kunst der Form ist, und wenn sie die Form aufgibt, verliert sie ihre Eigenheit. Selbst in einigen der besten jüngst entstandenen revolutionären Gedichte würde es möglich sein, ein Gedicht in drei Teile zu zerlegen, die Teile anders zusammenzufügen, ohne die Struktur anzutasten. Solche amorphe Form führt zu Stumpfheit, zu einem Versgeklingel in jeder einzelnen Zeile, zum Fehlen von Höhepunkten, zur Kurzschluß-Kommunikation und damit zur Unwirksamkeit. Die formale Qualität ist besonders wichtig für Lyrik, weil Lyrik eine gesellschaftliche Kunst ist. Z u r r e v o l u t i o n ä r e n T r a d i t i o n : Es muß hervorgehoben werden, daß Lyrik auch vor dem Krieg aufrührerisch war. Lyrik war unzufrieden mit ihrer Position; sie befand sich im Gegensatz zu dem sie umgebenden Leben. Die Lyrik brauchte ein Publikum, ein angenehmes Leben, einen angemessenen sozialen Stand. Die kapitalistische Gesellschaft befriedigte diese Wünsche nicht. Das Leben wurde nicht akzeptiert — nur in der einen oder anderen Form kritisiert — sei es in grimmiger Satire wie bei Masters, in einer Loslösung von der Gesellschaft — physisch als Emigration, geistig als Flucht in nur für auserwählte Geister erkennbare Dunkelheiten. Als die Krise und die schwache und reaktionäre kapitalistische Art, dieser Krise zu begegnen, offenbar wurden, erkannten viele der kritischen Dichter, auf welche Weise allein ihre Kritik wirksam werden konnte.
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New York 1935/37
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Wallace Phelps und Philip Rahv Zur marxistischen Literaturkritik {Partisan Review, April—May 1935) Die Aufgabe der marxistischen Kritik ist definiert worden als das Verhältnis der Probleme von Kunst und Literatur zur Gesamtheit der marxistischen Theorie und zu den täglichen Ereignissen, die sie beleuchtet. Folglich umfaßt diese Kritik ein weites Feld: einerseits geht es um die tägliche praktische Einschätzung der Strömungen und der individuellen Werke; andererseits um die Erarbeitung von allgemeinen ästhetischen Grundsätzen hinsichtlich der Geschichte der Literatur als ganzem. Die letztere Aufgabe findet ihre konkrete Anwendung in der ersteren, obwohl die allgemeinen Grundsätze durch die gegenwärtige literarische Praxis ständig überprüft, abgewandelt und bereichert werden. Daher ist die Verteilung der Aufgaben relativ und oft eine Frage des Schwerpunktes. 1. Es ist schwierig, eine folgerichtige und fehlerfreie Kritik praktisch anzuwenden, wenn diese nicht zu einem beträchtlichen Teil auf einer gesamt-ästhetischen Theorie beruht. Und das ist einer der Gründe, warum so viele marxistische Essays und Rezensionen sich auf empirische Beobachtungen beschränken, auf invertierten Ästhetizismus, auf allgemeingebräuchliche Anwendungen der politischen Ideen auf die Literatur und auf eine Unmenge von offensichtlichen Wahrheiten, die mit wahrem Wohlbehagen verteidigt werden. Solche Essays und Rezensionen entstellen die Aufgabe der Kritik, indem sie den politischen Gehalt der Bücher aus deren Gesamtzusammenhang herauslösen und diesen Gehalt hauptsächlich auf der Grundlage der unmittelbaren Taktik beurteilen. Ein anderer Grund für diesen Zustand ist die Tatsache, daß ein Großteil dessen, was als marxistische Kritik vorgestellt wird, nicht von anerkannt marxistischen Kritikern geschrieben ist, sondern von Leuten, denen sowohl kritisches Temperament als die Kenntnis des Marxismus fehlen. Und doch wird die ganze Schwäche unserer Kritik jener Handvoll „Kritiker" angelastet. Es wird zu wenig anerkannt, was bereits erreicht worden ist; viele Schriftsteller, die den revolutionären Standpunkt angenommen haben, treten voreilig an die Öffentlichkeit, um ausführlich seit langem feststehende Postulate wieder zu entdecken. So wird eine weitere Entwicklung der marxistischen Kritik durch die Weitläufigkeit endloser Wiederholung behindert. Ein allgemeines Merkmal dieser Wiederholung ist ihr ausschließlich agitatorischer Charakter, ihr Beharren bei den einfachsten politischen Lehren, die zu dieser Zeit als bekannt vorausgesetzt werden sollten. Trotz literarischer Einkleidung besteht das Ergebnis solcher Kritik darin, daß der Leser nicht zwischen einem Roman und einer Streitschrift unterscheiden kann und auch dahin geführt wird, beides nicht zu unterscheiden. Wenn ein geistloser politischer Journalismus mit einigen literarischen Phrasen verbrämt sich den Platz der Kritik aneignet, wird eine Anti-Ästhetik bald als neue Ästhetik mißverstanden. 226
Wie wir angedeutet haben, besteht ein Grund für dieses Durcheinander im Fehlen einer eigenständigen Ästhetik, die ihre praktische Anwendung bei der Bewertung der Schriftsteller und der Richtungen finden kann. Die Entwicklung einer solchen Kritik wird jedoch ernsthaft behindert durch eine allgemein verbreitete starke Abneigung gegenüber theoretischer Zergliederung. Gewöhnlich wird solche Analyse als „bürgerlicher Ästhetizismus", „Akademismus" und wer weiß was verunglimpft. Dieser Widerwille gegen die Theorie offenbart ein falsches Verständnis der Aufgabe und des Wesens der Kritik. Das führt dazu, eher als die besten die unbedeutendsten Überlieferungen der bürgerlichen Kritiker zu übernehmen und sich nicht auf marxistische Grundsätze zu stützen sondern auf das, was als das „pragmatische amerikanische Temperament" bekannt ist. In der Literatur wie in der Politik sieht sich der Marxismus der Aufgabe gegenüber, diesen „Pragmatismus" zu bekämpfen, den vertraute geschichtliche Bedingungen in den Vereinigten Staaten hervorgebracht haben. Diejenigen, die die Theorie angreifen, erfinden für sich natürlich private „marxistische" Vereinfachungen, indem sie die Intelligenz einer mythischen Leser-Unkenntnis zum Maßstab ihrer Kritik erheben. Auf Grund dieser Unkenntnis könnten solche Leser keine verwickelten Analysen verstehen, so heißt es, und müßten vor geistiger Überanstrengung geschützt werden. Aber vielleicht sind es in Wirklichkeit sie selbst, die die Vereinfacher schützen. Solche Argumente offenbaren eine agitatorische Auffassung der Kritik, indem sie diese mit solchen Gattungen wie dem Drama verschmelzen, die einem Massenpublikum leicht zugänglich sind. Ein Teilgebiet kritischer Werke vereinfacht für den Zweck des täglichen Berichtens, aber das ist keinesfalls die Hauptaufgabe der Kritik. Ob revolutionär oder bürgerlich, Kritik ist in der Hauptsache eine Art konzeptioneller Untersuchung und wendet sich in erster Linie an Leser, die mit den Problemen der Literatur vertraut sind. „Kritik ist nicht die Leidenschaft der Vernunft, sondern die Vernunft der Leidenschaft" (Marx). Sie ist zu beurteilen durch ihre Gültigkeit, durch ihre verallgemeinernde Kraft, und nicht durch ihre Enthaltsamkeit oder durch die Zahl der Leser, die sie leicht verdauen können. Ihre Wirkung ist langfristig, indem sie durch Beeinflussung der gegenwärtigen Arbeiten ebenso wie der Verbreitung der Gedanken schließlich ihr Massenpublikum auf mittelbare Weise erreicht. Wenn Literatur eine Waffe im Leben darstellt, so bildet in diesem Sinne Kritik eine Waffe in der Literatur; Einfachheit hat ihren Nutzen, aber, der Grad der Einfachheit hängt von dem Charakter des besonderen Inhalts ab. Einfaches Schreiben sollte nicht mit primitivem Denken vermischt werden. Unter unseren Rezensenten hat sich der Hang nach Beliebtheit in eine Methode verwandelt, mit der man schwierigeren Problemen der Kritik ausweicht, in dem man eben diese Probleme als „bürgerlich" und „akademisch" brandmarkt. Aber was heißt akademisch schreiben? Es ist nicht so sehr eine Eigenschaft des Stiles als eine geringfügige Randbemerkung zu wichtigen literarischen Problemen; eine pedantische Behandlung von geringfügigen Ideen, wobei das Gewicht mehr auf „Fakten" als auf ihre Untersuchung gelegt wird. Daher herrscht oft ein Mißverhältnis zwischen dem 15*
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anspruchsvollen Stil und den seichten Ideen. Das beste Beispiel für Akademismus ist, einen langen Aufsatz zu schreiben — wie es kürzlich geschehen ist —, um zu beweisen, daß die moderne Literatur außer städtischen Bildern auch ländliche Bilder enthält; und in mehreren tausend Wörtern entdecken, daß Shakespeare durch die gesellschaftlichen Kräfte seiner Zeit beeinflußt war und daß seine Stücke bedeutende historische Dokumente darstellen, ist nicht nur akademisch, sondern eine Verdunkelung von Shakespeares Schöpferkraft. Eine andere Schwierigkeit, der sich marxistische Kritiker gegenüber sehen, ist die unterwürfige Rolle, die viele unserer Schriftsteller der Kritik zuschreiben. Die kritische Fähigkeit wird soweit eingeengt, daß man ihr nur noch etwas zu schreiben zubilligt, was kaum über eine Werbung für neue proletarische Romane und Theaterstücke hinausreicht. Kritik ist nicht in erster Linie für die individuellen Schriftsteller verantwortlich, sondern für das allgemeine Leserpublikum und für die Literatur als ganzes. Sie ist keinesfalls verpflichtet, jedes drittrangige Gedicht als einen Segen für das Proletariat anzupreisen. Ihre Hauptbelange sind die Schaffung einer neuen Ästhetik, die Neubewertung der Literaturgeschichte und das Voranschreiten der proletarischen Kunst. Die Suche nach neuen schöpferischen Methoden, die in neuer Literatur so hervorragt, legt Gewicht auf die kritische Fähigkeit, nicht nur bei den Kritikern, sondern bei jedem Dichter und Romanschriftsteller. In diesem Sinne sind die Aufgaben der Kritiker in dieser besonderen Periode vielleicht noch mannigfaltiger als diejenigen der schöpferischen Schriftsteller. 2. Was für eine W a f f e ist die K u n s t ? Kunst ist, wie jede andere Form der kommunikativen Betätigung, ein gesellschaftliches Werkzeug und folglich ein Werkzeug im Klassenkampf. Das ist ein Axiom des Marxismus. Aber das Problem der Kritik besteht darin, zwischen dem Nutzen der Literatur und demjenigen anderer gesellschaftlicher Werkzeuge zu unterscheiden. Viele Irrtümer und Herabwürdigungen sind auf das Versäumnis zurückzuführen, diese Unterschiede zu bestimmen. Eine allgemeine Annahme ist, daß Literaur durch ihre normative Eigenschaft eine unmittelbare Waffe darstellt, ebenso wie politische und ökonomische Schriften. Darunter ist zu verstehen, daß der Literatur unterstellt wird, sie könne ein ebenso ausdrückliches Programm einer politischen Handlung vorstellen wie etwa Zeitungsartikel oder Streitschriften. Einige literarische Formen mögen sich dieser Art von Unmittelbarkeit annähern; jedoch, wenn dies ein Maßstab für revolutionäre Literatur werden würde, würde das zu quantitativen Bewertungsregeln führen (in dem Sinne, daß Bücher nach der Z a h l der Leser beurteilt würden, die darauf antworten) und folglich zu einer Bedrängung der Literatur, bei dem sie ihre spezifisch künstlerischen Eigenschaften verlieren würde. Es ist offensichtlich, daß quantitative Bewertungsregeln letztlich zu Schundliteratur führen. Der Wunsch nun von Seiten vieler Marxisten, proletarische Schundliteratur zwar zu vermeiden, jedoch quantitative Bewertungsregeln aufrecht zu erhalten, führt zu einem Widerspruch, der jegliche Hoffnung auf übereinstimmende Bewertungen beeinträchtigt. 228
Wenn vorausgesetzt wird, daß ein Gedicht beständig eine ebenso unmittelbare agitatorische Wirkung auf ein möglichst großes Leserpublikum haben soll, wird der Dichter dazu neigen, seine Dichtung als ein Hilfsmittel zu benutzen, um einen Gehalt auszudrücken, der sich in keiner Weise von dem logischen Gehalt einer ausgesprochenen politischen Schrift unterscheidet. Im weiteren Verlauf solcher Entwicklung wird der Dichter notwendigerweise weite Gebiete der Erfahrung aussparen, die nur einen mittelbaren Bezug zu den politischen Ideen haben, die er veranschaulicht; und er wird versäumen, eine Art individueller Auffassung zu entwickeln. Es scheint uns, daß eine klare Bestimmung des Weges, auf dem Kunst als Waffe wirkt, fallig ist. Erstens, Literatur beeinflußt grundsätzlich diejenigen, die gegenüber künstlerischer Vermittlung empfanglich sind. Zweitens, sie bildet nicht ein System von Wegweisern, sondern ein Mittel zur Neuorientierung gesellschaftlicher Werte, Haltungen und Gefühle. Manch ein Leser fragt: „Nun, veranlaßt mich dieses Gedicht, in einer bestimmten Weise tätig zu werden?" Wenn der Leser jedoch solche Frage stellt, nimmt er an, daß Dichtung alle Aufgaben der politischen Erziehung übernehmen kann. Höchstens hilft ein Gedicht gewöhnlich dabei, verborgene Antriebskräfte herauszustellen, die von einer Mannigfaltigkeit anderer Einflüsse geweckt sind, wie jemandes wirtschaftliche Stellung, seine Freunde, seine Lektüre politischer und soziologischer Art oder irgendeine gegenwärtige Situation, in die er im Klassenkampf gerät. Wenn die Wirkung des Gedichtes von diesen anderen Faktoren losgelöst wird, wird der Literatur eine Last aufgebürdet, die sie nicht tragen kann. Solch eine Betrachtung der Kunst als Waffe bleibt natürlich abstrakt, wenn sie nicht in Beziehung auf irgend eine konkrete Leserschaft gesehen wird. Während ein Roman wie Rollins' The Shadow Before (Schatten voraus) in diesem Land nur einige tausend Leser erreicht, würde er zweifellos im Deutschland der VorHitler-Zeit ein Vielfaches dieser Leserzahl erreicht haben. Welche Art von Waffe die Literatur darstellt, hängt folglich weitgehend von der Leserschaft ab, die die geschichtlichen Bedingungen in dem entsprechenden Land dafür geschaffen haben. Überdies wird mit der Erziehung, die sich aus der Radikalisierung der Arbeiter ergibt, ein Roman von der Art, wie wir ihn erwähnt haben, mehr und mehr Leser erwerben; ja, in der Tat, allein die Existenz eines solchen Romanes stellt einen Faktor in dem Erziehungsprozeß dar. Der Kernpunkt des Problems jedoch kommt ins Blickfeld, wenn jemand fragt: „Wenn die Arbeiterklasse noch unfähig ist, moderne literarische Formen zu begreifen, solche Formen, wie sie von Waldo Frank, Dos Passos, Cantwell, Rollins oder Dichtern wie Schneider und Fearing verwendet werden, ist es dann nicht möglich, einfachere Formen zu entwickeln, die denselben Gehalt vermitteln?" Diese Frage kann beantwortet werden, indem wir die verschiedenen Gesichtspunkte, die wir angeführt haben, zusammenfassen. Der neue Gehalt der revolutionären Schriften hat bereits größere Einfachheit eingeführt. Kein revolutionärer Dichter besitzt die formale Mannigfaltigkeit von Cummings, Crane oder Pound. 229
Und in Zukunft ist eine weitere Vereinfachung zu erwarten. Der Grund dafür besteht nicht darin, daß der Dichter darauf aus ist, sich von Pound zu unterscheiden, zum Beispiel durch größere Einfachheit, sondern darin, daß die Zusammenhänge und Empfindungen, die er darstellt, konkreter sind und engere Beziehungen zum Leben der meisten Menschen aufweisen. Eine abstrakte Forderung nach Vereinfachung läßt die Tatsache außer acht, daß große Literatur auf der höchsten Ebene der zeitgenössichen Kultur erwächst. So lange der Kapitalismus die hauptsächlichen Bildungsstätten beherrscht, werden die Werte solcher Literatur mit den geistigen Verfassungen der ungeübten Leser in.Konflikt geraten. Aber das Erstarken der revolutionären Bewegung, das diese geistigen Verfassungen durchbricht, wird beständig das Publikum erweitern. 3. W e r t der I d e o l o g i e u n d W e r t der F o r m . Wenn immer Kritiker fragen, ob ein reaktionärer Dichter ein bedeutendes Gedicht schreiben kann oder ob wir traditionelle literarische Methoden verwenden dürfen oder wie wir Bücher beurteilen, die einen neutralen Gegenstand zu behandeln scheinen, nähern sie sich in Wirklichkeit dem Problem der Beziehung zwischen dem Verdients eines Werkes in ideologischer und in formaler Hinsicht. Diese Beziehung ist die schwierigste Frage aller Kritik und bildet die Grundlage der marxistischen Ästhetik. Es ist natürlich unmöglich, hier alle Seiten dieses Problems zu erschöpfen, aber einige Punkte sollen angesprochen werden. An erster Stelle wollen wir die Begriffe Ideologie und Form definieren. Es ist verwirrend, eine a l l g e m e i n e Ideologie mit all ihren philosophischen und politischen Bedeutungsaspekten auf irgend ein besonders Werk anzuwenden. Nehmen wir z. B. einen Roman wie Faulkners Sanctuary (Die Freistatt). Offensichtlich stellt das Buch nicht die „Ideologie" des Verfassers vor, in dem Sinne, daß es uns nicht über seine allgemeinen politischen Ansichten aufklärt, über seine ökonomische Meinung, über seine Haltung zu all den Fragen, die den Süden betreffen ; in der Tat, es gibt uns nicht einmal so etwas wie eine vollständige Sicht seiner ästhetischen Position. Was uns der Roman bietet, ist nicht unmittelbare Ideologie, sondern einen b e s o n d e r e n Inhalt in der Einkleidung von Verhaltensweisen zum Charakter, Stimmungsgemälde, Handlungsmuster und eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen und psychologischen Einblicken. Diese Muster bergen natürlicherweise in sich die Implikationen einer weiteren Weltsicht (Ideologie), die der Kritiker daraus ableiten kann. Aber es muß betont werden, daß d i e s e r b e s o n d e r e I n h a l t n i c h t i d e n t i s c h ist m i t i r g e n d e i n e m u n m i t t e l b a r erkennbarem reaktionärem oder fortschrittlichem außerliteraris c h e m P r o g r a m m , das h e u t e im S ü d e n w i r k s a m sein k ö n n t e . Die Frage ist also: Wie ist die Beziehung des b e s o n d e r e n I n h a l t s zu seiner Form?* Es scheint uns, daß es keine Möglichkeit gibt, wie die Form — damit * Die meisten Leute meinen „Technik", wenn sie von Form sprechen, jedoch dieses Wort, ein nicht so eindeutiger Begriff wie Form und mit Assoziationen aus dem nicht-schöpferischem Gebiet belastet, wird so unbestimmt verwendet, daß es alles und nichts bedeutet.
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meinen wir sprachliche Eigentümlichkeit, Struktur, Auswahlmethode, stilistische Ebene der Prosa, usw. — von dem besonderen Inhalt jedes einzelnen Kapitels im Roman getrennt werden kann. Denn die Wirkung des besonderen Inhalts beruht auf der Form, in die er gekleidet ist. In einer anderen Form erneut dargestellt, wird aus diesem Inhalt ein neuer Inhalt. Daraus folgt, daß wir einen Roman nur dann beurteilen, wenn wir seinen besonderen Inhalt beurteilen, und nicht, wenn wir die allgemeine Ideologie beurteilen, mit der er durch Implikation am engsten verbunden ist. Im Fall von Proust zum Beispiel ist es irreführend, anzunehmen, daß der Gehalt seiner Werke der Gehalt der bürgerlichen Ideologie sei, wie in den meisten Ausführungen zu lesen ist. Der besondere Inhalt von Prousts Werk bietet manche Einblicke in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bourgeoisie, die weit von dem entfernt sind, wie der Durchschnittsbürger sie ansieht. Viele marxistische Kritiker bemerkten dies, jedoch haben sie diese Fähigkeit von der Unzahl anderer „Eigenschaften", die sein Werk ausmachen, isoliert. Der besondere Inhalt von Prousts Werk enthält so viel mehr, daß eine Verzerrung erfolgt, wenn eine Erörterung seines Werkes sich auf seinen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bourgeoisie beschränkt. Die Behandlung der allgemeinen Ideologie und des besonderen Inhalts* als gleichbedeutend verfälscht die Literaturgeschichte. In seinen Ausführungen über Balzac sah Engels den Unterschied sehr wohl, als er sagte: „Balzac war in politischer Hinsicht Legitimist; sein großes Werk ist eine beständige Elegie auf den unaufhaltsamen Verfall der guten Gesellschaft; seine Sympathien sind mit der Klasse, die zum Untergang verdammt ist. Trotzdem ist seine Satire niemals kühner, seine Ironie niemals schärfer, als wenn er gerade die Männer und Frauen handelnd vorführt, mit denen er am stärksten sympahtisiert — die Adligen. Und die einzigen Personen, von denen er mit unverhohlener Bewunderung spricht, sind seine erbittertsten politischen Feinde, die republikanischen Helden des Cloitre Saint Merri, diejenigen, die zu jener Zeit (1830—36) tatsächlich die Repräsentanten der Volksmassen darstellten." (Brief an Miss Harkness.) Hier vollzieht Engels eine klare Unterscheidung zwischen Balzacs Ideologie und dem besonderen Inhalt seines Werkes. Viele Irrtümer in der Einschätzung von Mitläufern sind darauf zurückzuführen, daß man ihre Ideologie als öffentliche Personen (in ihren öffentlichen Äußerungen hinsichtlich politischer Parteien, der NRA, der Frage von Krieg und Faschismus, usw.) mit dem vermengt, was sie wirklich schreiben. Es ist vorstellbar, daß ein Schriftsteller, der von der NRA eingenommen ist, diese politisch unterstützt, aber wenn er einen Roman über eine Fabrik schreibt, so kann der besondere Inhalt über das Leben der Fabrikarbeiter, wenn er es sorgfaltig beobachtet hat, seine politischen Ansichten, die er aufrechterhält, Lügen strafen. Andererseits können diese Ansichten natürlich die Zuverlässigkeit seiner Beob* In diesem Zusammenhang sollte beachtet werden, daß das Wort „Inhalt", wie es in Erörterungen von „Form und Inhalt" verwendet wird, gewöhnlich zu einem Synonym von „Ideologie" oder Weltsicht gemacht wird. Aus diesem Grunde verwenden wir b e s o n d e r e r I n h a l t , um auf den t a t s ä c h l i c h e n Gehalt eines Kunstwerkes hinzuweisen.
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achtung nachteilig beeinflussen. Jedenfalls scheint es so, daß die Ideologie eines Schriftstellers und der besondere Inhalt seines Werkes nicht immer so genau miteinander übereinstimmen, wie gewöhnlich angenommen wird. Nur weil zweifellos eine allgemeine Beziehung zwischen diesen beiden Dingen besteht, worüber noch später zu sprechen ist, darf der Kritiker nicht eine einheitliche Beziehung für alle Schriftsteller voraussetzen. Seine Aufgabe ist vielmehr, diese Beziehung jeweils erneut zu untersuchen, wenn er individuelle Schöpfungen und Schöpfer beurteilt. So gesehen nimmt die Frage des Wertes, wie sie ursprünglich gestellt war, einen gänzlich anderen Aspekt an. Wir müssen nun fragen, welches die allgemeine Beziehung zwischen Ideologie und besonderem Inhalt ist. Die beste Ideologie jeglicher angenommenen Periode ist diejenige, die am eindeutigsten die n o t w e n d i g e Veränderung der Geschichte definiert. Heute ist der Marxismus diese fortgeschrittendste Ideologie. Folglich verschafft eine marxistische Ideologie dem Künstler — gleiche Begabung vorausgesetzt — die Möglichkeit, die Wirklichkeit gründlicher und umfassender zu sehen als jene Ideologie, die einem andern Denksystem verpflichtet ist. Das Ausmaß der persönlichen Begabung jedoch, das die künstlerische Unterscheidung zwischen zwei Künstlern mit derselben ideologischen Grundlage bestimmt, bildet einen nicht zu vernachlässigenden Faktor bei der Beurteilung. Was Ideologie leisten kann, ist, zu helfen, Gebiete der Erfahrung zu durchleuchten, aber sie kann euch nicht die Augen geben, mit denen ihr seht. Die v o r t e i l h a f t e s t e W e c h s e l w i r k u n g von B e g a b u n g u n d I d e o logie ist es, die die E n t w i c k l u n g von b e d e u t e n d e r L i t e r a t u r erl a u b t . Wenn Ideologie Begabung einschränkt, wie es bei reaktionären Schriftstellern der Fall ist, wird die Wechselwirkung höchst nachteilig. Mit der vorgefaßten Meinung, daß alle Juden Schufte und Shylocks sind, kann ein faschistischer Schriftsteller uns keinen repräsentativen Charakter eines Juden in der Literatur darstellen. Als T. S. Eliot in seine anglo-katholische Phase eintrat, errichtete seine Ideologie eine Mauer zwischen seiner dichterischen Begabung und ihrer Verwirklichung, mit dem Ergebnis, daß — wie allgemein zugegeben wird — seine jüngste Dichtung gegenüber seinem früheren Werk von geringerem Wert ist. Der besondere Inhalt seiner religiösen Verse enthält nicht den Wirklichkeitsgrad von Prufrock oder The Waste Land (Das wüste Land). Wenn der marxistische Kritiker vor der Aufgabe der Bewertung steht, muß er nicht nur all diese Beziehungen zwischen Ideologie und Inhalt in Betracht ziehen, sondern er muß seine Aufmerksamkeit auch auf all die Besonderheiten richten, die jedem Werk seine eigentliche Qualität verleihen. Beide Aufgaben gehen Hand in Hand. Die Isolierung des ersten vom zweiten führt zu politischen Erörterungen von Literatur, das ist nicht Kritik; die Isolierung des zweiten vom ersten führt zum Ästhetizismus. Die marxistische Methode der Kritik kann nicht als rein soziologische betrachtet werden. Es ist eine Methode, die alle Faktoren im Zusammenhang berücksichtigt, einschließlich des psychologischen Faktors. Jedoch ist sie kein vom Zufall 232
bestimmter Pluralismus, sondern eine Methode, die den Klassenstandpunkt als den bestimmenden ansieht. 4. Die H e r v o r b r i n g u n g von r e v o l u t i o n ä r e r L i t e r a t u r . Der Klassenkampf als ökonomische und politische Realität ist das L e i t b i l d von revolutionärer Literatur, aber um dieses Zentrum schaffen die Künstler ein Netzwerk von menschlicher Erfahrung in all ihrer Vielfältigkeit. Der Klassenkampf ist nicht eine Schablone, in die der Künstler die Erfahrung hineinstopft; er ist eine Realität, die weiten Gebieten des Lebens Zusammenhalt und Struktur verleiht. Diejenigen Künstler, die das nicht begreifen, machen sich eines übertriebenen Rationalismus schuldig, der sie die Wirklichkeit geometrisch darstellen läßt und nicht als einen lebendigen Strom. Dieser übertriebene Rationalismus ist vielleicht für mehr schlechte revolutionäre Werke verantwortlich als jeder andere einzelne Fehler. Jeder Herausgeber einer proletarischen Zeitschrift kann das bezeugen. Hier liegt auch die Wurzel einer vulgären Nützlichkeitshaltung gegenüber der Literatur, die sich zeitweise in unserer Kritik offenbart. Indem der Kritiker nach einer bewußten M a n i p u l a t i o n der Erfahrung sucht, hört er auf, auf die tieferen Quellen des dichterischen Prozesses einzugehen. Es gibt immer noch zu viele Schriftsteller und Leser, die den Klassenkonflikt in der Literatur nur am Punkt des physischen Zusammenstoßes zwischen Bourgeoisie und Proletariat sehen. Diese Vorstellung führt dazu, den reichen Hintergrund des Lebens der Arbeiter auf die Momente des offnen Kampfes wie Streik, Demonstrationen und andere offenkundige politische Aktionen zu r e d u z i e r e n . Epische Werke über die Erfahrung der Arbeiterklasse können jedoch nur durch ein genaues Untersuchen des weiten und komplexen Hintergrundes dieser offenkundigen Taten entstehen. Trotz manchen erfolgreichen, aber letztlich doch am Rande bleibenden Herangehens an dieses Thema vonseiten der Mittelklasse und vieler revolutionärer Romanschriftsteller ist die Arbeiterklasse mit ihren tausenderlei Arten von Beschäftigungen, Gewohnheiten, psychologischen Beziehungen — kurz gesagt, ihr eigentliches Leben — noch immer ein unerforschtes Gebiet für die Prosa. Was Balzac für manche Schichten der Bourgeoisie tat und Joyce in Bloom für die untere Mittelklasse und in Stephen für den empfindsamen Intellektuellen, wartet noch immer auf den genialen Gestalter unter den proletarischen Künstlern. Die amerikanischen Schriftsteller werden sich jetzt erst des Proletariats als einer bestimmten sozialen Klasse bewußt. Obwohl es zutrifft, daß Verhaltensweisen der Mittelklasse noch immer unter den Arbeitern vorherrschen, so trennt doch der ökonomische Bereich ihr tägliches Leben von dem der Bourgeoisie. Ein Panorama der Arbeiterklasse mit Typen und Individuen wie mit Ulysses (Odysseus) zum Beispiel würde dem revolutionären Schriftsteller neue Stoffgebiete erschließen und eine neue Tradition in der amerikanischen Literatur schaffen. In den Romanen The Land of Plenty (Das Land des Überflusses) und The Disinherited (Die Enterbten) erhalten wir eine Vorstellung von der thematischen Erforschung und den unermeßlichen Möglichkeiten, die diese in sich birgt. 233
Die mechanische Auffassung der Nützlichkeit jedoch verlangt ihren Tribut in der Kritik, indem sie den Schriftstellern Klischees nahelegt, die Originalität und Kühnheit des Entwurfes verhindern. Manche Kritiker schreien nach der Satire, andere fordern Dichtung in Form von Massenrezitationen, Balladen oder Liedern, die in Musik gesetzt werden können usw. Es soll nicht geleugnet werden, daß einige neue Arten der Dichtung unsere Literatur bereichern würden, aber keine dieser Arten kann zur Norm erhoben werden. Revolutionäre Literatur ist nicht die Literaur einer Sekte, wie der Surrealismus oder der Objektivismus ; sie ist das Ergebnis einer sich entwickelnden Zivilisation und wird den Reichtum und die Mannigfaltigkeit enthalten, die ein Kulturbereich nur anzubieten hat. In diesem Sinne werden wir Dichter haben, die viel von Eliot und Crane gelernt haben ebenso gut wie solche Dichter, die mehr von Joe Hill gelernt haben. Die verschiedenen Arten der Dichtung werden verschiedene Aufgaben zu erfüllen haben, wovon manche mehr und manche weniger wichtig sind. Die eine als die andere ausschließend zu betrachten, heißt die kulturelle Ausdrucksmöglichkeit der revolutionären Bewegung schmälern. Ahnlich verhält es sich in der Kritik: es gibt nicht eine Art der Kritik, die die Aufgabe des marxistischen Denkens auf diesem Feld erschöpft. Einige werden sich hauptsächlich mit mehr konzeptionellen Problemen befassen, andere mit besonderen Schriftstellern, wieder andere mit der literarischen Vergangenheit; aber die Haltung, die nur eine einzige Art der Kritik als einschlägig auswählt, ist entweder unbeständig oder sektiererisch. Gewöhnlich stellt dieser Versuch, Arten des Schreibens formelhaft zusammenzufassen, einen Bruch mit der literarischen Tradition dar. Wenn wir sagten, daß unsere Dichter von beiden, von Eliot und von Joe Hill lernen werden, so bedeutet das, daß es möglich ist, von beiden zu lernen nicht etwa, weil wir glauben, wir könnten von j e d e r m a n n lernen, sondern weil es eine Mannigfaltigkeit von fruchtbarem Einfluß in der Weltliteratur gibt, in der vergangenen und in der gegenwärtigen, die die revolutionären Schriftsteller für ihre individuellen Zwecke auswählen mögen. Einige Kritiker haben, unmittelbar oder mittelbar, eine brauchbare Tradition in der Nachkriegsdichtung geleugnet. Ihre Begründung ist, daß diese Dichtung unverständlich und pessimistisch sei, und daß sie persönliche Sorgen und persönliche Methoden ausdrückt. Wir zitieren ein typisches Urteil: „Eliot und gleichartige Reaktionäre haben Formen entwickelt, die ihre eigene Ruhelosigkeit und Vergeblichkeit ausdrücken. Der Versuch, ihre technischen Kunstgriffe zu verwenden, um den revolutionären Geist zum Ausdruck zu bringen, schließt unvermeidlich einen grundsätzlichen Widerspruch ein, und die daraus entstehenden Gedichte sind verwirrt und unwirksam." Dieses Herangehen an das literarische Erbe der amerikanischen revolutionären Dichter gleicht mehr der Suche nach m a r x i s t i s c h e n Ahnen als einer gesunden Orientierung auf kritische Verarbeitung der Vergangenheit. Allein die Tatsache, daß die meisten unserer Dichter von den sogenannten „reaktionären Experimentaldichtern" beeinflußt worden sind, beweist entweder, daß die meisten revo234
lutionären Verse gänzlich nutzlos sind oder daß die Vorstellung von dieser Einflußnahme unrichtig ist. Im ersten Falle, die „Ruhelosigkeit und Sinnlosigkeit" eines Eliot stellt eine Art des Aufbegehrens gegen die bestehende Gesellschaft dar, und folglich stellt sie einen Berührungspunkt (brauchbare Elemente) zwischen ihm und den revolutionären Dichtern her. Was immer sie auch sein mag, diese „Ruhelosigkeit und Sinnlosigkeit" kann unmöglicherweise privat sein. Und die neuen Methoden, die von den Experimental-Dichtern entwickelt wurden, sind nicht bloße Überspanntheiten, sondern das Ergebnis der Verschmelzung mit der städtischen Umgebung in der Dichtung, das die gesamte moderne Sensibilität widerspiegelt. Es ist schön und gut, von neuen Ausdrucksformen und neuen Rhythmen zu sprechen; aber bisher haben wir noch keine passenden Vorschläge gehört, die der tatsächlichen Natur dieser Rhythmen und Ausdrucksformen angemessen sind. In einer klassischen Definition des Linken Radikalismus sagt Lenin, daß er „in dem unbegründeten Zurückweisen alter Formen besteht und zu sehen versäumt, daß der neue Inhalt in allen und noch so mannigfaltigen Formen sich behauptet" (Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus). Das betrifft viele der Formen der Nachkriegsdichtung. Eliot ist auf diese Art verteufelt worden. Dabei weiß jedermann, daß nicht Eliots jüngste Ideologie (sein Royalismus, Anglokatholizismus, usw.) die revolutionären Dichter beeinflußt, sondern der besondere Inhalt seiner früheren Dichtung, der in hohem Maße von sozialem Realismus geprägt war. Überdies besteht ein tatsächlicher Widerspruch darin, daß man die Methoden der Experimental-Dichter als „technische Kunstgriffe" etikettiert — wenn sie das wären, könnten sie leicht ohne jegliche Gefahr ideologischer Verderbnis benutzt werden — und unsere Dichter vor der Übernahme solcher „technischen Kunstgriffe" warnt. Nachkriegsdichtung ist ganz gewiß aus viel mehr als aus technischen Kunstgriffen geschaffen worden. Und diese Methode kann nicht aus bloßen technischen Kunstgriffen und gewichtigen Bestandteilen der bürgerlichen Ideologie gleichzeitig bestehen. Es hat überhaupt keinen Zweck, über die Brauchbarkeit der Vergangenheit zu reden, wenn wir von vornherein annehmen, daß nichts brauchbar ist, wenn es nicht fast marxistisch ist. Die Überlieferung versorgt uns mit einer Grundlage formaler Kriterien, mit einer Quelle von künstlerischer Übung und mit Strömen von Einflüssen. Diese Einflüsse sind, so glauben wir, nicht immer auf der Grundlage der a l l g e m e i n e n i d e o l o g i s c h e n V e r w a n d t s c h a f t ausgewählt, sondern oft auf der Grundlage der besonderen Gegenstände, die ein revolutionärer Dichter zum Beispiel in irgend einem besonderem Gedicht sich zu behandeln vorgenommen hat. Als Alfred Hayes ein Panorama-Gedicht über New York schrieb (The Port of New York [Der Hafen von New York] Partisan Review, Nr. 6), hielt er sich natürlich an Crane, dessen Ethos der Stadt in The Bridge (Die Brücke) zusammengedrängt dargestellt ist. Die Unterschiede sind in diesem Falle offensichtlich, aber so zeigt sich Einfluß, und Hayes sollte nicht wegen dieses Einflusses gebrandmarkt werden. Es können Unstimmigkeiten über das Ausmaß und die Art des Einflusses bestehen, aber eine Anschuldigung auf 235
Grund dessen, daß Cranes Ideologie der unseren fremd ist, ist nicht stichhaltig. Es ist offenkundig, daß die Mannigfaltigkeit der Gegenstände in der revolutionären Literatur eine Verschiedenheit der besonderen Einflüsse und Verwendungen der Überlieferung hervorbringt. In der Tat erscheinen verschiedene Schulen und Strömungen in der revolutionären Literatur. Die Aufgabe der Kritik besteht darin, die Ziele und Voraussetzungen einer jeden Strömung zu verdeutlichen, sie miteinander in Beziehung zu setzen und einige mehr als andere zu ermutigen. Sie muß diejenigen Strömungen bekämpfen, die sich von den Zielen des Marxismus hinwegbewegen. Und gerade durch die Wechselwirkung zwischen den kritischen und den schöpferischen Fähigkeiten wird sich eine größere Bewußtheit der schöpferischen Methoden entfalten.
Newton Arvin Zur marxistischen Literaturkritik (Partisan Review, April—May 1935) Es scheint mir schwierig, nicht mit dem Geist von Mr. Phelps und Mr. Rahvs Aufsatz über Kritik übereinzustimmen. Als Reaktion auf den solipzistischen Ästhetizismus der Dial-Schule und den ungesunden Eklektizismus der liberalen und individualistischen Kritiker hat die kleine Gruppe der ernst zu nehmenden Bewußtsein der äußeren Welt zurückzuerobern oder hervorzubringen, eine Bewußtheit der unvermeidbaren gesellschaftlichen Verpflichtungen der Schriftsteller, und einen Sinn für die Notwendigkeit von eindeutiger, unimpressionistischer Untersuchung. Aber wahrscheinlich hat niemand den Eindruck, daß dies genug sei; und das, worauf Mr. Phelps und Mr. Rahv ihre Aufmerksamkeit zu richten scheinen, ist eine vollständigere Verwirklichung — eine jetzt höchst erwünschte Verwirklichung — der Möglichkeiten der dialektischen Methode. Zu viel von dem, was in diesem Lande als marxistische Kritik angeboten wird, ist, wie sie herausstellen, einseitig gewesen, eindimensional und absolutistisch; zu wenig hat der wirkliche Vorteil der reichen dynamischen Urwüchsigkeit der marxistischen Tradition genutzt; zu selten ist der Geist lebendig geblieben, zum Beispiel von Marx' eigenen Bemerkungen über die griechische mythologische Dichtung oder von seiner Begeisterung für solch ein Buch wie Tom Jones. Es hat eine zu starke Tendenz gegeben, mit literarischen Problemen in Begriffen krasser Alternativen zu verfahren: E n t w e d e r das Werk eines Schriftstellers ist allgemein anerkannt (vielleicht hauptsächlich aus politischen Gründen), o d e r es ist unannehmbar und sogar schädlich; e n t w e d e r Ideen (in diesem Falle literarische oder kritische Ideen) sind leicht in die materialistische oder revolutionäre Terminologie einzuordnen, o d e r sie sind Uberreste bürgerlicher Denkweise. 236
Grund dessen, daß Cranes Ideologie der unseren fremd ist, ist nicht stichhaltig. Es ist offenkundig, daß die Mannigfaltigkeit der Gegenstände in der revolutionären Literatur eine Verschiedenheit der besonderen Einflüsse und Verwendungen der Überlieferung hervorbringt. In der Tat erscheinen verschiedene Schulen und Strömungen in der revolutionären Literatur. Die Aufgabe der Kritik besteht darin, die Ziele und Voraussetzungen einer jeden Strömung zu verdeutlichen, sie miteinander in Beziehung zu setzen und einige mehr als andere zu ermutigen. Sie muß diejenigen Strömungen bekämpfen, die sich von den Zielen des Marxismus hinwegbewegen. Und gerade durch die Wechselwirkung zwischen den kritischen und den schöpferischen Fähigkeiten wird sich eine größere Bewußtheit der schöpferischen Methoden entfalten.
Newton Arvin Zur marxistischen Literaturkritik (Partisan Review, April—May 1935) Es scheint mir schwierig, nicht mit dem Geist von Mr. Phelps und Mr. Rahvs Aufsatz über Kritik übereinzustimmen. Als Reaktion auf den solipzistischen Ästhetizismus der Dial-Schule und den ungesunden Eklektizismus der liberalen und individualistischen Kritiker hat die kleine Gruppe der ernst zu nehmenden Bewußtsein der äußeren Welt zurückzuerobern oder hervorzubringen, eine Bewußtheit der unvermeidbaren gesellschaftlichen Verpflichtungen der Schriftsteller, und einen Sinn für die Notwendigkeit von eindeutiger, unimpressionistischer Untersuchung. Aber wahrscheinlich hat niemand den Eindruck, daß dies genug sei; und das, worauf Mr. Phelps und Mr. Rahv ihre Aufmerksamkeit zu richten scheinen, ist eine vollständigere Verwirklichung — eine jetzt höchst erwünschte Verwirklichung — der Möglichkeiten der dialektischen Methode. Zu viel von dem, was in diesem Lande als marxistische Kritik angeboten wird, ist, wie sie herausstellen, einseitig gewesen, eindimensional und absolutistisch; zu wenig hat der wirkliche Vorteil der reichen dynamischen Urwüchsigkeit der marxistischen Tradition genutzt; zu selten ist der Geist lebendig geblieben, zum Beispiel von Marx' eigenen Bemerkungen über die griechische mythologische Dichtung oder von seiner Begeisterung für solch ein Buch wie Tom Jones. Es hat eine zu starke Tendenz gegeben, mit literarischen Problemen in Begriffen krasser Alternativen zu verfahren: E n t w e d e r das Werk eines Schriftstellers ist allgemein anerkannt (vielleicht hauptsächlich aus politischen Gründen), o d e r es ist unannehmbar und sogar schädlich; e n t w e d e r Ideen (in diesem Falle literarische oder kritische Ideen) sind leicht in die materialistische oder revolutionäre Terminologie einzuordnen, o d e r sie sind Uberreste bürgerlicher Denkweise. 236
Dies als krasse Alternativen zu bezeichnen ist durchaus nicht notwendig, um es den Vertretern eines anarchischen oder unverantwortlichen Relativismus leicht zu machen. Es bedeutet nicht, die Verpflichtung zu leugnen, zu eindeutigen Urteilen zu gelangen, die Unterscheidungen ständig schärfer und schärfer zu machen (nicht immer weniger scharf), und weiterhin einen unnachgiebigen Kampf zu führen gegen das, was tatsächlich rückschrittlich, zerstörerisch oder bildungsfeindlich in gewissen Arten des Denkens und Schreibens ist. Überdies mag es sehr wohl Situationen geben, in denen es in der Praxis wichtiger ist, gewisse Schriftsteller und gewisse Ideen in Mißkredit zu bringen, als das dialektische Gleichgewicht in schwer zu erreichender Balance zu halten. Das soll nur bedeuten, daß literarische Kritik nur eine Aktivität unter anderen ist, und daß sie manchmal zurückstehen muß — denn sie kann nicht in einem verwunschenen Schloß weiter entwickelt werden — gegenüber mehr drängenden und vorrangigen Notwendigkeiten. Doch die Kritik hat ihr eigenes Leben und ihren eigenen Nutzen, und dies kann am besten verwirklicht werden, wenn es ihr gestattet ist, mit einer gewissen Freiheit und Unbefangenheit ihr eigenes Gebiet zu erforschen, nämlich die Geschichte und die gegenwärtige Praxis der literarischen Künste. Wenn sie einem mehr als nur literarischem Zweck dienen soll, einem sozialen und historischen Zweck, wird sie dies langfristig gesehen am besten tun, wenn es ihr kurzfristig gesehen erlaubt wird, ihre Glieder mit einem Minimum an äußerer Beeinträchtigung zu bewegen. Diese freie Bewegung ist genau das, was die Dialektiker nicht einfach gutheißen, sondern fordern. Beim Studium der Literatur wie beim Studium der Ökonomie ist keine Art des Denkens unfruchtbarer und folglich schädlicher als das Denken in gerader Linie auf einer Ebene: Dies ist in der Tat der Fehler zu vieler bürgerlicher Kritiker gewesen ebenso wie der von zu vielen bürgerlichen Ökonomen. Ein ernsthafter marxistischer Kritiker wird weitaus empfanglicher sein als irgendein bürgerlicher nur sein kann, hinsichtlich der Zahl der verschiedenen Kräfte, die immer in Betracht zu ziehen sind; und die Auffassung der schöpferischen Widersprüche wird ihm ständig gegenwärtig sein. Es ist grundlegend für den Marxismus, so meine ich, die fortschrittliche Natur des Kapitalismus bei seinem Anfang und in seiner ersten Phase zu erkennen und den Widerspruch zwischen seinen positiven Errungenschaften und seiner Verschwendung, seiner Falschheit und seines Inhumanismus zu betonen. Vergleichbare Widersprüche sind in dem Werk all der wirklich interessanten und denkwürdigen Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts vorhanden, und natürlich, mit vielen Modifikationen, bei den Schriftstellern unserer eigenen Zeit, sowohl den individualistischen als den revolutionären. Ein Teil der Aufgabe des Kritikers besteht darin, dieses komplexe Wechselspiel von schöpferischen und zerstörerischen, von fruchtbaren und unfruchtbaren Elementen in einen möglichst wahrheitsgetreuen Brennpunkt zu sammeln; und wenn er in diesem Prozeß nicht auf historisches Wissen und eine strenge Logik verzichten kann, so kann er noch weniger auf intuitive Einfühlung und phantasiereiche Vorstellungskraft verzichten beim Umgang mit dem Unfaßbaren. Mit 237
dem korrektesten politischen Denken der Welt wird er in diesem Punkte wenig erreichen. Das Ergebnis der kritischen Auseinandersetzung mit den Schriftstellern der Vergangenheit und denjenigen der Gegenwart in einer eindringlichen aber dialektischen Weise besteht unter anderem darin, daß der Wahrheit der marxistischen Position eine Dimension hinzugefügt wird; und das bedeutet eine gewaltige Bereicherung der intellektuellen und geistigen Quellen, die den Schriftstellern, die durch die Annahme dieser Position heute Literaturgeschichte machen, zugänglich sind. Ich möchte ein Beispiel bringen, mit dem ich vertrauter bin als mit manchen anderen: Der bewußte politische Standpunkt von Nathaniel Hawthorne, obwohl er auf eine merkwürdige negative Weise demokratisch war, war verknüpft mit der fatalistischen und undifferenzierten Haltung, die er gegenüber den Problemen seiner Zeit einnahm, einschließlich der Sklaverei; und auch damit, daß er eine lobpreisende Biographie über den Dummkopf Franklin Pierce schrieb, der das politische Werkzeug der südstaatlichen Plantagenoligarchie war. Wenn die geistige Welt eines begabten Schriftstellers eine einfache Einheit wäre, so könnte es sein, daß dies das letzte Wort sein würde, das über Hawthorne zu sprechen ist. Aber sein Werk insgesamt ist der Schauplatz bemerkenswerter Widersprüche, und das interessanteste darin ist seine allmählich wirkende, abgewogene, intuitive — und man ist versucht zu sagen unbeabsichtigte — Kritik am Individualismus, der in jener Generation und noch lange danach als das reinste Evangelium galt. Dies bildet die dritte Dimension in Hawthorne; und um näher an unsere eigene Zeit heranzukommen, es herrscht eine gewisse Unterschiedslosigkeit in der Zurückweisung all der reformistischen Schriftsteller der Roosevelt-Ära auf der einseitigen Grundlage ihrer politischen Naivität. So sind zum Beispiel David Graham Phillips und Winston Churchill schnell und ein bißchen herablassend der Vergessenheit überantwortet worden. Man sagte, sie seien „alte Schleimer" und voller Beigesterung für Beveridge und Roosevelt. Man kann diese Unduldsamkeit verstehen und muß anerkennen, daß ihr politischer Standpunkt e i n e r der Beweggründe ist, obwohl nur einer, der es unmöglich macht, sie auch nur einen Augenblick lang in dem selben Atemzug mit Zola oder Tolstoi zu nennen. Aber trotzdem waren sie ernstzunehmende amerikanische Schriftsteller; und es ist leichter und bequemer, übereinzustimmen, ihre literarischen Kräfte der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, als sie verantwortlich und verständnisvoll zu bestimmen. Gerade in der moralischen Übergangsphase, während die ererbten Maßstäbe des amerikanischen Individualismus ihre Gültigkeit verloren, haben die ehrlichen, sorgfältig ausgeführten, reichhaltig beschreibenden, und manchmal beeindrukkenden Romane von Phillips und Churchill etwas durchaus Lebenskräftiges zum Ausdruck gebracht, das noch voller Bedeutung für uns ist, und wie es sonst nirgends gerade so ausgedrückt worden ist. Dies ist und kann nur ein flüchtiger Blick auf einen Gegenstand sein, der sich selbst wie ein Ulmbaum verzweigt, aber wenigstens einige der Verzweigungen scheinen am Anfang einer höchst intensiven Diskussion zu stehen. Diese Diskus238
sion wird, es ist vielleicht nicht zu optimistisch das zu hoffen, uns näher an ein klares Verständnis der Mittel und Wege heranführen, mit denen die literaturgeschichtliche Kritik kräftig wirkend, kompromißlos und (wenn sie unmittelbaren politischen Inhalt hat) zugespitzt sein kann, ohne einsilbig oder absolutistisch zu sein; das müssen Mittel sein, mit denen das, was noch positiv in der bürgerlichen Literatur ist, von dem zu unterscheiden ist, was alles Interesse und alles Ansehen verloren hat; Mittel, mit denen die neue Literatur sowohl vor einer kraftlosen Allgemeingültigkeit als vor einem verengten politischen Nützlichkeitsprinzip bewahrt werden kann.
James T. Farrell Zur marxistischen Literaturkritik (Partisan Review, April—May 1935) Meine persönliche Meinung ist, daß zuviel von der revolutionären Kritik — und das betrifft beides: theoretische Aufsätze und spezifische Literaturkritik — dazu neigt, eine Art revolutionärer Scholastik zu schaffen, die nur Unfruchtbarkeit hervorbringen kann. Immer wieder habe ich Werke revolutionärer Kritik gelesen, in denen der Verfasser sich seinem Gegenstand von außen nähert, offenbar ohne zu bemerken, daß Literatur ein Prozeß ist, und daß man, um ihn zu verstehen, in den Prozeß hineingelangen muß, das Wissen über die literarischen Überlieferungen verwenden und die Art, in der sie sich entwickelt haben. Anstatt sich ihrem Stoff auf diese Weise zu nähern, verharren unsere Kritiker manchmal geradezu an der Außenseite, schauen wie durch ein Fenster hinein und stellen dann ihre eigenen Theorien und Bewertungen auf. Der allgemeine Vorgang scheint mir etwa folgendermaßen zu sein. Marxistische Gedanken im allgemeinen und die Auffassung vom Klassenkampf im besonderen werden als Quelle für erste Prämissen benutzt. Dann werden diese Prämissen durch den einfachen Vorgang der logischen Erweiterung zu einer angemessenen verallgemeinernden Schlußfolgerung entwickelt. Die Schlußfolgerung wird dann auf den Gegenstand der Literatur übertragen, ohne jegliche Überprüfung bezüglich der Begriffe der literarischen Entwicklungen und Überlieferungen. Diese Art revolutionärer Scholastik hat Kritiker immer wieder zu einer Zügellosigkeit geführt, die oft nichts anderes ist als mutwillige SchreibmaschinenÜbungen und Gedankenakrobatik. So hat es Perioden gegeben, in denen sie die Frage erörtert haben, welche Themen ein proletarischer Schriftsteller in seinem Werk verwenden darf, und dann wurden diese Themen aufgezählt. Oder sie haben Aufforderungen ergehen lassen, daß Amerika seinen Maxim Gorki entwickeln 239
sion wird, es ist vielleicht nicht zu optimistisch das zu hoffen, uns näher an ein klares Verständnis der Mittel und Wege heranführen, mit denen die literaturgeschichtliche Kritik kräftig wirkend, kompromißlos und (wenn sie unmittelbaren politischen Inhalt hat) zugespitzt sein kann, ohne einsilbig oder absolutistisch zu sein; das müssen Mittel sein, mit denen das, was noch positiv in der bürgerlichen Literatur ist, von dem zu unterscheiden ist, was alles Interesse und alles Ansehen verloren hat; Mittel, mit denen die neue Literatur sowohl vor einer kraftlosen Allgemeingültigkeit als vor einem verengten politischen Nützlichkeitsprinzip bewahrt werden kann.
James T. Farrell Zur marxistischen Literaturkritik (Partisan Review, April—May 1935) Meine persönliche Meinung ist, daß zuviel von der revolutionären Kritik — und das betrifft beides: theoretische Aufsätze und spezifische Literaturkritik — dazu neigt, eine Art revolutionärer Scholastik zu schaffen, die nur Unfruchtbarkeit hervorbringen kann. Immer wieder habe ich Werke revolutionärer Kritik gelesen, in denen der Verfasser sich seinem Gegenstand von außen nähert, offenbar ohne zu bemerken, daß Literatur ein Prozeß ist, und daß man, um ihn zu verstehen, in den Prozeß hineingelangen muß, das Wissen über die literarischen Überlieferungen verwenden und die Art, in der sie sich entwickelt haben. Anstatt sich ihrem Stoff auf diese Weise zu nähern, verharren unsere Kritiker manchmal geradezu an der Außenseite, schauen wie durch ein Fenster hinein und stellen dann ihre eigenen Theorien und Bewertungen auf. Der allgemeine Vorgang scheint mir etwa folgendermaßen zu sein. Marxistische Gedanken im allgemeinen und die Auffassung vom Klassenkampf im besonderen werden als Quelle für erste Prämissen benutzt. Dann werden diese Prämissen durch den einfachen Vorgang der logischen Erweiterung zu einer angemessenen verallgemeinernden Schlußfolgerung entwickelt. Die Schlußfolgerung wird dann auf den Gegenstand der Literatur übertragen, ohne jegliche Überprüfung bezüglich der Begriffe der literarischen Entwicklungen und Überlieferungen. Diese Art revolutionärer Scholastik hat Kritiker immer wieder zu einer Zügellosigkeit geführt, die oft nichts anderes ist als mutwillige SchreibmaschinenÜbungen und Gedankenakrobatik. So hat es Perioden gegeben, in denen sie die Frage erörtert haben, welche Themen ein proletarischer Schriftsteller in seinem Werk verwenden darf, und dann wurden diese Themen aufgezählt. Oder sie haben Aufforderungen ergehen lassen, daß Amerika seinen Maxim Gorki entwickeln 239
möge. Oder sie haben ihre Voraussagen aufgestellt, daß es in Zukunft einen proletarischen Proust geben wird, größer als Proust selbst. Und sie haben sich äußerst kategorie'nbewußt gebärdet, besonders bezüglich der Kategorien des Bürgerlichen und des Proletarischen. Oft jedoch hatten sie sich nicht klargemacht, was diese Kategorien bedeuten und wie sie sie verwendeten. Zum Beispiel, sind es nur beschreibende Kategorien, Typologien und Klassifikationen von Büchern, oder sind es Richtlinien? Und nachdem Kategorien aufgestellt waren, erhob sich jene zweite Frage: Herauszufinden, was ein bestimmtes Buch nun ist, bürgerlich, revolutionär, proletarisch oder was? Sie vernachlässigten in diesen Übungen einen einfachen aber tautologischen Faktor. Es sind Bücher, die diese Kategorien bilden. Es sind Bücher, die die Literatur ausmachen; und um literarische Theorien aufzustellen, und literarische Kritik zu betreiben, muß man Bücher verstehen, muß man den Prozeß verstehen, durch den sich literarische Traditionen entwickeln; man muß sich bemühen, die Beziehungen zwischen den literarischen Entwicklungen und dem ge ;ellschaftlichem Hintergrund zu begreifen und die geschichtlichen Überlieferungen, aus denen heraus sie sich entwickeln. Unsere Kritiker offenbaren oft einen groben Determinismus, wenn sie sich mit der Beziehung zwischen Kultur und dem was Marx die materiellen Verhältnisse in einer Gesellschaft bezeichnet, befassen. Auf diese Weise scheinen sie dieses zusammengesetzte Netzwerk der Beziehungen so zu behandeln, als sei es eine einfache algebraische Gleichung, die nach einer geeigneten und leicht zu handhabenden Formel zu lösen ist. Sie setzen Kultur und Ökonomie in ein direktes und unmittelbares Bezugsverhältnis; und das ist ein unangemessenes Postulat, das den Gedanken von Marx fremd ist, so wie ich jedenfalls Marx' Ausführungen verstehe. In der Tat behauptet Marx in seiner abschließenden Bemerkung in der Abhandlung Zur Kritik der politischen Ökonomie genau das Gegenteil. Im wesentlichen führt er aus, daß es eine wohlbekannte Tatsache ist, daß es in Perioden, in denen die Kunst den höchsten Entwicklungsstand erreicht hat, keine unmittelbare Beziehung zwischen der Kunst und den materiellen Verhältnissen in einer Gesellschaft gibt. Als Beispiel führt er die griechische Kunst an. Es ist zugleich einfach und gefahrlich, ungerechtfertigte Folgerungen aus Marx' Schriften abzuleiten. Nämlich, wenn Marx und Engels die ökonomischen Faktoren betonten, wie sie es taten, so taten sie es nicht, um dadurch andere Faktoren, die die gesellschaftlichen Prozesse beeinflussen, wie zum Beispiel Ideale und Kultur, auszuschließen. Und daher müssen ihre Schriften im Zusammenhang mit ihren Zielen gesehen werden. Sie schrieben nämlich beide zu einer Zeit, als die Tradition des philosophischen Dualismus in Deutschland eine mächtige geistige Strömung darstellte. Deutsche Philosophen befaßten sich mit solchen Fragen wie der nach der Entstehung des Universums; die Antwort wurde in umfangreichen und schweren Bänden niedergelegt, die Augenlicht und Gehirn von zukünftigen Studentengenerationen folterten. Und die Antwort lautete: Geist. Und Geist bedeutete eine außerhalb der Erfahrung liegende Macht oder, mit anderen Worten, es war ein neuer Ausdruck für die alte Auffassung von Gott. Eine Folgerung dieser Lehre 240
des philosophischen Dualismus besagt, daß Geist die bewegende Kraft im Universum ist. Marx' Materialismus war eine Abwendung von dieser Lehre; es kam ihm nicht darauf an, sich in haltlosen Beschreibungen der Ursachen zu gefallen, die die gesellschaftlichen Prozesse bewirken, sondern er untersuchte die materielle Welt. Er entdeckte, daß die ökonomischen Verhältnisse einen grundlegenden und überwiegenden Einfluß bilden. Und da er zu einer Zeit schrieb, als der Dualismus noch die Tagesmeinung beherrschte, war es notwendig, die ökonomische Seite äußerst stark zu betonen. Indem er das tat, meinte er nicht, daß die ökonomische Seite der einzige Faktor sei. Denn er begriff die menschliche Gesellschaft als einen Prozeß; und er verstand, daß der Faktor der Veränderungen ständig in den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenwärtig ist. Und weil es diesen Faktor der Veränderung gibt, werden die Wirkungen eines Zustandes der Verhältnisse zu Ursachen für den nächsten; und es entwickelt sich stets ein ganzes Netzwerk von Einflüssen. So geschieht es, daß kulturelle Ausdrucksformen, die sich unmittelbar auf die grundsätzlichen materiellen Bedingungen beziehen, auf die sich eine Gesellschaft in einem Zeitabschnitt gründet, sich von jenem Zustand der Verhältnisse hinweg entwickeln in dem Maße, wie der Prozeß sich im Verlauf der Zeiten entfaltet; und dann werden sie ursächliche Faktoren in dem allgemeinen Strom der gesellschaftlichen Tendenzen und Kräfte. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache ist eine Anzahl der Behauptungen in der revolutionären Kritik — um es gelinde auszudrücken — mindestens ungerechtfertigt. Weiter oben in meinen Ausführungen habe ich angedeutet, daß manche Kritiker sich in selbstgefälligen Äußerungen ergehen, die nach einem amerikanischen Maxim Gorki fragen, oder in Vorhersagen, nach denen es in zukünftiger Zeit einen proletarischen Proust geben wird, der größer ist als Proust selbst. Ich habe diese geringschätzigen Andeutungen darum gemacht, weil ich fühle, während sie sich mit solchen Gegenständen befassen, vernachlässigen diese Kritiker oft,.die Aufgabe des Kritikers zu leisten, und zwar so angemessen, wie sie nur geleistet werden kann, nämlich die literarische Entwicklung zu fördern. Und diese Aufgabe ist eine zweifache: Deutung und Bewertung. Und um zu interpretieren und zu beurteilen muß ein Kritiker sich zuerst einmal bemühen zu verstehen. Und um zu verstehen, kann er nicht mit vorgefaßten Meinungen an die Arbeit gehen, mit Grundsätzen und Richtlinien, fest wie Eisen, und diese dem Werk aufzwingen. Vielmehr muß er mit flexiblen Grundsätzen und Richtlinien aufwarten. Und als erstes muß er versuchen zu verstehen, was ein Schriftsteller versucht hat zu tun, und wie gut er es tat. Dann kann er urteilen; und mit Beurteilung meine ich hier kritische Prüfung der Absichten eines Schriftstellers und eine Einschätzung der wesentlichen Bedeutungen und Folgerungen eines Werkes. Wenn ich ganz offen sein soll, so kann ich abschließend nur feststellen, daß die revolutionären kritischen Arbeiten, die ich gelesen habe, nur zu oft solch eine Aufgabe nicht erfüllt haben.
16 New York 1935/37
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1 Archibald MacLeish Spanien und die amerikanischen Schriftsteller Die meisten intelligenten Menschen werden der Behauptung, daß der Aufstieg der faschistischen Mächte und der Erfolg faschistischer Überfalle ein die Schriftsteller in den Vereinigten Staaten angehendes Problem darstellen, zustimmen. Sie werden zustimmen, daß der Faschismus mit seinen Ministerien für Propaganda und Aufklärung, seiner offiziellen Presse und seiner Bauchrednerbühne ein Besorgnis erregendes Problem für diejenigen ist, deren Arbeit als Grundlage ihrer Existenz die Freiheit der Publikation erfordert. Es finden sich jedoch gewisse Schriftsteller und gewisse Publizisten, die dieser Behauptung nicht zustimmen, und die ihre Gründe dafür offen und ehrlich dargelegt haben. Es scheint mir angebracht, dieser abweichenden Meinung von Anfang an entgegen zu treten, denn nur wenn man sich über die Grenzen der Übereinstimmung klar ist, vermag man in nützliche gegenseitige Kommunikation zu treten. Diejenigen, die die These, daß die Ausbreitung des Faschismus ein Gegenstand grundsätzlicher Besorgnis für Schriftsteller in diesem Lande ist, ablehnen, führen zwei Hauptargumente an. Das erste besagt, die Besorgnis über den sich ausbreitenden Faschismus und die Bildung einer gemeinsamen Abwehrfront dagegen liefen im Endeffekt auf das Schüren eines Krieges hinaus — und nicht nur auf das Schüren irgendeines Krieges, sondern eines Krieges, der genauso schrecklich wird wie der letzte, eines zweiten Krieges, um der Welt die Demokratie zu sichern. Das zweite Argument besagt, die faschistische Frage sei im Grunde genommen nichts anderes als ein privates Gezänk zwischen Faschismus und Kommunismus, ohne Belang für jemand außer den Parteigängern, und im übrigen von entfernter liegendem und rein parteimäßigem Interesse. Dieses zweite Argument ist wirklich so offenbar und sichtbar unvernünftig, daß es sich erübrigte, darauf einzugehen, wäre nicht der eine Umstand. Es ist das wohlbekannte, von den Heuchlern, Zynikern und Frivolen vorgebrachte Argument, die nicht begreifen wollen, was in Spanien vor sich geht — die nicht die Verantwortung des Begreifens auf sich nehmen wollen — die unentschieden bleiben wollen — oder, noch schlimmer, die ihre Billigung des spanischen Faschismus unter diesem fadenscheinigen und lächerlichen Vorwand verbergen wollen. Es ist das billige und bequeme Argument derjenigen, die nicht denken wollen. Was ihm Bedeutung verleiht, ist nur folgendes: Seine Befürworter benutzen es, um die Intelligenz, ja sogar die Integrität derjenigen anzugreifen, die, selbst keine Kommunisten, zusammen mit den Kommunisten in aktiver Opposition gegen die Bedrohung des Faschismus stehen. Sie unterstellen damit, daß die in dieser Lage Befindlichen Betrogene sind: daß sie „mißbraucht" werden, „mißbraucht", ohne zu begreifen, worin dieser Mißbrauch eigentlich besteht. 245
Die Antwort darauf lautet natürlich, daß jemand, der sich weigert, seine Überzeugungen zu verteidigen, aus Furcht, er könne sie in falscher Gesellschaft verteidigen, überhaupt keine Überzeugungen besitzt. Die weitere Antwort darauf besagt, daß diese Angst, mißbraucht zu werden, die Phobie davor, manipuliert zu werden, an sich eine sehr merkwürdige Sache ist. Meiner Auffassung nach enthält sie etwas unerfreulich Überempfindliches und Altjüngferliches — etwas von unangebrachter Schüchternheit. Selbst wenn die Gefahr der Vergewaltigung existiert, so braucht doch der zarte Geist nicht notwendigerweise nachzugeben. Warum sollte sich jemand „mißbrauchen" lassen, wenn er es nicht will? Warum sollte er nicht selbst jemand werden, der die anderen ausnutzt? Wenn ein Liberaler wirklich an die Freiheit des Geistes und der Person glaubt, wie er beteuert, so wird er sie um jeden Preis und in jeder Gesellschaft verteidigen, und er wird den größtmöglichen Gebrauch von denjenigen machen, die er an seiner Seite findet. Alle großen Entwürfe des menschliches Geistes, ob von Marx oder Rousseau, waren ursprünglich Einmann-Unternehmungen, die während des Fortschreitens aus der Schar der Nebenstehenden Anhänger sammelten. Kein Schriftsteller, der diesen Namen verdient, hat sich jemals geweigert, seine Position zu klären, aus Furcht, diese Position könne anderen als ihm selbst zum Vorteil gereichen — selbst anderen, denen er nicht helfen wollte. Was das erste Argument betrifft, das Argument, diejenigen, die eine gemeinsame Front gegen den Faschismus bilden, seien selbst Kriegstreiber und nicht zu unterscheiden von den Kriegstreibern von 1917, so scheint mir die Antwort darauf noch leichter. Sie lautet: Nicht wir sind es, die diesen Krieg provozieren. Sie lautet: Der Krieg ist bereits im Gange. Er wird in Spanien geführt. Und mit Krieg meine ich den vom Faschismus angezettelten Krieg, denselben Krieg, gegen den wir uns verteidigen müssen. Es ist das fehlende Verständnis dieses offensichtlichen, allzu offensichtlichen Faktums, das unsere Kritiker irreleitet. Sie wissen, daß in Spanien gekämpft wird. Sie können schwerlich umhin, das zur Kenntnis zu nehmen. Doch sie erkennen nicht die Natur dieses Kampfes. Sie begreifen nicht, was da vor sich geht. Sie stellen es sich mit Begriffen der Militärgeschichte vor. Sie vergleichen es mit 1914. Sie folgern, daß, weil es keine Kriegserklärungen gegeben hat, und weil die Völker Europas ihre Armeen noch nicht mobilisiert haben, der spanische Krieg nicht der wahre Krieg gegen den Faschismus, den man kommen sieht, sein kann, vielmehr eine Art Vorgefecht ist, dessen „Ausbreitung über den europäischen Kontinent man verhindern kann". Sie schlußfolgern, daß jede Hilfe für das spanische Volk, jede Unterstützung seines Widerstandes, es vielleicht unmöglich machen, den Krieg auf Spanien zu beschränken und zum größeren, zum echten Krieg führen könnte. Sie folgern, daß diejenigen, die gegen den Faschismus und besonders gegen den Faschismus in Spanien gemeinsame Sache machen, diesen größeren Krieg schüren. , Der schwache Punkt dieses Arguments liegt in der Annahme, das Muster von 1914 passe für die Tatsachen von 1937. Der militärische Wortschatz von 1914 und
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1937 ist nicht derselbe. 1914 wäre der systematische und mörderische Beschuß der Zivilbevölkerung einer spanischen Küstenstadt durch die deutsche Flotte ein kriegerischer Akt gewesen. 1937 ist es keine Kriegshandlung. Die Spanier sterben nur, und die Deutschen segeln ab. 1914 wäre das Massaker der Zivilbevölkerung eines schutzlosen baskischen Ortes durch deutsche Flugzeuge ein kriegerischer Akt gewesen. 1937 ist er das nicht. Die Basken beißen ins Gras, wo die Maschinengewehre sie erwischt haben, und die Deutschen fliegen ab. Die Kriege von 1937 werden nicht mit Kriegserklärungen und Mobilmachungen begonnen. Sie werden in dunklen Winkeln ausgetragen wie die Morde von Banditen. Und das aus einem zutreffenden Grund. Es sind die Mordtaten von Banditen. Der Sachverhalt ist klar genug. Wer gegen den Faschismus kämpft, schürt keinen Krieg, aus dem einfachen Grunde, weil der Krieg bereits im Gange ist. Er wird bereits geführt. Und es ist kein provisorischer Krieg, kein lokaler Konflikt. Es ist der Krieg, der tatsächliche Krieg, der Krieg zwischen den faschistischen Mächten und den Dingen, die sie gern zerstören möchten. Spanien ist keine politische Allegorie. Spanien ist nicht, wie manche gern möchten, daß wir dächten, ein dramatisches Schauspiel, in dem der Konflikt unserer Zeit ausgetragen wird. Diese Akteure sind keine Schauspieler. Sie sterben tatsächlich. Diese Städte sind keine Bühnendekorationen. Sie brennen wirklich. Diese Schlachten sind keine Symbole anderer Schlachten, die irgendwann später einmal geschlagen werden sollen. Sie sind der tatsächliche Krieg selbst. Und in diesen Krieg, diesen spanischen Krieg auf spanischer Erde, sind wir, die für die Freiheit kämpfenden Schriftsteller, ob wir es wollen oder nicht, selbst verstrickt. Das ist keine Metapher. Das ist einfach eine Tatsache. Diejenigen, die diesen Krieg aus eigener Anschauung gesehen haben, können mehr darüber berichten, als ich es kann. Doch selbst wer die Kämpfe nicht mit eigenen Augen gesehen hat, weiß soviel: Im spanischen Krieg geht es um das militärische Prestige der faschistischen Mächte (und das bedeutet, um das Gesamtprestige dieser Mächte). Wir wissen, daß ein faschistischer Sieg im spanischen Krieg einen enormen Prestigezuwachs und ein fast sicheres Ende der demokratischen Institutionen in Frankreich, das heißt, in Europa bedeuten würde. Wir wissen, daß eine faschistische Niederlage im spanischen Krieg einen Verlust an diesem Prestige und den möglichen Zusammenbruch faschistischer Herrschaftsformen bedeuten würde. All das wissen wir nicht nur durch Logik, Schlußfolgerungen, Vermutungen. Wir wissen es faktisch. Der Beweis liegt auf der Hand. Der spanische Bürgerkrieg hat die Perspektive schon grundlegend verändert, h a t sie f ü r u n s v e r ä n d e r t . Der Sieg der spanischen Regierung vor Madrid ist kein symbolischer Sieg. Er ist kein Vorzeichen für die Zukunft. Er ist ein gegenwärtiger Sieg und hat für alle, die den Faschismus hassen, wo immer sie auch weilen mögen, ganz bestimmte gegenwärtige Folgen. Es ist ein gegenwärtiger Sieg mit voraussehbaren Folgen f ü r uns. Seine Bedeutung liegt darin, daß die Theorie der Kriegsführung durch nicht angekündigte, übermächtige, brutale Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die der faschistischen Strategie zugrunde liegt, und auf die sich die Hoffnung der fa-
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schistischen Aggression gründet, in Verruf geraten ist. Das war ursprünglich die Theorie eines italienischen Generals namens Douhet. 275 Sie wurde zu Beginn der zwanziger Jahre veröffentlicht und empfing von den Militärs sehr ernsthafte Beachtung und besonders von faschistischen Offizieren leidenschaftlichst Billigung. Ludendorff lobte sie in der Presse und Mussolini akzeptierte davon, soviel er konnte, in Äthiopien. Der Grund für diese Billigung war natürlich offenbar. Die Diktatoren billigten die Douhet-Theorie, weil diese für sie unentbehrlich war. Keine faschistische Diktatur wagt es, lange Kriege mit ihren Stockungen, ihren inneren Schwierigkeiten und nationalen Gefahren zu unternehmen. Um überhaupt kämpfen zu können, müssen die Diktatoren schnell gewinnen. Die Douhet-Theorie bot ihnen die Hoffnung, daß ein schneller Sieg möglich sei. Die Bedeutung der Ereignisse vor Madrid ist also klar. Der faschistische Überfall auf Spanien bot die erste Gelegenheit, die faschistische Theorie in einem Krieg gegen ein europäisches Volk anzuwenden, und diese Theorie w u r d e insoweit angewendet, als Franco fähig war, sie anzuwenden. Er besaß nicht das Geschwader von 200 Flugzeugen, von dem Douhet schrieb, doch er schickte wenigstens fünfzig Flugzeuge gleichzeitig über Madrid. Er besaß nicht die Tonnen von Bomben, die Douhet sich vorstellte, doch Bomben genug. Und das Ergebnis kennen wir. Das Ergebnis kennt die Welt. Es wurde jetzt jedermann deutlich gemacht, daß moderne Vervollkommnungen der Waffen, und besonders der Luftwaffen, dem Angreifer nicht den ausschlaggebenden Vorteil des Anfangs geben, wie vermutet. Es steht nun fest, daß Aggressoren nicht hoffen können, einen großen Krieg über Nacht zu gewinnen, indem sie Zivilisten ermorden und den nationalen „Kampfwillen" brechen. Es steht nun fest, daß die Diktatoren damit rechnen müssen, auf hartnäckigen Widerstand zu stoßen und einen langen Krieg führen zu müssen, wenn sie angreifen. Es steht nun fest, daß die Faschisten mit einem Risiko angreifen müssen. Doch diese Tatsache, die für die Zukunft nicht nur der europäischen Demokratien sondern auch unserer eigenen so wichtig ist, wurde nicht in einem Laboratorium ergründet. Sie wurde nicht beim Zielschießen auf einem Übungsplatz demonstriert. Sie wurde auf Kosten von Menschenleben und gegen den Mut des Volkes von Madrid bewiesen. Es ist das Volk Spaniens, das bereits einen der großen Siege gegen den Faschismus errungen hat. Wie dann können wir, die von diesem Sieg profitieren, behaupten, es sei nicht unser Krieg? Wie dann können wir unsere Hilfe denjenigen verweigern, die unsere Schlachten schlagen — die unsere Schlachten tatsächlich j e t z t schlagen, j e t z t , nicht in irgend einem zukünftigen Krieg — sondern j e t z t , j e t z t in Spanien?
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2 Donald Ogden Stewart Das abschreckende Beispiel Ich neige zu der Auffassung, daß meine Funktion auf einem Schriftstellerkongreß die eines abschreckenden Beispiels ist. Sie werden sich erinnern, daß man früher bei den Enthaltsamkeitsvorträgen 276 stets einen hinfalligen, zugrundegerichteten, schäbig aussehenden Gentleman zu präsentieren pflegte als lebenden Beweis: „der Schrecken des Alkohols". Nun, ich stelle mir vor, daß der Zweck meiner Anwesenheit in dieser erlauchten Gesellschaft genau der ist — natürlich nicht, um die Wirkung des Alkohols auf einen Schriftsteller zu bezeugen —, ich k ö n n t e das auch —, sondern um Ihnen zu zeigen, was für ein schrecklicher Mensch ein Schriftsteller nach zehn Jahren erfolgreichen kommerziellen Schreibens werden kann, so daß Sie, wenn Sie heute abend schaudernd zu Bett gehen, niederknien und beten können: „Lieber Gott, laß mich nicht so werden wie Donald Ogden Stewart. Amen." Also Leute, ich bin hier, um Euch zu sagen, daß ich gar nicht die Absicht hatte, ein erfolgreicher kommerzieller Schriftsteller zu werden. Ich hatte ein gutes Zuhause, ehrliche und angesehene Eltern, und als ich Schriftsteller wurde, waren meine Freunde stolz auf mich, und viele dachten, daß ich den Großen Amerikanischen Roman schreiben würde. Das war vor etwa fünfzehn Jahren, und zu der Zeit gab es etwas, das sich die „jüngere Generation" nannte. Ich glaube nicht, daß sich jemand von Ihnen dieser jüngeren Generation entsinnt; dennoch waren wir nicht wenige und standen alle im Begriff, den großen amerikanischen Roman zu schreiben, und wir fuhren umher und hielten in verschiedenen Buchläden Reden, die mehr oder weniger diese Tatsache verkündeten, und einige von uns gingen sogar so weit, von Verlegern Vorschüsse anzunehmen. Ich habe meinen Vorschuß noch immer, und gelegentlich erhalte ich deswegen sehr nette und sehr geduldige Briefe von meinem Verleger, und bei der Erwiderung derselben pflege ich seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, daß viele Schriftsteller erst in sehr hohem Alter gute Sachen schreiben. Ich ersuche ihn, das Beispiel William de Morgans zu betrachten, der zweiundachtzig wurde, ehe er einen Roman schrieb, und er betrachtet William de Morgan und seufzt und beachtet das. Auf diese oder ähnliche Weise scheint der große amerikanische Roman uns umgangen zu haben — zumindest diejenigen von uns aus der jüngeren Generation, die das Wort vom großen amerikanischen Roman im Munde führten. Und wenn ich nun versuche, dasjenige, was damals schiefgelaufen ist, zu analysieren — wie es kommt, daß ich heute abend ein a b s c h r e c k e n d e s B e i s p i e l bin, so kann ich vielleicht der jetzigen jüngeren Generation einigermaßen hilfreich sein und kann vielleicht das, was ich von der League of American Writers und der Bedeutung dieses Kongresses halte, zur Sprache bringen. Wir von der lange verlorenen, jüngeren Generation begannen, wie Sie sich vielleicht erinnern, mit unserer großen Enttäuschung über den Krieg und einer 249
Verachtung für jedes Interesse an politischen Dingen, die wir für weniger wichtig hielten. Wir verkündeten unsere Entschlossenheit, den Grundtatsachen des Lebens auf die Spur zu kommen und von diesen zu berichten. Nun, als Grundtatsachen des Lebens gelten bekanntlich Hunger und Sex, und ich überlasse es Ihnen zu erraten, was wir von beiden wählten, um darüber zu schreiben. Ich erinnere mich noch einer Rede, die einer von uns hielt — ich glaube, es war bei Wanamaker's 277 in der Buchwoche —, in der er mit äußerster Ernsthaftigkeit verkündete, daß wir von der jüngeren Generation die Wahrheiten des Lebens ergründen wollten, und dann sagte er mit dem Finger ins Publikum weisend: „Nun haltet euch an den Sex." Nun — wir hielten uns daran —, und das war ein ganz schöner Abstecher. Doch der Ärger war, wir saßen auf einem Karussell und wußten es nicht — auf einem Karussell, das eine sehr schöne Melodie spielte, wirklich eine so schöne Melodie, daß wir lange brauchten, bis wir entdeckten, daß es immer dieselbe war und daß wir im Grunde nirgendwo ankamen. Selbstredend befand sich der größte Teil Amerikas auf demselben Karussell, und es war nicht völlig unsere Schuld, wenn wir die zweite Grundtatsache des Lebens, den Hunger, übersahen. Alle Welt, auch die Schriftsteller, verdienten Geld — alle Welt genoß das Vergnügen, und der Vorrat an goldenen Ringen schien unerschöpflich. Dann kam, was heute komischerweise als der große Krach bezeichnet wird, und viele Menschen entdeckten plötzlich den Hunger. Und einige der Klügeren entdeckten, daß Amerika nicht mehr das Land der Verheißung jvar und daß ein sehr erfolgreiches Experiment zum Zwecke einer besseren Welt an einem Orte stattfand, der als die Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken bekannt geworden war. Natürlich hatte es zuvor einige prophetische Stimmen gegeben, die in unserer Wildnis riefen: die Stimme John Reeds, die Stimme Lincoln Steffens, der von Rußland zurückgekehrt 278 war und verkündet hatte, daß er die Zukunft gesehen habe und daß sie funktioniere, und es hatte unter uns von der jüngeren Generation einige gegeben, die diesen Stimmen gelauscht hatten. Aber nicht ich. Nicht Donald Ogden Stewart. Ich hatte den Sozialismus nicht entdeckt. Ich hatte Hollywood entdeckt, und das war auch eine sehr schöne Entdeckung. Natürlich wußte ich etwas über den Sozialismus — ich hatte mich in Yale über ihn informiert, und nach Yale ging ich natürlich ins Wertpapiergeschäft. Ich war mächtig froh, den Sozialismus in Yale studiert zu haben, denn dort hatte man mir ziemlich schlüssig bewiesen, daß der Sozialismus keinen Erfolg haben könne, und das war für einen jungen Agenten für Wertpapiere eine ziemlich befriedigende Lösung. So wandte ich meine Blicke, statt sie nach Moskau zu richten, nach Hollywood und gab meine Arbeit am großen amerikanischen Roman zeitweilig — nur zeitweilig, versteht sich — auf, da ich für nur fünf oder sechs Wochen nach Hollywood gehen wollte, um genug Geld zu verdienen, um das zu schreiben, „was ich eigentlich wollte". Also das war, wie man in den Comics sagt, vor fünf Jahren, und wenn Sie wissen möchten, wie es in Hollywood ist, so sage ich, sehr angenehm. Eine der besten 250
Darstellungen des Lebens in Hollywood und seiner Wirkung auf Schriftsteller findet sich wohl in einem neueren Film mit dem Titel Lost Horizon (Verlorener Horizont)219. Vielleicht haben Sie das Buch gelesen — oder vielleicht haben Sie den Film gesehen —, jedenfalls geht es um ein Kloster in Tibet — ein Kloster, in dem wenige weise alte Mönche alle Weisheit der Welt für die Nachwelt bewahren. Es ist eine Art Schrein für alles, was es wert ist, von unserer Zivilisation aufbewahrt zu werden. Wenn man nun diesen Film auf der Leinwand sieht und dieses Kloster betrachtet, das ein Speicher alles Wertvollen diesen Lebens ist, so merkt man plötzlich, daß sie den Bel-Air Bay Club in Kalifornien als Muster genommen haben. Da befindet sich ein Swimming Pool und ein hübsches Mädchen, das nur sparsam bekleidet umherläuft, da kann man reiten; und alle fühlen sich ständig wohl: Es gibt keinen Verdruß. Das nenne ich dem südkalifornischen Leben den gebührenden Respekt erweisen, und das erklärt in gewisser Weise auch den Reiz, den diese Gegend für einen Schriftsteller besitzt. Es gibt natürlich auch einen gewissen finanziellen Reiz, aber das brauche ich Ihnen nicht im Geiste der Kritik zu sagen, denn wir Hollywood-Schriftsteller sind gegenüber Kritik von Leuten aus dem Osten, die unsere „Probleme" nicht verstehen, sehr empfindlich. Und nicht nur die Autoren sind empfindlich, auch die Produzenten sind es: Die Produzenten sind äußerst empfindlich, nicht nur gegenüber Kritik, sondern gegenüber allem, was als radikales Denken ausgelegt werden kann. Die Produzenten sind alle hundertprozentige Amerikaner und alle sehr entschlossen, die Verfassung hochzuhalten, und sehr entschlossen, alles Radikale von Hollywood fernzuhalten, vor allem deshalb, weil Radikalismus oft zu solchen Dingen wie der Gründung von Gewerkschaften führt. Und wenn man in den Verdacht gerät, ein Kommunist zu sein, ist es natürlich aus mit dem Geschäft. Darum hoffe ich, daß nichts von dem, was ich sage, jemand den geringsten Anlaß gibt, in Hollywood zu hinterbringen, daß ich auch nur eine Spur radikal sei. Und was den Kommunisten betrifft, so braucht mich nur jeder anzuschauen, um zu wissen, daß ich keiner bin. Warum sollte ein Schriftsteller, der die dort üblichen Honorare bezieht, es darauf ankommen lassen, seinen Produzenten zu reizen und seinen Job zu verlieren? Warum sollte ein Schriftsteller es riskieren, die Chance zu verlieren, in einem spanischen Haus mit einer Garage für drei Wagen und Tennisplatz — und einer täglichen Massage — zu leben, wenn man sich dabei auch noch beständig wohl fühlt. Ich will nur, daß Sie mit Sicherheit begreifen, daß alles, was ich heute abend sage, tatsächlich nichts mit Amerika zu tun hat. Ich rede nur von einem mythischen Königreich: Mein letzter Film war The Prisoner of Zenda (Der Gefangene von Zenda)2S0, und in Sachen mythischer Königreiche bin ich eine ziemliche Autorität. Und wenn ich zufallig etwas über ein Thema wie den Kapitalismus sagen sollte, so versteht es sich von selbst, daß es nur ein „mythischer" Kapitalismus ist. In der Tat habe ich über diesen mythischen Kapitalismus nichts sonderlich Kritisches zu sage , außer, daß ich Sie natürlich daran erinnern möchte, daß wir die 251
Aussage vieler kluger Berufskollegen haben, wonach er ein Ungeheuer ist, ein sterbendes Ungeheuer, daß in seinem Todeskampf den Faschismus gebiert, und daß es das erklärte Ziel jeden Schriftstellers und jedes Menschen sein sollte, den Faschismus mit allen ihm zur Verfügung stehenden Waffen zu bekämpfen. Wie Sie vielleicht vermuten werden, war ich mir dieser Tatsache nicht immer bewußt; mein großer Amerikanischer Roman war ursprünglich als heroischer Roman gedacht, dessen Gestalten Helden und Heldinnen des kapitalistischen Amerikas waren. Ich war irgendwie auf den Gedanken gekommen — wohl dadurch, daß ich einige Jahre in Europa gelebt hatte —, daß der Kapitalismus in Amerika in voller Blüte stände, daß ich in einem großen Zeitalter lebte — in einer Art elisabethanischem Zeitalter oder der Renaissance, und daß ich, vom schöpferischen Standpunkt aus betrachtet, in der glücklichen Lage war, dieser Blüte Ausdruck zu verleihen, genauso wie Shakespeare das elisabethanische Zeitalter und Michelangelo die Renaissance repräsentierten. Natürlich hielt ich mich für keinen Shakespeare oder Michelangelo — doch ich erinnere mich noch, wie verärgert ich über solche minderwertigen Schriftsteller wie Theodore Dreiser und John Dos Passos war, die ständig über Leute, die an diesem Leben gescheitert waren, schrieben, statt kapitalistische Helden zu schaffen, die allem, was an dieser „Blüte" unseres Zeitalters gut und groß war, Ausdruck verleihen. Ich entsinne mich noch, wie besonders verärgert ich über Dreisers An American Tragedy (Eine Amerikanische TragödieJ281 war und wie ich beschloß, eine „Amerikanische Komödie" zu schreiben, in der sich der Held vor die gleichen Probleme wie Dreisers Held gestellt sah, und in der er sie mühelos bewältigen würde. Ich beschloß, daß die Waffe, die mein Held besitzen würde, eine Waffe sein würde, die bei Herrn Dreisers Figur so offenbar fehlte: der Sinn für Humor. Mein Held sollte sich das Leben erobern, weil er einen Sinn für Humor besaß; er würde sich über alle Schrecken und Tragödien des Lebens lachend hinwegsetzen. Nun, dieser Entschluß, dieser Wunsch, einen Helden zu schaffen, der über das Leben triumphieren würde, weil er einen Sinn für Humor besaß, erwies sich als ein sehr bedeutsamer Kommentar zu dieser „Blüte" des Kapitalismus, von der ich dachte, daß sie stattfände, und wenn Sie gestatten, so möchte ich mich ein oder zwei Minuten mit jenem großen amerikanischen Gott, dem Sinn für Humor, befassen, denn das ist offensichtlich die einzige Eigenschaft, die wir Amerikaner mehr als alles andere bewundern; es ist eine Eigenschaft, für die wir lieber sterben als ihren Mangel eingestehen würden. Ich kenne mich in Dingen des Humors zufallig ein wenig aus, weil ich, bevor ich nach Hollywood ging, ein Humorist zu sein pflegte. Ich sage, „bevor ich nach Hollywood ging", denn als ich dort herauskam, herausgebracht wurde, weil ich gewisse humoristische Bücher geschrieben hatte, ließ man mich einen Film mit dem Titel Smiliri Through machen und danach noch einen Lacherfolg The White Sister, worauf der mit den Barretts of Wimpole Street282 folgte, so daß ich nicht mehr eigentlich als Humorist galt, vielmehr als jemand, der die Leute zum Weinen brachte. Auch das zahlt sich gut aus, so daß ich mich nicht beklage, doch in jener Zeit habe ich einmal 252
eine Menge Informationen über Humor gesammelt und ich habe seitdem viel darüber nachgedacht, und das eine, wovon ich hinsichtlich des Humors und eines Sinnes für Humor überzeugt bin, ist, daß er auf einem Gefühl der Niederlage, auf einem Bewußtsein der Verzweiflung beruht. Ich glaube, daß ein Mensch es erst dann lernt, die Probleme des Lebens humoristisch zu betrachten, wenn er zuzugeben beginnt, daß er besiegt ist. Dann lernt er es, als Schutz gewissermaßen, über sein Ziel und sich selbst sowie darüber zu lachen, daß er es jemals zu erreichen glaubte. Eine humoristische Lebensauffassung ist meiner Ansicht nach einfach eine Kompensation für die Tatsache, daß das Leben schrecklich, unmöglich ist und daß man nichts daran zu ändern vermag. Um das an einem kleinen Beispiel zu veranschaulichen: Eine Fußballmannschaft auf der Drei-Yard-Linie des Gegners bei einem Stand von null zu null und nur noch einer Spielminute wird, wenn sie es nicht schafft, einen Vorteil für sich zu verbuchen, das k a u m für etwas Spaßiges halten. Da ist die Ziellinie, da ist der Sieg — da sieht man sie nicht sich mit einem gelassenen Lächeln im Gesicht aufstellen. Doch eine Mannschaft, die 75:0 geschlagen wird, wird wohl plötzlich eine humoristische Seite an der ganzen Sache entdecken. „Los Jungs, laßt die Köpfe nicht hängen, ist schließlich ja doch bloß ein Spiel." Ich könnte Ihnen noch viele weitere Beispiele für die Richtigkeit dieser Behauptung anführen. Doch mein Hauptargument ist, daß unser großer nationaler Vorzug — auf den wir als Volk immer so stolz sind — eigentlich eine Eigenschaft ist, die ihren Ursprung und ihre Entwicklung einem Gefühl der Niederlage und Verzweiflung verdankt — und es war genau diese Eigenschaft, die ich nutzen wollte, um aus meinem amerikanischen Helden ein Symbol all dessen zu machen, was an der vollen Blüte des Kapitalismus das Wertvollste ist. Das war der Mann, der den besiegten Pygmäen Dreisers die richtige Art, in unserer Zeit glücklich zu werden, zeigen sollte. Das war die richtige Lebensweise im Amerika des Jahres 1925. Nun war das natürlich nur m e i n e Konzeption eines Helden und dies auch nur aus Protest gegen die unterlegenen, unglücklichen Helden unserer bedeutenden ernsthaften Romanschriftsteller. Vielleicht liegt ihre einzige Bedeutung in der Tatsache, daß bei diesem vereinzelten Versuch Mittel und Wege zu schaffen, den Tragödien im Leben des heutigen Amerika zu begegnen, gleichzeitig ein Individuum heraufbeschworen wurde, dessen Abhängigkeit von fremder Hilfe genauso groß war wie die eines Buddhisten, der durch Nabelschau die Übel der Welt zu überwinden trachtet; doch es bildete in beiden Fällen einen merkwürdigen Kommentar zu dem ihn umgebenden Leben, das die Waffen des Helden so völlig defensiv macht und zu solch vollständiger Untätigkeit führt. Die Religion kann Opium fürs Volk sein — doch ein Sinn für Humor genauso —, und beide sind in Zivilisationen und unter Bedingungen entstanden, in denen das Leben unerträglich geworden war. Selbstredend beschuldige ich die erfolgreichen Kapitalisten nicht, den Humor als nationales Erfordernis eingeführt zu haben, damit der Durchschnittsbürger 253
hinsichtlich gewisser offenbarer Ungerechtigkeiten in Untätigkeit eingelullt wird, genauso wenig wie ich behaupte, daß unsere sogenannte liberale Erziehung die gleiche Wirkung dadurch erreicht, daß sie einen lehrt, liberal zu sein und beide Seiten einer Frage zu sehen, in dem Ausmaße, daß man dann „nie irgend etwas ändert". Doch die Wirkung ist die gleiche. Ich verließ das College mit einer liberalen Bildung und einem Sinn für Humor, und ich kann mir keine bessere Vorbereitung für die Sklaverei eines jungen Mannes denken als diese beiden erstrebenswerten Besitztümer des amerikanischen Bürgers. Natürlich meine ich nicht tatsächlich „Sklaverei", denn das würde eine Kritik des kapitalistischen Systems bedeuten, und ich sagte ja bereits, ich bin ganz und gar kein Radikaler. „Sklaverei" ist vermutlich bloß der Ausdruck, den die Kommunisten benutzen würden, um den Zustand zu beschreiben, in dem sich fünfundneunzig Prozent des amerikanischen Volkes befinden, und da ich kein Kommunist bin, so vermag ich meine Ansicht darüber nicht zu formulieren, außer daß ich sage, wenn das stimmt, so sollten die Schriftsteller etwas unternehmen. Ich las neulich einige der New England-Autoren aus der Zeit des Bürgerkrieges und war überrascht darüber, wie glücklich sie waren, einen Gegner angreifen zu können, den sie so deutlich sehen konnten. Als John Greenleaf Whittier seinen lauten Protest gegen die Sklaverei verkündete, war er durch die Tatsache, daß die Sklaverei etwas sehr entferntliegendes war, völlig geschützt. Der amerikanische Schriftsteller von heute, der das Vorhandensein dessen, was diese Kommunisten in der gegenwärtigen ökonomischen Situation die Sklaverei nennen, entdeckt, befindet sich unglücklicherweise in der Lage eines im Georgia des Jahres 1860 lebenden Schriftstellers, und nicht nur das, er befindet sich in der Lage eines im Georgia dieser Zeit lebenden Negerautors. Zufälligerweise, und um für einen Augenblick abzuschweifen, waren die Neger schon immer für ihren Sinn für Humor und ihre unbeschwerte Lebensauffassung bekannt. Wir besitzen dafür das Zeugnis ihrer Lehrer, und es ist für uns sicher sehr erfreulich, Bücher wie Gone With the Wind (Vom Winde verweht)2S3 zu lesen und uns unserer Überlegenheit über diese „unbeschwerten Burschen" abermals zu versichern, und ich bin überzeugt, wenn der Film Gone With the Wind uraufgeführt wird, werden weitere zahllose Millionen Menschen über die humorvollen Äußerungen jener Sklaven schmunzeln, genau wie unsere heutigen Humoristen uns in dem Maße gefallen, wie sie „niemandes Gefühle verletzen". Ich für meine Person kann mir keinen schöneren Beweis für die dämpfende Wirkung unseres Humors denken, als den Hinweis darauf, wie man unseren Humoristen sorgfaltig die Zähne gezogen hat, und als alle Zeit gültigen Kommentar zu diesem Thema verweise ich auf die Lobreden des kürzlich verstorbenen Will Rogers, dessen stolzestes Selbstlob besagte, daß er „nie jemandes Gefühle verletzt habe". Das heißt sich weit von Mark Twain entfernen. Als Mark Twain lebte, mag er das Gefühl gehabt haben, es bestände noch Hoffnung, daß etwas zu unternehmen sei, vielleicht durch „Reform". Heutzutage gibt es diese Hoffnung nicht mehr. 254
Das heutige Amerika ist ein Museum, in dem der Humorist vor der gegenwärtigen Dynastie den leutseligen Narren spielt oder in den milden, sanften Zynismus der Autoren des New Yorker284 fällt. Im Totenhaus besitzt man nicht mehr den Mut, eine laute Stimme zu erheben, gibt es keinen Grund mehr, das Dach zu reparieren, wenn die Fundamente sich zu senken beginnen. Es gibt vielleicht keinen besseren Beweis dafür als die Entstehung der sogenannten Crazy School of Humor, wohl einer der bedeutendsten Beiträge und wohl der nachdrücklichste zur „Blütezeit des Kapitalismus". Wenn ein Humorist tief in seinem Inneren spürt, daß es für sein Leben keinen Ausweg gibt, daß er von Sackgassen umgeben ist, so nimmt sein Humor etwas Aberwitziges, Phantastisches an; dann erschafft er in seiner äußersten Verzweiflung unlogische Traumwelten, und das Echo seines wahnwitzigen Gelächters hallt im leeren Hause wider. Vielleicht wird man in tausend Jahren entdecken, daß unser verrückter Humor der wichtigste Beitrag des amerikanischen Kapitalismus zur Welt der Literatur war. Ich habe angedeutet, daß der amerikanische Schriftsteller, selbst wenn er sich seiner wirtschaftlichen Versklavung bewußt ist, sich in der Lage eines zu Beginn des Bürgerkrieges im Süden lebenden Negerschriftstellers befindet, und, schlimmer noch, daß er sich in der Lage eines Negers befindet, dem man beigebracht hat, seine Ketten zu lieben oder zumindest nicht an sie zu denken. Wie ich des weiteren angedeutet, konzentriert sich unser ganzes Bildungswesen auf dem Gebiet der Künste und Literatur auf die Hervorbringung von „Liberalen". Und was die Angelegenheit betrifft, einem jungen Mann, der mittels seiner Existenz diese Welt verändern möchte, die Zähne zu ziehen, so gibt es, glaube ich, nichts Wirksameres als eine gute liberale Erziehung, aus der er hervorgeht, befähigt, beide Seiten eines Problems zu sehen, und infolgedessen befähigt oder mit dem Wunsche ausgestattet, auf keiner zu handeln. Wenn ich ein Kommunist wäre — und selbstredend bin ich keiner —, wenn ich jedoch einer wäre und die sogenannte revolutionäre Bewegung käme, so glaube ich, wäre unsere „liberale" Erziehung das erste, das ich würde ändern wollen. Es sind wirklich nicht die Reserve Officers' Training Corps und die Treueeide, und die Hearst-Zeitungen, 285 die unsere verheißungsvollen jungen Männer auch nur annähernd so zugrunde richten wie diejenigen Stätten, wo sie von einem Sinn für die Schönheit der Vergangenheit und die Vergeblichkeit der Zukunft umgeben werden — wo man ihnen beibringt, skeptisch zu lächeln und das Kunstvolle ihrer goldenen Fesseln zu bewundern. Doch nicht nur, daß der junge Mann, der Schriftsteller werden will, diesem sich selbst in Untätigkeit hineinargumentierenden Erziehungsprozeß ausgesetzt ist, er wird überdies auch noch durch die Tradition behindert, daß ein Schriftsteller auf diese oder jene Weise eine von anderen Menschen getrennte Person ist — eine Person, imstande, sich in ihren Elfenbeinturm 286 zurückzuziehen und die Welt zu betrachten, gänzlich frei von der Notwendigkeit, an ihr Anteil zu nehmen, gänzlich erhaben über die Forderungen solcher Dinge wie Ökonomie oder Politik oder Massenbewegungen. Wenn ich ein Kommunist wäre — oder wenn ich jemand mit einem bestimmten Programm zur Besserung der Menschheit wäre —, so wäre ich geneigt, die 255
Schriftsteller auf der Skala möglicher Hilfeleistung sehr niedrig zu plazieren. Ich möchte sagen, es ist eine definitive mathematische Gewißheit, daß, wenn man die Sowjetunion als Beweis für die Möglichkeit nimmt, den Sozialismus zu verwirklichen, und dann die Vereinigten Staaten nimmt, wo es eine große Anzahl von liberalen Intellektuellen und Schriftstellern gibt, die ein gewisses Maß materiellen Wohlstands genießen, man augenblicklich zahlreiche Methoden in die Welt setzt, an die Prinzipien des Sozialismus zu glauben, ohne die Notwendigkeit, an die Sowjetunion zu glauben. Solange, wie der Sozialismus eine vage, weitentfernte Utopie darbot, war für den Liberalen alles in bester Ordnung. Er konnte an den Sozialismus glauben, und er konnte weiter sein schönes kapitalistisches Leben führen, ja er konnte sogar auch an den Kapitalismus glauben. Doch als Lenin und Stalin ihre Träume Realität werden ließen, stand der intellektuelle Liberale vor der unbequemen Tatsache, daß es seine Pflicht war, j e t z t den nächsten Schritt zu unternehmen, und wir wurden nun Zeuge, wie die verschiedensten Systeme prächtig gediehen, nach denen es möglich war, an das Prinzip der Sowjetunion zu glauben und dennoch in ablehnender Haltung zu bleiben. Meine Botschaft an die Schriftsteller dieses Kongresses besteht in der Forderung, gegen den Faschismus aktiv zu werden, in der dringenden Bitte, sich einer aufrichtigen, ehrlichen Selbstprüfung zu unterziehen, damit jedermann sicher ist, daß er sich nicht in ein Traumland hineinargumentiert. Widmet man sich diesem gegen den Faschismus gerichteten Kampf, so eröffnet das grenzenlose Möglichkeiten, Quellen schöpferischer Energie anzuzapfen, die bislang durch ein allzu langes Festhalten an Spielregeln, wie sie eine sterbende Kultur bestimmte, verschlossen waren. Mögen alle Schriftsteller „das Museum verlassen und frischen Atem schöpfen und damit helfen, für andere die Tür zu öffnen".
3 Earl Browder Der Schriftsteller und die Politik Schriftsteller können von den Kämpfen, die die Welt jetzt aufspalten und ihren Frieden und die Zivilisation unmittelbar bedrohen, nur Abstand nehmen um den Preis ihrer Entfernung vom Löben des Volkes, das heißt, von der Quelle aller Kraft in der Kunst. Wenn sich Schriftsteller davon entfernen, werden sie zwangsläufig — wenn auch in einigen Fällen vielleicht unwissentlich — zu Apologeten der Reaktion. Berufliche Wirkungslosigkeit, Unehrenhaftigkeit und Unziemlichkeit folgen, und der Schriftsteller muß, wenn er sich dessen bewußt wird, immer tiefer in die Erniedrigung hinein; er wird eingegliedert in die im Stechschritt marschierenden Kolonnen des Faschismus, der seine Siege, wie wir wissen, mit Bücherverbrennungen feiert. 256
Schriftsteller auf der Skala möglicher Hilfeleistung sehr niedrig zu plazieren. Ich möchte sagen, es ist eine definitive mathematische Gewißheit, daß, wenn man die Sowjetunion als Beweis für die Möglichkeit nimmt, den Sozialismus zu verwirklichen, und dann die Vereinigten Staaten nimmt, wo es eine große Anzahl von liberalen Intellektuellen und Schriftstellern gibt, die ein gewisses Maß materiellen Wohlstands genießen, man augenblicklich zahlreiche Methoden in die Welt setzt, an die Prinzipien des Sozialismus zu glauben, ohne die Notwendigkeit, an die Sowjetunion zu glauben. Solange, wie der Sozialismus eine vage, weitentfernte Utopie darbot, war für den Liberalen alles in bester Ordnung. Er konnte an den Sozialismus glauben, und er konnte weiter sein schönes kapitalistisches Leben führen, ja er konnte sogar auch an den Kapitalismus glauben. Doch als Lenin und Stalin ihre Träume Realität werden ließen, stand der intellektuelle Liberale vor der unbequemen Tatsache, daß es seine Pflicht war, j e t z t den nächsten Schritt zu unternehmen, und wir wurden nun Zeuge, wie die verschiedensten Systeme prächtig gediehen, nach denen es möglich war, an das Prinzip der Sowjetunion zu glauben und dennoch in ablehnender Haltung zu bleiben. Meine Botschaft an die Schriftsteller dieses Kongresses besteht in der Forderung, gegen den Faschismus aktiv zu werden, in der dringenden Bitte, sich einer aufrichtigen, ehrlichen Selbstprüfung zu unterziehen, damit jedermann sicher ist, daß er sich nicht in ein Traumland hineinargumentiert. Widmet man sich diesem gegen den Faschismus gerichteten Kampf, so eröffnet das grenzenlose Möglichkeiten, Quellen schöpferischer Energie anzuzapfen, die bislang durch ein allzu langes Festhalten an Spielregeln, wie sie eine sterbende Kultur bestimmte, verschlossen waren. Mögen alle Schriftsteller „das Museum verlassen und frischen Atem schöpfen und damit helfen, für andere die Tür zu öffnen".
3 Earl Browder Der Schriftsteller und die Politik Schriftsteller können von den Kämpfen, die die Welt jetzt aufspalten und ihren Frieden und die Zivilisation unmittelbar bedrohen, nur Abstand nehmen um den Preis ihrer Entfernung vom Löben des Volkes, das heißt, von der Quelle aller Kraft in der Kunst. Wenn sich Schriftsteller davon entfernen, werden sie zwangsläufig — wenn auch in einigen Fällen vielleicht unwissentlich — zu Apologeten der Reaktion. Berufliche Wirkungslosigkeit, Unehrenhaftigkeit und Unziemlichkeit folgen, und der Schriftsteller muß, wenn er sich dessen bewußt wird, immer tiefer in die Erniedrigung hinein; er wird eingegliedert in die im Stechschritt marschierenden Kolonnen des Faschismus, der seine Siege, wie wir wissen, mit Bücherverbrennungen feiert. 256
Es ist eine historische Wahrheit, daß große Literatur aus den Nöten, Kämpfen und Bestrebungen der großen Masse der Menschheit entstanden ist. Es ist eine unbestreitbare Wahrheit, daß Literatur heutzutage nur von denen geschaffen werden kann, die auf der Seite des Volkes gegen Reaktion, Faschismus und Krieg stehen. Der Elfenbeinturm 287 ist endgültig unter den Bomben Hitlers und Mussolinis zerstört worden. Kommunisten begrüßen diese große Bewegung der im Dienste des Volkes stehenden Schriftsteller von Herzen. Auf dem ersten Kongreß amerikanischer Schriftsteller288 haben wir deutlich verkündet, daß Kommunisten sich Schriftstellern keinesfalls mit dem Ehrgeiz nähern, aus ihnen Gewerkschaftsorganisatoren oder Verteiler von Flugblättern zu machen. Kommunisten stimmen aus vollem Herzen mit jenen überein, die sagen, Aufgabe des Schriftstellers ist es, zu schreiben — und zwar mehr und besser zu schreiben. Es wird sicher einige Schriftsteller geben, die ihren besten Stoff auf dem Wege unmittelbarer Teilnahme an den Kämpfen der Arbeiter und des Volkes finden werden; alle werden, unmittelbar oder mittelbar, in diesen Kämpfen die Quelle für ihre stärksten Werke finden. Doch jeder muß in zwangloser Beratung mit seinen Kollegen seinen eigenen Weg finden; Muster, Vorschriften und formale Kenntnisse sind auf dem Gebiet der Schriftstellerei noch wertloser als auf fast allen anderen Gebieten. Kommunisten sind die letzten, die Schriftsteller reglementieren wollen; diese müssen sich aus der gemeinsamen Erfahrug ihrer gemeinsamen Arbeit ihre eigene Methode erarbeiten. Wir müssen jedoch immer bedenken, daß der Kampf, zu dem wir verpflichtet sind, ein Krieg ist — ein Krieg mit Bomben und Maschinengewehrkugeln —, den die faschistischen Mächte schnell über immer größere Teile der Welt verbreiten. Schriftsteller müssen für die Probleme ihrer Arbeit ihre eigene Lösung entwickeln. Doch im Zusammenhang mit den beiden großen, kriegführenden Lagern, Demokratie gegen Faschismus, werden sie es für notwendig erachten, ihre eigne Arbeit der höheren Aufgabe des gesamten Ringens um Demokratie anzupassen. Sie müssen, was Inhalt und Methode ihrer Arbeit betrifft, ihre eigenen Entscheidungen treffen; doch sie sind ihren Mitmenschen dafür verantwortlich, daß ihre Arbeit tatsächlich der gemeinsamen Sache dient. Die Freiheit, die jeder Schriftsteller fordert, darf nicht Verantwortungslosigkeit werden. Jeder Schriftsteller muß die Ergebnisse seiner Arbeit seinen Gefährten und dem Volk gegenüber verantworten. Kommunisten fordern keine privilegierte Stellung unter Schriftstellern. Sie begrüßen die freie Zusammenarbeit von Schriftstellern aller Parteien. Sie fordern kein anderes Recht als das, die gleiche Ausdrucksfreiheit auszuüben, die sie bereitwillig allen anderen garantieren. Das ist die Grundlage für eine breite Einheit aller demokratischen und progressiven Kräfte gegen die wachsende Bedrohung durch die faschistische Barbarei, einschließlich derjenigen von uns, deren Ziele bis in die Zukunft, bis zur sozialistischen Revolution reichen. 17
New York 1935/37
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Gestatten Sie mir, die kommunistische Haltung deutlich zu veranschaulichen, indem ich konkret auf eine, in der New Republic vom 9. Juni veröffentlichte Anschuldigung gegen die Kommunisten und insbesondere gegen mich selbst eingehe. 289 Ich ziehe dieses Beispiel dem hysterischen Geschrei der Trotzkisten vor, das nur in derselben Weise wie ähnliche Ausbrüche Senator Royal Copelands und AI Smiths zu beantworten ist. In der New Republic finden wir von Reinhold Niebuhr verfaßte Anschuldigungen gegen Kommunisten, die nicht, wie es heute Mode geworden ist, gleichzeitig über den ganzen Schriftstellerkongreß, die fortschrittliche Bewegung und sogar über die Maßnahmen des Roosevelt-Regierung ausgegossen werden. Herr Niebuhr ist etwas nüchterner, und seine offenkundige Ehrlichkeit verdient eine offene und deutliche Antwort. Reinhold Niebuhr erhebt den Vorwurf, daß „die Ähnlichkeiten zwischen kommunistischer und katholischer Orthodoxie täglich augenscheinlicher werden". Weil ich mich in sehr scharfen Worten gegen einen Antrag Waldo Franks aussprach, daß ich mich seiner Ablehnung der Beweismittel und des Urteils des Obersten Gerichts der Sowjetunion im Prozeß gegen die trotzkistischen Räuber und Spione des Faschismus anschließen sollte, folgerte Herr Niebuhr, daß „Herr Browder sich zweifellos einbilde, eine allmächtige Exkommunizierung auszusprechen". Er sieht darin die Entscheidung des „Politikers", der „den Künstler mit herablassender Mißachtung entläßt". Der in Waldo Franks Brief dargestellte Vorgang und meine Antwort sind rein politisch. Die Briefe werden veröffentlicht, damit alle sie lesen und sich ein Urteil bilden können. Diejenigen, die Herrn Frank zustimmen, werden sicher, so wie Herr Niebuhr es getan hat, mich „exkommunizieren", wenn wir seine theologische Terminologie einmal akzeptieren; diejenigen, die meiner Ansicht sind, werden in ähnlicher Weise Herrn Frank „exkommunizieren", und zwar in dem gleichen Sinne. Doch warum Herr Niebuhr darin das Problem „Politiker gegen Künstler" sieht, ist nur mit der Annahme zu erklären, daß er für den Künstler das Sonderrecht fordert, sich frei und ungehindert auf dem Gebiet schärfster politischer Kämpfe zu bewegen, ohne jemand Verantwortung schuldig zu sein. Nach dieser Theorie darf der Künstler es wagen, eine ganze Regierung, noch dazu eine sozialistische Regierung, anzuklagen und als Richter die größten juristischen Kapazitäten der bürgerlichen Welt vorzuschlagen, die keinerlei Beziehung zur revolutionären Politik haben; und nur weil er ein Künstler ist — sogar ein „großer Künstler" — sollen wir solchen Unsinn mit respektvoller Rücksichtnahme behandeln. Genauso wie Politiker sich in der künstlerischen Welt nur auf Grund ihrer künstlerischen Verdienste bewegen können, kann auch der Künstler in der Politik nur kraft seines politischen Arguments operieren. Er besitzt in dieser Hinsicht keinerlei Privilegien. Sollte ich zufällig einen sehr schlechten Roman schreiben, so wird ihn Herr Frank als Künstler hoffentlich mit der gleichen Schärfe kritisieren, die ich gegen seine sehr schlechte Politik gerichtet habe. Das Problem ist nicht Politiker gegen Künstler, es besteht auch nicht in einer Fronststellung von Kommunistischer Partei gegen den Künstler. Die Probleme, die 258
uns beunruhigen, sind Bestandteil des Kampfes des Volkes gegen Reaktion und Faschismus. Die Fragen der Methode, die manche Leute beunruhigen, haben nicht die Kommunisten aufgeworfen, sie ergeben sich aus den Notwendigkeiten des Kampfes. In ihrer einfachsten Form gehört die Erforderlichkeit dazu, daß die demokratische Front, wenn sie gegen den offen vor uns stehenden Gegner kämpft, nicht hinterrücks von denjenigen angegriffen wird, die vorgeben, auf unserer Seite zu stehen. Ein typisches Beispiel dafür liefert die jüngste Erhebung der Trotzkisten und ihrer anarchistischen Bundesgenossen gegen die Regierung des spanischen Volkes. Ist es uns möglich, eine Haltung breiter Toleranz gegenüber denjenigen einzunehmen, die solchen Verrat predigen und praktizieren, die in Wirklichkeit zu Agenten der Faschisten werden? Es ist für die Mehrzahl von uns, denke ich, klar, daß kein Argument und keine Erwägung irgendwelcher Art einen Verrat dieser offenen Art rechtfertigen kann. Wer ihn verteidigt, hat keinen Platz in der antifaschistischen, prodemokratischen Front. Zu den Hunderttausenden von Franco-Opfern kamen auf einen Schlag neunhundert Tote hinter der Front, die auf das Konto der Trotzkisten gehen. Was nützt es, wenn das Ben-Leider-Bataillon, das AbrahamLincoln-Bataillon und die Internationalen Brigaden nach Spanien gehen, um die spanische Republik zu stützen, wenn wir zu Hause mit denjenigen fraternisieren, die einen Aufstand gegen diese selbe Regierung organisieren helfen? Kommunisten wünschen keine wie immer auch gearteten Beziehungen mit solchen Verrätern, und darin wissen sie sich mit allen ehrlichen Demokraten einig. Das ist keine Frage privater Disziplin von Kommunisten, das ist die jedem Gegner des Faschismus auferlegte Disziplin. Natürlich kann man nicht alle, die diese grundlegende Disziplin brechen, als Trotzkisten klassifizieren. Es gibt Harmlose, die sich in das Niemandsland zwischen den Gräben verirren. Sie geraten ins Feuer beider Seiten. Sie empören sich über solche Ungerechtigkeit. Sie, die Wahrheitssucher, müssen dahin gehen, wohin sie ihre Nase führt, oder, um es mit ihren Worten zu sagen, wo die Wahrheit heilig ist. Doch solche sanften Seelen müssen gewarnt werden, in einem Ton, der scharf genug ist, sie darauf aufmerksam zu machen, daß sie eine ähnliche Rolle spielen wie das faschistische Schlachtschiff Deutschland, das zu Beginn der faschistischen Invasion in Spanien zwischen den Schiffen der Loyalisten und Francos Transportern manövrierte und zu den Loyalisten sagte: „Ihr könnt nicht auf euren Gegner feuern, ohne auch auf mich zu feuern." Sie unterstützen den Faschismus, wie unschuldig ihre Absichten im Gegensatz zu den diabolischen Plänen Hitlers auch sein mögen. Sie fordern uns auf, das Feuer einzustellen, während sie die Seele des Feindes ergründen, auf der Suche nach der reinen Wahrheit. Doch der Faschismus stellt nie sein Feuer ein. Nur wir im demokratischen Lager sind noch immer so von unseren schwächeren Geschwistern verwirrt, daß wir es bisweilen dulden, wenn unsere Linien von Sentimentalisten und Wirrköpfen durchbrochen werden. Den Preis für diese Schwäche zahlen wir mit dem Leben und dem Blut Tausender unserer Genossen. 17»
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Ohne grundsätzliche Disziplin in der demokratischen Front, die die Front gegen Faschismus und Krieg ist, ist der Sieg des Faschismus unvermeidlich. Kommunisten halten diese Disziplin von sich aus ein; sie bringen große Opfer, um sie aufrechtzuerhalten. Sie ordnen ihre eigenen Wünsche und Urteile der Notwendigkeit unter, eine geschlossene Front aller antifaschistischen Kräfte zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Sie versuchen nicht, ihre eigene Disziplin anderen Einzelpersonen oder Gruppen aufzuzwingen. Sie fordern eine gemeinsame Disziplin für das gesamte demokratische Lager, die eine Notwendigkeit für unseren gemeinsamen Sieg ist. Liegt darin irgend etwas der Literatur Fremdes? Ist das Reglementierung, ist das Intoleranz, heißt das den freien Geist der Wahrheit zerstören? Nein, im Gegenteil, das ist die Grundbedingung, ohne die alle Kultur, das heißt, die soziale Organisation der Wahrheitssuche, zum Untergang verurteilt ist. Kultur, die Suche nach immer höherer Wahrheit, ist kein Feind von Disziplin und Ordnung, sie ist nicht anarchistisch ; sie ist ganz im Gegenteil der Schöpfer von Organisation und Disziplin, sie ist das Instrument, durch das die fortschrittlichen und demokratischen Kräfte sich konsolidieren, sie ist das Kennzeichen unseres Lagers im Unterschied zu dem der Faschisten. Diejenigen, die im geheiligten Namen der Freiheit unsere Einheit angesichts der Bedrohung durch Faschismus und Krieg zerstören wollen, tragen zur Zerstörung jeder Freiheit bei. Die größte Literatur unserer Zeit wird genau folgendes behandeln : die künstlerische Neuschaffung des tatsächlichen, im Volke vor sich gehenden Prozesses der Entwicklung einer breiten, einheitlichen, demokratischen Front gegen den Faschismus sowie zur Herbeiführung von dessen Niederlage. Diese Literatur wird von einem neuen Geist beseelt sein ; Ankündigungen dieses Geistes finden sich in den prächtigen Briefen, die uns von den jungen Kämpfern des Lincoln-Bataillons erreichen. Diese Literatur wird vom Glauben an die schöpferische Macht der Massen durchdrungen sein, und eines ihrer Hauptthemen werden die dramatischen Veränderungen in der Welt sein, wie sie von der schöpferischen Kraft der Massen, wenn diese organisiert, diszipliniert und zielgerichtet ist, bewirkt werden. Und ein weiteres bedeutendes Thema wird die freie Entfaltung der Individuen sein, dessen Energien und Talente, statt daß sie verkümmern oder verkrüppelt werden, endlich freigesetzt werden.
4 Ernest Hemingway Der Schriftsteller und der Krieg Das Problem eines Schriftstellers ändert sich nicht. Er selbst ändert sich, doch sein Problem bleibt dasselbe. Es besteht imirter darin, wie man wahrhaft schreibt und wie man, wenn man die Wahrheit gefunden hat, sie so darstellt, daß sie ein Teil der Erfahrung desjenigen wird, der sie liest.
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Ohne grundsätzliche Disziplin in der demokratischen Front, die die Front gegen Faschismus und Krieg ist, ist der Sieg des Faschismus unvermeidlich. Kommunisten halten diese Disziplin von sich aus ein; sie bringen große Opfer, um sie aufrechtzuerhalten. Sie ordnen ihre eigenen Wünsche und Urteile der Notwendigkeit unter, eine geschlossene Front aller antifaschistischen Kräfte zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Sie versuchen nicht, ihre eigene Disziplin anderen Einzelpersonen oder Gruppen aufzuzwingen. Sie fordern eine gemeinsame Disziplin für das gesamte demokratische Lager, die eine Notwendigkeit für unseren gemeinsamen Sieg ist. Liegt darin irgend etwas der Literatur Fremdes? Ist das Reglementierung, ist das Intoleranz, heißt das den freien Geist der Wahrheit zerstören? Nein, im Gegenteil, das ist die Grundbedingung, ohne die alle Kultur, das heißt, die soziale Organisation der Wahrheitssuche, zum Untergang verurteilt ist. Kultur, die Suche nach immer höherer Wahrheit, ist kein Feind von Disziplin und Ordnung, sie ist nicht anarchistisch ; sie ist ganz im Gegenteil der Schöpfer von Organisation und Disziplin, sie ist das Instrument, durch das die fortschrittlichen und demokratischen Kräfte sich konsolidieren, sie ist das Kennzeichen unseres Lagers im Unterschied zu dem der Faschisten. Diejenigen, die im geheiligten Namen der Freiheit unsere Einheit angesichts der Bedrohung durch Faschismus und Krieg zerstören wollen, tragen zur Zerstörung jeder Freiheit bei. Die größte Literatur unserer Zeit wird genau folgendes behandeln : die künstlerische Neuschaffung des tatsächlichen, im Volke vor sich gehenden Prozesses der Entwicklung einer breiten, einheitlichen, demokratischen Front gegen den Faschismus sowie zur Herbeiführung von dessen Niederlage. Diese Literatur wird von einem neuen Geist beseelt sein ; Ankündigungen dieses Geistes finden sich in den prächtigen Briefen, die uns von den jungen Kämpfern des Lincoln-Bataillons erreichen. Diese Literatur wird vom Glauben an die schöpferische Macht der Massen durchdrungen sein, und eines ihrer Hauptthemen werden die dramatischen Veränderungen in der Welt sein, wie sie von der schöpferischen Kraft der Massen, wenn diese organisiert, diszipliniert und zielgerichtet ist, bewirkt werden. Und ein weiteres bedeutendes Thema wird die freie Entfaltung der Individuen sein, dessen Energien und Talente, statt daß sie verkümmern oder verkrüppelt werden, endlich freigesetzt werden.
4 Ernest Hemingway Der Schriftsteller und der Krieg Das Problem eines Schriftstellers ändert sich nicht. Er selbst ändert sich, doch sein Problem bleibt dasselbe. Es besteht imirter darin, wie man wahrhaft schreibt und wie man, wenn man die Wahrheit gefunden hat, sie so darstellt, daß sie ein Teil der Erfahrung desjenigen wird, der sie liest.
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Es gibt nichts Schwierigeres, und wegen dieser Schwierigkeit ist die Belohnung dafür, ob sie nun früh oder spät kommt, gewöhnlich sehr groß. Kommt sie früh, so wird der Schriftsteller oft dadurch zugrunde gerichtet. Kommt sie zu spät, so ist er wahrscheinlich verbittert. Manchmal kommt sie erst nach seinem Tod, und dann kann sie ihn nicht mehr belästigen. Doch wegen der Schwierigkeit, unter der ein schriftstellerisches Werk von wahrem, bleibendem Wert entsteht, ist der wirklich gute Schrifsteller sich seiner irgendwann einmal erfolgenden Anerkennung stets sicher. Nur Romantiker glauben, daß es so etwas wie unbekannte Meister gibt. Wirklich gute Schriftsteller finden unter fast jeder existierenden Regierungsform, die sie ertragen können, ihre Belohnung. Es gibt nur eine Regierungsform, die keine guten Schriftsteller hervorbringen kann, und das ist der Faschismus. Denn der Faschismus ist eine von Tyrannen vorgebrachte Lüge. Ein Schriftsteller, der nicht lügen will, kann unter dem Faschismus weder leben noch arbeiten. Weil der Faschismus eine Lüge ist, ist er zur literarischen Unfruchtbarkeit verurteilt. Wenn er zu Ende ist, wird er keine Geschichte außer der blutigen Geschichte des Mordens haben, die wohl bekannt ist, und die einige von uns in den letzten Monaten mit eigenen Augen gesehen haben. Ein Schriftsteller, der weiß, wofür und wie ein Krieg geführt wird, gewöhnt sich allmählich an diesen. Das ist eine ernsthafte Wahrheit, die man da entdeckt. Man ist bestürzt, zu entdecken, wie sehr man sich daran gewöhnen kann. Wenn man täglich an der Front ist und den Schützengrabenkrieg, die offene Kriegsführung, die Angriffe und Gegenangriffe sieht, so ergibt das alles einen Sinn, wieviel Tote und Verwundete es auch kosten mag, wenn man weiß, wofür die Männer kämpfen und daß sie mit Verstand kämpfen. Wenn Männer für die Freiheit ihres Landes gegen eine ausländische Invasion kämpfen und wenn diese Männer deine Freunde sind, einige neue Freunde und andere langjährige, und wenn man weiß, wie sie angegriffen wurden und wie sie anfangs fast unbewaffnet kämpften, dann merkt man, wenn man sie leben und kämpfen und sterben sieht, daß es Schlimmeres gibt als Krieg. Feigheit ist schlimmer, Verrat ist schlimmer, und sogar Selbstsucht ist schlimmer. In Madrid, wo es jede britische Zeitung siebenundfünfzig Pfund oder rund 280 Dollar die Woche kostet, das Leben eines Korrepondenten zu versichern, und wo die amerikanischen Korrespondenten für einen durchschnittlichen Wochenlohn von fünfundsechzig Dollar ohne Versicherung arbeiten, haben wir Journalisten letzten Monat neunzehn Tage lang zugesehen, wie gemordet wird. Es geschah durch deutsche Artillerie, und es war höchst wirksames Morden. Ich sagte, man gewöhnt sich an den Krieg. Wenn man sich genügend für seine wissenschaftliche Seite interessiert — und der Krieg ist eine große Wissenschaft —, für das Problem menschlichen Verhaltens bei Gefahr, dann kann man von ihm so gefesselt werden, daß es wie eine häßliche Art Selbstsucht scheint, an sein eigenes Schicksal auch nur zu denken. 261
Doch an Mord gewöhnt sich niemand. Und Massenmord sahen wir täglich, neunzehn Tage lang. Die totalitären faschistischen Staaten glauben an den totalen Krieg. Das heißt, anders ausgedrückt, daß sie jedesmal, wenn sie von Streitkräften besiegt werden, sich an unbewaffneten Zivilisten rächen. In diesem Krieg wurden sie seit Mitte November am Parque del Oeste geschlagen und am Pardo, sie wurden bei Carabanchel geschlagen und an der Jarama, sie wurden bei Brihuega und bei Cordoba geschlagen. Und jedesmal, wenn sie auf dem Schlachtfeld geschlagen wurden, retten sie die merkwürdige Sache, die sie Ehre nennen, indem sie Zivilisten morden. Wenn ich das schilderte, so würde ich damit Brechreiz verursachen. Es könnte Haß werden. Doch wir wollen keinen Haß. Wir wollen das Verbrecherische am Faschismus erkennen und wie ihm zu begegnen ist. Wir müssen begreifen, daß diese Morde die Untaten eines Tyrannen sind, des großen Tyrannen Faschismus. Es gibt nur eine Art, einen Tyrannen zu bezwingen, und die ist, ihn zu vernichten ; und der Tyrann Faschismus wird in Spanien jetzt genauso geschlagen, wie Napoleon auf dieser Halbinsel vor hundertunddreißig Jahren geschlagen wurde. Die faschistischen Länder wissen das und sind verzweifelt. Italien weiß, daß seine Truppen nicht außerhalb Italiens kämpfen wollen und daß sie trotz ihrer hervorragenden Ausrüstung den neuen spanischen Regimentern nicht gewachsen sind. Es steht außer Zweifel, daß sie den Kämpfern der internationalen Brigaden 290 nicht ebenbürtig sind. Deutschland hat festgestellt, daß es sich auf Italien als Verbündeten in keinerlei Art Angriffskrieg verlassen kann. Ich habe gelesen, daß von Blomberg kürzlich zusammen mit Marschall Badoglio eine beeindruckende Reihe von Manövern besichtigt hat; doch es ist eines, auf der venezianischen Ebene ohne jeden sichtbaren Gegner zu manövrieren, und ein anderes, durch die Elfte und Zwölfte Brigade und die tüchtigen spanischen Truppen von Lister, Campesino und Mera in der Manöverkunst übertroffen und auf dem Plateau zwischen Brihuega und Trijueja um drei Divisionen gebracht zu werden. Es ist eine Sache, Almeria zu bombardieren und das durch Verrat aufgegebene, unverteidigte Malaga zu erobern, und eine andere Sache, siebentausend Mann vor Cordoba und dreißigtausend bei erfolglosen Angriffen auf Madrid zu verlieren; Ich sprach anfangs von den Schwierigkeiten, die es mit sich bringen, gut und ehrlich zu schreiben, und von der unvermeidlichen Belohnung für diejenigen, die es erreichen. Doch in einer Kriegszeit, und wir befinden uns jetzt in einer Kriegszeit, ob es uns gefallt oder nicht, werden sämtliche Belohnungen ausgesetzt. Es ist sehr gefahrlich, im Kriege die Wahrheit zu schreiben, und es ist auch sehr gefahrlich, an die Wahrheit zu gelangen. Ich weiß im Augenblick nicht, welche amerikanischen Schriftsteller sich auf die Suche nach ihr gemacht haben. Ich kenne viele Männer des Lincoln-Bataillons. Doch es sind keine Schriftsteller. Sie schreiben nur Briefe. Viele britische Schriftsteller haben sich auf die Suche gemacht, viele deutsche. Viele französischen und holländische Schriftsteller haben sich auf 262
die Suche gemacht; und, wenn jemand im Krieg auf die Suche nach der Wahrheit geht, so kann er stattdessen den Tod finden. Doch wenn zwölf gehen und nur zwei zurückkommen, so wird die Wahrheit, die sie mit nach Hause bringen, die Wahrheit sein und kein Gerücht, das wir als Geschichte ausgeben. Ob die Wahrheit das Risiko lohnt, müssen die Schriftsteller selbst entscheiden. Sicher ist es bequemer, seine Zeit mit gelehrten Auslassungen über doktrinäre Streitfragen zu verbringen. Und es wird stets neue Spaltungen und neue Richtungen und prachtvolle exotische Lehren und romantisch verirrte Anführer für diejenigen geben, die nicht bereit sind, für das, was sie vorgeblich glauben, einzutreten, sondern die nur debattieren und Positionen, geschickt gewählte Positionen, die risikolos zu halten sind, behaupten wollen. Von der Schreibmaschine gehaltene und mit dem Füllfederhalter verteidigte Positionen. Doch es gibt jetzt einen Krieg, und wird ihn ab jetzt für lange Zeit geben, einen Krieg, den jeder* Schriftsteller, der ihn studieren will, aufsuchen kann. Es sieht so aus, als wenn es jetzt viele Jahre unerklärte Kriege geben wird. Es gibt für einen Schriftsteller viele Möglichkeiten, daran teilzunehmen. Nachher gibt es vielleicht Belohnungen. Doch das braucht das Gewissen eines Schriftstellers nicht zu belasten. Denn die Belohnungen werden lange Zeit ausbleiben. Und er muß sich'ihretwegen nicht allzu viele Gedanken machen. Denn, wenn es ihm ergeht wie Ralph Fox 291 und einigen anderen, wird er nicht mehr da sein, sie zu empfangen.
5 Kenneth Burke Die Beziehung von Literatur und Wissenschaft Da unter dem Begriff „Wissenschaft" verschiedene Leute Verschiedenes verstehen, sollten wir unsere Diskussion vielleicht eigenmächtig irgendwie eingrenzen. Dies ist eine literarische Veranstaltung — und dementsprechend werde ich hier Wissenschaft als mit „Kritik" gleichbedeutend betrachten, wobei sich eine solche Bedeutungseinengung mit der Tatsache rechtfertigen läßt, daß die Wissenschaft als eigne Disziplin mit dem Aufkommen der experimentellen Methode zur Zeit der Renaissance eingeführt wurde. Sie war o r g a n i s i e r t e r Zweifel, s c h ö p f e r i s c h e r Skeptizismus, war die Verwandlung des Infragestellens in eine p o s i t i v e Methode. Wir haben unlängst miterleben können, wie diese Bewegung introspektiv wurde. Wissenschaftstheoretiker haben durch Ausweitung derselben Denkformen, mit denen sie die Grundlagen der Religion angriffen, der Reihe nach die Grundlagen der Wissenschaft selber angegriffen. Sie haben die Methode des Infragestellens bis zu einem Punkt vorgetrieben, wo sie selber fraglich wird. Sie haben ihre Methoden des Zweifeins bezweifelt. Sie sind dahingekommen, den Glauben des klassischen Wissenschaftlers an das Kausalitätsprinzip für kaum etwas anderes als (um Mannheims Begriff 292 zu verwenden) einen „Denk-Stil" zu halten, ganz so, als ob 263
die Suche gemacht; und, wenn jemand im Krieg auf die Suche nach der Wahrheit geht, so kann er stattdessen den Tod finden. Doch wenn zwölf gehen und nur zwei zurückkommen, so wird die Wahrheit, die sie mit nach Hause bringen, die Wahrheit sein und kein Gerücht, das wir als Geschichte ausgeben. Ob die Wahrheit das Risiko lohnt, müssen die Schriftsteller selbst entscheiden. Sicher ist es bequemer, seine Zeit mit gelehrten Auslassungen über doktrinäre Streitfragen zu verbringen. Und es wird stets neue Spaltungen und neue Richtungen und prachtvolle exotische Lehren und romantisch verirrte Anführer für diejenigen geben, die nicht bereit sind, für das, was sie vorgeblich glauben, einzutreten, sondern die nur debattieren und Positionen, geschickt gewählte Positionen, die risikolos zu halten sind, behaupten wollen. Von der Schreibmaschine gehaltene und mit dem Füllfederhalter verteidigte Positionen. Doch es gibt jetzt einen Krieg, und wird ihn ab jetzt für lange Zeit geben, einen Krieg, den jeder* Schriftsteller, der ihn studieren will, aufsuchen kann. Es sieht so aus, als wenn es jetzt viele Jahre unerklärte Kriege geben wird. Es gibt für einen Schriftsteller viele Möglichkeiten, daran teilzunehmen. Nachher gibt es vielleicht Belohnungen. Doch das braucht das Gewissen eines Schriftstellers nicht zu belasten. Denn die Belohnungen werden lange Zeit ausbleiben. Und er muß sich'ihretwegen nicht allzu viele Gedanken machen. Denn, wenn es ihm ergeht wie Ralph Fox 291 und einigen anderen, wird er nicht mehr da sein, sie zu empfangen.
5 Kenneth Burke Die Beziehung von Literatur und Wissenschaft Da unter dem Begriff „Wissenschaft" verschiedene Leute Verschiedenes verstehen, sollten wir unsere Diskussion vielleicht eigenmächtig irgendwie eingrenzen. Dies ist eine literarische Veranstaltung — und dementsprechend werde ich hier Wissenschaft als mit „Kritik" gleichbedeutend betrachten, wobei sich eine solche Bedeutungseinengung mit der Tatsache rechtfertigen läßt, daß die Wissenschaft als eigne Disziplin mit dem Aufkommen der experimentellen Methode zur Zeit der Renaissance eingeführt wurde. Sie war o r g a n i s i e r t e r Zweifel, s c h ö p f e r i s c h e r Skeptizismus, war die Verwandlung des Infragestellens in eine p o s i t i v e Methode. Wir haben unlängst miterleben können, wie diese Bewegung introspektiv wurde. Wissenschaftstheoretiker haben durch Ausweitung derselben Denkformen, mit denen sie die Grundlagen der Religion angriffen, der Reihe nach die Grundlagen der Wissenschaft selber angegriffen. Sie haben die Methode des Infragestellens bis zu einem Punkt vorgetrieben, wo sie selber fraglich wird. Sie haben ihre Methoden des Zweifeins bezweifelt. Sie sind dahingekommen, den Glauben des klassischen Wissenschaftlers an das Kausalitätsprinzip für kaum etwas anderes als (um Mannheims Begriff 292 zu verwenden) einen „Denk-Stil" zu halten, ganz so, als ob 263
Occams „Gesetz der Sparsamkeit" 293 besondere Denkgesetze des Marquis von Queensbury 294 inauguriert hätte. Lassen Sie uns versuchsweise eine Hypothese annehmen. Lassen Sie uns für den Augenblick annehmen, das Universum sei, vom metaphysischen Standpunkt aus, tatsächlich u n b e g r e n z t . Lassen Sie uns einmal annehmen, die letzten elektronischen Teilchen, aus denen es besteht, wären tatsächlich eigenmächtiger Entscheidungen fähig und könnten ganz nach Belieben so oder so umherspringen. Lassen Sie uns ihnen aus hypothetischen Gründen „Willensfreiheit" zugestehen. Könnten und müßten wir nicht selbst dann die Geschehnisse der Natur in Begriffen der Kausalität, der Notwendigkeit, der Determiniertheit betrachten? Denn selbst wenn wir den elektronischen Teilchen des Physikers (aus Gründen der Hypothese) die Fähigkeit zugestehen, sich so verhalten zu können, wie sie wollen, und die eine oder andere Aktionsform in unvorhersagbarer Weise zu wählen, so würde man kaum je behaupten wollen, daß eines von ihnen „frei" sei, ein Elefant oder der Ozean zu werden. Mir erscheint die Sache so: Selbst wenn man eine gewisse letzte metaphysische Freiheit zugesteht, würde man i m m e r n o c h ein Wirkungsfeld des Determinismus beibehalten. Man würde die G r e n z e n erkennen, innerhalb derer diese Freiheit ausgedrückt werden kann. Und in diesem Sinne wäre der sogenannte „Denk-Stil" nicht rein subjektiv, sondern würde eine objektive Situation umreißen. So liefern in der Tat die tiefgründigsten unserer introspektiven Theoretiker in den gleichen Abhandlungen, in denen sie das Kausalitätsprinzip angreifen, unbeabsichtigt eine erneute Bestätigung ihres Glaubens an eben dieses Prinzip. Ich möchte eine besondere Art des Lesens solcher Aufsätze vorschlagen. Lassen wir für den Augenblick erst einmal den ausdrücklichen Inhalt ihrer Behauptungen beiseite und betrachten wir statt dessen die Methode, nach der sie sie aufstellen. Man wird dabei, so glaube ich, entdecken, daß ihre die Kausalität auflösenden Argumente an sämtlichen Stellen unter Verwendung kausalen Denkens „bewiesen" werden. Die Leute hielten an einer gewissen falschen Überzeugung fest, heißt es da, „wegen" gewisser Faktoren. Das „führte da- und dazu". „Darum" dies und das, „deshalb" jenes. Auf diese Weise verwenden sie beständig gerade die Methode, die sie eigentlich in Frage stellen wollten. Wir stellen auf diese Weise fest, daß die Wissenschaft keine w i l l k ü r l i c h e , sondern eine u n v e r m e i d l i c h e Methode ist. Weil sie die unvermeidliche Methode der Natur ist (in der Entscheidungsfreiheit b e g r e n z t ist), ist sie auch die unvermeidliche Methode des Denkens. So versuchen wir Ordnungsbegriffe zu entwickeln, wenn wir feststellen, in welcher Hinsicht Ereignisse maschinenähnlich sind, und zwar tun wir das, selbst wenn ihre maschinenähnliche Beschaffenheit keine erschöpfende Beschreibung ihres Verhaltens liefert. So entwickeln die Menschen Lyrikmaschinen und Denkmaschinen, ähnlich den Verbesserungen eines „rationalisierten" Betriebes (wobei die technologische Maschine der äußere Ausdruck des rationalen Ideals ist). 264
Wir können uns dem Begriff der wissenschaftlichen Methode auch unter einem anderen Blickwinkel nähern, nämlich wenn wir ihren Akzent auf den Inhalt verlegen. Greift man auf die Zeit vor dem Aufstieg des christlichen Roms zurück, findet man, daß die Griechen und die römischen Stoiker den Akzent auf den Menschen, als gesellschaftliches Wesen gesetzt haben. Der Mensch wurde, übereinstimmend mit Aristoteles' Schlüsselbegriff vom z o o n p o l i t i k o n , als ein in einer gesellschaftlichen Gemeinschaft lebendes Wesen definiert. Mit dem Aufstieg des christlichen Evangeliums erfuhr dieser Begriff der Bürgerschaft eine radikale Wandlung. Die c i v i t a s R o m a e wurde durch die c i v i t a s Dei ersetzt. Der Definitionskontext weitete sich aus; die Folge davon war, die Menschen wurden nicht mehr als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft bestimmt, sondern als Mitglieder der Gottesstadt, einer transzendentalen Stadt. In diesem Sinne können wir sagen, daß Augustin, der diesem Begriff in seiner Geschichtsphilosphie feste Form gegeben hat, auf Denker, die sich für völlig unabhängig von seinem Einfluß hielten, nachhaltige Wirkung ausgeübt hat. Denn mit seiner Definition des Menschen als Bürger einer übernatürlichen Stadt blieb Augustin, in sein „dialektisches Gegenteil" aufgehoben, viele Jahrhunderte erhalten. In Antithese zu ihm entwickelten seine Gegner den Begriff des Menschen, als Wesen i n n e r h a l b der N a t u r , wobei sie dem Übernatürlichen einen allzu engen Begriff des Natürlichen entgegensetzten und die geistige Definition in eine materialistische verwandelten. Dieser Gegenakzent gelangt in der darwinistischen Auffassung der menschlichen Beziehungen zu voller Blüte und führte später in gröberen Händen zu den sich auf Blut und Rasse gründenden Philosophien, die mit ihren zunehmenden Auswüchsen das letzte Jahrhundert in Verwirrung setzten. Die Menschen suchten nach rein biologischen Begriffen menschlicher Motivation: Hunger, Krieg, Angst und „psychologische Typen". Mit einem Wort, die Denker entwickelten eher „naturalistische" als „sozialistische" Koordinaten zur Umschreibung menschlicher Motive und Beziehungen. Das Politische wurde ausschließlich in Begriffen des Unpolitischen und Präpolitischen gesehen. Marx hat, wie mir scheint, diese naturalistische Übersimplifizierung korrigiert. Er stellt den Aristotelischen Begriff vom Menschen als eines G e s e l l s c h a f t s w e s e n s als Hauptmethode zur Erforschung menschlicher Motive wieder her. Wie Aristoteles betrachtet er die Menschen als Mitglieder politisch-ökonomischer Körperschaften. Er stellt für uns in unserem Wortschatz den Begriff des z o o n p o l i t i k o n wieder her. Auf Augustin bezugnehmend sagte ich, daß er den Menschen durch eine E r w e i t e r u n g des K o n t e x t s seiner Definition definierte. In katholischer Sicht wurde ein Ereignis in Begriffen bestimmt, die den eines „Schöpfers", in den Kontext einschließen. Es gab sowohl die Schöpfung als den Schöpfer. Ich glaube, daß der aristotelische Begriff gleiches und zwar bis zu folgendem Punkt leistete: Aristoteles hielt den Menschen, wie Gott, für einen „unbewegten Beweger". 265
Er war nicht bloß ein „Ergebnis". Er war selbst eine „Ursache", ein „neuer Beginn". Doch sobald man zu dem Stil der klassischen Wissenschaft gelangt, kommt es zu einer deutlichen Kontextbeschränkung. Man eliminiert jeden Begriff „des Schöpfers" (in Übereinstimmung mit Occams Regel, daß „die Wesenheiten nicht über das Maß der Notwendigkeit hinaus vermehrt werden dürfen", wie mit der Behauptung Galileis, daß „Gott" nichts erkläre, wenn er alles erkläre) und macht „die Schöpfung" einfach zu den Außengrenzen des Kontexts. Statt eine Beziehung zwischen Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf herzustellen, läßt man den ersten Begriff fallen und befaßt sich künftig ausschließlich mit der Schöpfung und dem Geschöpf. Die Schöpfung war beendigt, sie war „das Gegebene". Im neunzehten Jahrhundert, als soviel religiöses Denken, besonders in der Kunstphilosophie, in verkleideter Form säkularisiert wurde, findet man in ästhetischen Theorien die Tendenz, die frühere Akzentsetzung beizubehalten. Die Kunst war s c h ö p f e r i s c h — also schloß sie eine zwischen Schöpfer und Schöpfung stattfindende Beziehung ein —, also wurde der religiöse Schöpfer zum künstlerischen Schöpfer säkularisiert. Doch ich frage, ob man den aristotelischen Begriff des „unbewegten Bewegers" und die dem neunzehten Jahrhundert angehörenden Philosophien des künstlerischen Schaffensprozesses als bloße Überbleibsel der Religion abtun kann. Beide trugen der Tatsache Rechnung, daß die Menschen dasjenige besitzen, was der Skeptiker De Gourmont die „Illusion der Freiheit" nennt. Es gibt nun einmal einen in der menschlichen Tätigkeit stattfindenden schöpferischen Prozeß, und ein allzu buchstäblicher, deterministischer Denkstil, der die „Schöpfung" als etwas Gegebenes betrachtet, müßte ihn, wenn wir uns an die Spielregeln halten, unbeachtet lassen. Wollte man beispielsweise, in strenger Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Stil, einen zweckorientierten Sinn „erklären", wie könnte man das wohl versuchen, es sei denn, daß man erst einmal von dem Zweck absieht? Man würde den Zweck als k a u s a l b e d i n g t bestimmen. Man würde sämtliche Faktoren, die einen b e w e g e n , sich diesen Zweck zu setzen, überprüfen. Und wenn man damit fertig wäre, so hätte man den auf einen Zweck gehenden Sinn mit Begriffen definiert als das, was er n i c h t ist. Man hätte den Schaffensprozeß in Begriffen des Nicht-Schaffens interpretiert. In diesem Sinne meine ich, daß eine beschränkte Auffassung des wissenschaftlichen Stils nicht das angemessene Mittel ist, menschliche Triebkräfte zu benennen. Ich bezweifle, ob Hinweise auf „Kausalität" jemals Willensfreiheit werden „erklären" können; sie können nur die G r e n z e n dieser Entscheidungsfreiheit umreißen. Betrachten wir die Angelegenheit unter einem anderen Blickwinkel. Wir wissen, daß der grundlegende geistige Konflikt des Mittelalters sich um den Streit zwischen Realisten und Nominalisten konzentrierte. Wir brauchen hier nicht auf die scholastischen Feinheiten dieser Frage einzugehen. Es genügt für die vorliegenden Zwecke die Feststellung, daß der gesamte Streit in zwei gegensätzlichen Definitionsoder Bestimmungsstrategien ausgetragen werden konnte. Die Realisten definierten 266
den Einzelmenschen als ein Mitglied einer Gruppe; die Nominalisten definierten die Gruppe als eine Ansammlung von Einzelmenschen. Daher erwuchs aus dem Nominalismus die Bewertung des Individuums bei der Bourgeoisie, die das Individuum als grundlegende soziale Einheit betont und die Gruppe für eine Häufung von Individuen hält. Wir können feststellen, daß die Nominalisten innerhalb der Kirche vor allem im Franziskanerorden waren, einem Orden, der nur knapp der Beschuldigung der Ketzerei entging; das beweist auch seine Reaktion auf die politisch-ökonomischen Schwierigkeiten der Zeit, als er nämlich versuchte, das B e t t e l w e s e n zu einem Beruf zu machen — eine Situation, die dem heutigen Versuch der Regierung, ein ähnliches Arbeitslosenproblem dadurch zu bewältigen, daß sie den negativen Faktor der Bundesunterstützung in einen positiven verwandelt, sehr nahekommt. Nominalistisches Denken, wie es außerhalb der Kirche entwickelt wurde, spielte bei der Ausbildung des wissenschaftlichen Standpunkts eine wichtige Rolle. Seine Betonung der Einzeldinge vor den „Allgemeinbegriffen" führte direkt zu den Positionen und Methoden des Empirismus, zu Experiment, gesonderter Beobachtung, isolierten Labortechniken. Diese Betonung verstärkte möglicherweise erneut die gleichen disintegrativen Denktendenzen, die in der kommerziellen Philosophie des laissez-faire ihre Blüte erreichten. Die Wissenschaft wurde auch „individualistisch", sie neigte auf ihre Weise dazu, die realistische Ordnung zu verkehren, nämlich indem sie jede wahrgenommene Gruppe als Ansammlung ihrer individuellen Komponenten definierte. Ich betone das, um anzudeuten, daß die marxistische Soziologie ihrerseits eine Anwendung von solch nominalistischer Wissenschaft ist: daß sie den Realismus-nur-mit-einem-Unterschied wiederherstellt. Sie ist Realismus, gesehen im Lichte aller nominalistischen Jahrhunderte von Aquin bis jetzt. Hegel, der auf ähnliche Weise den Nominalismus wiederherstellen wollte, kam beim Idealismus an — und der marxistische Realismus ist eine Revision Hegels. Global ausgedrückt, würde ich den Marxismus für eine Abwendung von der nominalistischen Wissenschaft, für eine Rückkehr zu einer realistischen Position erachten. Ich denke, dieser Akzentwechsel findet eine Parallele in der Betonung des Menschen als eines g e s e 11 s c h a f11 i c h e n W e s e n s, einem Definitionskontext, durch den seine individuelle Rolle mittels seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert wird. Und eine derartige politische Betonung würde, so glaube ich, ebenfalls ein Interesse an dem Ereignis des s c h ö p f e r i s c h e n P r o z e s s e s wiederherstellen, ein Interesse an der Art und Weise, in der der Mensch ein „unbewegter Beweger", nicht bloß die R e s u l t a n t e von Kräften ist, vielmehr s e l b s t eine Kraft — mit einem Wort, ein Dichter oder Schöpfer. Wiewohl mir bewußt, daß schematische Darstellungen in ihrer Einfachheit oft trügerisch sind, möchte ich hier, an dieser Stelle, eine solche Darstellung bringen, was auch immer ihr Wert sein mag. Ich stelle mir die Beziehung zwischen Dichtung und Kritik folgendermaßen vor: Man stelle sich einen Kreis vor, außerhalb desselben eine Reihe Punkte, und außerhalb dieser Punkte nun einen 267
weiteren Kreis. Der innere Kreis versinnbildlicht eine feststehende Struktur von Bedeutungen, die bekannten Bedeutungsinhalte, mit denen man aufgewachsen ist. Sie sind „vertraut". Sie bezeichnen die wichtigen Faktoren und Beziehungen eigener Erfahrung, und sie bilden Haltungen gegenüber diesen Faktoren. Doch mit der Zeit häufen sich außerhalb dieses Bedeutungskreises neue Materialien an. Diese neuen Materialien werden von den Bedeutungsinhalten des kleineren Kreises nicht angemessen dargestellt (genau wie die neuen Produktionsverhältnisse zu Ende des Mittelalters von dem katholischen Bezugsrahmen nicht angemessen dargestellt wurden). Die Menschen müssen nun versuchen, einen weiteren Kreis zu schlagen, der diese neuen, von dem kleineren Kreis unangemessen umrissenen oder bestimmten Materialien mit einbezieht. Es gibt für mein Dafürhalten eine Tendenz, diesen äußeren Kreis auf der rein b e g r i f f l i c h e n Ebene zu ziehen. Besonders seit der Verwendung der Wissenschaft als einer kritischen und von den Disziplinen der Technologie getragenen Methode haben wir Anlaß, diesen äußeren Kreis begrifflich zu schlagen — denn die Techniken der Erfindung, die geistigen Erfindungswerkzeuge sind begrifflich. Sie sind Kritik. So möchte ich behaupten, daß es eine P r i o r i t ä t der Kritik gibt, die dem Wesen des schöpferischen Rüstzeugs jetzt eingeschrieben ist (obwohl ich hier keinerlei Andeutungen einschmuggeln will, daß diese „Priorität" der Kritik der Dichtung gegenüber „Superiorität" bedeutet, ich meine lediglich eine rein formale Priorität). Doch stimmt es nicht, daß wir, unsere reiche Ausstattung mit kritischen Begriffen einmal vorausgesetzt, es l e i c h t e r finden, den äußeren Kreis in kritischen Begriffen zu definieren, bevor wir ihn in poetischen Begriffen beanspruchen? Gerade weil das Vokabular der Kritik etwas abstrakt, mittelbar ist, eignet es sich besser, die Landschaft des neuen Materials abzustecken. Der innere Kreis vertritt im wesentlichen das Niveau der Kindheitserfahrung. Ein derartiger Gedanke läßt einen die besondere Anziehungskraft begreifen, die der „Regionalismus" 295 für den poetischen Sinn haben kann. Denn der Regionalismus neigt dazu, die in der Kindheit empfangene Perspektive der Vertrautheit und Unmittelbarkeit a u s z u d e h n e n . In der Kindheit denkt man nicht in Begriffen. „Autorität" zum Beispiel ist keine Idee — sie findet in der Gestalt des Vaters, Familienarztes, Lehrers, die das Kind als Person akzeptiert oder verwirft, Verkörperung. Hat man als Kind eine herrschsüchtige, altjüngferliche Tante mit einer Warze auf der Nase gehabt, so kann „Autorität" zu der Warze auf der Nase der altjüngferlichen Tante werden. Der Dichter ist am glücklichsten, wenn er einen Stoff dieser Art verwendet. In der Zeit seiner Kindheit entwickelte er eine Struktur von Bedeutungsinhalten, die alle höchst intim und personifiziert waren. Und in dem Maße, wie er sich „neuem Material" gegenübergestellt sieht, dem abstrakten, unpersönlichen, politischen und ökonomischen Stoff der Erwachsenenerfahrung, wird seine frühere Integration bedroht. Manche Dichter neigen dazu, wenn sie dieser Gefahr gegenüberstehen, auf dem früheren, intimen Niveau „einzufrieren". Sie vervollkommnen 268
ihre personifizierte Perspektive weiter und übersehen einfach das außerhalb ihres Kreises liegende Material. Ich glaube, daß uns die unkritischen Formen des Regionalismus einen Aspekt dieser Tendenz bieten. Jede Abstraktheit, die sie im äußeren, kritisch-begrifflichen Kreis nicht vermenschlichen können, verwerfen sie. Es gibt ein altes Sprichwort: Scheue keinen Umweg, um ans Ziel zu gelangen. Dichter sowohl wie Kritiker versuchen, glaube ich, ans „Ziel" zu gelangen, entweder ein altes oder ein neues Ziel. Und die Kritiker besitzen leider keine Methode, die diesem klugen Sprichwort folgt. Der Begriff ist nur ein Stenogramm, eine Richtschnur. Begriffe können die zwischen innerem und äußerem Kreis klaffende Lücke schließen. B e g r i f f s m ä ß i g kann man sehr schnell über die zwischen Kapitalismus und Kommunismus klaffende Lücke hinwegsetzen. Doch der dichterische Weg ist notwendigerweise beschwerlicher. Er ist der Umweg. Der Dichter ist nicht eher ans Ziel gelangt, bis er vermenschlicht, personifiziert hat. Die begriffliche Richtschnur vermag bedeutende Beiträge zum Vorgang des Kartographierens, Lokalisierens zu leisten. Doch sie vermag offenbar nichts über den Umweg zu berichten, den seine Richtschnur mied. Der Begriff definiert einen Gegenstand paradoxerweise in Begriffen dessen, was er n i c h t ist, genau wie die Differenzialrechnung Kurven als Flächen und Winkel auffaßt, also als genau das, was sie nicht sind, oder wie man den schöpferischen Prozeß, das Schaffen, in Begriffen des Nicht-Schaffens („Zweck" als „Ursache") definiert. Der Versuch des Dichters, ein Recht auf einen außenliegenden Kreis der Abstraktionen geltend zu machen, würde uns dieses Paradox ersparen. Solch eine Auffassung fördert freilich, wie ich gestehe, im gewissen Grade in unserem Bewußtsein die Entstehung eines Dualismus. Jedoch sind die beiden Funktionen nicht deutlich auf zwei verschiedene Personengruppen beschränkt. Jeder Dichter heute ist zu einem gewissen Teil ein begrifflich Denkender. Selbst wenn die Kritiker überhaupt nichts zu sagen hätten, würden sich die Dichter immer noch mit begrifflichen Fragestellungen abquälen, da die kritische Methode, wie ich sagte, voll in den ökonomischen Gesamtzusammenhang integriert ist. So bemerken wir bei jedem Schriftsteller in unterschiedlichem Grade einen Konflikt zwischen poetischer Aussage und kritischer Überprüfung dieser Aussage. „Bewußtsein" würde so zu einer Art p a r t i e l l e r A s s i m i l a t i o n . Es wäre das Differential zwischen den abstrakten Begriffen, mit denen wir den äußeren Kreis schlagen, und der Intimität und Unmittelbarkeit des inneren Kreises. Und der Dichter versucht, den neuen Stoff mit Leben zu erfüllen, ihn mittels langsamer Assimilation für sich „zu beanspruchen". Bewußtsein würde den bloßen Sprung in den äußeren Kreis, der durch die Sprache der Begriffe möglich geworden, korrigieren. (Ich sollte jedoch noch einmal wiederholen, daß die Unterscheidung weder eine Über- noch eine Unterlegenheit seitens des Kritikers impliziert: Er hat aus seinem Vorteil des kritischen Vorgangs Nutzen gezogen, er hat ihn entsprechend seinem Wert verwendet, doch es gibt wichtige Funktionen, für die er keinen Wert besitzt.) 269
Was das Thema der Assimilation betrifft, so möchte ich mit einer Spekulation schließen, hinsichtlich deren ich, wie ich eingestehe, ziemlich unsicher bin. Wenn ein Mensch von Kindheit an in peinlich genauer Weise ein Reaktionsmuster entwickelt hat, wie soll er dann, wenn er in eine erwachsenere Welt eintritt, diese Welt in den Griff bekommen? Kann er ihr Neues als Neues akzeptieren — oder kann er das mit dem Alten nur in der Weise verbinden, daß er es seiner Kindheit einwurzelt? Das heißt: Bis zu welchem Maße darf unsere Erwachsenenwelt einfach gereifte Kindheit sein, und bis zu welchem Grade muß sie überwundene, abgeschobene Kindheit sein? Wenn jemand in einem Büro eine Stellung antritt, ist es dann möglich, daß seine dortigen Erfahrungen nicht eher völlig personifiziert sind, bis er sie — als ein „Dichter" des Lebens — nach Maßgabe von Erfahrungsmustern gestaltet hat, die vor seinem Eintritt in das Büro erworben wurden? Mit anderen Worten, ist es möglich, daß er nicht einmal etwas zu s a g e n hat, bis sein Chef, sagen wir, das funktionale Äquivalent seines Vaters (in dem früheren Familienmuster), oder die Sekretärin seines Chefs die „Mutter" wird, während die übrigen Angestellten im Büro den Platz einstiger Verwandter, die für ihn von Belang waren, einnehmen? Anscheinend besteht die einzige Möglichkeit, wie ein Mensch sich völlig integrieren, wie er sein Leben zu einem „zusammenhängenden Ganzen" machen kann, darin, daß man Obertöne dieser Art mit ins Bild bringt. Andererseits würde ein Dichter, insofern eine „Integration" dieser Art vor sich geht, (auf dem Papier oder im tatsächlichen Leben) in einem Zustand partieller Hypnose handeln. Denn er befaßt sich mit einer neuen Situation in Begriffen einer früheren und andersartigen Weise. Wie also könnte er wohl die Abstraktionen des äußeren begrifflichen Kreises anders „vermenschlichen" als durch die Vorstellung, wie sie sich in den Charakteren der Leute verhielten — und wo anders holte er sich seine „Fingerzeige" für solches Verhalten, wenn nicht aus der fiktiven Vorstellung von Charakteren, denen er früher bereits begegnet ist, Charakteren, die in ihrer ursprünglichen Form nicht von diesen Abstraktionen in gleicher Weise beansprucht wurden? Kurz gesagt: Wenn wir durch Analogie lernen, wenn wir unsere Antworten auf neue Situationen auf Grund dessen formen, was wir aus früheren Situationen gelernt haben, so scheint daraus zu folgen, daß wir bis zum gewissen Grade von einer alten Situation hypnotisiert werden, während wir einer neuen begegnen. Anscheinend gibt es nicht nur die Hypnose, in die uns der Psychologe versetzt, wenn er im Beisein des Patienten angemessene Schritte unternimmt. Es gibt die Hypnose einer Geschichte von Poe, in der der Autor Einzelheiten des Schreckens anhäuft und und als Folge davon in eine Stimmung des Schreckens versetzt (eine Darstellungsart, die sich die Literatur der letzten Jahrzehnte sehr angelegen sein läßt, und bei der der Autor uns in seinen Bann zu ziehen versucht und uns, wenn möglich, darin beläßt, genauso als ob der professionelle Hypnotiseur seine uns aus der Hypnose entlassende Schlußformel „Wenn ich in die Hände klatsche, erwachen Sie — wenn ich in die Hände klatsche, erwachen Sie!" auszusprechen 270
unterlassen würde). Und wenn wir die außerhalb des Gebietes der formalen Kunst liegenden Dinge umfassend betrachten, so können wir einen ähnlichen Hypnosevorgang in den Perspektiven, den Bedeutungsstrukturen, mit denen wir im allgemeinen auf Situationen reagieren, beobachten. Falls diese Spekulation der Wahrheit entspricht, so müßten wir einen Unterschied machen. Und zwar müßten wir zwischen „guter" und „schlechter" Hypnose unterscheiden, wobei der Vorgang selbst als unvermeidlich aufzufassen ist. Es gibt gewisse Gelegenheiten, bei denen der Dichter die Erwachsenenwelt und die intime Welt vermittels Integrationsmethoden zusammenbringt, die uns eine richtige Perspektive, eine zweckdienliche Struktur der Bedeutungsinhalte und Haltungen liefern. Bei anderen Gelegenheiten ist die Integration unangemessen, sie umfaßt zu wenig des „neuen Stoffes", der sich für die Einbeziehung in den Gesamtrahmen ergeben hat. Ich könnte mir beispielsweise einen Dichter vorstellen, der uns damit, daß er einen Patrioten als ein Vatersymbol aufbaut, eine unangemessene Struktur liefert. Und ich kann mir den gleichen Vorgang vorstellen, der dann, wenn dieselbe Patriot-Vaterfigur die sozialen Interpretationen marxistischer Philosophie verkörpert, angemessenen Zwecken dient. Im heutigen Deutschland, wo die Hitlerfigur das Vatermuster in politischer Verkörperung ausmacht, haben wir den umgekehrten Vorgang: Wir erhalten eine ganz offenbar unangemessene Bedeutungsstruktur. Ich halte also die poetische Hypnose für unvermeidlich — und ich sehe es für die Funktion der Kritik an, jenen scharfen Ton zu liefern, der uns weckt, wenn neu aufkommendes Stoffmaterial es erforderlich macht, daß wir eine alte Perspektive abschütteln und einen weiteren Kreisbogen korrigierender Begriffe schlagen.296
6 Newton Arvin Die demokratische Tradition in der amerikanischen Literatur Die Haltung, aus der der zweite Kongreß amerikanischer Schriftsteller geplant und verwirklicht wurde, ist in gewissem Sinne ein für die amerikanische Literatur noch nicht dagewesenes Ereignis. Es ist — oder war vor zwei Jahren — für amerikanische Schriftsteller etwas völlig Neues, nicht nur als Bürger, als verantwortliche Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft, sondern ganz bewußt und zielgerichtet in ihrer Rolle als Schriftsteller, als Vertreter ihrer Berufsgruppe zusammenzukommen, um sich mit gemeinsamer Stimme über die öffentlichen Fragen auszusprechen, die vor ihnen wie vor allen andren stehen, um zu beraten, was sie für Schritte zur Verteidigung von Kultur und Freiheit unternehmen können und wollen, um sich einheitlich allen humanen Kräften, die für die Er271
unterlassen würde). Und wenn wir die außerhalb des Gebietes der formalen Kunst liegenden Dinge umfassend betrachten, so können wir einen ähnlichen Hypnosevorgang in den Perspektiven, den Bedeutungsstrukturen, mit denen wir im allgemeinen auf Situationen reagieren, beobachten. Falls diese Spekulation der Wahrheit entspricht, so müßten wir einen Unterschied machen. Und zwar müßten wir zwischen „guter" und „schlechter" Hypnose unterscheiden, wobei der Vorgang selbst als unvermeidlich aufzufassen ist. Es gibt gewisse Gelegenheiten, bei denen der Dichter die Erwachsenenwelt und die intime Welt vermittels Integrationsmethoden zusammenbringt, die uns eine richtige Perspektive, eine zweckdienliche Struktur der Bedeutungsinhalte und Haltungen liefern. Bei anderen Gelegenheiten ist die Integration unangemessen, sie umfaßt zu wenig des „neuen Stoffes", der sich für die Einbeziehung in den Gesamtrahmen ergeben hat. Ich könnte mir beispielsweise einen Dichter vorstellen, der uns damit, daß er einen Patrioten als ein Vatersymbol aufbaut, eine unangemessene Struktur liefert. Und ich kann mir den gleichen Vorgang vorstellen, der dann, wenn dieselbe Patriot-Vaterfigur die sozialen Interpretationen marxistischer Philosophie verkörpert, angemessenen Zwecken dient. Im heutigen Deutschland, wo die Hitlerfigur das Vatermuster in politischer Verkörperung ausmacht, haben wir den umgekehrten Vorgang: Wir erhalten eine ganz offenbar unangemessene Bedeutungsstruktur. Ich halte also die poetische Hypnose für unvermeidlich — und ich sehe es für die Funktion der Kritik an, jenen scharfen Ton zu liefern, der uns weckt, wenn neu aufkommendes Stoffmaterial es erforderlich macht, daß wir eine alte Perspektive abschütteln und einen weiteren Kreisbogen korrigierender Begriffe schlagen.296
6 Newton Arvin Die demokratische Tradition in der amerikanischen Literatur Die Haltung, aus der der zweite Kongreß amerikanischer Schriftsteller geplant und verwirklicht wurde, ist in gewissem Sinne ein für die amerikanische Literatur noch nicht dagewesenes Ereignis. Es ist — oder war vor zwei Jahren — für amerikanische Schriftsteller etwas völlig Neues, nicht nur als Bürger, als verantwortliche Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft, sondern ganz bewußt und zielgerichtet in ihrer Rolle als Schriftsteller, als Vertreter ihrer Berufsgruppe zusammenzukommen, um sich mit gemeinsamer Stimme über die öffentlichen Fragen auszusprechen, die vor ihnen wie vor allen andren stehen, um zu beraten, was sie für Schritte zur Verteidigung von Kultur und Freiheit unternehmen können und wollen, um sich einheitlich allen humanen Kräften, die für die Er271
haltung, Ausweitung und Vervollkommung der Demokratie arbeiten, anzuschließen. Mir ist nicht bekannt, daß in den letzten drei Jahrhunderten etwas Ähnliches stattgefunden hat; dies ist erst 1935 und 1936 in New York, Minneapolis und San Francisco 297 geschehen. In der frühen Kolonialzeit haben sich keine Schriftsteller zusammengefunden, um als Schriftsteller gegen die Oligarchie der Massachusetts Bay zu protestieren; kein Schriftstellerkongreß hat am Vorabend der amerikanischen Revolution stattgefunden; die Intellektuellen der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts schufen keine gemeinschaftlich organisierte Front gegen die Grausamkeiten des Fugitive Slave Law298 und des Kansas-Nebraska Act.299 Genauso wenig könnte man sich Roger Williams oder John Woolman oder Henry Thoreau in einer Streikpostenkette vorstellen! Diese Kongresse stellen zweifellos einen Bruch mit der amerikanischen Tradition des Individualismus bei den Vertretern der Literatur dar, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Handlungen als Künstler als auch als Staatsbürger schlechthin. Es ist ein Bruch mit dieser Tradition, und ein notwendiger Bruch, denn erst heute — jedenfalls heute — werden die Ziele, für die wir als Schriftsteller eintreten, von den auf Gewalt und Ungleichheit hinarbeitenden Kräften ganz offenkundig, ganz unleugbar, sehr unheilvoll bedroht. Ein neues und höheres Stadium literarischen Bewußtseins ist heute insofern erreicht worden, als amerikanische Schriftsteller aus defensiven wie konstruktiven Gründen dazu gelangt sind, die Vorzüge gemeinsamen Handelns zu erkennen; und wir brauchen dazu in unserem nationalen Kulturerbe weder einen Präzedenzfall zu erwarten noch ihn zu suchen. Der G e i s t dieses Erbes ist eine andere Angelegenheit, und wenn die Form dieser Zusammenkünfte und der aus ihnen hervorgehenden Organisationen ohne die verbale Sanktion unserer Geschichte bleibt, so sind die wesentlichen Ziele, die uns zu dem Entschluß des Zusammenkommens und Organisierens geführt haben, Ziele, die wir, wie immer verändert und erweitert sie durch Zeit und Erfahrung sein mögen, mit einer langen Reihe von Männern und Frauen aller Generationen der amerikanischen Literatur gemeinsam haben. Das ist, wie ich weiß, nicht der eigentliche Grund, warum diese Ziele den Kampf wert sind: Sie lohnen den Kampf, weil sie an sich gute Ziele sind. Dennoch ist es zu einem Allgemeinplatz in progressiven literarischen Kreisen geworden — und es sollte tatsächlich ein Allgemeinplatz sein —, daß jeder Verbündete angenommen werden muß, daß einige der zuverlässigsten Bundesgenossen die Schriftsteller der Vergangenheit sind und daß unsere gegenwärtigen Ziele der Höhepunkt einer langen Entwicklung unseres Landes sind. Man sollte wünschen, daß die knieend dargebrachte Huldigung an diese Allgemeinplätze häufiger als es geschieht, sich einmütig und dauerhaft auswirkt. Liberale und radikale Schriftsteller als Gruppe haben sich die Lehre noch nicht zu Herzen genommen, und die Ausschöpfung der nationalen Vergangenheit wird allzu oft den Schnüfflern, den Sicherheitsbeamten der Gelehrsamkeit, den faschistisch gesonnenen Patrioten überlassen. Wir fordern keinen sentimentalen Provinzialismus; wir fordern gewiß keinen romantischen Nationalis272
mus: Wir fordern nur eine Art eigenständigen kulturellen Bewußtseins, ohne das, wie unsere europäischen Kollegen das am besten verstehen, ein wahrer Internationalismus unmöglich ist. Wir sollten viel von linken Schriftstellern hören, ebenso wie wir von Puschkin und Dostojewski, Rimbaud und Proust, Goethe und Thomas Mann hören. Wir haben noch lange nicht genug gehört von Thomas Hooker und John Woolman, Joel Barlow und Frances Wright, von Parker, Howells, Hamlin Garland — oder haben über sie meist nur von der falschen Seite gehört. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum wir, die wir uns mit einem Kongreß wie diesem verbinden, es nicht als Teil unserer Verantwortung ansehen sollten, unsere Vertrautheit mit den literarischen Gestaltungen der amerikanischen Erfahrung zu vertiefen. Wir hören bereits über diese Gestaltungen von der Rechten und der nach rechts tendierenden Mitte, und wir werden in den kommenden Monaten und Jahren immer mehr davon hören. Wir hören, und werden auch in Zukunft hören, wie amerikanische Schriftsteller — manchmal zutreffend, öfter entstellt —, wie die Bibel zitiert werden, um unliberale Grundsätze, Kastengeist, einen Geist des Mißtrauens dem Volk gegenüber, oder zumindest der Gleichgültigkeit und der vorgeblichen Neutralität, zu unterstützen. Was wir über Stendhal oder Strindberg wissen, nützt uns, wenn solche Dinge gesagt werden, ziemlich wenig. Erst vor wenigen Monaten erschien ein Buch, dessen Inhalt offenbar der war, daß Emerson, wenn er heute gelebt hätte, ein entschiedener Gegner des New Deal und ein Befürworter des Hearst-Republikanischen Kandidaten für die Präsidentschaft, Gouverneur Landon 300 schwindenden Angedenkens, gewesen wäre. Das Buch war eine Kuriosität, und soviel ich weiß, mag es ohne ernsthafte Auswirkung geblieben sein; es mag mit der Schnelligkeit und Sicherheit eines Senkbleis auf den literarischen Grund gesunken sein und nur ein paar flüchtige Blasen hinterlassen haben. Doch es war nichtsdestoweniger ein ernsthaftes Symptom, und wenn es zufallig seine Tausende und Zehntausende erschlagen hätte, wer von uns wäre vorbereitet gewesen, sich kritisch und kundig mit dem Buch auseinanderzusetzen? Sein Verfasser war jedenfalls kein bloßer isolierter Außenseiter, und wenn wir auf der Linken und vom nach links neigenden Zentrum es nicht schaffen, unsere nationale Vergangenheit optimal zu nutzen, so können wir sicher sein, daß es andere gibt, die darin nicht versagen, und zwar teilweise deshalb nicht, weil die Vergangenheit natürlich nicht aus einem Stück besteht. Es gibt eine autoritäre, unliberale, spießbürgerliche Richtung, genauso wie es eine demokratische Linie gibt. Einige der bemerkenswerten Schriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts waren puritanische theokratische Prediger, in deren Augen der natürliche Mensch, wie einer von ihnen schrieb, „voller Sünde, so voll wie eine Kröte voller Gift ist, so voll, wie seine Haut es nur umspannen kann" geboren wird; 301 und sie waren der Ansicht, daß der natürliche Mensch unter strenger Kontrolle zu halten sei. Es gab Schriftsteller amerikanischer Herkunft, die ihre beträchtlichen Fähigkeiten während der amerikanischen Revolution zugunsten der Sache der 18 New York 1935/37
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Konservativen verwendeten. Die besten unserer frühen Schriftsteller waren Männer, die die unter dem Einfluß von Jefferson und Jackson stehenden Volksmassen mit mißfälligem und befremdetem Blick betrachteten. Hochbegabte amerikanische Schriftsteller verteidigten die „besondere Einrichtung" des sklavenhalterischen Südens oder tadelten eine Erörterung der peinlichen Frage. Seit dem Bürgerkrieg hat es nicht an Männern von Talent gefehlt, die für unsere Dollaroligarchien, unsere politischen Hurrapatrioten, unsere Soldaten des Empire Propaganda geleistet haben. Besonders im Verlaufe der letzten Generation hat es Schrifsteller gegeben, die eine verderbliche Menschenfeindlichkeit propagiert oder wie Belial302 „schändliche Bequemlichkeit und friedliche Faulheit empfohlen" haben. Wir bestreiten keinen Augenblick, daß diese Dinge tatsächlich vorhanden sind. Wir behaupten nur, daß sie den negativen, den hinderlichen, den unfruchtbaren Aspekt bilden, den die Realität stets als eine ihrer Seiten zu repräsentieren pflegt. Wir behaupten, daß die wahre Bedeutung des sozialen und kulturellen Abenteuers Amerika seine demokratische Bedeutung ist und daß eine der wesentlichsten Wahrheiten über die amerikanische Literatur darin besteht, daß sie über einen Zeitabschnitt von drei Jahrhunderten den Prozeß des allmählichen Reifens der demokratischen Idee, ihrer Verwirklichung und Vertiefung, widerspiegelt. Die Männer des siebzehnten Jahrhunderts, die, unserer Auffassung nach, die Zukunft repräsentieren, waren nicht die Befürworter der Theokratie von Massachusetts, nicht die John Cottons und Increase Mathers, sondern die einfachen, sich ihnen entgegenstellenden Demokraten, waren Thomas Hooker aus Hartford, Roger Williams aus Providence und John Wise aus Ipswich. Die Vorfahren, die wir in diesem Jahrhundert anerkennen, sind der Staatsbegründer aus Connecticut, 303 der der Ansicht war, daß „die Grundlage staatlicher Autorität vornehmlich in der freien Übereinkunft des Volkes liege" und daß „die Wahl öffentlicher Bevollmächtigter nach Gottes eigenem Ratschluß dem Volk unterliege" ; der Sucher aus Rhode Island, 304 der die Ansicht vertrat, daß „die Souveräne Macht aller bürgerlichen Gewalt in der Übereinkunft des Volkes begründet sei"; der aus Essex County stammende Pfarrer, der meinte, daß „alle Menschen kraft eines natürlichen Rechtes frei geboren seien, und da die Natur alle Menschen auf gleichen Fuß gestellt und gleich geschaffen habe, keine Sklaverei oder Unterdrückung ohne Ungleichheit denkbar sei". Wir halten es nicht für zufallig, daß das Buch, in dem John Wise 305 diese und andere demokratische Grundsätze darlegte, sechzig Jahre später, am Vorabend der Revolution, neu aufgelegt und von Dutzenden von Männern gelesen wurde, die eben im Begriff standen, Verbindungskomitees zu gründen und im Kampf gegen Willkür und Gewalt die Waffen zu erheben. In den Jahren, die vergangen sind, seit 1639 in Hartford die Grundrechte 306 angenommen wurden, hat der demokratische Gedanke einen Prozeß der Klärung und Vervollkommnung durchgemacht. Die Klärung kam vor allem durch das geistige Ferment der Aufklärung zustande: Die Vervollkommnung hingegen war das Werk jener zuneh274
menden Verfeinerung der Gefühlskultur, jener immer wärmeren menschlichen Empfindung, die das andere Gesicht des achtzehnten Jahrhunderts bildete. Was in der Zeit von Hooker und Williams als starke und einfach bürgerliche Überzeugung mit moralischen Obertönen des Protestantismus begonnen hatte, war zur Zeit Franklins, Paines und Jeffersons eine Konzeption geworden, einerseits in Einklang mit dem Geist der Aufklärung; eine Konzeption der Demokratie, die sehr stark das Recht aller Menschen auf geistige Unabhängigkeit, Diskussionsund Meinungsfreiheit, auf die freie Erlangung von Wissen und Wahrheit betonte. Andererseits war diese Auffassung von Demokratie zur Zeit John Woolmans und Philip Freneaus zu einem leidenschaftlichen Gefühl für menschliche Gleichheit, nicht so sehr im moralischen oder intellektuellen als im persönlichen und geistigen Sinne, geworden; zu einer Abscheu vor den aus der Ungleichheit resultierenden Nöten und Grausamkeiten, zu einem Streben nach dem, was Woolman 3 0 7 „die wahre Harmonie des Menschengeschlechts" und Freneau 3 0 8 den „lieblichen philanthropischen Gedanken" nannte. Das waren die Männer, die die amerikanische Revolution sozusagen im ethischen Sinne ermöglichten. Vermochten die großen Schriftsteller des Zeitalters etwas Wesentliches dem hinzuzufügen, was sie von den demokratischen Denkern und Dichtern, die ihnen vorausgegangen waren, übernommen hatten? An Theorie konnten sie vielleicht nur wenig hinzufügen: An Lebensführung, wachsender Einsicht und an menschlicher Verwirklichung fügten sie viel hinzu. Es ist nichts Neues, wenn man sagt, daß ihr Denken und Fühlen sich vor allem in zwei Richtungen bewegte. Was bei den Transzendentalisten, bei Channing, Emerson, Thoreau am gewichtigsten war, war eher die Idee der Freiheit als die der Gleichheit oder Brüderlichkeit; doch es war die Idee einer Freiheit, verwurzelt in einem tiefen poetischen Verständnis der Würde, j a der Heiligkeit der Persönlichkeit, des menschlichen Individuums, des Menschen schlechthin; es war eine Idee, die das schändliche Schauspiel der Sklaverei, der Ausbeutung und all dessen, was auch immer das freie Individuum beschränkte oder verkümmern ließ, unerträglich fand; diese Idee erweiterte beträchtlich das gesamte demokratische Programm, in dem sie Channings „Selbstverwirklichung", Emersons leidenschaftliche Selbsterfüllung und Thoreaus Besessenheit von der inneren, eigentlichen Qualität des individuellen Lebens mit aufnahm. Diese Männer blieben Demokraten einer etwas kühlen und ungeselligen Art, obwohl sie das nicht hinderte, für den flüchtigen Sklaven und für John Brown einzutreten. Um die demokratische Lebensweise weiter zu vermenschlichen, war ein Geist nötig, den man beim Transzendentalismus in seiner reinsten Ausprägung kaum finden wird: ein Geist, der gleichzeitig schlichter und kräftiger, geselliger und weltlicher ist; ein Geist, für den das Gleichgewichtsgefühl eine menschliche und heimische Gewohnheit geworden ist und das Gefühl der Brüderlichkeit eine nachbarschaftliche Realität. Diese Gesinnung war Roger Williams oder John Wise, Paine oder Woolman sicherlich nicht fremd; doch es blieb der Generation, die Lincoln hervorbrachte, vorbehalten, eine demokratische 18*
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Liebe für den einfachen Menschen im umfassenden Sinne zu verwirklichen, das Gewöhnliche und Einfache im Menschen dem Seltenen und Einzigartigen vorzuziehen, jenes dem Menschen natürliche, auf Gleichheit beruhende Gemeinschaftsgefühl zu wecken und zu fördern, mit dem alle Männer und Frauen miteinander leben und arbeiten können. Das ist die Gesinnung, die in den ungekünstelten Balladen und Idyllen Whittiers zur Blüte gelangt; die Longfellow, der zugleich Gentleman und Gelehrter war, den vielen Tausenden ungebildeter Durchschnittsmenschen so wert und teuer machte; der Lowell seine besten Inspirationen verdankte ; die in so großartiger und musikalischer Weise sich in den Leaves of Grass (Grashalmen) ausdrückt; und die, da sie das Leben des Mittelwestens so beherrschte, unaustilgbar in die Köpfe und Herzen eines Howells, eines Mark Twain eindrang. Jedoch nicht einmal zu diesem Zeitpunkt hat unser derzeitiger Demokratiebegriff seine vollen Konturen angenommen. Noch immer war es einerseits erforderlich, daß die Männer des Jahrhundertendes und der Roosevelt- und Wilsonära entdecken mußten, was einige auch taten, daß Demokratie mit einer naturalistischen Sicht der Dinge nicht unvereinbar ist; daß das demokratische Programm keiner Verteidigung auf theologischer, rationalistischer oder transzendentaler Basis bedarf, sich vielmehr mit dem, was wir von Physik und Biologie wissen, harmonisch verträgt; daß die moderne Wissenschaft dieses Programm nicht nur nicht zerstört, sondern im Gegenteil ein mächtiger Hebel desselben ist. Durch diese und andere Erkenntnisse gelangten die Schriftsteller schließlich zu der Einsicht, eine wie trügerische Sache die Demokratie ist, solange man ihr nicht eine feste materielle Basis gibt, solange nicht rein politische und moralische „Rechte" allen Menschen zugänglich und zu jenen physischen Existenzmitteln geworden sind, ohne die das Leben tierisch, biologisch und menschlich arm und elend ist; solange sich nicht zu der formalen Demokratie mit Wahlrecht und Parteiclique die wirkliche Grundlage ökonomischer Freiheit und Gleichheit gesellt hat. Mit fortschreitender Zeit wurde in bedrückender Weise deutlich, daß mächtige und selbstsüchtige Kräfte im amerikanischen Leben in eigensinniger Weise den in diese Richtung führenden Weg versperrten; und das sich verstärkende Bewußtsein, daß ganze Menschenklassen, die von den gesicherten Vorzügen der Demokratie abgeschnitten waren, Zugang zu ihnen erhalten mußten — dieses Bewußtsein war es, das in den achziger und neunziger Jahren dem Werk eines Howells, eines Bellamy, eines Hamlin Garland mächtigen Auftrieb verlieh; das wenig später die Romane Jack Londons, Upton Sinclairs und Robert Herricks verband und in einem Schwerpunkt konzentrierte; das in angemessener Weise aus den mannigfaltigen Mustern der Prosa Dreisers und Andersons hervorleuchtete; das einige der stärksten Dichtungen Lindsays und Sandburgs inspirierte und die Kritik eines Randolph Bourne und Van Wyck Brooks verschärfte. Der gute Demokrat darf, wie diese Männer begriffen, sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen, zumindest nicht in einer industriellen Gesellschaft, die von gegensätzlichen Interessengruppen zerrissen ist. Das Gesamtziel des demokrati276
sehen Vorhabens — sein soziales, ökonomisches, ethisches und kulturelles Ziel — verwirklichen, bedeutet nicht, wie sie einsahen, nur die Teilerfolge der Vergangenheit zu akzeptieren, vielmehr für seine gänzliche künftige Verwirklichung zu kämpfen. Nunmehr, da wir erkennen, wie alle Kräfte der Geschichte auf diese Verwirklichung hinarbeiten, können wir uns ohne Eitelkeit und Täuschung als legitime Nachfahren jener Schriftsteller bezeichnen; können wir, wenn wir wollen, ihre Namen und Äußerungen in unseren eigenen Kämpfen heraufbeschwören ; können wir aufrichtig mit dem größten aller demokratischen Dichter sagen: Ich spreche die urerste Losung, ich gebe das Zeichen der Demokratie. Bei Gott! ich will nichts haben, wovon nicht ein jeder seinen Teil haben kann unter den gleichen Bedingungen. 309
7 Benjamin Albert Botkin Regionalismus und Kultur Der Begriff des Regionalismus 310 steht sowohl für eine Tatsache wie für eine Theorie, und da das Ideal leicht dazu neigt, genau dort zu falschen Vorstellungen zu führen, wo die Wirklichkeit zu richtigen führt, gilt es beide sorgfaltig zu unterscheiden. Das ist besonders wichtig im Hinblick auf die Tatsache* daß bisher der Regionalismus durch sein Bündnis mit gescheiterten Bewegungen stets Schaden gelitten hat; dabei muß er überhaupt nicht Ursache sein, vielmehr nur Ergebnis, Folgeerscheinung kultureller Mannigfaltigkeit sowie durch geographische Ausbreitung und historische Streuung der Kultur bedingten Wandels. Und für diejenigen unter uns, die an regionaler Kulturarbeit interessiert sind, ist es wichtig, deutlich zu unterscheiden zwischen einer Phase, die der kulturellen Anpassung günstig und einer solchen, die der Anpassung ungünstig ist. Man kann sich durchaus für die kulturelle Anpassung, die kulturelle Dynamik in den sich innerhalb einer oder zwischen mehreren Regionen abspielenden Kontakten, Konflikten, Beziehungen, kulturellen Angleichungen oder Abweichungen interessieren, ohne selbst ein bewußter oder doktrinärer Regionalist zu sein. Und in der Tat hat der realistische Sinn für die Gegebenheiten einer — geographischen, historischen, sozialen, ökonomischen, politischen und geistigen — Landschaft bisher den größeren und besseren Teil von Regionalliteratur hervorgebracht; den besseren Teil deshalb, weil der praktische Regionalismus einer wahren Auffassung von Kultur im ethnologischen Sinne als einer Totalität von Reaktionen und einem kontinuierlichen Vervollkommnungsprozeß näherkommt als der theoretische Regionalismus. Dieser Regionalismus begeht den Fehler, Kultur mit einem besonderen Charakterzug oder Komplex, einer besonderen Lebensweise — beispielsweise der des agrarischen Südens oder des spanischen 277
sehen Vorhabens — sein soziales, ökonomisches, ethisches und kulturelles Ziel — verwirklichen, bedeutet nicht, wie sie einsahen, nur die Teilerfolge der Vergangenheit zu akzeptieren, vielmehr für seine gänzliche künftige Verwirklichung zu kämpfen. Nunmehr, da wir erkennen, wie alle Kräfte der Geschichte auf diese Verwirklichung hinarbeiten, können wir uns ohne Eitelkeit und Täuschung als legitime Nachfahren jener Schriftsteller bezeichnen; können wir, wenn wir wollen, ihre Namen und Äußerungen in unseren eigenen Kämpfen heraufbeschwören ; können wir aufrichtig mit dem größten aller demokratischen Dichter sagen: Ich spreche die urerste Losung, ich gebe das Zeichen der Demokratie. Bei Gott! ich will nichts haben, wovon nicht ein jeder seinen Teil haben kann unter den gleichen Bedingungen. 309
7 Benjamin Albert Botkin Regionalismus und Kultur Der Begriff des Regionalismus 310 steht sowohl für eine Tatsache wie für eine Theorie, und da das Ideal leicht dazu neigt, genau dort zu falschen Vorstellungen zu führen, wo die Wirklichkeit zu richtigen führt, gilt es beide sorgfaltig zu unterscheiden. Das ist besonders wichtig im Hinblick auf die Tatsache* daß bisher der Regionalismus durch sein Bündnis mit gescheiterten Bewegungen stets Schaden gelitten hat; dabei muß er überhaupt nicht Ursache sein, vielmehr nur Ergebnis, Folgeerscheinung kultureller Mannigfaltigkeit sowie durch geographische Ausbreitung und historische Streuung der Kultur bedingten Wandels. Und für diejenigen unter uns, die an regionaler Kulturarbeit interessiert sind, ist es wichtig, deutlich zu unterscheiden zwischen einer Phase, die der kulturellen Anpassung günstig und einer solchen, die der Anpassung ungünstig ist. Man kann sich durchaus für die kulturelle Anpassung, die kulturelle Dynamik in den sich innerhalb einer oder zwischen mehreren Regionen abspielenden Kontakten, Konflikten, Beziehungen, kulturellen Angleichungen oder Abweichungen interessieren, ohne selbst ein bewußter oder doktrinärer Regionalist zu sein. Und in der Tat hat der realistische Sinn für die Gegebenheiten einer — geographischen, historischen, sozialen, ökonomischen, politischen und geistigen — Landschaft bisher den größeren und besseren Teil von Regionalliteratur hervorgebracht; den besseren Teil deshalb, weil der praktische Regionalismus einer wahren Auffassung von Kultur im ethnologischen Sinne als einer Totalität von Reaktionen und einem kontinuierlichen Vervollkommnungsprozeß näherkommt als der theoretische Regionalismus. Dieser Regionalismus begeht den Fehler, Kultur mit einem besonderen Charakterzug oder Komplex, einer besonderen Lebensweise — beispielsweise der des agrarischen Südens oder des spanischen 277
oder indianischen Südwestens — zu identifizieren, das heißt, ein bestimmtes soziales Milieu für gegeben und eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung als endgültig zu nehmen. Ein solcher ethnisch orientierter Zentrismus und Partikularismus sind, weit davon entfernt ,kulturell' zu sein, in Wirklichkeit kulturfeindlich, weil sie geschichtsfeindlich und gegen eine kulturelle Anpassung gerichtet sind. Die einer kulturellen Anpassung feindlichen Phasen des Regionalismus sind am besten in einem Gebiet wie dem Südwesten zu veranschaulichen, wo der durch die Beschleunigung des Maschinenzeitalters bewirkte Ansturm industrieller Lebensformen auf vorindustrielle Formen eher ein Ineinander als ein Übereinander der Kultur ausgelöst hat. Die unbewußten Regionalisten des Südwestens sind natürlich die Indianer und die Spanier; doch bei so bewußten Regionalisten wie Mary Austin hat der Widerspruch zwischen zivilisiert und primitiv eine völlige Wende verursacht. Dieser Umschwung nimmt zuerst die Form einer ,psychischen Reaktion' an, was sich aus dem Versuch erklärt, die verschiedenen Lebensweisen zu versöhnen, sodann, wenn die Versöhnung aufgegeben ist und man wieder zurück zu den vor der Anpassung existierenden Bedingungen flüchtet, die einer anpassungsfeindlichen Bewegung. „Flucht" wird in der Regel als Wahnvorstellung oder Psychose interpretiert; nach Aussage des Sozialanthropologen jedoch behalten solche anpassungsfeindlichen Bewegungen „ihre psychologische Wirkung a) als Kompensationen einer tatsächlich auferlegten oder nur vermuteten Minderwertigkeit, oder b) durch das Prestige, das eine Rückkehr zu früheren, vor der Anpassung herrschenden Zuständen den Beteiligten verleihen kann." Mary Austin fühlte sich, wie eine Lektüre ihrer Autobiographie Earth Horizon (ErdhorizontJ311 zeigt, dem modernen Leben psychologisch unterlegen, etwa so wie sich die spanischen Amerikaner und die Indianer mit ihrer versunkenen oder vergangenen Kultur ökonomisch als minderwertig empfinden. Sie versuchte als Künstlerin in Amerika heimisch zu werden; sie weigerte sich, den Weg der kosmopolitischen Auswanderin (der Entwurzelten) oder der gebildeten Großstädterin (der Wurzellosen) zu gehen, und wählte stattdessen die Lebensweise einer echten Provinzlerin, einer Verwurzelten also. Im Südwesten war sie zu Hause, hier fühlte sie sich zugehörig; hier konnte sie, wie sie sich ausdrückte, ihren natürlichen Neigungen leben und tat es auch. Leider kannte sie die Kultur der Indianer und ihrer spanischen Eroberer — welche Lücken auch immer in ihrem Wissen klafften — besser als die industrielle Zivilisation, von der beide besiegt worden waren. Und so wichtig kulturelle Bewegungen, einschließlich der Volks- und Regionalkunst, innerhalb von Revolutionen sind, wie Constance Rourke in The Significance of Sections312 bemerkte, so ist es doch ein gefährlicher Gedanke anzunehmen, daß politische und ökonomische Befreiung allein durch die Kultur zu erlangen seien. Die Bewegung des „neuen Neger" und des „bewußten Juden" sind anfänglich diesem Fehler verfallen, doch sind sie im Unterschied zum Volksund Heimatkünstler von der Art Mrs. Austins seitdem wieder vom Rassenund Kulturproblem zum Klassenkampf, vom Rassen- und Kulturbewußtsein 278
und der individualistischen Kunst zum Klassenbewußtsein, zur Massenkunst zurückgekehrt, weil sie eingesehen haben, daß rassische und kulturelle Probleme nur gelöst werden können, wenn die ökonomischen Probleme der Welt gelöst sind. Sie haben, wie Philip Stevenson es formulierte, als er über die Wiedergeburt des Südwestens schrieb, begriffen, daß: „Eine Rückkehr zur Vergangenheit für das Volk nur eine Rückkehr in die Sklaverei sein kann. Eine vom Volk erst noch zu erringende Freiheit, wenn wir diese gegen das etablierte Vorrecht erkämpfen wollen, liegt allein in der Zukunft. Heute ist kein Problem in lokaler Beschränkung zu lösen. Die Welt gehört auf Gedeih und Verderben zusammen." 313 Wenn die Vergangenheit nicht in die Gegenwart einbezogen wird, bedeutet eine Rückkehr in die Vergangenheit den Tod. „Hört nicht zu leben a u f , warnt Kyle S. Crichton die Regionalisten des Südwestens, „weil die Kunst selbst so eng mit dem Leben verbunden ist, daß keine Kultur auf Bestand hoffen kann, deren Wurzeln faulen." 314 Mrs. Austins Rückkehr in die Vergangenheit geschah allerdings nicht nur in Richtung Tod und Sklaverei. Sie versuchte auch, Vergangenheit und Gegenwart zu integrieren. Unter ihrer Schirmherrschaft bemühen Schriftsteller und Künstler des Südwestens sich, der gewaltsamen Assimilierung der Indianer Widerstand zu leisten und eine offizielle Anerkennung von Kunst und Kunsthandwerk, Kult und Traditionen der Indianer zur Hebung ihres ökonomischen Status und zur Stärkung ihres sozialen Prestiges zu erreichen. In gleicher Weise beförderten sie und ihre Gesinnungsgenossen die Sache der spanisch-kolonialen Volkskunst und Folklore, indem sie für eine Ausbildung von Künstlern und Kunsthandwerkern sorgten und Sammlungen, Übersetzungen und die Aufführung von Volksstücken unterstützen. Sie wirkte auch dadurch auf die amerikanische Regionalbewegung anregend, daß sie für andere örtliche Entwicklungen ein Beispiel setzte. Was ihr eigenes schöpferisches Werk betrifft, so schuf sie eine umfangreiche und wertvolle Regionalliteratur, wertvoll durch das, was sie „die eindringliche DetailKenntnis der westlichen Szene" und ihre schöpferische Bewahrung einstiger Lebens- und Wissensphasen nannte. Doch wenn alles gesagt und getan ist, befriedigt sie paradoxerweise ihr eingestandenes „Bedürfnis", den Menschen ihrer Zeit „näher" zu kommen, dadurch, daß sie sich von ihnen entfernt, daß sie sich nicht nur der Vergangenheit sondern auch der Natur zuwendet. Der Grund dafür ist darin zu suchen, daß Menschen und Gesellschaft ihr weit weniger interessant und wichtig waren als die drei Formen persönlicher geistiger Erfahrung, die sie Natur, Volk und Mystizismus nannte. Diese Trinität wuchs ihr in vager Weise zum guten Leben zusammen, das darin bestand, glücklich im Einklang mit dem Land zu leben, und diesem Leben in der Kunst Ausdruck zu verleihen. Obwohl eine Naturverehrerin, wußte sie, daß Landschaft allein nicht genügte, daß diese vielmehr für und durch die Menschheit zu retten sei. Menschheit aber bedeuteten für sie Volkstum, Eigenart, Genie, „Ästhetik als natürliches Ausdrucksmittel" und „höchste, immaterielle Wirklichkeit", beide 279
in gleicher Weise auf „einem völligen Durchdrungensein von der gegebenen natürlichen Umgebung" und „dem natürlichen, ursprünglichen Sinn für die bewußte Einheit aller Erscheinungen" beruhend. In ihrer Einsamkeit, Verblendung und Geistesverwirrung war Einfachheit ihr größtes Bedürfnis, jene Einfachheit, die sie weder in New York noch als Mädchen im mittleren Westen fand. Ihre Lösung war entsprechend einfach, allzu einfach. Sie bestand darin, Hingabe an die Umwelt an Stelle von Anpassung an die Gesellschaft zu setzen. Eine Lösung, die hingehen mag für jemanden, der nicht nur den „uralten Versuch unternahm, durch Nachahmung ins Innerste des Universums zu dringen", sondern der es auch dadurch nachahmt, daß er das Universum mit sich herumträgt. Für sie bildete das kosmische Gefühl, im Universum zu Hause zu sein (ähnlich wie beim Kosmopoliten das Gefühl, überall in der Welt zu Hause zu sein), den Ausweg aus einer „widerspruchsvoll motivierten Gesellschaft". Doch die besondere Ironie und Tragödie ihrer Position, da sie auf Persönlichkeit, auf persönlichen Charakter, persönliche Integrität, persönliche Teilnahme, auf alles baute außer auf persönlichen Charme (den sie zusammen mit der amerikanischen Doktrin vom „traditionellen Wert der Frau" verwarf), besteht darin, daß sie zu Lebzeiten zwar imstande war, ihre Stellung und die Bewegung aufrechtzuerhalten sowie deren Schwächen durch die Kraft ihrer überragenden Persönlichkeit auszugleichen. Mit ihrem Tode aber brachen sowohl ihr persönlicher Ruhm wie die Bewegung zusammen und erlitten somit das Schicksal aller individualistischen und ethisch-kulturellen Wegweiser und Bewegungen, die den Akzent eher auf Charakter und persönliches Verhalten, auf „Beteiligung des Individuums an der Gemeinschaft" als auf eine „Interessengemeinschaft", auf Allen Tates persönliche im Gegensatz zur gesellschaftlichen Tradition setzen. Durch die Ablehnung der herrschenden Auffassungen von Region und Nation war Mrs. Austin bemüht, nicht nur ihre persönliche Minderwertigkeit, sondern auch die der Region und Nation zu kompensieren. Es war die Minderwertigkeit der in westliche Kultur verpflanzten Bewohner des Ostens, die das Leben und die Kunst ihrer neuen Umwelt snobistisch verachteten und die Übernahme und Nachahmung der östlichen und europäischen Kultur bevorzugten. Es war die Minderwertigkeit einer Kultur des Mittleren Westens, die Kultur mit „kultiviert sein" verwechselte und für eine Form sozialer Überlegenheit in einer demokratischen Gesellschaft hielt. Und es war die Minderwertigkeit eines kolonialen Amerika, innerhalb dessen der Osten in snobistischer Unkenntnis über die koloniale Provinz war, und über das als ganzes gesehen das Mutterland wiederum in snobistischer Unkenntnis war. Unter dem Druck dieser vereinten Minderwertigkeiten (und das kann man in der gesamten amerikanischen Literatur beobachten) blieben die Hoffnungen von Künstlern wie Mary Austin stets leer und unerfüllt, wurden diese Künstler zu Märtyrern für die Sache des Selbstverständnisses („zur Rechtfertigung meiner selbst und als Antwort auf die Frage, wozu ich da bin"), 280
für die Verkündung und Beförderung der unverwechselbaren amerikanischen Literatur, die aus dem, was sie eigenhändig und ohne jede Hilfsmittel in die kulturelle Wildnis Amerikas hinein zu tragen vermochten, erwachsen ist. Kehren wir also zu unserem Ausgangspunkt zurück: dem Künstler, der in Amerika zu Hause sein wollte und weit davon entfernt landete — in der Wildnis, im Kosmos, im Universum, überall, nur nicht im modernen industriellen Amerika. Die gleichen Fehler und Irrtümer — Übersimplifizierung, Rückfall und dualistisches Dilemma —, die gleiche Isolation, die gleichen Opfer sind das Schicksal einer zweiten sich rückläufig entwickelnden Regionalgruppe, der Agrarier des Südens.315 Jede Liebesmüh zwischen diesen Agrarien und den Regionalisten des Südwestens ist verloren. Die Vernarrtheit der letzteren in Land und Volk wird von den Agrariern verächtlich abgetan als bloßes Lokalkolorit, provinzieller Lokalpatriotismus, Exotismus, antiquiertes Lebensgefühl und dergleichen. Und dennoch, trotz all ihrer Verachtung darüber, daß die Bewohner des Südwestens sich wieder Vergangenheit und Natur zugewandt haben, klingt, was die Agrarier hervorbringen, dem von ihren südwestlichen Nachbarn Hervorgebrachten ziemlich ähnlich (viele von ihnen sind verplanzte Südwestler, die sicher für den Süden entweder zu gut oder ein bißchen zu schlecht waren). Zum Beispiel: Dieser Konflikt zwischen „Vorwärtskommen" und ein gutes Leben führen, zwischen Handeln und Sein, ist ein Grundproblem amerikanischer Kultur. Das könnten die Worte Mary Austins sein. Es könnten übrigens auch die Worte Emersons oder Thoreaus sein, Matthew Arnolds oder Norman Foersters, Thomas Jeffersons oder Percy oder Benton MacKayes. Zufällig stammen sie von Herbert Agar. Da Mr. Agar in seinem Vermächtnis „Kultur gegen Kolonialismus", es trägt den Titel Land of The Free (Land der Freien)?16 ein nahezu fast gleiches Dilemma wie Mary Austin darbietet, habe ich ihn als Sprecher^für die „Gebildeten" des Südens gewählt. Der Hauptunterschied, den ich zwischen den Agrariern und den Regionalisten des Südwestens habe entdecken können, besteht darin, daß jene praktische Primitivisten sind, mit einem Reformprogramm, wohingegen diese nur sentimentale Primitivisten sind, die einer „gefühlsmäßigen Nostalgie oder idyllischen Tagträumen" nachhängen. Doch jene sind auch „sanfte Primitive", die sich nach einem guten Leben, das ein gutes und leichtes Leben ist, sehnen, während diese die „rauhen Primitiven" sind, von der Gesinnung des „edlen Wilden" — harte, rauhe Burschen, die sich nach der Steinzeitkultur der ehemaligen Grenzgebiete sehnen. So steht das ritterliche Zeitalter gegen das heroische — alles andere nur nicht das Maschinenzeitalter. Sowohl die Agrarier als auch die Regionalisten des Südwestens treten für Mr. Agars „Loslösung von der Welt-Stadt" ein. Doch während die Südweststaatler bei ihrer Loslösung sich in die Erinnerung ihrer ursprünglichen und „einheimischen" Vorläufer flüchten, flüchten sich die Agrarier „in die Erinnerungen ihrer Vorväter", die irgendwie behaglicher und der Erinnerung denkwürdiger sind. 281
Oder sollte man sagen, weil der Süden vorwiegend angelsächsisch ist, stehen die Bewohner des Südens der Tradition näher als die Angelsachsen im Südwesten, und darum setzen die Agrarier auf Tradition. Wohingegen man im Südwesten, wo die Umwelt ziemlich deutlich sichtbar und einem näher ist — besonders in der Dust Bowl („Streusandbüchse") 317 — auf Umwelt setzt. Denn die Agrarier halten nicht viel von Umwelt, es sei denn die allgemeinhin übliche ländliche, wie sie jeden Agrarier, besonders im Mittleren Westen, empfangt. Doch vielleicht liegt der tatsächliche Unterschied darin, daß, während im Südwesten die Antinomie zwischen „Kultur erwerben" und „Kultur besitzen" besteht, sie im Süden „reich werden" oder „reich sein", heißt, reich an Land oder arm an Land? „In der Religion des Südens", schreibt Mr. Agar, „braucht derjenige, der genug besitzt, seine Bedürfnisse zu befriedigen, nicht ,unaufhörlich arbeiten, um reich zu werden'. In weniger biblischer Sprache ausgedrückt, die Agrarier würden zu denjenigen von uns, die unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft, das heißt, des unkontrollierten privaten Unternehmertums, nicht reich werden können, sagen: Zum Teufel mit dem privaten Unternehmertum! Wir nehmen das Privateigentum!" Gestatten Sie mir, auf die Gefahr hin übermäßig zu simplifizieren, auf die ethischen und ästhetischen Feinheiten der agrarischen Metaphysiker und Theologen einzugehen und in einer Reihe von vierzehn Punkten, teils zitiert, teils umschrieben, aus The Land of the Free (oder Zwanzigtausend Meilen unter dem Meere) ein genaues Bild, wo nicht des Agrariertums, so doch des agrarischen Aspekts der Kultur zu zeichnen. 1. Kultur ist Sein (als Gegensatz, möchte man hinzufügen, nicht von Nichtsein oder Werden, sondern von Handeln). 2. Sein ist Seßhaftwerden, Sicheingraben, Wurzeln schlagen, ein örtlich gebundenes Leben rings um das Heim begründen. 3. Kultur ist ländlich, sie besitzt eine lebendige Beziehung zwischen Mensch und Umwelt. " 4. Kultur ist ortsgebunden. 5. Kultur (das heißt, die ländliche und ortsgebundene Kultur — das ist alles dasselbe) gehört zum Süden und Mittelwesten. 6. Die Kultur leitet ihre Kraft aus der amerikanischen Vergangenheit her. 7. Die Kultur wird den amerikanischen Traum durch Leben verwirklichen, vereinbar gelebt mit diesem Traum — der als „eine Demokratie freier und gleicher Menschen definiert wird". 8. Kultur beruht auf dem Privateigentum, das definiert wird „als die einzige soziale Institution, die Gleichheit erzeugt" (und, möchte man hinzufügen, mehr Privateigentum, Armut und mehr Armut, und Ungleichheit). 9. Kultur ist eine Rückkehr zu einer Gesellschaft, die ein „geistiger Organismus" und kein „mechanischer Organismus" ist (eine Verwirrung des Sozialen mit dem Organischen). 10. Kultur beruht auf einer Existenz sichernden Ökonomie — der Existenz 282
sichernden Farmlandwirtschaft (daher eine Ethik der Beschränkung oder der ökonomischen Askese, obwohl das mit den „Annehmlichkeiten" in Widerspruch zu stehen scheint). 11. Eine Vorbedingung für diese Kultur ist ein mildes Klima (trotz des in FU Take My Stand [Ich halte meinen Standpunkt J318 Gesagten, daß die „richtige Lebensweise . . . nicht vom örtlichen Klima oder der Geographie abhängt"). 12. Kultur glaubt an Absolutheiten. Was damit gemeint ist, geht aus folgendem Zitat Mr. Agars hervor: „Ein Ergebnis davon (des südlichen Klimas und der Umwelt) ist eine Gefühlsintensität, die ihren Ausdruck in einer Art heftiger Handlungsweise findet, die der New Yorker Journalist für unzivilisiert hält . . . In New Yorker Redeweise gilt als zivilisiert, wenn man Pazifist ist . . . und sich nicht im mindesten darum kümmert, ob die eigene Ehefrau mit einem Neger oder einer Negerin ins Bett geht. . . . Unsere Anführer der Zivilisation versuchen sämtlichst den Kampfgeist nicht durch Besserung seiner (des Menschen) moralischen Natur zu dämpfen, sondern dadurch, daß sie ihm die lebensnotwendigen Überzeugungen rauben, für die er einst kämpfte. (Zu den ,lebensnotwendigen Überzeugungen', die Mr. Agar erwähnt, zählen die Religion und das Rassenvorurteil)... Im Gegensatz dazu macht es das Wesen der Kultur aus, an absolute Werte zu glauben, das Leben ernst zu nehmen, im Falle der Provokation m i t B e d a u e r n gewalttätig zu werden. (Die ,Gewalt', die man n a c h vollendeter Tat stets bedauert, ist eine höfliche Umschreibung des Lynchmordes.)" 13. Kultur glaubt an eine Loslösung von Europa (und allem übrigen). 14. Kultur ist Wohlsein. Das bedeutet nach Mr. Agar: In weltlichen Worten ausgedrückt, eine Gesellschaftsordnung fördert Wohlbehagen, wenn sie nach Glück und Zufriedenheit strebt; in religiösen Begriffen ausgedrückt, sie fördert Wohlbehagen, wenn sie nach Heil und Erlösung s t r e b t . . . das Wesen des Wohlseins für den einzelnen ist innerer Friede, eine Harmonie, die jene erfüllt, die sich in dieser Welt zu Hause fühlen und ihren Frieden mit der nächsten geschlossen haben. In all dem findet sich kein Wort vom Proletariat, wohl weil ihm innerer wie äußerer Friede fremd sind. Oder wie Mr. Agar es ausdrückt: „Ich habe fast nichts über das amerikanischen Proletariat gesagt. Meine zivilisierten' Freunde mögen das Gefühl haben, daß das allein Grund genug ist, meine Hoffnungsfreudigkeit als eine gewöhnliche Tirade abzutun. Doch der wahre Grund, warum ich nicht auf das Proletariat eingegangen bin, ist der, daß ich nicht viele seiner Angehörigen für wahre Proletarier halte." Mr. Agar ist eher hoffnungsvoll als hilfreich. Mit einer bloßen „Tirade" hat er in einem einzigen Satz die klassenlose Gesellschaft geschaffen. Seine Hoffnungsfreudigkeit beschränkt sich jedoch nicht nur auf das Proletariat. Sie erstreckt sich ebenfalls auf den Neger und das Negerproblem: Auch sie existieren nicht. Auch ist diese Hoffnungsfreudigkeit hinsichtlich des Proletariats nicht auf den Süden begrenzt. Ich habe auch Südweststaatler bestreiten hören, daß wir in 283
Amerika ein Proletariat haben. So wie die europäischen Bauern und Gespenster ist das Proletariat nie über den großen Teich gelangt. Die Erklärung für die agrarische Lösung des Klassen- und Rassenproblems ist so wie die Lösung selber, einfach. Der agrarische Süden ist angelsächsisch, weiß, demokratisch, protestantisch und begütert. Vor allem ist er angelsächsisch. So wird T. S. Eliot, ein ernsthafter, doch nicht unkritischer Mitläufer der Agrarier, sehr deutlich, wenn er zu den Vorbedingungen des „besten Lebens" (er steigert das „gute") eines „bestimmten Volkes in einer bestimmten Gegend" (seine Definition einer Regionalkultur) nicht nur Stabilität und Homogenität der Bevölkerung rechnet, sondern auch „die Einheitlichkeit der religiösen Herkunft", in der sich „Gründe der Rasse und Religion verbinden und damit jede größere Anzahl freidenkerischer Juden unerwünscht machen". In dem gleichen Geist geht Allen Täte, wenn er über den Neger schreibt, sehr großzügig mit dem Rassenproblem und „Liberalen wie Professor Couch" 319 um, „der in der angelsächsischen Herrschaft keine .Gerechtigkeit' findet": „Das ist keine Frage sentimentaler Gerechtigkeit. Ich argumentiere folgendermaßen: Die weiße Rasse scheint bestimmt zu sein, die in ihrer Mitte lebende schwarze Rasse zu beherrschen; daher beabsichtige ich die weiße Herrschaft zu unterstützen. Die Lynchjustiz ist ein Symptom einer schwachen, unwirksamen Herrschaft; doch man kann sie nicht durch M a c h t s p r u c h oder soziale Agitation vernichten; die Lynchjustiz wird verschwinden, wenn die weiße Rasse gewiß ist, daß ihre Vorherrschaft in sozialen Krisen nicht in Frage gestellt wird." Was immer ihre Fehler sein mögen, so hat doch Mrs. Austin, zu ihrer bleibenden Ehre sei es gesagt, niemals die weiße Vorherrschaft vertreten oder die „protestantische Garnison" im Südwesten befürwortet. Doch jetzt sollte klar sein, worauf das alles hinausläuft. Die Welt des reaktionären und regressiven Regionalismus ist eine private und eine statische Welt, eine individualistische und aristokratische, die Kultur als Lebensziel betrachtet und sie mit persönlichem oder individuellem Wohlbehagen und mit Sensibilität identifiziert. (Tradition, schreibt Täte, ist „eine besondere Organisationsform individueller Sensibilität"; und Kultur besteht nach John Crowe Ransom „vor allem darin, daß man eine feinstrukturierte Sensibilität besitzt und sie verteidigt, selbst während wir in das ernste Geschäft des praktischen Lebens verstrickt sind"; und sie ist „etwas, dem man, wie der Gnade Gottes, glauben muß, daß sie aus eigenem Antrieb kommt".) Dieser Kult der Sensibilität wird von Ransom dem Verstandeskult (dem Humanismus) und dem Wissenschaftskult (InduStrialismus) gegenübergestellt und von Donald Davidson dem Kult des ökonomischen Materialismus und Determinismus (funktioneller Regionalismus und regionale Planung). Er beruht trotz des Unbewußten, und trotz des automatischen Wesens der Tradition, die nach der Definition der meisten Agrarier mit Instinkt und Vorurteil fast gleichbedeutend ist, auf der Freiheit der Entscheidungsmöglichkeit. Er beruht auf dem 284
Idealismus, auf guten Absichten und auf Wunschdenken. Er besagt, mit Agar, daß „ein ökonomisches System verändert werden kann, wenn seine moralischen Voraussetzungen klar begriffen und als unerfreulich empfunden werden", und, mit Eliot, „daß, wenn etwas als wünschenswert allgemein akzeptiert wird, so können ökonomische Gesetze begründet werden, um es zu erreichen; daß es gegenwärtig nicht so sehr darauf ankommt, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen praktisch sind, als vielmehr darauf, ob das Ziel ein gutes ist und ob die Alternativen unerträglich sind". Die menschlichen Werte, nach denen das Agrariertum trachtet — Freude an der Arbeit, Gefühl der Berufung, Stabilität der Beschäftigung und natürlicher Absatz — sind die menschlichen Werte, nach denen wir alle trachten; doch in den Händen der Agrarier neigen sie dazu, „unwägbare Werte" zu werden, die bezogen sind auf das Ziel eines „privaten, in sich abgeschlossenen und vorwiegend geistigen Lebens", in dem die „fundamentalen menschlichen Handlungen" von der „sozialen Struktur" losgelöst sind. Es genügt nicht, den Mangel von Werten in der Industriegesellschaft anzufechten, die Werte müssen dem Leben wiedergegeben, nicht von ihm losgelöst werden. Die Mängel und Beschränkungen des Agrariertums und jedes reaktionären Regionalismus rühren von dem Grundirrtum her, den Regionalismus als ein spezifisch ländliches und Teilproblem zu sehen, als Ergebnis der Isolation und Selbstgenügsamkeit, anstatt ihn als ein industrielles und daher auch ein weltweites Problem, das „Produkt des Arbeitskontaktes und der Arbeitsteilung" zu betrachten. Mit dem Ende der kulturellen Isolation ist, worauf in einem unveröffentlichten Bericht des National Resources Committee320 über Kulturelle Verbreitung im amerikanischen Leben hingewiesen wurde, keine „Spannungsminderung" eingetreten, sondern der Konflikt hat sich von kulturellen Fragen auf ökonomische verlagert. Sich vorwiegend mit jenen auf Kosten der Vernachlässigung und Verdunklung dieser zu beschäftigen, ist der Fehler des Regionalismus, wie selbst ein Regierungsbericht enthüllt. Was ist aus dem Ruin zu retten? Als I n t e g r a t i o n innerhalb des Differenzierungs- und Dezentralisierungsprozesses enthält der Regionalismus verschiedene praktische und wertvolle Möglichkeiten für Gesellschaft, Kultur und Literatur. Diese Möglichkeiten umfassen eine Regionalwissenschaft — Regionalsoziologie, menschliche Geographie und menschliche Ökologie —, deren Hauptgesichtspunkt die Tatsache ist, daß die Volksgesellschaft Grundlage der Regionalgesellschaft sei, da diese eher dynamisch und beweglich als statisch ist, und daß das Studium beider, der Volks- wie der Regionalgesellschaft, „eine der wirksamsten Methoden zur wissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Gesellschaft" bildet. Ein hervorragendes Werk über diesen neuen kulturellen dynamischen Prozeß ist Dr. Howard W. Odums Southern Regions,321 eine umfassende, gemeinschaftliche Arbeit, die eine Synthese aller Regionalmethoden bringt. Vom marxistischen Standpunkt aus hat Constance Rourke auf einen proleta285
rischen Regionalismus, der sowohl Wissenschaft wie Literatur ist, hingewiesen und gezeigt, wie regionale Annahmen und Widerstände zu berücksichtigen sind, will man den Klassenkampf auf eine breitere Basis stellen. Umgekehrt muß der Regionalschriftsteller mit Klassenschranken rechnen, da sie kulturelle Fronten durchkreuzen. Wenn wir uns nun schließlich der Regionalliteratur zuwenden, so entdecken wir, daß die Praxis des Regionalismus günstiger aussieht als seine Theorie. Obwohl von der Schwäche des Provinzialismus — der Tendenz, die Einzigartigkeit der heimischen Umgebung zu überbetonen — nicht völlig frei, geben die Regionalschriftsteller zu, daß man seine Seele nicht mit dem Himmelsstrich ändert und daß die geographischen Beziehungen nicht deshalb wichtig sind, weil sie Kultur und Charakter bestimmen, sondern weil sie die soziale Struktur, die ihrerseits dem individuellen Charakter und der Handlungsweise unterliegt, modifizieren und wechselvoll gestalten. Regionalschriftsteller begehen nicht den Fehler, Kultur mit e i n e r Lebensweise zu identifizieren; sie beschreiben vielmehr Lebensweisen. Sie argumentieren nicht in dem engen Bannkreis eines Wunsches oder einer Formel: „Was ich erfahren habe, ist Kultur; darum ist oder sollte Kultur das sein, was ich erfahren habe." Die meisten denken vielmehr in Begriffen der Geschichtlichkeit der jeweiligen Region. Wiewohl allgemeine Übereinkunft darin herrscht, daß das Problem grundsätzlich genauso ein ökonomisches wie ein historisches ist, gibt es keine Dogmen darüber, wie diese Regionalliteratur zu schreiben ist. Sie umfaßt viele Schreibarten und Stile, die grob in fünf Methoden zur Erfassung der gesellschaftlichen Struktur klassifizierbar sind; d i e h i s t o r i s c h e , die sich mit der Erschließung des Landes, der Besiedlung, dem Wachsen der Gemeinden befaßt; d i e s o z i o ö k o n o m i s c h e , die sich mit dem Einzelmenschen in seiner Beziehung zu ländlichen wie städtischen sozialen Einrichtungen und Organisationen, mit Klassentreue und -konflikten befaßt; d i e e t h n o l o g i s c h e u n d f o l k l o r i s t i sche, die sich mit modernen Primitiven und Volksgruppen in Isolation und in Konflikt mit der industriellen Zivilisation oder im Übergang zu dieser befaßt; d i e p s y c h o l o g i s c h e u n d a u t o b i o g r a p h i s c h e , die sich mit dem Individuum in seiner von Kindheit an herrührenden Beziehung zu seiner natürlichen und sozialen Umgebung — Familie, Gemeinschaft, Klasse — befaßt; u n d R e p o r t a g e u n d L o k a l k o l o r i t — u n d R e i s e s k i z z e n aller Art. Da sind historische Romane, Siedlerromane, bodenständige Romane, Volksromane, im Indianer- und Negerleben angesiedelte Romane, Kleinstadtromane, Familienromane, Industrieromane, Kollektivromane. Hierher gehören nicht nur die augenfälligeren Volks- und Regionalschriftsteller, sondern auch viele Gesellschaftsromanciers und Romanschriftsteller proletarischer Herkunft. Die für mich bedeutsamsten Tendenzen der heutigen Regionalliteratur sind ihre Gewerbe und Industrie geltenden Trends, besonders wo diese mit dem Übergang von der Landwirtschaft zur Industrie befaßt sind, wie in den Werken von Grace Lumpkin und Fielding Burke. Diese Schriftsteller stellen eine Antwort dar auf 286
Granville Hicks Vorwurf, der Regionalismus habe seine Erwartungen nicht erfüllt 322 , denn wenn die Regionalisten die heutigen gesellschaftlichen Realitäten begriffen hätten, so würden sie die Wandlungen in ihrem regionalen Leben sehen und schildern, und, umgekehrt, um diese Wandlungen zu sehen und zu schildern, würden sie das heutige Leben begreifen müssen. Diese Schriftsteller stellen auch eine Antwort auf T. K. Whipples Beschwerde dar, daß die bodenständigen Romane „immer idyllischer würden, während die Realität (von den Fürsorgemaßnahmen einmal abgesehen) immer grausamer würde". 323 Schließlich erfüllen sie die Le Play Formel: 324 Ort—Arbeit—Volk sowie Constance Rourkes entsprechende Identifikation des Volks mit dem Proletariat in den „bescheidenen Einflüssen von Landschaft, Verwandtschaft und gemeinsamer Emotion" und der „langsamen Zunahme der Volkselemente", die für sie die Grundlage sowohl der Literatur wie der gesellschaftlichen Zusammenhänge bilden. Diese zeitgenössische und realistische Regionalliteratur kann sowohl für die Gesellschaft wie für die Literatur verschiedene wertvolle Funktionen erfüllen. Sie vermag aus erster Hand stammende Erfahrungsdaten über die Menschen, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu liefern. Sie trägt dazu bei, daß die Massen artikulationsfahig werden, indem sie sie ihre eigene Geschichte in ihrer eignen Sprache berichten läßt. Und sie liefert nicht nur Stoff und Material — sie schafft auch neue Formen, Stile und Arten der Literatur, indem sie Motive, Bilder, Symbole, Slogans und Idiome, Redewendungen unmittelbar, aus der Landschaft, der Arbeit und dem Volk schöpft. Und da sie mehr als eine Form der Literatur ist, kann sie dazu dienen, den sozialen Gedanken zu organisieren wie ihn auszulegen, und zu Integration und Neuorientierung dadurch beitragen, in dem sie uns hilft, uns gegenseitig zu verstehen und zu respektieren, und uns das Versagen und den Niedergang alter Vorbilder und das Wachstum und die Hoffnung auf neue zeigt. Solch eine Literatur ist tatsächlich regional, nämlich in dem etymologischen Sinne, daß sie eine Richtung und einen Weg angibt, dem zu folgen ist. Sie ist im echten Sinne Kultur, weil sie kulturelle Werte nicht nur bewahrt, sondern auch auswählt und integriert. Und sie ist im wahren Sinne sozial, nicht nur in ihren Quellen, sondern auch in ihren Zielen, da sie den Sinn für die grundlegenden menschlichen Beziehungen fördert.
8 Malcolm Cowley Die sieben Krisenjahre325 Ich glaube, ich habe einen schweren Stand; denn je näher wir an unsere eigene Zeit herankommen, um so schwieriger ist es, die Dinge mit Abstand zu betrachten oder irgendeine Art von Modell zu finden, das der Wirklichkeit 287
Granville Hicks Vorwurf, der Regionalismus habe seine Erwartungen nicht erfüllt 322 , denn wenn die Regionalisten die heutigen gesellschaftlichen Realitäten begriffen hätten, so würden sie die Wandlungen in ihrem regionalen Leben sehen und schildern, und, umgekehrt, um diese Wandlungen zu sehen und zu schildern, würden sie das heutige Leben begreifen müssen. Diese Schriftsteller stellen auch eine Antwort auf T. K. Whipples Beschwerde dar, daß die bodenständigen Romane „immer idyllischer würden, während die Realität (von den Fürsorgemaßnahmen einmal abgesehen) immer grausamer würde". 323 Schließlich erfüllen sie die Le Play Formel: 324 Ort—Arbeit—Volk sowie Constance Rourkes entsprechende Identifikation des Volks mit dem Proletariat in den „bescheidenen Einflüssen von Landschaft, Verwandtschaft und gemeinsamer Emotion" und der „langsamen Zunahme der Volkselemente", die für sie die Grundlage sowohl der Literatur wie der gesellschaftlichen Zusammenhänge bilden. Diese zeitgenössische und realistische Regionalliteratur kann sowohl für die Gesellschaft wie für die Literatur verschiedene wertvolle Funktionen erfüllen. Sie vermag aus erster Hand stammende Erfahrungsdaten über die Menschen, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu liefern. Sie trägt dazu bei, daß die Massen artikulationsfahig werden, indem sie sie ihre eigene Geschichte in ihrer eignen Sprache berichten läßt. Und sie liefert nicht nur Stoff und Material — sie schafft auch neue Formen, Stile und Arten der Literatur, indem sie Motive, Bilder, Symbole, Slogans und Idiome, Redewendungen unmittelbar, aus der Landschaft, der Arbeit und dem Volk schöpft. Und da sie mehr als eine Form der Literatur ist, kann sie dazu dienen, den sozialen Gedanken zu organisieren wie ihn auszulegen, und zu Integration und Neuorientierung dadurch beitragen, in dem sie uns hilft, uns gegenseitig zu verstehen und zu respektieren, und uns das Versagen und den Niedergang alter Vorbilder und das Wachstum und die Hoffnung auf neue zeigt. Solch eine Literatur ist tatsächlich regional, nämlich in dem etymologischen Sinne, daß sie eine Richtung und einen Weg angibt, dem zu folgen ist. Sie ist im echten Sinne Kultur, weil sie kulturelle Werte nicht nur bewahrt, sondern auch auswählt und integriert. Und sie ist im wahren Sinne sozial, nicht nur in ihren Quellen, sondern auch in ihren Zielen, da sie den Sinn für die grundlegenden menschlichen Beziehungen fördert.
8 Malcolm Cowley Die sieben Krisenjahre325 Ich glaube, ich habe einen schweren Stand; denn je näher wir an unsere eigene Zeit herankommen, um so schwieriger ist es, die Dinge mit Abstand zu betrachten oder irgendeine Art von Modell zu finden, das der Wirklichkeit 287
entspricht, oder wesentliche von zufalligen Ereignissen zu unterscheiden, oder Tendenzen von Wünschen. Überdies gibt es keinen Zeitabschnitt, der so gründlich vergessen wird wie das Vorgestern. Die Dinge, die uns geschehen sind, über die wir in den Zeitungen lasen, sind aus unserem bewußten Gedächtnis ausgelöscht. Das habe ich festgestellt, und ferner habe ich bemerkt, daß dann, wenn die Erinnerung daran durch Lesen oder Sprechen darüber mehr oder weniger wieder hergestellt ist, ein völlig neues Bild der Vergangenheit entsteht, die wir selbst erlebt haben. Ich habe eine Erfahrung gemacht, die mir das sehr deutlich bewiesen hat. Wir versuchten, eine Übersicht der amerikanischen Literatur zwischen 1920 und 1930 zusammenzustellen. Eine meiner Aufgaben bestand darin, einen Kalender aufzustellen, einen literarischen Kalender dessen, was sich jedes Jahr ereignete. Ich stellte fest, daß es sehr leicht sei, eine literarische Chronik der Jahre 1911 bis 1920 herzustellen; durch Lesen der Autobiographien besonders jener Periode war es einfach, die bedeutenden Ereignisse herauszufinden. Ereignisse übrigens, an denen ich in keiner Weise beteiligt war. Aber dann kam ich zu den Jahren 1920 bis 1930, jener Periode, an der ich teilgenommen hatte und an die ich mich vollkommen erinnern müßte. Aber ich fand es äußerst schwierig, die Fakten zusammenzufinden. Sie standen nicht in Büchern, sie waren nicht in meinem Gedächtnis, und ich mußte eine große Menge Material durchlesen, um wenigstens einige bedeutende Tatsachen zu finden, die die Periode beleuchten. Für die Zeit von 1930 bis 1936 war es noch schwieriger, so daß ich glaubte, bevor ich einen Versuch zu Verallgemeinerungen über diese letzten sieben Jahre versuchte, würde es nützlich sein, einen kurzen und einfachen Kalender von solchen Ereignissen zusammenzustellen, die die Entfaltung von Ideen beeinflußten. Dadurch sollte wenigstens deutlich werden, worüber ich zu sprechen gedenke. Das Jahr 1930 war in der literarischen Welt dem von 1929 sehr ähnlich. Es gab keine Unterbrechung in der Serie der Gin-Parties, der Liebesaffairen und der Überseereisen, um irgendeine Insel zu finden, die Zuflucht bot und sicher war vor dem entheiligenden Zugriff der amerikanischen Geschäftswelt und des Maschinenzeitalters. Es gab eine Depression, jedoch hatte sie die meisten Schriftsteller noch nicht ernsthaft betroffen; die Verleger erzielten noch immer ihre Gewinne, und Zeitschriften kauften noch immer Manuskripte. Das einzige Zeichen oder Merkmal einer Veränderung unter den Schriftstellern war, so glaube ich, eine wachsende Atmosphäre der Spannung. Ich glaube, es gab statistisch mehr Nervenzusammenbrüche unter den Schriftstellern während des Jahres 1930 als jemals vorher oder nachher. Sie waren sehr reich und fuhren Autos so groß wie Straßenkreuzer. Auch gab es in jener Zeit eine ungewöhnliche Zahl von Fehden in der literarischen Welt. Der Streit um den Humanismus, 326 vom Jahr 1929 überkommen. Der Anfang des Streits über Sozialkritik. Die Folge von Polemiken, die zu der Zeit einsetzten, als Mike Gold eine Rezension über Thornten Wilders The Woman of Andros (Die Frau aus Andros)321 schrieb. Aber im allgemeinen liefen die Dinge unverändert weiter. Am letzten Tag des Jahres war die verrückteste und wildeste Neujahrsnacht seit dem Alkoholverbot. 288
1931 wurde dann der Wandel offenbar. Zeitschriften, von denen später viele eingingen, hörten auf, Manuskripte zu kaufen und lebten von ihrem Vorrat, von der Anhäufung von Manuskripten, die sie in vorhergehenden Jahren gekauft hatten. 1931 war in der literarischen Welt das Jahr der Salonrevolutionäre. Es war das Jahr, in dem intellektuelle Wall Street-Leute zu Cocktail-Parties gingen und verkündeten: „Nun, sie werden uns alle erschießen, am Laternenpfahl aufhängen, nach uns die Sintflut, die Revolution steht bevor." Ich habe nichts Derartiges selbst erlebt, ich hörte vieles aus zweiter Hand, und ich war auch bestürzt, von den Wall Street-Börsenmaklern über die Unvermeidlichkeit des Kommunismus zu hören. Im Jahre 1932 gab es einige vorsichtige und tastende Versuche von Aktion. Es gab die Streiks in den Kohlenbergwerken von Harlan und Bell Counties. Im Herbst 1931 und im Januar und Februar 1932 begaben sich zwei Schriftsteller-Kommissionen dorthin. 328 Die eine von Theodore Dreiser geleitet, die andere von Waldo Frank. Theodore Dreiser wurde moralischer Verworfenheit angeklagt, worauf seine Antwort lautete: „Ich konnte nicht." Waldo Frank wurde mit einer Wagenkurbel auf den Kopf geschlagen und entging knapp einem Schädelbruch. Später stellte sich heraus, daß Frank und Dreiser und die übrigen von uns dort in der Tat Glück gehabt haben. Es scheint so, daß — wenn man aus Harlan County mit dem Kopf voran anstatt mit den Füßen herausgelangt — man von Glück sagen kann, selbst wenn man einen zerbeulten Kopf hat. Später im Frühjahr und im Frühsommer schlug die Bonus Expeditionary Force329 in Washington ihr Lager auf. Ich glaube, zu jener Zeit war das Land einer tatsächlichen revolutionären Situation näher als zu irgendeiner anderen Zeit seit dem Eisenbahnstreik der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Es lag mehr Spannung in der Luft, obwohl sich nicht viel mehr ereignete als daß die Marineinfanterie die Bonus Army mit Tränengas und Bajonetten auseinandertrieb und daß einige Kinder getötet wurden. Nichtsdestoweniger gab es viel Angst und nervöse Unruhe und auch, erstaunlicherweise, Hoffnung auf das Kommende. Zu jener Zeit, ich spreche von Politik, wurden mehr und mehr Schriftsteller ernsthaft am Kommunismus interessiert. Während der Wahlkampagne wurde eine Liga von Berufsgruppen für Foster und Ford 330 organisiert, mit vielen prominenten Mitgliedern. Dann zu Anfang des Jahres 1933 — ich bin immer noch dabei, Fakten zu sammeln, damit wir ein Bild der gesamten Situation bekommen — gab es eine ziemliche Häufung von bestürzenden Ereignissen, hauptsächlich in den Vereinigten Staaten und in Deutschland. Ende Januar übernahm Hitler die Macht, und im Februar war der Reichstagsbrand. Den ganzen Februar über fielen die Bankkurse wie Herbstblätter im ganzen Land. Im März begann Roosevelts Präsidentschaft, und wir verließen die Goldwährung. Zu jener Zeit wurde die deutsche Judenverfolgung organisiert. Im Juni wurde die NRA (National Recovery Administration) 331 erlassen. Das waren vielleicht die ereignisreichsten sechs Monate der ganzen Periode, die ich hier behandle. Aber entscheidend ist, daß jedes einzelne dieser Ereignisse, obwohl es nicht die literarische Welt betraf, einen großen Einfluß auf die Schriftsteller ausübte. Nehmen wir zum Beispiel die Abwertung des 19
New York 1935/37
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Goldes. Eine rein ökonomische Maßnahme, jedoch ein Ergebnis davon war, alle Schriftsteller aus dem Ausland nach Hause zu bringen, weil sie ihre Wechsel nicht einlösen konnten. Aber von all den Ereignissen des Frühjahrs 1933, glaube ich, war dasjenige, das die Schriftsteller am stärksten beeindruckte, die Bücherverbrennung in Deutschland. Bis zu jenem Tag hatten die Radikalen gepredigt, daß der Faschismus eine Bedrohung der Kultur bilde. Die Leute hörten ihnen sehr gelangweilt zu. Faschismus war ein schwerwiegendes Wort und Kultur war ein schwerwiegendes Wort, und warum sollte es eine Verbindung zwischen beiden geben? Aber als Tausende von Büchern, einschließlich solcher von amerikanischen Schriftstellern, Upton Sinclair, Dos Passos und Sinclair Lewis, zu einem Haufen aufgetürmt wurden und mit Öl Übergossen und angezündet wurden, da war die symbolische Bedeutung zu offensichtlich, um verkannt zu werden. Jetzt war klar, daß der Faschismus nicht nur eine Bedrohung der Kultur darstellte, so etwas Allgemeines, über das wir immer ein bißchen nervös sind, sondern auch eine für individuelle Schriftsteller, für ihren Lebensunterhalt, für die Möglichkeit der Veröffentlichung ihrer Werke, für ihre Freiheit dem Publikum ihrer Wahl zu sagen, was sie zu sagen wünschten. Ich könnte die Jahre sehr viel kürzer überblicken. 1934 waren natürlich noch die Februaraufstände in Frankreich; und es schien, als würde sich der Faschismus über ganz Westeuropa ausbreiten. In diesem Lande, in der Stadt New York, gab es Kämpfe um marxistische Kritik. Aber eine besonders gespannte Situation in diesem Lande herrschte an der Pazifikküste mit dem Generalstreik in San Francisco und dem Epik-Feldzug in Kalifornien. Freunde, die von der Küste zurückkamen, berichteten mir, daß New York in diesem Jahr sehr zahm und ruhig erschien, im Vergleich zu den Kämpfen im Westen. Während dieser ganzen Periode gab es ein beständiges Anwachsen der Bedeutung der nationalen und internationalen Politik in den Reihen der Schriftsteller. Sie hörten nicht auf, sich mit ihren ureignen Fragen über Thema und Stil zu befassen, aber alle Arten von politischen Fragen drängten sich ihnen auf und verlangten Antwort. Zum Beispiel: Sollten wir dem russischen Kurs folgen oder dem deutschen Kurs, oder einem neuen, eignen Kurs? Bestand die Möglichkeit, daß dieses Land eine kapitalistische Diktatur wurde? Wenn ja, was würde die Auswirkung auf die Schriftsteller sein? Und da die Auswirkung auf die Schriftsteller schlimm wäre, und da dies unvermeidbar schien, wie konnten wir dagegen kämpfen? Solche Fragen führten zum Aufruf zum ersten Amerikanischen Schriftstellerkongreß im Jahre 1935.332 Sie führten auch zu dem Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, der im selben Jahr im Juni in Paris durchgeführt wurde 333 und der mir — wenn ich die Berichte über die dort gehaltenen Reden und die dort anwesenden Personen wieder einmal lese — als eine höchst eindrucksvolle Kundgebung literarischer Meinungsbildung erscheint. Es erübrigt sich, die Ereignisse des Jahres 1935, die unserm Gedächtnis noch nicht entschwunden sind, hier aufzuzählen. Das einzige Hauptereignis war natür290
lieh die Verschärfung der Situation. Kurz gesagt, ein Anwachsen der Demokratie in Frankreich und den Vereinigten Staaten und der Aufstand dagegen in Spanien. Und diese Verschärfung der Zustände bedeutet, daß der zweite Amerikanische Schriftstellerkongreß im Jahre 1937 viel mehr Meinungen und Schattierungen von Meinungen aufzuweisen hat als diejenigen, die auf dem ersten Kongreß vorgestellt wurden, und doch mit einer größeren Einmütigkeit bei den wesentlichen Problemen. Fragen wir uns nun, welches sind die allgemeinen Schlußfolgerungen, die wir aus dieser kurzen Chronik-ziehen können? Meiner Meinung nach ist die erste Folgerung diese. Die Entwicklungen, die ich für die literarische Welt nicht beschrieben, sondern nur registriert und angedeutet habe, waren nicht nur ökonomisch. Sie waren nicht bloße Reflektionen der Ereignisse in der äußeren Welt. Die Depression beeinflußte die Schriftsteller nicht im Jahre 1930, weil sie nicht betroffen waren. Sie beeinflußt sie im Jahre 1931, und sie beginnen über die Revolution und ähnliches zu sprechen. Aber es gibt noch zusätzliche Momente, die hier ins Spiel kommen und die ich nicht erwähnt habe. Eines davon ist, daß die dreißiger Jahre eine logische Folgerung der zwanziger Jahre bilden. Es gab einen beständigen Kampf der Schriftsteller gegen etwas, das sie verschieden bezeichneten, nämlich „Das Maschinenzeitalter", „Unsere Geschäftszivilisation", „Der Tanz der Maschinen", ich habe all die Titel vergessen, die die Bücher trugen, die davon handelten. Aber jedenfalls war es etwas so Schreckliches, daß sie dem entfliehen mußten, entweder auf eine Zufluchtsinsel, oder in einen Elfenbeinturm 334 oder in eine primitivere Lebensweise, wie sie Mr. Botkin 335 angedeutet hat. Die Schriftsteller haben das „business" bekämpft und versucht, ihm zu entfliehen. Sie entdeckten, daß ihre Flucht nutzlos war; sie entdeckten gleichzeitig, daß das „business" oder die Geschäftszivilisation oder der Kapitalismus — der Name wechselt jetzt — schwach und verwundbar waren. Daß er seine Unfähigkeit gezeigt hatte, den Menschen genug zu essen zu verschaffen, Kleidung zum Tragen und Häuser, um drin zu wohnen, und daß er seinem Ende nahe war. So verschob sich natürlicherweise der Brennpunkt von dem Wunsch des Entfliehens zu dem Wunsch einer tatsächlich erwachenden Hoffnung, daß die Kultur unserer Zivilisation — ich spreche jetzt von etwas, das zwischen beiden liegt — verändert werden könne zu einer Lebensweise, in der Schriftsteller produktiver sein können und ein intelligentes Publikum finden könnten, für das sie schreiben. So daß daraufhin die ökonomische Ursache für die Veränderung der Meinung unter den Schriftstellern sich sozusagen kooperativ zu den geistigen Ursachen verhält. Es gibt keinen Bruch, der Prozeß setzt sich fort. Die zweite Folgerung, die ich, besonders in dem früheren Abschnitt dieser Periode, aufstellen kann, ist diese: Die Entwicklung von Ideen geschah hauptsächlich durch eine Reihe von Streitfragen. Wenn Sie sich daran erinnern: Der Humanismus-Streit im Jahre 1929, eine Polemik, die in der New Republic336 ausgetragen wurde als Ergebnis von Mike Golds Rezension von Thornton Wilders Buch. Die Diskussion Liberalismus gegen Kommunismus, die im Januar 1931 ge19'
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führt wurde. Die sich über Jahre hinziehende Diskussion darüber, ob Schriftsteller sich in sozialen und politischen Fragen engagieren sollen oder nicht oder sich in den Elfenbeinturm zurückziehen. Die Diskussion über proletarische Literatur, die, so glaube ich, von 1932 bis 1934 am heftigsten war. Die Diskussion über marxistische Kritik, die von 1934 bis 1936 am heftigsten war. Die Diskussion über die Agrarier, die auf dieser Versammlung wieder auftauchte. Das merkwürdige an all diesen Diskussionen war, daß nicht eine von ihnen abgeschlossen wurde. Ich glaube, alle von ihnen werden fortgeführt, und wenn sie nicht fortgesetzt werden, so nur deshalb, weil sie wegen wichtigerer Streitfragen beiseite gelegt wurden. Aber das ist ein dialektischer Prozeß, und beide Seiten der Diskutierenden haben in jeder Diskussion etwas gelernt, wenn sie mit aufgeschlossenem Verständnis hineingegangen sind, und wenn das Ergebnis all der Diskussionen einen beträchtlichen Wandel in der Entfaltung des Standpunktes gebracht hat. Nehmen wir zum Beispiel eine Diskussion, die ich schon zweimal erwähnt habe. Ich meine den Angriff von Mike Gold auf Thornton Wilder. Ich dachte gestern daran zurück, und an einem Punkt erschien es mir, daß Mike in diesem Angriff erschreckend naiv erscheint. Erstens hält er es für ausgemacht, daß Thornton Wilder in die Vergangenheit flüchtet. Nun, es leuchtet ein, daß kein Schriftsteller in die Vergangenheit entfliehen kann, wenn er über das gegenwärtige Leben schreibt, über das Leben, das ihn unmittelbar umgibt, weil niemand über etwas anderes schreiben kann, denn niemand kennt etwas anderes. Es leuchtet ebenfalls ein, daß Thornton Wilder, in dem von Gold behandelten Fall, indem er über die Vergangenheit schrieb, die Vergangenheit als Bezugsrahmen für bestimmte Probleme benutzte, die ihn in der Gegenwart beunruhigten. Wie zum Beispiel das Problem des Schicksals in The Bridge of San Luis Rey (Die Brücke von San Luis Rey) . 337 Er wich diesen Problemen nicht aus, er fand eine neue Konstellation für sie. Es leuchtet überdies ein, daß er unter den ernstzunehmenden Schriftstellern einer der bedeutendsten ist. Es scheint ein Oberton in Mike Golds Angriff zu sein, daß Wilder ein zielloser Schriftsteller ist. Andererseits gibt es das Gefühl, ich weiß nicht, ob es ein interpretiertes Gefühl ist, man könnte sagen, in Zeiten einer nationalen und weltweiten Krise haben die Leute ein Recht darauf, daß, wenn über ihre eignen Lebensschicksale geschrieben wird und ihre eigenen Probleme abgehandelt werden, dies nicht in der Terminologie vom Anfang des christlichen Zeitalters geschieht, sondern mit dem Anstehen vor dem Bäckerladen, mit dem Streikgeschehen, mit allen Einzelheiten der unmittelbaren Umgebung verbunden wird. Und die Folge des Streites, die Folge des Angriffs von Gold gegen Wilder war, daß Wilder einen Roman schrieb, einen guten Roman, über das zeitgenössische Leben. 338 Ich glaube, die Folge könnte sein, daß Gold vielleicht einige seiner literarischen Urteile aus jener Zeit modifiziert, da durch einen dialektischen Prozeß des Diskutierens die gesamte Meinungsbildung verändert wird. Dann würde eine dritte Folgerung sein, daß alle Schriftsteller während dieser Periode mehr oder weniger politisch denken lernten. Man denke an die Angriffe im Jahre 1932 auf alle Schriftsteller, die sich für Politik interessierten oder sich 292
bereit fanden, zur Wahl zu gehen, um für Kandidat „ X " anstatt für Kandidat „Y" zu stimmen oder in den Kampf der Kohlenbergarbeiter in Kentucky um bessere Löhne einzugreifen; oder für das Recht eintraten, sich zu organisieren oder die an internationaler Politik interessiert waren und dabei Partei ergriffen. Eigentlich sagten alle Kritiker jener Tage, „diese Leute sollten sich auf die Angelegenheiten des künstlerischen Geschmacks beschränken und auf Fragen, die vor ihnen liegen. In erster Linie, was versuchen die Autoren zu tun. An zweiter Stelle, haben sie getan, was sie sich vorgenommen hatten?" All das hat sich geändert, nicht bis zu einem solchen Grade, daß man jetzt politisches Bewußtsein in jeder Zeitschrift fände, in jeder Kritik, und daß sogar die konservativen Kritiker, die zu jener Zeit gegen jegliche Einführung der Politik waren, nun ihre sogenannten Buchbesprechungen zu ausführlichen politischen Argumentationen machen. Aber die Konservativen sind nun ziemlich in der Minderheit. — In der Tat, ich glaube, unter ernstzunehmenden Schriftstellern sind sie entschieden in der Minderheit. Und die vierte Schlußfolgerung, die ich ziehen möchte, ist, daß das allgemeine Ergebnis in derselben Richtung liegt, einfach wegen solcher Ereignisse wie die nazistische Bücherverbrennung und wie der Spanische Krieg, die ich als besonders wichtig unter all den Ereignissen, die in den letzten zwanzig Jahren stattfanden, hervorheben möchte. Für ehrliche Schriftsteller ist es schwer, einen anderen Standpunkt einzunehmen. Aber im allgemeinen, finde ich, hat die progressive Haltung den Schriftstellern viel mehr Verantwortungsbewußtsein verliehen. Sie besitzen jetzt mehr politische Schulung als sie vor fünf Jahren hatten. Man hört viel weniger von dem oberflächlichen Geschwätz, das 1931 auf CocktailParties üblich zu sein pflegte, üb^r die Sintflut, die über Wall Street hereinbrechen würde und über die Machtergreifung. Und eine andere Folgerung würde sein, daß es ein Großteil mehr Interesse an internationalen Angelegenheiten unter Schriftstellern in diesem Lande gibt als jemals vorher. Und noch eine weitere Folge ist, daß Schriftsteller sich heutzutage für die Schlagzeilen der Zeitungen interessieren. Der Spanische Krieg hat das besonders deutlich gemacht. Ich kenne schon Tage, an denen ich 10 oder 15 Zeitungen gekauft habe, an denen ich wartete, bis die Ein-Uhr-Ausgabe heraus war, und nachdem ich sie gelesen hatte, wieder auf die Straße ging, um zu sehen, ob die letzte Ausgabe um 2 Uhr heraus war, um zu erfahren, ob, sagen wir, Malaga gefallen war oder wie es bei Guadalhara stand. Ich sprach mit anderen Schriftstellern und entdeckte dieselbe Tendenz, mit den Zeitungen zu leben. Bis zu einem gewissen Grade ist das eine gute Tendenz. Es ist ein gutes Bestreben, sich selbst über die Ereignisse informiert zu halten, die in der Welt vor sich gehen; dies ist nur eine Erklärung dafür, warum so viele Schriftsteller übereinstimmend eine progressive Haltung einnehmen, weil es keine andere Lektion gibt, die man aus den Zeitungen lernen kann. Man könnte sogar sagen, daß heute das größte revolutionäre Organ in der Welt die New York Times ist, einfach deshalb, weil sie mehr ausländische Nachrichten bringt. Und das zweitgrößte revolutionäre Organ ist die New York Herald Tribüne,339 weil sie an zweiter Stelle bei der Menge der 293
Nachrichtenübermittlung steht. Was die Herausgeber sagen, ist nicht so entscheidend. Die Nachricht selbst enthält ihre Lektion. Aber gleichzeitig wird ganz und gar zu viel für das gelebt, was sich in Druckerschwärze als Leben aus zweiter Hand darbietet; und ich meine, das erklärt vielleicht die Schwäche einer großen Anzahl von Gedichten und einer großen Zahl von Romanen, die geschrieben werden. Die nämlich in erster Linie auf Grund der Zeitungen anstatt auf Grund unmittelbarer Erfahrung aus erster Hand geschrieben werden. Und von Schriftstellern, die so fasziniert von dem werden, was in einem Streik passiert, so lange der Streik in Detroit anstatt in Bronx stattfindet, die aber gleichzeitig nicht nach Jersey City gehen, um bei den Streikposten verhaftet zu werden. Ich meine, daß in dieser Hinsicht vielleicht die günstigste Entwicklung diejenige der Gewerkschaft ist, unter den Arbeitern mit weißem Kragen ebenso wie unter den eigentlichen Arbeitern. Ich vermute, es gibt Mitglieder hier unter dem Publikum aus vier oder fünf solcher Organisationen wie The Writers Union, Newspapers Guild, Teachers' Union, Book and Magazine Guild, die gerade in die C.I.O. 340 aufgenommen sind. Nun, diese sieben Jahre seit 1930 waren magere Jahre, aber sie waren nicht notwendigerweise magere Jahre für die Literatur. Es ist ein bißchen enttäuschend, auf sie zurückzublicken und gezwungen zu sein, festzustellen, daß in dieser Zeit nichts Außergewöhnliches geschrieben wurde. Daß kein neues Meisterwerk erschienen ist und keine Schriftsteller, die man zweifellos als bedeutend bezeichnen könnte, hervorgetreten sind. Die fähigen Schriftsteller auf dem Gebiet des Romans, um Namen nach 1929 zu nennen, waren :KCaldwell, Cantwell, Farrell, O'Hara, Steinbeck, Halper, Rollins, und ich könnte so fortfahren mit einer Liste von zwanzig oder dreißig weiteren. Auf dem Gebiet des Dramas gab es die Entwicklung des Group Theater und der Theater Union341 und etwas später die verschiedenen WPA 342 Theater. Die Kritik ist, denke ich, in den letzten sieben Jahren mehr vorangeschritten als die meisten Entwicklungen der Literatur. Sie wurde einfach durch Problemdiskussionen gefördert. Ich meine, das Problem, mit dem sie sich befaßt, erreichte im Jahre 1930 eine höhere Stufe der Bewußtheit und der Intelligenz. Auf dem Gebiet der Lyrik, glaube ich, waren die Jahre enttäuschend. Es sind wohl gute neue Gedichte erschienen, aber die ausdrucksstärkste Entwicklung unter den individuellen Dichtern, so scheint es mir, war die neue Entwicklung von Archibald MacLeish seit 1934. Aber obgleich keine Meisterwerke während dieser Periode hervorgebracht wurden und keine Genies erschienen, so glaube ich doch, daß es eine gewaltige Hoffnung gibt, die größer ist als sie seit 1914 war. Diesen Punkt möchte ich noch ein wenig weiter behandeln. Zunächst möchte ich auf den Aufruf zu diesem Kongreß 343 in diesem Land hinweisen. Während der letzten zwei oder drei Jahre gab es eine bedeutende Zahl von neuen Romanciers, neuen Dramatikern, die jedes Jahr hervortraten, und die von allen Teilen des Landes kamen. Der Regionalismus mag tot sein oder im Sterben liegen; es ist jedoch eine Tatsache, daß Schriftsteller, die in Idaho, Portland, Oklahoma, New Mexico leben, mehr 294
geschrieben haben und mehr Begabung bewiesen haben als zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit. New York bleibt der Mittelpunkt des Verlagswesens, doch es ist nicht mehr der Mittelpunkt literarischen Lebens. Allein bei der Vorbereitung dieses Kongresses fanden wir heraus, wie viele gute Schriftsteller in unbekannten kleinen Städten leben wie Casanova, New York. Und ich wage zu sagen, daß die meisten Leute hier niemals von Casanova, New York gehört haben. Zur selben Zeit, wie die neuen Schriftsteller erscheinen und ihr Thema behandeln, ist ein sehr vielversprechendes Zeichen in der Tatsache zu erblicken, daß gewisse ältere Schriftsteller, und ich erwähne vor allem Carl Sandburg und Van Wyck Brooks, wieder begonnen haben, bedeutende Werke hervorzubringen, nach einer langen Periode, in der sie nichts Rühmliches unternommen haben. Ich meine, daß The Flowering of New England (Die Blütezeit von Neu-England) und The People, Yes (Das Volk, Jawohl), das eine von Brooks, das andere von Sandburg, 344 zwei der ausdrucksvollsten Bücher sind, die jüngst hervorgebracht wurden. So kann man, all dies zusammengenommen, im ganzen Land eine allgemeine Atmosphäre der Hoffnungsfreudigkeit und Aktivität feststellen. Gleichzeitig erhält man das Gefühl, daß diese Hoffnung gezielter bedroht ist als es im Jahre 1914 der Fall war. Wir mögen sagen, daß die Gefahr in Europa sei, nicht hier. Wir mögen sagen, daß, wenn Europa Krieg führt, die Politiker uns aus dem Krieg heraushalten werden, unabhängig davon, ob die Bankiers und Geschäfstleute versuchen werden, uns darein zu verwickeln. Jedoch gleichviel, wir wissen nicht, ob die Feinde nicht nur außerhalb des Landes sind. Ich meine, Spanien sollte uns das zeigen. Wenn es darum ginge, unser Land gegen jedes andere Land der Welt abzuschirmen und den Frieden und die Zivilisation, die wir haben, zu bewahren, sei es um den Preis einer Invasion, so könnten wir Armee und Flotte aufrufen, das zu tun. Aber wir können uns selbst nicht gegen die Faschisten innerhalb des Landes schützen. Ein Schriftsteller sagte kürzlich zu diesem Thema, die Barbaren sind ständig hier innerhalb der Tore. Ich habe ein bemerkenswertes Manuskript von einem jungen Autor gelesen,345 der in der Internationalen Brigade kämpft. Eine seiner Aufgaben bestand in der Verteidigung der Universität, wo die Internationale Brigade kämpfte. Sie haben dort eine philosophische Bibliothek, die sie gegen die in der Klinik stationierten Faschisten verteidigen. Und er beschreibt, wie sie aus den Büchern Barrikaden gegen die Maschinengewehrkugeln errichten. Er empfahl besonders die deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts. Keine Kugel konnte sie durchdringen. Ich meine, daß eine unserer Aufgaben heute darin besteht, dafür zu sorgen, daß unsere eigenen Bücher nicht als Barrikaden benutzt werden, um faschistische Kugeln abzuwehren.
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9 Martha Gelhorn Schriftsteller kämpfen in Spanien Die jetzt in Spanien weilenden Schriftsteller sagen nicht : „Ich bin in höchsteigner Person nach Spanien gekommen, um mich umzuschauen und mir Stoff für ein Buch zu holen, unter das ich meinen Namen setze." Wie ich feststellte, waren es einfach tapfere, kluge Männer, die im Krieg eine wichtige Aufgabe erfüllten. Offenbar waren sie sich ihrer selbst als E i n z e l p e r s o n völlig unbewußt. Ich habe sehr viele Schriftsteller in Spanien kennengelernt. Von drei Ausnahmen abgesehen, dauerte es Monate, bis ich erfuhr, daß es Schriftsteller waren. Das rührte teilweise daher, daß ich ihre Namen nicht kannte. Alles, was man in Spanien von jemand zu wissen braucht, ist sein Vorname und was er tun kann. Ludwig Renn, dessen Werk sein überragendes schriftstellerisches Talent ausgewiesen hat, ist Chef des Stabes der Elften Brigade, und seine gegenwärtige Arbeit zeigt seine große Fähigkeit als Soldat. Frank Pitcairn war, als ich dort war, als Journalist tätig und hatte vorher als Soldat an der Jaramafront, einem für die Loyalisten sehr schlechten Abschnitt, gekämpft. Ralph Bates ist jedermann bekannt. Gustav Regler, ein sehr feinsinniger und ungewöhnlicher Mensch, ist ein deutscher Schriftsteller und einer der sensibelsten, ehrlichsten und feinfühligsten Menschen, die ich kenne. Er war als Politkommissar dort. Obwohl er seit letztem Juli nichts geschrieben hat, sagt er, er habe das Gefühl, daß alles, was er als Schriftsteller gelernt und gewesen sei, ihn auf seine jetzige Arbeit vorbereitet und ihm dabei geholfen habe. Nach dem Kriege sei reichlich Zeit zu schreiben. Inzwischen dienen die in Spanien weilenden Schriftsteller dem Sozialismus. Ihre Individualität, ihre Sicherheit, ihre Muße und ihre Privatsphäre zählen nicht. Jeder von uns wird stets daran denken, wie André Malraux in den kritischen Anfangstagen des Krieges für die Loyalisten flog. Da war ein ganz außerordentlicher holländischer Dichter, der seit August ständig in der vordersten Linie war. Er kam alle vierzehn Tage für ein oder zwei Tage nach Madrid. Er sprach nie über seine Arbeit. Ich habe wochenlang nicht gewußt, daß er Dichter ist. Joris Ivens erzählte mir von seiner wunderbaren Begabung. Ich begriff sogleich, daß er ein wertvoller Mensch war und sein Handwerk als Soldat verstand. Auden, der englische Dichter, fuhr einen Krankenwagen. Es gibt sehr viele Schriftsteller, die, wie Spender, nicht kämpfen, aber über den Krieg geschrieben haben. Der spanische Dichter Rafael Alberti geht von einem Kampfabschnitt zum anderen und spricht mit den Soldaten. Alle diese Schriftsteller sind nach Spanien gekommen, weil das für sie und etwas über sie Hinausreichendes, etwas, an das sie glauben, ungeheuer wichtig ist. Sie sind nach Spanien gegangen, um jede Arbeit, die sie tun können, in jeder Kapazität, in der sie tätig sein können, zu verrichten. Sie opfern sich, ihre Zeit, ihren Ehrgeiz, ihre Individualität. Es gibt keine Belohnung. Keine Belohnung in Form besonderer Anerkennung, 296
weder Ruhm, noch Ehre, Geld oder Beachtung. Sie besitzen das unermeßliche Vorrecht, dort zu sein, das unermeßliche Vorrecht, nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Menschen Teil eines lebendigen Ganzen zu sein, an das sie glauben. Eines Morgens, es war während eines Bombenangriffs, gingen wir in Madrid ins Theater. Es gab eine Amateurvorführung, deren Erlös für die Lazarette bestimmt war. Der Junge, der die Rolle des Helden spielte, konnte kaum seinen Text. Am Schluß kam er auf die Bühne und sagte, es täte ihm leid, und entschuldigte sich wegen des vergessenen Texts. Er sagte, er habe ihn im Schützengraben lernen wollen, das sei ihm schwergefallen, weil gerade ein Angriff stattgefunden habe. Andererseits, sagte er, habe er während des Angriffs Zeit gefunden, ein Gedicht zu schreiben, das er sich anschickte zu lesen. Es war sehr schön. Er hatte das Gedicht für die mit ihm im Graben kämpfenden Männer geschrieben. Es bedeutete etwas für sie, daß er das tat, und etwas für ihn, daß er das getan hatte. Er ist ein Beispiel für eine andere Art eines in Spanien kämpfenden Schriftstellers. Schriftsteller fanden sich in jeder Brigade und in jedem Bataillon. Sie brachten allwöchentlich eine Zeitung heraus. Diese Zeitungen wurden gewöhnlich auf einem Vervielfältigungsapparat in nächster Nähe der Frontlinie gedruckt. Es galt als eine Ehre, an dem Apparat arbeiten zu dürfen. Jedermann besaß das Recht, für diese Zeitung zu schreiben. Die Frontzeitungen bildeten einen festen Bestandteil der Erfahrung des Soldaten. Ein Fahrer in einer der Brigaden erzählte mir einmal, als ich ein Lazarett besuchte, daß im fünften Stock ein feiner Kerl liege, den ich besuchen sollte. .Ich tat es und sah einen Mann, der mit zurückgelegtem Kopf saß, um die Sonne in sein Gesicht scheinen zu lassen. Er wartete geduldig aufs Sterben. Er lag seit drei Monaten da. Seine Schmerzen waren zu groß, um ihm das Reden zu gestatten. Er sagte nur die wichtigen Worte — er besaß nicht genug Kraft, hatte nicht genug Atem. Doch er erzählte mir, daß er kein Dichter, sondern ein Übersetzer sei. Er selbst könne nicht gut genug schreiben, doch er könne die guten Arbeiten, die andere schrieben, übersetzen. Er erzählte, daß er am frühen Morgen stets als Reinigungskraft in den Cafés gearbeitet habe, um sich nachmittags den Luxus eines Daseins als Übersetzer leisten zu können. Ich besuchte ihn einige Tage später noch einmal. Ich hatte inzwischen erfahren, daß er Ungar war und sechsundzwanzig Jahre alt. „Wie sind Sie hierhergekommen?", fragte ich ihn. „Das ist ja schließlich eine weite Reise." Er sagte, er glaube manchmal, es sei Eitelkeit gewesen, die ihn nach Spanien gebracht habe. „Ich dachte", sagte er, „wenn ich mich mit etwas so Wahrhaftigem und so Schönem identifizieren konnte, daß ich dann vielleicht auch ein guter Mensch werden würde." Ich sagte ihm, daß ich das wirklich nicht für Eitelkeit hielt. Die Presse in Madrid besteht aus einer ganz außerordentlichen Schar Männer, die unter großer Gefahr arbeiten. Man spricht sehr wenig von der Gefahr, weil es 297
sinnlos und gewöhnlich ist, mit etwas zu prahlen, das andere mehr und besser bestanden haben. Doch nichtsdestoweniger wird ein Journalist vom Hotel zur Telefonica laufen und manchmal erst die Explosion einer Granate abwarten, bevor er weiterläuft und die nächste Granate detoniert. Sie wohnen in einem mehrfach von Granaten getroffenen Hotel. Ich las erst kürzlich, daß es unlängst sieben Mal am Tage getroffen wurde. Die Zeitungsleute bewegen sich frei umher und sind ständig an der Front. Sie besitzen keinerlei besondere Privilegien und fordern keine. Sie gehören zum Leben des Volkes. Sie arbeiten sehr gut zusammen. Niemand in Madrid versucht, eine Erstmeldung zu erlangen oder jemand auszustechen. Nachrichten werden geteilt. Das Ziel ist ihre Veröffentlichung. Das Ziel besteht nicht darin, einen besseren Bericht als der Mann neben dir zu verfassen. Die Zensoren sind Journalisten. Sie haben keine festen Vorstellungen. Sie sagen nicht: „Das muß rein, wir wollen diese Tatsache." Sie wissen, die Tatsachen sind auf ihrer Seite. Sie bestehen nur auf der Wahrheit. Sie wollen keine Propaganda. Ein Krieg ist genau und leicht zu verstehen und zu begreifen. Uns alle geht der Krieg in Spanien an, alle haben wir in diesem Krieg eine große Verpflichtung. Jedoch in weit undramatischerer Form haben wir unseren Krieg auch hier. Er geht langsamer und mit weit weniger deutlichem Zusammenhang vor sich, doch wir haben unseren Platz darin. Wir haben die Pflicht, die Ereignisse zu verstehen und zu begreifen, die Wahrheit auszusprechen, beständig für eine Klärung der Fragen zu kämpfen. Kurz gesagt, wir haben die lebenswichtige Aufgabe, die Geschichte, während sie vor sich geht, zu formen. Ein Schriftsteller muß heutzutage auch ein Mann der Tat sein. Handeln erfordert Zeit, und Zeit ist das, was wir alle am meisten brauchen. Doch ein Mensch, der ohne Anspruch auf Heldentum und Ruhm ein Jahr seines Leben für den Krieg in Spanien geopfert hat, oder der in gleicher Weise ein Jahr seines Lebens den Stahlarbeiterstreiks oder den Arbeitslosen oder den Problemen des Rassenvorurteils gewidmet hat, hat keine Zeit verloren oder verschwendet. Er ist ein Mensch, der weiß, wo er hingehört. Überlebt man solches Tätigsein, so ist das, was man danach zu sagen hat, die Wahrheit; es ist etwas Notwendiges und Wirkliches und wird bleiben.
10 Frances Winwar Literatur und Faschismus Die italienische Literatur ist nicht sporadisch gewachsen. Sie besitzt eine lange und verehrungswürdige Geschichte, die bis auf die Zeit Friedrich II., Kaiser beider Sizilien, zurückgeht, an dessen Hofe das, was man damals Italien nannte, sowohl 298
sinnlos und gewöhnlich ist, mit etwas zu prahlen, das andere mehr und besser bestanden haben. Doch nichtsdestoweniger wird ein Journalist vom Hotel zur Telefonica laufen und manchmal erst die Explosion einer Granate abwarten, bevor er weiterläuft und die nächste Granate detoniert. Sie wohnen in einem mehrfach von Granaten getroffenen Hotel. Ich las erst kürzlich, daß es unlängst sieben Mal am Tage getroffen wurde. Die Zeitungsleute bewegen sich frei umher und sind ständig an der Front. Sie besitzen keinerlei besondere Privilegien und fordern keine. Sie gehören zum Leben des Volkes. Sie arbeiten sehr gut zusammen. Niemand in Madrid versucht, eine Erstmeldung zu erlangen oder jemand auszustechen. Nachrichten werden geteilt. Das Ziel ist ihre Veröffentlichung. Das Ziel besteht nicht darin, einen besseren Bericht als der Mann neben dir zu verfassen. Die Zensoren sind Journalisten. Sie haben keine festen Vorstellungen. Sie sagen nicht: „Das muß rein, wir wollen diese Tatsache." Sie wissen, die Tatsachen sind auf ihrer Seite. Sie bestehen nur auf der Wahrheit. Sie wollen keine Propaganda. Ein Krieg ist genau und leicht zu verstehen und zu begreifen. Uns alle geht der Krieg in Spanien an, alle haben wir in diesem Krieg eine große Verpflichtung. Jedoch in weit undramatischerer Form haben wir unseren Krieg auch hier. Er geht langsamer und mit weit weniger deutlichem Zusammenhang vor sich, doch wir haben unseren Platz darin. Wir haben die Pflicht, die Ereignisse zu verstehen und zu begreifen, die Wahrheit auszusprechen, beständig für eine Klärung der Fragen zu kämpfen. Kurz gesagt, wir haben die lebenswichtige Aufgabe, die Geschichte, während sie vor sich geht, zu formen. Ein Schriftsteller muß heutzutage auch ein Mann der Tat sein. Handeln erfordert Zeit, und Zeit ist das, was wir alle am meisten brauchen. Doch ein Mensch, der ohne Anspruch auf Heldentum und Ruhm ein Jahr seines Leben für den Krieg in Spanien geopfert hat, oder der in gleicher Weise ein Jahr seines Lebens den Stahlarbeiterstreiks oder den Arbeitslosen oder den Problemen des Rassenvorurteils gewidmet hat, hat keine Zeit verloren oder verschwendet. Er ist ein Mensch, der weiß, wo er hingehört. Überlebt man solches Tätigsein, so ist das, was man danach zu sagen hat, die Wahrheit; es ist etwas Notwendiges und Wirkliches und wird bleiben.
10 Frances Winwar Literatur und Faschismus Die italienische Literatur ist nicht sporadisch gewachsen. Sie besitzt eine lange und verehrungswürdige Geschichte, die bis auf die Zeit Friedrich II., Kaiser beider Sizilien, zurückgeht, an dessen Hofe das, was man damals Italien nannte, sowohl 298
eine Sprache als die Anfange einer Kultur erwarb. Unter seiner Herrschaft kam es noch zu einem weiteren Beginn, dem des Kampfes zwischen Krone und Kirche. Im dreizehnten Jahrhundert war es die Kirche, die siegte, doch die Tradition war begründet, und auf Jahrhunderte sollte es nun zwischen den beiden Autoritäten einen ständigen Krieg mit bedeutsamen Auswirkungen auf das Leben und folglich auch auf die Literatur des Volkes geben. Es erübrigt sich, auf die Geschichte der italienischen Literatur in allzu großen Einzelheiten einzugehen. Der heilige Franz von Assisi, ein früher Zeitgenosse Friedrichs, schenkte der Welt das erste moderne lyrische Gedicht und nebenbei das erste Naturgedicht, als er seinen freudigen Hymnus 346 auf die Schwester Sonne und den Bruder Mond und alles Geschaffene dichtete. Bedeutsamer als sein literarischer Beitrag war jedoch seine Botschaft, daß die Welt kein Jammertal, sondern ein Ort der Schönheit sei, dem derjenige am besten huldigte, der ihn am meisten liebte und genoß. Gleich nach den Dichtern des sizilianischen Hofes und den Franziskanern der umbrischen Landschaft kamen die drei Großen des italienischen Mittelalters. Italien war damals in freie Städte unterteilt, die jedoch trotz ihrer Freiheit in endlose Parteifehden verstrickt waren. Dante, Petrarca und Boccaccio gelten als die führenden Geister des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts — Dante wegen seiner scholastischen Philosophie, Petrarca wegen seines Humanismus und Boccaccio wegen seines Realismus. Dante verdient ebenfalls als der erste namhafte italienische politische Exildichter Erwähnung. Seine Visionen des Infernos hinderten ihn nicht, die vor ihm liegende Hö^lle zu sehen. Man darf in der Tat annehmen, daß er, hätte er nicht auf Erden einen Vorgeschmack der Hölle bekommen, sich nicht an so vielen hätte rächen wollen, die er so freudig den Flammen überantwortete. Die Göttliche Komödie war das Werk eines stolzen Exildichters, der sich weigerte, um den Preis eines schändlichen Kompromisses in sein heimatliches Florenz zurückzukehren, und das Exil, wie er es ausdrückte, mit Sonne und Sternen der Tyrannei zu Hause vorzog. Ein Wandel kam über Italien und allmählich über ganz Europa um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, als Konstantinopel erobert wurde. Doch dieses Ereignis besaß für den Durchschnittsitaliener nur wenig Bedeutung; für ihn mußte damals wie heute das Außergewöhnliche näher liegen, um ihn zu erregen. Das kam mit der zufalligen Entdeckung eines römischen Sarkophags, der den Körper eines jungen Mädchens enthielt, der, obwohl er vor Jahrhunderten begraben worden war, noch immer so schön war, daß nicht nur die abergläubischen Bauern sondern auch die Gelehrten das Mädchen als eine Heilige zu verehren begannen. Julias Körper symbolisierte das Rinascimento, die Wiederbelebung, oder wie wir es heute nennen, die Renaissance. Wenn es in der Vergangenheit solche Schönheit gegeben hatte, dann war die Vergangeheit sicher wert, erforscht zu werden. Doch es war eine gefahrliche Erforschung. Mit dem Wissen kam der Zweifel. Und der Zweifel erschütterte den Glauben, auf den die Kirche sich gründete. Nun folgte die Periode der wohlwollenden, der aufgeklärten Tyrannen, der Medicis, der D'Este, 2?9
der Malatestas. Italien wurde zum Mittelpunkt der Gelehrsamkeit und des Wohllebens. Alsbald fielen habgierige ausländische Eindringlinge wie der Zorn Gottes über die italienischen Städte her. Savonarola, der die Wiedergeburt der Wissenschaften für Sünde hielt, sah in ihnen Werkzeuge Gottes, die die tollkühne Menschheit strafen. Die heilige Mutter Kirche mußte fester zufassen. Zusammen mit dem ausländischen Tyrannen kam die Heilige Inquisition, der des Torquemada in Spanien nachgebildet. Literatur und Künste verfielen. Torquato Tasso, der Verfasser des Befreiten Jerusalem, verlor aus Angst vor der Inquisition den Verstand und verspürte ein Gefühl der Sicherheit nur im Gefängnis. Andere Dichter zogen es vor zu schweigen, als Gefahr zu laufen, barfuß in einem san benito 347 den Weg zu dem rauchenden Reisighaufen zu gehen. Die Einrichtung des päpstlichen Index 348 machte sowohl das Schreiben wie das Veröffentlichen zu einer gefährlichen Angelegenheit. Im ersten Monat seines Erlasses wurden allein in Florenz neunzig Prozent der Buchläden geschlossen. Innerhalb eines halben Jahrhunderts starb die Literatur aus, obwohl Schreiberlinge, die nichts zu sagen hatten und deshalb Sicherheit genossen, weiter schrieben. Im siebzehnten Jahrhundert schlössen sich schwache Geister, die Gott und dem Mammon dienen wollten, zu idyllischen Zirkeln zusammen; sie feierten die Freuden französischer Schokolade und schrieben Sonette an die Schoßhunde ihrer Geliebten. Sie legten sich mancherlei Namen zu: die Apathischen, die Melancholischen, die Vernachlässigten und die Erfrorenen, wiewohl nur ein Name sich für sie schickte: die Langweiler. Dante hatte ihresgleichen schon lange zuvor mit einem verächtlichen Wort abgetan: „Reden wir nicht von ihnen, schauen wir und gehen wir weiter . . .11349 Das ist vielleicht ein guter Ausgangspunkt, über die Ereignisse im heutigen Italien zu sprechen. Es gibt keine ausländische Sklaverei: Italien hat seine Ketten während des Risorgimento im neunzehnten Jahrhundert abgeworfen, zu einer Zeit übrigens, da die italienische Dichtung erst mit Leopardi, später mit Carducci sich zu ihren höchsten Höhen erhob. Auch gibt es keinen offenen Konflikt zwischen dem Vatikan und der herrschenden Macht. Wie Don Benedetto in Silones Brot und Wein350 sagt: „Der Heilige Vater weiß, daß es ungesund ist, mit dem Bissen im Munde zu reden." Und deshalb schweigt der Heilige Vater, wenn es nicht unbedingt notwendig für ihn ist zu reden. Dann wünscht die halbe Welt jedesmal, er hätte seinen Frieden bewahrt. Der päpstliche Index ist natürlich noch immer in Kraft, doch weit wirksamer ist die Regierungszensur, über die, wie über die Presse, der Duce eine schützende Hand hält. Es ist nicht gut für das Volk, wenn es die falschen Bücher und Zeitungen liest. Italiener, verstehen Sie, sind allzu hitzköpfig, allzu leicht zu beeindrucken. Väterlich wacht der Duce über ihre geistige Nahrung; nach seinem eigenen Eingeständnis gibt es andere Nahrung wenig genug. In welcher Verfassung befindet sich die italienische Literatur heute? Trotz der neuen Schulen und des dopolavoro 351 gibt es noch immer einen hohen Prozentsatz an Analphabetentum, besonders in den ländlichen Gebieten. Wiewohl die Bücher kommen und gehen und literarische Schulen blühten und vergingen, 300
besitzt das italienische Proletariat seit Generationen nur ein Buch, das gleichzeitig seine Bibel und seine Tausendundeine Nacht ist: Guerino detto il Meschino352. Ein Bauer, der kaum ein Kreuz statt seiner Unterschrift malen kann, kennt ganze Episoden des Guerino auswendig. Guerino gehört so wie das Schwein und das Maultier zu seiner Familie; er ist für ihn so wirklich wie das Bildnis des bärtigen Heiligen an der Wand. Wer ist Guerino? Der kühnste, klügste, hintertriebenste, menschlichste und deshalb beliebteste Ritter der Gesta Romanorum353. Er ist ein buntscheckiger Held, der Fürsprecher der armen Leute, der Narr, der den großmächtigen Barbarossa am Bart zupfen darf. In den Heldentaten Guerinos gegen den Tyrannen genießen die Unterdrückten Italiens seit Jahrhunderten stellvertretende Rache. Sie brauchen keine andere Literatur. Dennoch gibt es heute unter dem Faschismus zahlreiche Schriftsteller. Und es sind sogar Männer, deren Namen in der ganzen Welt genannt werden. In einem luxuriösen Schloß, das exotisch und geisterhaft mit Diwanen und den Teilen von Flugzeugen ausgestattet ist, lebt Gabriele D'Annunzio eine postume Existenz, er selbst sein eigenes Denkmal. Wie der Kaiser Friedrich der deutschen Ballade ist er „niemals gestorben" 354 , und wenn er irgendwann einmal stirbt, so wird er nicht weniger tot oder lebendig sein als er es jetzt ist. Ein Großteil seines Werkes gehört einer vergangenen Epoche an; das Beste wird bleiben. Ganz gleich, welchen Ruhm er errungen hat, dieser Ruhm würde keineswegs gemindert oder vergrößert werden, wenn er sich heute, wie er regelmäßig androht, es zu tun, in den Krater des Ätna schleudern oder das Alter Methusalems erreichen würde. Der Duce hat ihn wegen seiner Rolle in Fiume ausgezeichnet; eine Nachkriegsgeneration vergötterte ihn. Doch obwohl er noch schreibt, weiß er, daß er seine Glanzzeit hinter sich hat. Es gibt keine Schule, die sein Werk fortführt, denn er selbst war der Anfang und das Ende. Die andere literarische Berühmtheit starb erst vor kurzem. Pirandello 355 verfehlte Größe im Tod um nur wenige kurze Jahre. Doch dann hätte er nicht den Nobelpreis erhalten, obwohl er eine glücklichere Erinnerung hinterlassen hätte. Pirandello war, trotz der zahlreichen Ehrungen, die wie bleierne Gewichte auf seinem Gewissen gelastet haben müssen, ein enttäuschter alter Mann. Jede dieser Auszeichnungen empfing er nicht für einen Sieg, sondern für eine moralische Niederlage. Er bekennt seinen Abfall in den verschleierten Anspielungen eines seiner letzten Stücke Quando si e' Qualcuno ( Wenn man jemand ist)356. Der alternde Dichter, der jemand, dessen Name nur mit Sternchen bezeichnet wird, ist sicherlich Pirandello selbst. Nach einem langen schöpferischen Leben erneuert der Dichter, müde des Konfliktes ständig wechselnder Fronten, seine Jugend, indem er einen Gedichtband unter Pseudonym veröffentlicht. Die jüngere Generation akzeptiert ihn begeistert und macht ihn zu ihrem Propheten. Seine einstige Schöpferkraft erwacht durch den in ihn gesetzten Glauben von neuem, er verliebt sich in ein russisches Mädchen, und eine Zeitlang ist er wieder voller Lebenskraft. Doch dann wird das Geheimnis seiner Persönlichkeit verraten. Das russische Mädchen wird von seiner Familie verworfen, während seine Frau ihm rät, seßhaft zu 301
werden und ein Regierungsamt anzunehmen. Am Ende bleibt er ein Gespenst seiner selbst, von denen umgeben, die gekommen sind, sein früheres Ich zu verehren; doch er ist nicht mehr Teil des an ihm vorbeiziehenden Lebens. Er hat sich selbst überlebt. Die drei Kurzgeschichten, die 1934 in einer Übersetzung als Better Think Twice (Überleg es dir lieber zweimalJ357 erschienen, sind von der gleichen Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet. Die Figuren haben jede vernünftige Überlegung hinter sich gelassen; sie lassen sich nur von Gefühlen und Emotionen auf den Weg des Verderbens führen. Unterwerfung ist ihr einziges Handeln, eine blinde Unterwerfung unter die Gesellschaft, die sie selbst gestaltet haben. Keiner denkt an Rebellion. Niemand ist einer Heldentat fähig. Sie faulen im Sumpf ihrer inneren Hohlheit, sie warten, doch sind ohnmächtig, auch nur einen Finger zu heben. Es ist zu vermuten, daß das väterliche Argusauge, als diese Geschichten in den Druck gingen, geschlafen hat. Ein trostloseres Bild einer verfallenden Gesellschaft ist nicht vorstellbar. Wie steht es mit der übrigen italienischen Literatur unter dem Faschismus? Was treiben die Dichter und Romanciers? Die Wissenschaftler und Philosophen? Hunderte von Büchern erscheinen jährlich unter dem Impressum verschiedener Verleger, und es gibt sogar Bestseller. Was sind das für Bestseller? Einige sind die Romane der beiden zweitrangigen Schriftsteller da Verona und Pittigrilli; andere sind die Schriften und Reden des Duce, in vielen Bänden herausgegeben. Vorliebe treibt die Leser, die ersten zu kaufen; Notwendigkeit, die zweiten. Des weiteren ist da Grazia Deledda, die zweite italienische Nobelpreisträgerin, deren Ruhm nicht so langlebig wie der Pirandellos war, und die darum um ihres Ansehens willen gezwungen ist, hin und wieder ein Buch zu schreiben. Große Themen beunruhigten sie nie, sie scheint keinen Sinn dafür zu haben; sie wahrt ihre Botmäßigkeit gegenüber einer Diktatur, die wahrscheinlich alle ihre Fäden mächtig spielen ließ, um ihr den Preis von 1926 zu sichern. In einer erschütterten Welt schreibt sie in Selbstzufriedenheit über geborgenes Leben. VArgine358, der sogenannte realistische Roman, der 1934 erschien, war selbst der ihr wohlgesonnenen Presse eine Enttäuschung. Des weiteren sind da die philosophischen Werke Benedetto Croces und die halbphilosophischen Romane Guglielmo Ferreros. Philosophie vermag sich stets zu behaupten, selbst unter einer Diktatur, denn es gibt Mittel, selbst das wachsamste Auge zu täuschen. Croce besitzt das Siegel der Billigung und schreibt unbelästigt, wenn nicht vielleicht gar völlig in Frieden. Was Ferrero betrifft, der immer noch Tausende von Exemplaren verkaufen kann, so ist er dahingekommen, in einem seiner jüngsten Romane, The Revolt of the Son (Die Revolte des Sohnes)359, dem zweiten Band einer Trilogie, ein altes, sehr altes Evangelium zu predigen. Armut ist der größte Segen, sagt er, und in der Person seines Helden ruft er aus: „Gottseidank, hab ich nichts! Ich bin ein freier Mann!" Leider besitzt das italienische Volk von dieser Freiheit nur allzuviel! Neben den Werken der Regierung bekannter und von der Zensur gebilligter 302
Schriftsteller werden gelehrte Bücher in Menge veröffentlicht. Es scheint unter den italienischen Gelehrten eine außergewöhnliche Vorliebe für die ferne Vergangenheit zu geben. Der eine widmet eine Untersuchung den Frauengestalten bei Ariosto, der andere erweist Dante den gleichen Dienst. Der eine unternimmt es, abermals die Identität der Laura Petrarcas zu entdecken, und ein dritter füllt Hunderte von Seiten mit einer neuen Interpretation der mystischen Bedeutung von Boccaccios Decameron. Es scheint, als nähmen sie die Gegenwart gar nicht wahr, als wäre die einzige Realität eine Vergangenheit, in die sie sich flüchten dürfen. Was die Lyrik betrifft, so lebt sie kaum. Nicht einmal die Gewächshausatmosphäre eines Marinetti belebt sie jetzt noch, da er sich in. die von ihm geschaffene Mumie des Futurismus verwandelt hat. Nur noch in seltenen Augenblicken erwacht er zum Leben, um nostalgische Rückschau in die goldenen Zeiten zu halten, als er noch jemand war, oder um sich von dem, was er „ein paar letzte Überreste futuristischer Sensibilität" nennt, zu befreien. Nichtsdestoweniger erscheinen alljährlich zahlreiche Lyrikbände, von denen manche wie Angiolo Orvietos II Gonfalon Selvaggio360 Gedichte von wahrer Schönheit enthalten. Doch Orvieto gehört zu der Generation D'Annunzios. Die jüngeren Dichter besitzen nichts sie Empfehlendes, weil sie nichts zu sagen haben. Sie könnten ebensogut in den Perücken der Apathischen und Melancholischen des betrüblichen Seicento umherwandeln und die Reize Arkadiens besingen. Tatsächlich ist einer von ihnen in seinen Eingebungen noch weiter gegangen, und er dichtet in phonetischem Italienisch über das New York City gegenüber gelegene Steilufer, das Adirondackgebirge und die Hobokeninsel. Dabei ist jedoch nicht zu vergessen, daß ich nur von solcher Lyrik spreche, die mit Erlaubnis der staatlichen Zensoren veröffentlicht wurde. Nach einer von der faschistischen Regierung 1934 in Kraft gesetzten Verordnung sind alle Bücher vor ihrer Veröffentlichung einem Zensurkomitee vorzulegen, und nur diejenigen, deren Drucklegung genehmigt wird, gelangen in den Buchhandel. Bitte keine Aufregung über solche Maßnahme. Das geschieht nur aus reiner Barmherzigkeit der Regierung mit dem armen Verleger, der sich allzu oft schon betrogen sah, durch einen Wolf im Schafspelz. Da war beispielsweise der Fall jenes unglückseligen Verlegers in Turin, der das Kriegstagebuch361 des sozialistischen Ministers Bissolati herausbrachte, das die Regierung völlig entgegen ihrer eigenen Neigung zum Wohle der Öffentlichkeit beschlagnahmen mußte, wodurch sie den Bankrott des Verlegers verursachte. Jedes Buch also, das wir aus Italien erhalten, ist ein genehmigtes Buch und wie die meisten erlaubten Dinge oft sehr uninteressant. Eifrige literarische Agenten legen sofort die Hand auf die Bestseller und versuchen sodann, einen geschäftstüchtigen amerikanischen Verlag zu finden, der es riskiert, eine Übersetzung herauszubringen. Hin und wieder erscheint ein Buch in seiner englischen Fassung, erzielt mehr oder minder Aufmerksamkeit und sinkt augenblicklich in das Vergessen, aus dem es nie hätte hervorgeholt werden dürfen. Es gibt im heutigen Italien wenige 303
gute Romanschriftsteller. Sie dürfen das Leben nicht so schildern, wie es ist, und daher entbehren ihre Werke der Wahrhaftigkeit. Selbst Pittigrilli, der italienische Humorist, der sich zu Hunderttausenden verkauft, findet seinen Stil durch zahlreiche Verbote und Einschränkungen behindert, und das, was er schreibt, ist weiß Gott nichtig und albern genug. Es gibt jedoch zwei junge Männer, die sich unter anderen Bedingungen zu einflußreichen Schriftstellern entwickeln könnten. Ich spreche von Eurelio de Michelis und Alberto Moravia. De Michelis veröffentlichte 1927 einen Gedichtband; 1931 folgte Adam362, ein Roman, und anschließend zwei Bände Kurzgeschichten. Moravia machte sein Debüt 1929 mit dem Roman Gli Indifferenti363, der in Italien so einen sensationellen Erfolg erzielte, das er bald darauf hierzulande in Englisch erschien, doch ohne größere Beachtung zu finden. Beide können schreiben, beide besitzen eine sehr genaue und treffende Sicht der Dinge. Das Problem ist nur, daß sie das, was sie sehen, nicht schreiben dürfen; daher sind ihre Bilder verzerrt. So wie die Dinge liegen, wurde Moravias zweiter Roman, der in Amerika erst vor wenigen Monaten unter dem Titel Wheels of Fortune (Glücksrad)364 erschien, als er in Italien herauskam, seitens der Presse von einer Verschwörung des Schweigens begrüßt. Man fragt sich, was die gegenwärtigen Behörden beleidigt haben könnte, denn auf den mehr als fünfhundert Seiten findet sich kein Wort, das auch nur im entferntesten als eine Verurteilung des Faschismus interpretiert werden könnte. Nur an zwei Stellen des Buches gibt es Bemerkungen von andeutungsweise sozialer oder politischer Natur. Die erste macht ein halbverrückter Professor, der an Paranoia leidet und daher nicht voll verantwortlich ist; die zweite stammt von der abscheulichsten Figur im Buch, — wobei alle nicht allzu sympathisch sind; — sie sagt: „Gewissen ist eine feine Sache. Schauen Sie sich die Engländer an. Sie hocken auf der halben Welt und haben nicht viel mehr als ein zartes Gewissen." Diese letztere Bemerkung kann man leicht als einen dem staatlichen Cerberus hingeworfenen Brocken interpretieren, denn die Regierung möchte gern, daß das Volk heute England und nicht Frankreich oder Deutschland für den E r b f e i n d Italiens hält. Als ein Bild des zeitgenössischen Italiens könnte Moravias letzter Roman in einem Vakuum geschrieben worden sein. Leider muß das gleiche von denjenigen Arbeiten gesagt werden, die in den letzten Jahren aus Italien zu uns gelangt sind. (Ignazio Silone ist die einzige rühmliche Ausnahme, doch schließlich ist er ein Exilautor der faschistischen Regierung.) Ob ein Roman von Aldo Palazzeschi, einem Schriftsteller von beträchtlichem Talent, oder von einem ausgesprochenen Schreiberling stammt, stets wird er in einem sicheren Nirgendwo angesiedelt, wo kein politisches Problem den Kopf hebt uitd der gequälte Autor in Ruhe lebt. Schließlich ist es kein Vergnügen, unter dem wachsamen Auge des Zensors zu schreiben, der bereit ist, zuzulangen und den Sünder in irgendein Castel Sant'Angelo zu werfen oder ihn in eine der afrikanischen Kolonien zu schicken, wo er am Fieber stirbt. Das finstere Seicento365 ist abermals über das geistige Italien hereingebrochen. Glücklicherweise gibt es Exilschriftsteller. Sie reisen von Land zu Land, von Staat 304
zu Staat, und sie selbst wie ihre Werke sind der lebendige Beweis dafür, daß es nicht gelungen ist, den besseren Teil Italiens zu zerstören.
11 Harry Slochower Die Dialektik der Kultur unter dem Nazismus Ideologie und Kultur sind für das Schicksal politischer Systeme entscheidend. Sie sind es heute vielleicht mehr als sie es jemals zuvor gewesen. Der moderne Staat ist besonders auf die unmittelbare Unterstützung der Massen angewiesen. Das gilt auch für den faschistischen Staat. Obwohl die Faschisten angeblich den demokratischen Gedanken verspotten, beweist ihre Taktik bei der durch Manipulation auf die Massen ausgeübten Anziehungskraft, daß der Faschismus den demokratischen Faktor als einen organischen Bestandteil des historischen Prozessss anerkennen muß. Diese zwangsläufige Anerkennung erklärt teilweise den fieberhaften Qebrauch, den die Faschisten vom geschriebenen und gesprochenen Wort machen. Ihre Kriegsvorbereitung wird in der ideologischen Sphäre genauso intensiv betrieben wie in den Rüstungsfabriken. Darüberhinaus muß der Faschismus mit dem Auftreten breiter gebildeter Schichten rechnen, so daß er, während frühere Diktaturen ihren Klassencharakter ungehinderter zeigen und in breiterem Maße auf physische Gewalt bauen konnten, vorgeben muß, für das Volk als ganzes zu sprechen, und daß sein Programm idealistisch sei und „von innen" komme. Um solche Illusionen einzuprägen, muß der Faschismus gleichzeitig mit Überredungskunst und Polizeiknüppel arbeiten. Es wird gemeinhin behauptet, daß der Faschismus ein Feind der Kultur ist. Warum und in welchem Sinne ist er das? Den Prüfstein der Kultur bilden nicht die Objekte, sondern ihre kritische Prüfung, ihr schöpferischer Gebrauch. Im höchsten Sinne bedeutet Kultur jene durch die ständige Anwendung der kritischen Fähigkeit erlangte Freiheit zur Selbstverwirklichung, die gleichzeitig die höchste soziale Entwicklung erlaubt. Der Faschismus dagegen ist der Versuch des Monopolkapitalismus, eine über das Volk ausgeübte Diktatur zu intensivieren und zu v e r e w i g e n , den Klassenunterschieden D a u e r zu verleihen, die Massen in s t ä n d i g e r sozialer Unterdrückung zu halten. So gesehen schließen Kultur und Faschismus einander aus und können der Gegenüberstellung von Vernunft und Freiheit gegen Verdunkelung und Sklaverei gleichgesetzt werden. Den Beweis dafür lieferte der gespenstische Fackelzug am 10. Mai 1933, in dessen Verlauf auf dem Gelände deutscher Bildungsstätten eine Million Bücher verbrannt wurde und die arische S c h r e c k l i c h k e i t ihre literarische H e x e n k ü c h e feierte. 20
New York 1935/37
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zu Staat, und sie selbst wie ihre Werke sind der lebendige Beweis dafür, daß es nicht gelungen ist, den besseren Teil Italiens zu zerstören.
11 Harry Slochower Die Dialektik der Kultur unter dem Nazismus Ideologie und Kultur sind für das Schicksal politischer Systeme entscheidend. Sie sind es heute vielleicht mehr als sie es jemals zuvor gewesen. Der moderne Staat ist besonders auf die unmittelbare Unterstützung der Massen angewiesen. Das gilt auch für den faschistischen Staat. Obwohl die Faschisten angeblich den demokratischen Gedanken verspotten, beweist ihre Taktik bei der durch Manipulation auf die Massen ausgeübten Anziehungskraft, daß der Faschismus den demokratischen Faktor als einen organischen Bestandteil des historischen Prozessss anerkennen muß. Diese zwangsläufige Anerkennung erklärt teilweise den fieberhaften Qebrauch, den die Faschisten vom geschriebenen und gesprochenen Wort machen. Ihre Kriegsvorbereitung wird in der ideologischen Sphäre genauso intensiv betrieben wie in den Rüstungsfabriken. Darüberhinaus muß der Faschismus mit dem Auftreten breiter gebildeter Schichten rechnen, so daß er, während frühere Diktaturen ihren Klassencharakter ungehinderter zeigen und in breiterem Maße auf physische Gewalt bauen konnten, vorgeben muß, für das Volk als ganzes zu sprechen, und daß sein Programm idealistisch sei und „von innen" komme. Um solche Illusionen einzuprägen, muß der Faschismus gleichzeitig mit Überredungskunst und Polizeiknüppel arbeiten. Es wird gemeinhin behauptet, daß der Faschismus ein Feind der Kultur ist. Warum und in welchem Sinne ist er das? Den Prüfstein der Kultur bilden nicht die Objekte, sondern ihre kritische Prüfung, ihr schöpferischer Gebrauch. Im höchsten Sinne bedeutet Kultur jene durch die ständige Anwendung der kritischen Fähigkeit erlangte Freiheit zur Selbstverwirklichung, die gleichzeitig die höchste soziale Entwicklung erlaubt. Der Faschismus dagegen ist der Versuch des Monopolkapitalismus, eine über das Volk ausgeübte Diktatur zu intensivieren und zu v e r e w i g e n , den Klassenunterschieden D a u e r zu verleihen, die Massen in s t ä n d i g e r sozialer Unterdrückung zu halten. So gesehen schließen Kultur und Faschismus einander aus und können der Gegenüberstellung von Vernunft und Freiheit gegen Verdunkelung und Sklaverei gleichgesetzt werden. Den Beweis dafür lieferte der gespenstische Fackelzug am 10. Mai 1933, in dessen Verlauf auf dem Gelände deutscher Bildungsstätten eine Million Bücher verbrannt wurde und die arische S c h r e c k l i c h k e i t ihre literarische H e x e n k ü c h e feierte. 20
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Trotz des Schwungs und der Prahlerei, die die Bücherverbrennung begleiteten, war dieses Ereignis ein Geständnis der Angst — einer großen Angst vor dem artikulierten Wort und vor des Menschen kritischem Verstand. Es ist überlieferte Tatsache,, daß den Nazis verboten wurde, sich mit Antifaschisten in direkte kritische Diskussionen einzulassen. Schlagstöcke schwingen durften sie, doch keinen ideologischen Disput beginnen. Vernunft und leidenschaftslose Analyse bilden, wie die Nazi-Anführer zurecht erkannten, die Achillesferse einer auf primitive Emotionen und bewußte Verwirrung der Fragen bauenden Bewegung. Nach Görings Worten denkt der echte Deutsche „mit dem Blut"; jede andere Denkart ist „jüdisch bolschewistisches Gift".* Die Bücher, die vor vier Jahren „verbrannt" wurden, und die Schriftsteller, die seitdem ins Exil geschickt, vernichtet oder unterdrückt wurden, stellen die Blüte deutscher Kultur seit der Renaissance dar. Es war eine Kultur, die für Vernunft und geistige Freiheit eintrat, die europäisches Denken und rassische Toleranz vertrat, die ein System privaten Profits kritisierte und verurteilte. Es war eine Kultur der Mittelklasse und des Proletariats, und die Nazis verurteilten sie. Protestanten, die das Recht freien, individuellen Selbstbewußtseins vertraten, Juden und Katholiken, die den internationalen Gedanken verfochten, und Marxisten, die ihre militante Forderung nach sozialer Freiheit als einer Grundlage menschlicher Freiheit erhoben, wurden von den Nazis unterschiedslos ihrem Scherbengericht unterworfen. Die von den Nazis genährte Literatur wurde sehr bald durch die aus dem Schlage terdrama stammende Zeile von Hanns Johst, dem damaligen Präsidenten der Nazi-Dichterakademie, gekennzeichnet: „Wenn ich das Wort ,Kultur' höre, greife ich zum Revolver." Herr Johst ist auch der Verfasser des Schlagwortes, daß die deutschen Schriftsteller „Adolf Hitlers geistige Sturmtruppe" werden sollten. I m Schlageterdrama werden Ausrufezeichen als Ausdruck großen Gefühls und Gedankenstriche als Zeichen tiefen Nachdenkens gesetzt. Im Berliner LokalAnzeiger vom 7. Mai 1933 wurde offiziell erklärt: „Wir sind nicht das Land Goethes und Einsteins und wollen es nicht sein. Auf keinen Fall." Seit 1933 quellen die Nazi-Bücherläden über von Werken über Krieg, Rassenwahn, den „Führerkult", sogenannte „Grenzprobleme" unter besonderer Betonung des Baltikums und der Sowjetukraine und eine allgemeine „Blut- und Boden"-Philosophie. Kriegs- und Todestöne klingen in ihnen allen an. Mirakelspiele wurden aufgeführt, in denen der Tod auf dem Schlachtfeld verherrlicht wird. Heroisch sterben ist die nazistische Formel für eine Tragödie, und der Tod auf dem Schlachtfeld tritt an die Stelle der aristotelischen Katharsis. In all diesen Büchern tritt Hitler als eine Art unsterblicher Geist auf, als ein unwiderstehliches * Und aus der New York Times vom 14. September 1937 erfahren wir jetzt, daß ein dem Paragraph 185 des Deutschen Strafgesetzbuches zugefügter Abschnitt es für ein strafbares Vergehen erklärt, wenn man im Schöße der Familie Hitler oder andere Führer der Nationalsozialistischen Partei kritisiert oder abfällige Bemerkungen über sie macht.
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überirdisches Wesen, das dort siegte, wo Arminius, Luther und Friedrich der Große ihre Niederlagen erlebten. Wo sind die großen nazistischen Schriftsteller? Außer Gerhart Hauptmann 366 ist im Ausland nur noch Heinz Ewers bekannt, dessen Ruhm pornographische Bücher sind. Nun, da der hervorragende Dichter Stefan George tot ist, beanspruchen die Nazis ihn. Selbst Spengler unterstützt den Hitlerfaschismus nur halbherzig. Italien fehlt es an hervorragenden Künstlern und Schriftstellern, bereit, für den Faschismus einzutreten, genauso wie Deutschland. Dieser Mangel ist in der Tat für den Faschismus charakteristisch. Der Faschismus vermag die schöpferische Phantasie weder zu reglementieren, noch zu zwingen oder hervorzubringen. Er kann es sich zwar angelegen sein lassen, die Kunst völlig zum Schweigen zu bringen; doch dort, wo sie überhaupt spricht, neigt die Kunst zur Darstellung einer objektiven Situation in ihrer vollen Komplexität. So werden in Hans Falladas Wir hatten mal ein Kind361 die nazistischen Tugenden des Hasses und der Verachtung so wahrheitsgemäß dargestellt, daß die erzielte Wirkung Abscheu ist. Hauptmann, der in seinem Drama Die goldene Harfe368 scheinbar die Geschichte des Selbstmordes eines schwächeren Bruders erzählt, der seinem stärkeren Bruder Platz machen will, damit dieser das Mädchen mit der goldenen Harfe gewinnt, schildert in Wirklichkeit seinen eigenen geistigen Selbstmord, seine ohnmächtige Kapitulation vor Hitler. Es gibt das reine Böse nicht und keine These ohne die aus ihr resultierende Antithese. Der Faschismus brachte eine gegen sich s e l b s t gerichtete Kultur hervor, genauso wie er innerhalb und außerhalb der faschistischen Grenzen die Volksfront hervorbrachte. Das zeigt sich auf dreifache Weise: negativ in der Beschaffenheit der direkt unter nazistischer Billigung entstandenen Werke, positiv in der von den Künstlern des Exils betriebenen Entwicklung antifaschistischer Kunst und Literatur und schließlich in der versteckten Ablehnung des Nazismus, wie sie in der symbolischen Kunst enthalten ist. Das Organ der deutschen Literaten des Exils Das Wort (2. Jahrg. 4—5) enthält eine erstaunliche Liste der Arbeiten von Männern, die unter der faschistischen Herrschaft nicht in Deutschland leben konnten. 369 An ihrer Spitze steht der größte deutsche Schriftsteller seit Goethe, Thomas Mann. Zu ihnen gehören Namen, die die deutsche Literatur weit über die Grenzen Deutschlands trugen: die Dichter Becher, Brecht und Walter Mehring, die Dramatiker Toller und Wolf, solche Journalisten und Kritiker wie Alfred Kerr, Kisch und Emil Ludwig, und solche Romanciers wie Heinrich Mann, Max Brod, Glaeser, Oskar Maria Graf, Plivier, Renn, Gustav Regler, Feuchtwanger, Roth, Seghers und Stefan und Arnold Zweig. Der Faschismus hat zu einer Radikalisierung zahlreicher dieser dem Mittelstand angehörender Schriftsteller, vor allem der von Feuchtwanger und Heinrich Mann, beigetragen und hat sie erkennen lassen, daß ethische Überzeugungen allein dem Faschismus nicht gewachsen sind. Auch innerhalb seiner eigenen Grenzen ist der Faschismus radikaler geworden, und die nazistische Methode, die Reaktion als 20*
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R e v o l u t i o n zu „verkaufen", erweist sich oft als Bumerang. Wenn die Nazis erklären, Thomas Münzer, Georg Büchner und Thomas Paine würden als gute Nazis erachtet, so wird damit der Weg für die Verbreitung der revolutionären Ideen geöffnet, die sie tatsächlich zum Ausdruck brachten. Ein anschauliches Beispiel für die Dialektik der Situation liefert der Fall des Romanciers Ernst Wiechert. Er wurde voriges Jahr aufgefordert, vor den Studenten der Münchener Universität zu sprechen. Er tat es, und seine Rede, die gerade in Das Wort abgedruckt wurde, 370 war aus zweierlei Gründen aufschlußreich: einmal, weil er die anerkannten sozialen Gedanken, die die Hitler-Regierung vertritt, aussprach; zum anderen, weil er unmißverständlich nachweist, daß diese Ideale vom Nazismus nicht realisiert werden und nicht realisiert werden können. Als Folge seiner Ansprache wurde Wiechert ins Konzentrationslager geworfen. Die Dialektik der Situation hat auch in anderer Weise gegen den Faschismus gearbeitet. Gemeinsame Aktionen von Protestanten, Katholiken, Juden, Liberalen, Sozialisten und Kommunisten wurden beschleunigt. Sie haben einen gemeinsamen Nenner gefunden: den Wunsch, den menschlichen Geist lebendig zu halten. Wie jede Unterdrückungsform hat der Faschismus den Kampf um Freiheit und Kultur verstärkt. Die Dialektik der Kultur unter dem Faschismus beweist die Macht des Wortes, das die Faschisten zurecht fürchten und das sie zu verbrennen suchen. In seiner weltweit berühmtgewordenen Antwort an den Rektor der Universität Bonn (sie wurde nach Deutschland hineingeschmuggelt, in Kettenbriefen verfielfaltigt und von Tausenden gelesen) umreißt Thomas Mann die Vergeblichkeit des Versuches, den Protest der Menschen gegen diese Barbarei zum Schweigen zu bringen. In diesem Brief schreibt Thomas Mann, daß er zu Anfang der HitlerRegierung gegenüber Zurückhaltung zu wahren suchte. „So meine Vorsätze. Sie waren undurchführbar. Ich hätte nicht leben, nicht arbeiten können, ich wäre erstickt, ohne dann und wann zwischenein, wie alte Völker sagten, ,mein Herz zu waschen', ohne von Zeit zu Zeit meinen unergründlichen Abscheu vor dem, was zu Hause in elenden Worten und elenderen Taten geschah, unverhohlenen Ausdruck zu geben . . . Eine Forderung, schwer abzuweisen für einen, dem immer gegeben gewesen war, sich auszudrücken, sich im Wort zu befreien, dem immer Erleben eins gewesen war mit reinigend bewahrenden Sprache. Das Geheimnis der Sprache ist groß; die Verantwortlichkeit für sie und ihre Reinheit ist symbolischer und geistiger Art, sie hat keineswegs nur künstlerischen, sondern allgemein moralischen Sinn, sie ist die Verantwortlichkeit selbst, menschliche Verantwortlichkeit schlechthin, auch die Verantwortung für das eigene Volk, die Reinerhaltung seines Bildes vorm Angesichte der Menschheit, und in ihr wird die Einheit des Menschlichen erlebt, die Ganzheit des humanen Problems, die es niemandem erlaubt, heute am wenigsten,' das Geistig-Künstlerische vom PolitischSozialen zu trennen . . ," 3 7 1
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12 Carlton Beals Lateinamerikanische Literatur Eine der Lieblingsausdrücke, mit dem lateinamerikanische Schriftsteller unsere Nationaleigenschaften zu beschreiben pflegen, ist unser eigenes Wort für „Bluff". Ich würde dieser beschränkten Auffassung in der Tat Ehre machen, wenn ich mich als Autorität für die intellektuelle Leistung zwanzig verschiedener Länder ausgeben würde, von denen jedes seine besondere, umfangreiche Literaturgeschichte besitzt. Es wäre weit vernünftiger, von jemand einen Vortrag über die Literatur der Vereinigten Staaten, Kanadas, Australiens, Neuseelands und Südafrikas zu verlangen. Infolgedessen vermag ich kein Gesamtbild zu geben, noch eine These zu entwickeln. Das einzige, was ich tun kann, ist, ein paar wenige Schnappschüsse eines weiten Panoramas zu liefern, wobei der verwendete Filter meine eigenen Vorurteile und eigenen Vorlieben sind. Erst einmal hat es in Lateinamerika in seiner gesamten Literaturgeschichte nur wenige Berufsschriftsteller gegeben. Der Großteil der Literatur ist lediglich das Nebenprodukt von Männern der Tat, die im Geschäftsleben, in anderen Berufen, in Politik, Krieg und religiöser Bekehrung tätig waren. Das hatte den Nachteil, daß die Technik des Schreibens, die von vielen mehr betont wird als der Inhalt — auf einem minimalen Stand blieb —, doch den Vorteil, der Literatur gegebenenfalls Härte, Realität und feste Substanz zu geben. Es ist, mit Ausnahme einiger weniger Länder, schwer für einen Schriftsteller, von seinen Werken zu leben. In der Vergangenheit war die Leserschaft infolge des verbreiteten Analphabetentums begrenzt. Das zwang viele Schriftsteller, kleine Bürokraten zu werden, und ließ die Literatur oft zur Magd eines politischen Regimes werden, eine Erscheinung, die wir heute in so vielen europäischen Ländern beobachten. Diese Kampfehe zwischen Literatur und Tat ist von Anfang an festzustellen und etwas wohl zu Erwartendes in Ländern, die, obwohl sie keine Grenztradition in dem Sinne besaßen, wie die Vereinigten Staaten sie hatten oder Sibirien sie jetzt entwickelt, dennoch Länder der Tat sind. Lateinamerika besitzt ökonomische Grenzen, Rassenschranken, religiöse Schranken, doch es besitzt, Argentinien und Brasilien einmal ausgenommen, wenige große freie Siedlungsflächen, nur Menschen sie zu erobern. Diese menschlichen Grenzen jedoch haben Eroberer genügend beschäftigt gehalten. Und so geschah es, daß zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, ehe die Engländer in Plymouth Rock landeten, Pater Sahagün sein großes vierbändiges Werk 372 über das Leben und die Bräuche der Indianer schrieb, nur als Zwischenereignis kirchlichen Vordringens. Das Werk ist genauso wie die Chronik des ehrwürdigen Beda zu einem klassischen Denkmal geworden. Es wurde in der Aztekensprache verfaßt, und erst zwanzig Jahre später übertrug es Sahagün in seine eigene Sprache, ins Spanische. Doch das Entscheidende darin ist, daß dieses Werk nur das beiläufige Nebenprodukt eines Mannes war, der sein Leben tatkräftig damit ver309
brachte, Millionen von Heiden zu bekehren, zahlreiche Klöster zu bauen, ein kirchliches Regime zu begründen, zahlreiche einheimische Sprachen zu erlernen und unglaubliche Expeditionen in abgelegene Regionen zu unternehmen. Der erste, der wirklich einen Roman — einen guten — schrieb, war Fernández Lizardi, der der .mexikanische Denker' genannt wird. Er war einer der ersten um die Unabhängigkeit Ringenden; er gründete Zeitungen, schrieb gegen Spanien gerichtete Traktate, verteilte Flugschriften, beteiligte sichan Verschwörungen und verbrachte acht Jahre seines Lebens im Gefängnis. Seine Romane schrieb er gleichsam nebenbei. Mit seinem großen Periquillo Sarniento373 war er bestrebt, die sozialen Mißbräuche seines Landes zu korrigieren. Obwohl in der Form des typischen spanischen Schelmenromans geschrieben, dringt das Buch doch bis auf die Wurzeln des mexikanischen Lebens vor und zeichnet ein anschauliches Bild aller Aktivitäten und sozialen Einrichtungen. Seine La Quijotita374 (Der kleine weibliche Don Quichote) war ein Roman, der für die Rechte der Frauen eintrat; er wurde lange vor Mary Godwin und in einem Land geschrieben, in dem ein besonderes Konkubinatsystem der Ehe herrschte. Oder wir können den großen Domingo Faustino Sarmiento aus Argentinien anführen, eine Art Vertreter des New Deal der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Er kämpfte gegen Diktatoren, betätigte sich politisch, kämpfte in Revolutionen, ging ins Exil, bereiste Europa und die Vereinigten Staaten, begegnete führenden Pädagogen der Welt und wurde ein Freund Horace Manns. In späteren Jahren wurde er Gouverneur der Provinz San Juan, aus der man ihn vorher völlig mittellos vertrieben hatte; er wurde Botschafter in den Vereinigten Staaten; er war sechs Jahre lang Präsident Argentiniens375 und begründete Argentiniens modernes Schulsystem. Sarmientos literarische Nebenbeschäftigung umfaßt mehr als siebzig Bücher, eins davon, Facundo?16 gilt als eines der bedeutsamsten Bücher des Kontinents. Der führende lateinamerikanische Kritiker der Gegenwart, Luis Alberto Sánchez, ein Peruaner, der wegen seiner Beteiligung an der revolutionären ApristaBewegung377 im chilenischen Exil lebt, hat Lateinamerika als „einen Roman ohne Romanautoren" bezeichnet. Dieser Ausdruck ist etymologisch und auch sonst zutreffend. Die Länder sind jung, obwohl sie zu der Zeit, als Anne Hutchinson noch Truthähne in den Wäldern hütete, bereits eine reichhaltige und kraftvolle Kultur entwickelt hatten. Sie sind jung in einem abenteuerlichen Sinn. Die Tat herrscht vor. Soziale Konflikte und Rassenauseinandersetzungen beherrschen die Szene. Und darum wird man in Lateinamerika zumeist vergeblich nach dem psychologischen Roman, dem Charakterroman oder tiefen Seelenanalysen suchen. Hier gibt es keinen Dostojewski. Auch James Joyce, Proust, Gide, Baudelaire und Poe besitzen hier nicht viele Nachahmer; die Schriftsteller leben jedoch in einem Zauberkreis, ohne Wurzeln in ihren jeweiligen Ländern. Lateinamerika hat den Grenzer-Abenteuerroman, den gehobenen Groschenroman zu einem literarischen Status erhoben, freilich ohne die anwidernde Sentimentalität eines Harold Bell Wright oder eines Zane Grey. Es gibt beispielsweise 310
eine große argentinische Literatur über den g a u c h o , jenen wilden Typ eines mischblütigen Viehfangers. Solche Romane verfehlen kaum eine politische oder soziale Bedeutung zu haben, da der g a u c h o eine größere politische Rolle spielte als entsprechende Typen in den Vereinigten Staaten. In der Hinsicht entspricht er mehr der mittelwestlichen Revolte Amerikas gegen die östliche Finanzherrschaft. Aus unserem mittleren Westen kam der Populismus, kamen Bryan, Huey Long, die Farmer-Arbeiterbewegung. Der g a u c h o stand an der Spitze der ersten Bewegungen für soziale Demokratie. Er stand gegen die Finanz- und Reedereiinteressen von Buenos Aires und kämpfte später gegen die immer enger werdenden Stacheldrahtzäune, die Argentinien von einem freien Land in das Vaterland der großen feudalen Grundbesitzer verwandelten, das es heute ist. Vieles dieser Tragödie spiegelt sich in den jüngst erschienenen ausgezeichneten Werken Güiraldes' wider, die in der Umgangssprache der Pampas geschrieben sind. Mexico ist reich an Romanen dieser Art. Der berühmte Roman Bandits of Rio Frio (Banditen am Rio Frio)318 von Manuel Payno ist ein klassisches Werk geworden und verdankt seinen verbreiteten Ruhm der Tatsache, daß er so tief in der mexikanischen Umwelt, in den mexikanischen Bräuchen wurzelt. Der Roman Tomochio379 von Heriberto Frias gehört dem gleichen Genre an, doch ist es sein Ziel, die Brutalitäten, die Korruption und die Verbrechen der Armee des Porfirio Diaz sowie den gewaltsamen Raub indianischen Landes zu schildern. Heute bringen die mexikanischen Verlage eine Flut von den Revolutionsanführern, besonders Villa und Zapata, gewidmeten Chroniken. Doch ist diese Literatur meist reaktionär und schlecht geschrieben. Sie schildert die Erregungen, die gargantuanischen Heldentaten, die Verderbtheiten und Übergriffe, zu denen es kam, ohne die sozialen Triebkräfte zu offenbaren, die die Dorados veranlaßten, einem Schimmer agrarischer Freiheit nachjagend über die Berge zu reiten. Das beste Buch dieser Art ist vielleicht Underdogs (Die RotteJ380 von Mariano Azuela, das Nebenwerk eines vielbeschäftigten Arztes; aber auch diesem Buch gelingt es nicht, die tiefere Bedeutung des Massakers zu erfassen. Ein erstklassiges Werk dieser Art in Lateinamerika, und zwar deshalb, weil es in einen anderen Romantypus übergeht, ist La Vorágine (Der Strudel)381 (in den Vereinigten Staaten erschienen als The Vortex) des Kolumbianers José Eustasio Rivera, das die schrecklichen Ausbeutungsmethoden der Gummiindustrie in den inneren Gebieten des Amazonas schildert. Das gleiche gilt auch von jenem Dokument, das, obwohl kein Roman, sich wie Belletristik liest, Os Sertóes382 von Euyclydes da Cunha, ein Buch, das die schreckliche Ausplünderung der Indianer und die Landnahme Brasiliens beschreibt. Ein weiterer Romantypus, der seit langem in Lateinamerika besteht, ist der regionale Sitten und dörfliches Leben schildernde Roman. Wenn er die gefühlsselige Erinnerung eines in die Stadt gegangenen, nostalgischen jungen Mannes bringt, ist er unerträglich. Doch wenn er menschenfreundlich, humoristisch, satirisch und realistisch ist, so ist er eine unterhaltsame und informative Lektüre, etwas erfreulicher als die Spoon River Anthology (Die Toten von Spoon River)383 311
oder Sherwood Anderson. 384 Einer der besten Schriftsteller dieses Genres in Mexiko war José T. Cuellar, der ein kaltes, unbarmherziges Licht auf Dorfleben und -bräuche wirft. Und das beste Werk der jüngsten Vergangenheit ist Notes of a Small Town Dweller (Notizen eines Provinzlers)385 von J. Rubén Romero, erfrischend, erfreulich und ironisch. Bisweilen erlangt solche Literatur eine wilde und trübsinnige Macht wie in O Mulato (Der MulatteJ386 des Brasilianers Aluizo de Azevedo. Es erübrigt sich zu sagen, daß diese Main Street (Die Hauptstraße )381 mit ihrer zusätzlichen beißenden Behandlung des Rassenproblems Aluizo den ewigen Haß seiner Nächsten, der Literaturprofessoren, der Reaktionäre sowie dem in der brasilianischen Literatur damals vorherrschenden Häufchen der zuckersüßen Romantiker, eintrug. Die von mir beschriebenen beiden Romantypen, der modifizierte Schelmenroman, oder sollen wir ihn den Grenzer-Abenteuerroman nennen, und der einheimische Bräuche schildernde Roman vereinen sich zu einem neuen Trend im lateinamerikanische Roman, der besonders von der zeitgenössischen ekuadorianischen Schule gefördert wird. Die beiden Fäden werden mit einem Bewußtsein der Rassen-, sozialen und Klassenkonflikte zusammengesponnen. Dieser Trend machte sich bereits in Riveras The Vortex bemerkbar. Allgemein gesehen leiden die Elemente der psychologischen Nuancierung und Charakterzeichnung, die in den Bemühungen südlicher Literatur nie allzu stark waren, noch mehr, obwohl die Romane in einigen Fällen an Konzentration und stark ausgeprägter Zielsetzung gewinnen. Das kann beispielsweise von den Romanen Jorge Icazas aus Ekuador gesagt werden, die halb in der Muttersprache der das Hochland bewohnenden Quecha-Indianer geschrieben sind. Der Held des Romanes ist keine Einzelperson, sondern das ausgebeutete indianische Volk. In Huasipungo (Thatched Hut)388 dringt der Autor zu einem dramatischen Bild unmenschlicher Aubeutung vor, die von dem ansässigen Grundbesitzer, dem Priester und den Behörden stillschweigend geduldet wird, um die Indianer mit Peitschenhieben zum Bau einer Straße anzutreiben, die reiche Besitztümer erschließen wird. Sich ein wenig mehr an die costumbrista-Seite389 anlehnend, ist The Serpent of Gold (Goldene Schlange)390 Ciro Alegrías, der erste Roman eines im chilenischen Exil lebenden Peruaners, ein Buch, das im vorigen Jahr den dortigen Nationalpreis für Literatur gewonnen hat. Es ist ein bewegendes und eindringliches Bild des Kampfes, den die indianischen Ruderer führen, um dem heimtückischen Marañón River einen Lebensunterhalt zu entreißen, sowie ein Beispiel dafür, wie sie von Beamten, Priestern und Abenteurern betrogen werden. Von gleicher Art, nur weniger wirksam, ist der kürzlich übersetzte Roman des Mexikaners Gregorio López y Fuentes: El Indio.391 Thematisch weitergreifend, ausgezeichnet, wenn auch schwerfallig, geschrieben ist Canas y Bueyes392 (Sugar Cane and Oxen) von dem aus Santo Domingo stammenden Moscoso Puello. Das Buch zeichnet in beeindruckenden und bewegenden Bildern, wie ein Dorfbewohner dadurch, daß er durch die Marinebesetzung und die amerikanischen Zuckerinteressen seines Landes beraubt wird, aus einem freien Stand in den des agrarischen Lumpenproletariats 312
getrieben wird. Die gesamte zerrüttete Familie, die ökonomischen und sozialen Beziehungen werden mit starken Federstrichen gezeichnet. Der überwiegende Teil dieser neueren Literatur besitzt einen ausgesprochenen antiimperialistischen Beigeschmack, den alles politische Wohlwollen nicht zu mildern vermag, weil die Tatsachen der ökonomischen Durchdringung und Ausbeutung unverändert bleiben. Das ist, wie die Namen Rodò, Ugarte und Dario uns erinnern, ein altes Thema, doch im Roman ist es neu. Es ist auf mittelbare Weise selbstverständlich in den Themen Riveras, Alegrías und Icazas enthalten. Außer dem Roman Moscoso Puellos gibt es einen direkteren, aggressiveren Roman von Aguilera Malta mit dem Titel Canal Zone?93 Das ist die Geschichte des tragischen Schicksals eines Mulatten, der aus der Mesalliance eines polnischen Kanalzonenarbeiters mit einer Negerin geboren wird; und sie ist kaum schmeichelhaft mit ihrer Darstellung der Rassendiskriminierung in Panama, verursacht durch die Anwesenheit amerikanischer Marinesoldaten und Beamten — seien es nun USAmerikaner oder Panamanesen. Kubanische und nikaraguanische Schriftsteller haben ähnliche Romane geschrieben. So wie es mit allen kolonialen und halbkolonialen Regionen der Fall ist und auch mit uns war, wurde eine langfristige Anstrengung unternommen, um das Stadium der Nachahmung ausländischer Literatur zu überwinden. Die lateinamerikanische Unabhängigkeit wurde fünfzig Jahre später als die unsere errungen ; verschiedene Länder wurden durch das Eindringen amerikanischen, britischen und anderen europäischen Kapitals einer neuen Abhängigkeit unterworfen. Es war für sie ein längerer und schwierigerer Prozeß, die wahre Bedeutung ihres eigenen Lebens zu entdecken und eine unabhängige Literatur zu schaffen. Während der eigentlichen Kolonialperiode, die — außer in Brasilien — nahezu drei Jahrhunderte dauerte, war die Literatur vorwiegend nachahmend. Die großen einheimischen Kulturen waren zerstört worden, ihre ökonomischen und sozialen Bindungen zerschlagen. Die Neuankömmlinge, die Spanier und die Negersklaven, waren in den neuen Ländern niemals richtig verwurzelt, und die Spanier und die Kreolen, die Kinder der Spanier, besaßen, wenn man das einmal so allgemeingültig ausdrücken darf, das Monopol des gesamten geistigen Ausdrucks. Die gesamte Literatur war drei Jahrhunderte lang der eisernen Zensur von Kirche und Bürokraten unterworfen. Der menschliche Geist wurde gefiltert. Die koloniale Literatur ist formalistisch, spanischen Vorbildern engstens angelehnt, rhetorisch und leer, selbst wenn man auch einige große Ausnahmen anführen kann. Sie mag bestenfalls als vorwiegend Gongoresco, als eine Nachahmung der Werke Göngoras beschrieben werden 394 , in denen der enthaltene Mystizismus, Wortspielerei und Abschweifungen die vornehmlichsten Kennzeichen sind. Literatur war eine Art Scharade, das Zusammensetzen eines Kreuzworträtsels leerer Phraseologie, wobei das sich schließlich ergebende Bild sehr wahrscheinlich das schmeichelhafte Porträt eines Vizekönigs in Samthosen, mit Silberschnallen und Schleppschwert war. Die Deutschen von heute würden Hitler nehmen. Die Spanier und Kreolen waren nicht imstande, wirksam über die neuen Länder zu schreiben, 313
in denen sie sich befanden, und sie hatten den Kontakt mit ihrer Heimat verloren. Wenn sie wurzellos waren, war ihre Literatur im doppelten Sinne wurzellos, und die einheimische Literatur war natürlich zerstört worden und konnte sich nicht entwickeln. Die Unabhängigkeit ließ aus der südamerikanischen Büchse der Pandora beängstigende Rassen- und Klassenfehden hervorgehen, und in den darauffolgenden Wirren blieb das Leben, obwohl sich bemerkenswerte Beispiele kühner Schriftstellerei finden, allzu ungefestigt, und die Literatur hat in der Regel einen eskapistischen Zug. Sie wandte sich wieder der Mythologie der Indianer zu; wir finden Romanzen des Lebens der Inkas und Azteken; oder sie brachte den Ruhm und Glanz des Koloniallebens wieder hervor — eine Art „gute alte Zeit"-Mythos. Solche Themen machen die angenehme Lektüre Ricardo Palmas aus, von dem Thornton Wilder direkt oder indirekt die Handlung seiner Bridge of San Luis Rey (Brücke von San Luis Rey)395 entliehen hat, die dem letzteren Autor in einem Monat mehr einbrachte, als der ehrwürdige Palma mit seinen Werken im ganzen Leben verdiente. Die achtundvierziger Bewegung in Europa verlieh der lateinamerikanischen Literatur neue Impulse, verlieh ihr ein stärkeres Interesse am Indianerproblem; und die großen, gegen die Kirche eingestellten Schriftsteller wie Vigil und Gonzalez Prada in Peru traten hervor. Kurz vor der Jahrhundertwende erschien der hervorragendste aller lateinamerikanischen Dichter, der Mulatte Rubén Dario aus Nikaragua. Er brach mit der sterilen Formel spanischer Romanzendichtung und schrieb über alles, was ihm begegnete. Er entdeckte neue Möglichkeiten in der Sprache, neue, dem Boden des amerikanische Kontinents entstammende Worte und neue Ausdrucksformen. Man kann sagen, daß die spanische Literatur dieses Jahrhunderts in Spanien selber ihren Hauptimpuls dem nikaraguanischen Dichter der Neuen Welt verdankt. Er sah sich dem Grundproblem aller lateinamerikanischen Schriftsteller, dem Problem der Sprache, gegenüber. Vielleicht war er deshalb imstande, die Fäden einer neuen Dichtung aufzunehmen, weil er als Journalist von Land zu Land, von Gefängnis zu Gefängnis getrieben wurde. Teilweise rührte die Verzögerung bei der Verwurzelung der lateinamerikanischen Literatur in den verschiedenen Nationalitäten, die sich gebildet hatten, daher, daß noch keine bodenständige Sprache entstanden war. Sie war wegen der Rassenund sozialen Konflikte nicht entstanden. Aus diesem Grunde ist die mexikanische Sprache noch immer im Entstehungsprozeß. Sie wird erst dann geboren werden, wenn der Indianer am vollen Strom des wirtschaftlichen und politischen Lebens beteiligt ist. Zahlreiche indianische Ausdrücke sind bereits in den Wortschatz eingegangen. Das indianische Wort c a c i q u e fand man nützlich, um die spanischen Oberhäupter der Politik unter dem alten Regime Spaniens zu bezeichnen. Der Einfluß erstreckt sich nicht nur auf den Wortschatz, sondern auch auf Morphologie, Syntax und Grammatik. Was für Mexiko gilt, gilt für alle Länder der Neuen Welt. Sie werden vielleicht zur Entstehung einer reicheren, allgemeingültigen spanischen Sprache beitragen. Rubén Dario schöpfte aus einigen dieser bisher unerschlossenen 314
Quellen. Güiraldes in Argentinien benutzt die Sprache der Pampas; Icaza in Ekuador die Sprache der Hochlandbewohner; Nicoläs Guillen, der kubanische Dichter, verwendete das einheimische näitgo, die Sprache der schwarzen Kubaner, ohne die er nicht imstande gewesen wäre, so wie in seinem Songoro Cosongo396, den leidenschaftlichen Rhythmus des Negerlebens einzufangen. Ich würde in diesem Vortrag gern auf die von Negern und über Neger verfaßte Literatur eingehen, die in den südlichen Ländern eine weit bedeutendere Rolle als bei uns gespielt hat. Ich würde gern auf die von Indianern und über Indianer verfaßte Literatur eingehen. Ich würde gern zeigen, wie diese beiden wirksamen, sich allmählich von der folkloristischen Ebene lösenden Richtungen in der egoistischen und individualistischen Bildungsliteratur der Mestizen, der Mischlinge, verschmelzen, die heute die breite Masse der lateinamerikanischen Mittelklasse, soweit sie existiert, bilden. Ich würde gern zeigen, wie diese Mittelklasse, wie diese Mestizen, konfrontiert mit dem Eindringen ausländischen Finanzkapitals, aus dem Sonnenlicht der Macht, in das sie gerade tauchten, verdrängt werden, wie ihre Gruppenentwicklung dabei zersplittert und zerstört wurde, und wie sie als Folge davon der marxistischen Philosophie, dem Bündnis mit dem indianischen Proletariat mit seinen Traditionen der alten Dorfgemeinschaft, und einige wenige dem Faschismus, zugetrieben werden, und wie sich das in der heutigen Literatur widerspiegelt. Ich wäre gern auf die Lyrik, die Essays, die biographischen und historischen Romane Lateinamerikas eingegangen. Ich hätte vor allem gern einen Blick auf die ungeheure Masse jüngster Literatur geworfen, die in die wirtschaftliche Realität Lateinamerikas getaucht ist: The Great Problems of Mexico397 von Molina Enriquez zum Beispiel oder das Werk Mariäteguis in Peru oder Espinosa Tamayos in Ekuador. Doch ich kann nur sagen, daß die lateinamerikanische Literatur, so wie sie sich heute in den meisten Ländern darstellt, endgültig erwachsen wird, daß sie europäische Vorbilder aufgibt, den Ton ihrer eigenen Erde formt und ihn nicht nur mit dem Leben seiner lokalen und nationalen Wirklichkeit, sondern auch mit dem Bewußtsein der großen sozialen Kämpfe von heute beseelt. Es gibt mit Sicherheit in sämtlichen südlichen Ländern einen neuen und weitverbreiteten literarischen Aufbruch, eine literarische Renaissance, wenn man so will, und einen Vorläufer einer gemeinsamen landwirtschaftlichen und sozialen Revolution. Daraus wird, zurückzuführen auf die breiteren ethnischen Elemente, die in diese Literatur einfließen, auf die besondere Vergangenheit dieser Länder, auf die auf ökonomische Emanzipation und den Aufstieg neuer geschlossener Nationalitäten gerichtete Entwicklung, man kann beinahe sagen, unvermeidlich eine der bemerkenswertesten Literaturen unserer Zeit entstehen. 398
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13 Albert Rhys Williams Milliarden Bücher Eine der zehn großen Errungenschaften der russischen Revolution besteht darin, daß sie Literatur, Musik und Theater den Massen zugänglich und zu einem Bestandteil ihres täglichen Lebens machte. Um die aus frühen Tagen stammenden Losungen „Die Kunst gehört dem Volk", „Ohne Arbeit leben ist Raub", und „Ohne Kunst zu arbeiten ist Barbarei" Wirklichkeit werden zu lassen, mußten immense Hindernisse überwunden werden. Viele Menschen vergessen diese Hindernisse. Es war auf dem Gebiet der Kultur notwendig, von Grund auf anzufangen, genauso wie es auf dem Gebiet der Industrie nötig war, von Grund auf — mit den Bergwerken, Fabriken, Kraftwerken — anzufangen. Nahezu alle wesentlichen Erfordernisse fehlten völlig. Einhundert Millionen Menschen konnten nicht lesen, noch ihren Namen schreiben. John Reed beobachtete wenigefTage nach der Oktoberrevolution, wie an einem Wandbrett ein Plakat befestigt wurde. Einige Bauern und Soldaten standen davor. Sie waren entrüstet und Tränen liefen ihnen die Wangen herab. Reed hörte sie sagen: „Wir können kein Wort davon lesen. Der Zar wollte nur, daß wir kämpfen und Steuern zahlen. Er hat uns blind gemacht." Von dem Tage bis zum heutigen sind erst zwanzig Jahre vergangen. Doch in den zwanzig Jahren sind die drei slawischen Hauptgruppen — die Weiß-, die Groß- und die Kleinrussen — praktisch alle des Lesens und Schreibens fähig geworden. Ungeheure Schwierigkeiten waren zu überwinden, um den nichtslawischen Völkern die Kunst des Lesens und Schreibens zu vermitteln. Nehmen Sie beispielsweise die Vereinfachung des tartarischen und mongolischen Alphabets, bei den tartarischen Völkern, den Nachfahren Dschingis Khans und Tamerlans. Die stimmlosen Konsonanten dieses Alphabets, zarte und anmutige Laute, waren schwer zu meistern und sind einst das Monopol der Gelehrten- und Priesterklasse gewesen. Um dieses Alphabet den breiten Massen wie auch dem Schriftsetzer und Maschinenschreiber zugänglich zu machen, wurden zweiundzwanzig dieser türkischtartarischen Sprachen latinisiert, das heißt, in dasselbe Alphabet gebracht wie das Englische. Ostchinesisch, Kurdisch, Gebirgshebräisch und selbst Russisch wurden latinisiert, damit die NichtSlawen sie lernen konnten. In seinem berühmten Gedicht Ein Denkmal baut ich mir sagt Puschkin: „So weit sich Rußland dehnt, kennt jeder meine Muse, es nennt mich jedes Volk, das unser Reich umspannt: Der Slawen stolzer Sproß, der Finne, der Tunguse . . ," 3 9 9 Diese Prophezeiung erfüllt sich nunmehr. Nicht nur, daß diese Völker seinen Namen kennen, sie können seine Gedichte und Worte auch in ihrer Muttersprache lesen. Und umgekehrt werden die Gedichte, Lieder und Legenden dieser Völker in die Sprache Puschkins übertragen. Noch erstaunlicher ist, daß eine Vielzahl von Völkern nun die literarische Bühne 316
betritt. Selbst die Existenz dieser Völker war in anderen Weltteilen unbekannt, und einer der Gründe dafür ist das Fehlen einer Schriftsprache. Einige dieser Völker bewohnen Landstriche von der Größe Britanniens. Ihre Sprache existiert nur in der Welt der Zeichen und war ohne Schrift und Alphabet. Ihre Traditionen wurden mündlich überliefert. Doch heute haben unter ihnen lebende sowjetische Wissenschaftler die Laute auf Papier gebannt, ein Alphabet geschaffen und Fibeln, Wörterbücher und Schulbücher geschrieben. Ähnliche Arbeit wird mit unverminderter, sich steigernder Kraft in der gesamten Sowjetunion geleistet. In einem sowjetischen Werk werden Drucklettern in sechsunddreißig dieser Sprachen gegossen. Auf diese Weise erhalten die ungebildeten Völker ein Mittel, ihre geschichtliche Vergangenheit darzustellen, ihre Hoffnungen und Wünsche auszudrücken, ihren Beitrag zum Gesamtschatz menschlichen Wissens zu leisten. In der baumlosen Tundra, in den Steppen, in den entlegenenen Wäldern wiederholt sich der Vorgang. Er ist dem Zeitalter Chaucers vergleichbar, als die englische Sprache entstand. Ein Großteil der schöpferischen Kraft und Potenz der sowjetischen Literaten geht in diese einzigartige und noch nicht dagewesene Aufgabe. Stalin schreibt: „Es mag merkwürdig erscheinen, daß wir, die wir die Befürworter der Verschmelzung aller Kulturen in eine gemeinsame Kultur sind, mit einer gemeinsamen Sprache, gleichzeitig die Vorkämpfer für die Blüte der Nationalkulturen sind. Doch daran ist nichts befremdlich, denn die einzelnen Nationen und Völker und Rassen müssen das Recht besitzen, sich zu entfalten und auszudehnen und jede potentielle Leistung zu zeigen, die in ihnen steckt." 400 Die Folge davon ist, hundertundacht Sprachen und Muttersprachen sind heute literaturfähig, viele von ihnen zum ersten Mal. Genauso erstaunlich, wenn nicht noch mehr, ist die Tatsache, daß man die Leute lesen gelehrt hat, daß die Revolution im Volk das Bedürfnis zu lesen geweckt hat. Es ist erst zwanzig Jahre her, daß Lenin vorschlug, die Freuden und Vorteile des Lesens auf Plakaten bildlich darzustellen und diese auf den Straßen und in den Dörfern anzubringen. Eines dieser Plakate stellte, wie ich mich erinnere, zwei Bauernjungen dar, die ehrfürchtig vor einem riesigen Buch stehen, aus dessen Seiten Ritter in Rüstung, ein Traktor, ein Flugzeug und andere Gestalten und Gegenstände strömen. Tausende von Wanderbibliotheken wurden geschaffen. Bücher wurden auf Schlitten in die Arktik befördert, von Karamelkarawanen zu den Nomaden und Hirten der Steppen, mit Eisenbahnwaggon und Auto zu den Erntearbeitern auf den Feldern. Fast jeder größere Betrieb und jeder größere Klub veranstalteten Buchlesungen und Diskussionen, von den einfachsten Geschichten für den kaum des Lesens und Schreibens Kundigen bis zu den Klassikern für die Fortgeschritteneren. Heutzutage sind Bücherstände und -Kioske in der Sowjetunion so zahlreich wie Erfrischungshallen in den Vereinigten Staaten. Das Problem liegt nicht mehr darin, das Interesse an Büchern zu wecken, sondern vielmehr darin, eine Lösung zu finden, die wirklich unersättliche Nachfrage zu befriedigen. In den letzten fünfzehn Jahren wurden sieben Milliarden 317
Bücher gedruckt, darunter zweiunddreißig Millionen Exemplare von Gorki, etwa eine Million Exemplare Tolstoi (einschließlich der ersten vollständigen Ausgabe seiner Werke in neunzig Bänden) und über eine Million Exemplare Puschkin. Die Auflagen beliebter Gegenwartsautoren erreichen häufig eine halbe Million. Große Auflagen der Klassiker — von Homer und Horaz bis zu Maupassant und Mark Twain — erscheinen alljährlich. Stalin bemerkte unlängst, daß bei der breiten Masse der Russen Goethe und Schiller besser bekannt sind als bei der deutschen Jugend. An Publikationen, von der Flugschrift bis zur Enzyklopädie gerechnet, erscheinen etwa fünfundvierzigtausend Titel jedes Jahr. Die Druckereien können mit der Nachfrage nicht Schritt halten. Es gibt noch ein weiteres und sogar bedeutsameres Kennzeichen dieser sich entwickelnden Kultur. Von Anfang an hat sich die Revolution das Ziel gesetzt, dem Volk die Aussicht einzuprägen, selber ein aktiver Schöpfer und nicht nur ein passiver Rezipient und Konsument von Kunst und Literatur zu werden. Dafür gab es Losungen wie „Der Leser von heute kann der Schriftsteller von morgen sein". In den letzten zwanzig Jahren wurden Schriftsteller aufgefordert, aufs Land zu gehen und das dortige Leben zu beschreiben. Fast ständig drängten sie das Volk, über sein Leben selbst zu schreiben, über „alles, was man im Leben und in der Natur sieht". Ein Ergebnis davon war die Schaffung der Arbeiterkorrespondentenbewegung 401 , die binnen kurzem zwei Millionen Mitglieder besaß und heute weitere Millionen zählt. Genaue, das Innerste des Menschen betreffende Informationen verbreiteten sich als Folge davon schnell unter den Massen, zahlreiche bodenständige Talente wurden entdeckt. Literarische Veranstaltungen und Konferenzen entwickelten sich; besondere Zeitschriften erschienen, und in manchen Betrieben gab man literarische Beilagen heraus, auch humoristische Wochenblätter, und nicht selten waren die Arbeiter auf ihren Humor, ihre Romane und Kurzgeschichten genauso stolz wie auf ihre produzierten Traktoren. Betriebe und Kolchosen besitzen Gruppen, die alte und neue Literatur diskutieren, und bisweilen lesen Autoren ihnen ihre jüngsten Werke vor. Arbeiter haben etwa eintausend kleine Bücher und Broschüren über alle möglichen Themen geschrieben und veröffentlicht, die Revolution, das Wodkatrinken, den Goldbergbau. High Were the Hills (Hoch waren die Berge) ist ein Sammelband, an dem hundert Bergarbeiter mitgearbeitet haben. Nordrussische Fischer schrieben gemeinsam The Tales of the White Seacoast (Geschichten von der Weißmeerküste). In diesen Büchern berichten diese einfachen, unprätentiösen Autoren von Dingen, die sie in ihrem Alltag berühren, die sie handhaben, mit denen sie umgehen. Kurz, sie wählen sich für ihre literarischen Arbeiten Dinge aus, die sie in der Wirklichkeit erleben. Bedeutungsvoll dabei ist, daß dieser Detailrealismus nicht ohne Auswirkung auf die professionellen Romanciers, Dichter und Dramatiker geblieben ist, was wiederum eine Erklärung dafür ist, warum in der gegenwärtigen Sowjetliteratur soviel von Stein und Stahl, Schmiedehammer und Traktor die Rede ist. 318
Kritiker außerhalb der Sowjetunion lehnen das als übertriebene Propaganda ab, was zeigt, wie wenig sie begreifen, in welcher Art der Sowjetautor schreibt und der Sowjetleser liest. Das Symbol des Traktors bezeichnet nicht das Pflügen allein, sondern auch die Befreiung des Menschen von seiner jahrhundertealten Fesselung an den Boden; auch der Hochofen ist nicht nur ein Symbol dafür, daß man dem Erz das Eisen entreißt, sondern ein Symbol des Prozesses, vermittels dessen Eisenbahnschienen und Kabeldrähte die Völker der Welt zu einer großen Völkerfamilie verbinden, sowie des Prozesses, durch den, wie viele der Dichter sagen, der Mensch „auf stählernen Flügeln zur Sonne empor" getragen wird. Das sind in der Tat Symbole der Macht, die der einzelne Mensch nicht besitzt. Die großen Schriftsteller von Gorki bis Leonow brauchten nicht überredet oder gezwungen zu werden, über diese Dinge zu schreiben. Aus der Verwendung solcher Symbole und solcher Themen ergibt sich eine neue Art des Interesses am einzelnen Menschen, an Mann und Frau. Die alten, zeitlosen Themen Leben, Liebe und Tod gewinnen neue Eigenschaften und Aspekte. Da die veränderte Umwelt die Menschen verändert, und diese veränderten Menschen ihrerseits wiederum die Umwelt verändern, spiegelt der Schriftsteller, wenn er diesen wechselseitig ineinandergreifenden Prozeß umreißt, das Leben nicht nur wider, er hilft es auch verändern, und die schöpferische Tätigkeit des Künstlers wird zu einem organischen Bestandteil des Lebens aller. Verglichen mit der Nützlichkeit und Wirklichkeit dieses wachsenden schöpferischen Prozesses sind die unglückseligen Aspekte, die sich einst mit der RAPP 4 0 2 verbanden, nicht der Rede wert. Sie verschwinden unter Milliarden Büchern in der Hand des Volkes. Dutzende von Rassen und Völkern durchleben heute ihr etruskisches Zeitalter — Völker, die unterdrückt wurden, die ungebildet und schwerfallig waren und die jetzt tastend ihren Weg aus der Vergangenheit suchen. Die Literatur ist nicht mehr das Privatreservat zum Vergnügen einiger weniger, sondern ein untrennbarer Bestandteil des Lebens der einhundertundfünfundsiebzig Millionen Bewohner der Sowjetunion. 403
14 Henry Hart Die Tragödie der literarischen Verschwendung Es gibt, die wissenschaftliche Forschung einmal ausgenommen, heute kein Gebiet menschlichen Strebens, auf dem die Verschwendung stärker vorherrscht und teurer ist als in der Literatur. Die Verschwendung ist so verbreitet, daß sie der menschliche Geist nicht gleichzeitig in ihrem ganzen Umfang zu fassen vermag, und wenn ich hier auf die literarische Verschwendung eingehe, so kann ich nur
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Kritiker außerhalb der Sowjetunion lehnen das als übertriebene Propaganda ab, was zeigt, wie wenig sie begreifen, in welcher Art der Sowjetautor schreibt und der Sowjetleser liest. Das Symbol des Traktors bezeichnet nicht das Pflügen allein, sondern auch die Befreiung des Menschen von seiner jahrhundertealten Fesselung an den Boden; auch der Hochofen ist nicht nur ein Symbol dafür, daß man dem Erz das Eisen entreißt, sondern ein Symbol des Prozesses, vermittels dessen Eisenbahnschienen und Kabeldrähte die Völker der Welt zu einer großen Völkerfamilie verbinden, sowie des Prozesses, durch den, wie viele der Dichter sagen, der Mensch „auf stählernen Flügeln zur Sonne empor" getragen wird. Das sind in der Tat Symbole der Macht, die der einzelne Mensch nicht besitzt. Die großen Schriftsteller von Gorki bis Leonow brauchten nicht überredet oder gezwungen zu werden, über diese Dinge zu schreiben. Aus der Verwendung solcher Symbole und solcher Themen ergibt sich eine neue Art des Interesses am einzelnen Menschen, an Mann und Frau. Die alten, zeitlosen Themen Leben, Liebe und Tod gewinnen neue Eigenschaften und Aspekte. Da die veränderte Umwelt die Menschen verändert, und diese veränderten Menschen ihrerseits wiederum die Umwelt verändern, spiegelt der Schriftsteller, wenn er diesen wechselseitig ineinandergreifenden Prozeß umreißt, das Leben nicht nur wider, er hilft es auch verändern, und die schöpferische Tätigkeit des Künstlers wird zu einem organischen Bestandteil des Lebens aller. Verglichen mit der Nützlichkeit und Wirklichkeit dieses wachsenden schöpferischen Prozesses sind die unglückseligen Aspekte, die sich einst mit der RAPP 4 0 2 verbanden, nicht der Rede wert. Sie verschwinden unter Milliarden Büchern in der Hand des Volkes. Dutzende von Rassen und Völkern durchleben heute ihr etruskisches Zeitalter — Völker, die unterdrückt wurden, die ungebildet und schwerfallig waren und die jetzt tastend ihren Weg aus der Vergangenheit suchen. Die Literatur ist nicht mehr das Privatreservat zum Vergnügen einiger weniger, sondern ein untrennbarer Bestandteil des Lebens der einhundertundfünfundsiebzig Millionen Bewohner der Sowjetunion. 403
14 Henry Hart Die Tragödie der literarischen Verschwendung Es gibt, die wissenschaftliche Forschung einmal ausgenommen, heute kein Gebiet menschlichen Strebens, auf dem die Verschwendung stärker vorherrscht und teurer ist als in der Literatur. Die Verschwendung ist so verbreitet, daß sie der menschliche Geist nicht gleichzeitig in ihrem ganzen Umfang zu fassen vermag, und wenn ich hier auf die literarische Verschwendung eingehe, so kann ich nur
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auf gewisse Beispiele davon anspielen und mich nur auf einen Teil davon konzentrieren, den Teil, der das gegenwärtige Verlagswesen entstellt. Und von daher auch die gegenwärtige Literatur. Ihrer Definition gemäß soll Literatur die schriftlich oder im Druck niedergelegte Gesamtproduktion des menschlichen Geistes, besonders diejenigen Produktionen umfassen, die weltweite Themen behandeln, Anmut und Kunstfertigkeit in Stil und Aufbau besitzen. Die Funktion der Literatur besteht vorgeblich darin, stellvertretende Erfahrung zu liefern, so daß ein flüchtiges individuelles Leben durch Ereignisse, die anderen geschehen sind, bereichert wird. Vom Schriftsteller erwartet man, daß er der Handwerker ist, der alles zur Ausleuchtung eines besonderen Ereignisses, einer Situation, eines Charakters Wissenswerte zusammenzutragen versteht. Die Gültigkeit der Funktion der Literatur in der Gesellschaft ist unumstritten. Selbst ungebildete Männer und Frauen fühlten sich von ihrer Macht angesprochen, und Menschen aller Zeiten haben — jeder auf seine Weise — bekannt, daß das Leben dadurch voller, erklärbarer und voll größerer Möglichkeiten geworden ist. Die Literatur ist seit jeher eine der stärksten Kräfte, bei der Lösung jener lokalen und individuellen Probleme gewesen, die Menschen voneinander trennen. Indem die Literatur die weltweite Verwandtschaft der Menschen deutlich gemacht hat, hat sie die Befreiung des Menschen aus der Unwissenheit seiner Kindheit beschleunigt. Die Literatur hat stets die Zukunft betont. Sie hat aufgezeigt, was die Zukunft sein könnte oder sollte, und nicht selten ist sie die Quelle gewesen, aus der Menschen die Anregung gezogen haben, einen Wunsch in Wirklichkeit zu verwandeln. Man sollte denken, daß etwas so Wertvolles eine der ersten Obliegenheiten der Gesellschaft sein müßte. Doch das ist niemals der Fall gewesen; Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler waren zu allen Zeiten einschließlich der unseren, statt die Anführer der Gesellschaft zu sein, die Lakaien der Könige, Generäle, Priester, Politiker und Bankiers. Schriftsteller folgten, sie führten nicht an. Eine der tragischen Folgen davon sind die zahllosen Generationen unwissender, unvollkommener und entstellter Menschenleben, eine nicht abzuschätzende Verschwendung an schöpferischem menschlichem Talent, an Energie und Organisationsfahigkeit sowie ein drohender Krieg, der die halbe Welt zerstören wird. Diese durchgehende, historische Verschwendung, die so verbreitet ist, daß man sie nicht angemessen wiedergeben kann, hat ihre tiefsten Ursachen in dem, was man höflicherweise die Ökonomie des Mangels nennt. Vor der industriellen Revolution war die Ökonomie des Mangels eine Tatsache. Heute ist sie das nicht. Heute ist sie ein Anachronismus und ein Euphemismus für Privateigentum und Profitsystem. Die m o r e s und Gewohnheiten der Ökonomie des Mangels beschränken aber immer noch die Denkart der Menschen. Die Beharrlichkeit dieser m o r e s wird heute v o r s ä t z l i c h von jenen begünstigt, die aus der sozialen Sanktion, die diese m o r e s dem Privateigentum und der Produktion um des Profits willen verleihen, Nutzen ziehen. 320
Die Ökonomie des Mangel besaß und besitzt nur ein Kriterium, um jede menschliche Aktivität einzuschätzen: Bringt sie Geld? Die Schriftsteller haben von jeher gewußt, daß solch ein Kriterium widersinnig ist. Sie zählten zu den offensichtlichsten Opfern seiner aberwitzigen und kostspieligen Herrschaft und zählen noch dazu. Die heutige Gesellschaft hat dem Schriftsteller nur das eine zu sagen: Wenn du imstande bist, allen dir feindlich begegnenden ökonomischen und psychologischen Angriffen erfolgreich zu widerstehen und jemand vermittels Schmeichelei, Bestechung, Drohung oder Betrug dahin zu bringen, daß er das, was du schreibst, veröffentlicht, so bist du ein Schriftsteller, wenn du das jedoch nicht vermagst, so bist du kein S c h r i f t s t e l l e r . Zu dem Verleger sagt die heutige kapitalistische Gesellschaft noch weit weniger: Wenn du es verstehst, Geld zu verdienen, so darfst du dich weiter einen Verleger nennen, a n d e r e n f a l l s n i c h t . Doch was noch widersinniger ist, fünfundneunzig Prozent der Schriftsteller und hundert Prozent der Verleger akzeptieren das als unveränderliche Tatsache und als Begrenzung; und alle beide versuchen mit kleinmütiger Unterwürfigkeit und Heldentum geduldig, Literatur unter Bedingungen zu schreiben und zu veröffentlichen, die im voraus den Schriftsteller zu Neurosen und den Verleger zum Bankrott verdammen: Die Literatur, die unter so ungünstigen Bedingungen geschaffen und verlegt wird, ist offensichtlich unbedeutend, verglichen mit der Literatur, die unter gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen werden könnte, die eher d a s S c h ö p f e r i s c h e im M e n s c h e n als d a s R ä u b e r i s c h e betonen. Das Geld als Maßstab hat oft kontrazeptive Wirkung, da es die Schriftsteller daran hindert, sich eine neue und durchschlagende Literatur auch nur vorzustellen. Und das Geldkriterium ist ein gewaltigerer Zensor als der Papst. Der Schriftsteller hat das Kriterium „Bringt das Geld?" niemals akzeptiert. Er weiß seit jeher, daß die Anwendung einer solchen Irrelevanz, ganz gleich auf welche der Künste und Wissenschaften, stets zu Sterilität, Irrtum und Verschwendung führt. Doch was weit wichtiger ist, der Schriftsteller wird nicht f ä l s c h l i c h b e h a u p t e n , daß dem nicht so sei. Er wird nicht falschlich behaupten, daß das Geldkriterium kein gültiger Bezugspunkt ist. Folglich hat man den Schriftsteller aus dem möblierten Zimmer in die Prunkbüros der Werbeagenturen und in jene Paläste der Prostitution, die von den Propagandachefs beherrscht werden, hineingestoßen. Das heißt, dies geschah, als das kapitalistische Piratenunwesen florierte. Doch als alles geplündert war und die Bevölkerung der gesamten Welt sich kein Brot mehr kaufen konnte, gewahrte der Schriftsteller, der bei seiner Schwiegermutter lebte oder in irgendeinem Hooverville hockte, endlich, daß die von ihm geschaffene Literatur zu dem Leben, so wie es tatsächlich beschaffen war, keine Beziehung hatte, und daß diese Literatur darum unwahr und deshalb Verschwendung war. Haben ihm das unsere Kritiker jemals gesagt? Sie wußten es nicht einmal. Sie dachten, und neunundneunzig Prozent von ihnen denken es noch immer, daß die Sonderbarkeiten menschlichen Verhaltens der Gegenstand großer Literatur sind, 21
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daß das Spiel des Zufalls das Wesen des Dramas ausmacht, und daß die Verleger, wofern sie, die Kritiker, nicht das Spiel der Verleger mitspielen, kein Geld mehr verdienen werden, keine Werbung mehr aufgeben können und alle kritischen Medien vom Erdboden verschwinden werden. Schätzen die Kritiker, die heute für die Zeitungen und Zeitschriften mit hoher Auflagenzahl schreiben, die Kritik eigentlich um ihrer selbst willen? Die meisten würden es tun, wenn sie aufhörten, wirtschaftlich zu denken und die Realität ihrer tatsächlichen Rolle in der heutigen Gesellschaft ins Auge fassen würden. Wenn sie aufhören würden, mit ihrer Kritik die sich aus ihrem wirtschaftlichen Denken ergebenden Wünsche erfüllen zu wollen, wären sie imstande, eine Kritik zu schreiben, die schöpferisch wäre und nicht so wie im Augenblick geistige Verschwendung bedeutet. Und wie steht es mit dem Verleger? Er ist eine der erstaunlichsten Karikaturen des Menschen, die der Kapitalismus je geschaffen hat. Der Verleger ist eine Art Narr, der w e i ß , daß die Anwendung des Geldkriteriums als Maßstab menschlicher Bemühung widersinnig ist, doch nicht zugibt, daß er es weiß, und so handelt, als wäre dem nicht so. Würde er gemäß seiner Überzeugung handeln, wäre er kein Verleger. Er kapituliert und steigt ins Geschäft. Doch er steigt nicht ins große Geschäft ein, wo Diebstahl großen Maßstabs praktiziert wird, sondern dort, wo die Menschen, mit denen man in Kontakt treten muß, noch niemals eine Idee gehabt haben. Der potentielle Verleger vermag solche Leute nicht recht zu ertragen, und darum steigt er in ein Geschäft ein, das ihn mit jenen Menschen in Kontakt bringt, die nicht an das Geldkriterium glauben und auch nicht vorgeben, daran zu glauben — das heißt, mit Schriftstellern. Der Verleger versucht eine Unmöglichkeit zu bewerkstelligen. Er versucht, Bücher unter einem System zu verkaufen, das ihn zwingt, für jene Bücher einen so hohen Preis zu fordern, daß die Leute sie nicht kaufen können. Das ist eine grundlegende ökonomische Tatsache des Verlagsgeschäftes, der kein Verleger ins Auge sehen will. Der Verleger denkt, das ist eine Binsenwahrheit, die er klug genug ist, zu überwinden. Er ist gegenüber der Beschränkung, die diese Tatsache seinem Wirken auferlegt, psychisch blind. Wenn sie stimmt, sagen die Verleger, warum sind wir dann nicht alle bankrott? Die Antwort darauf lautet, sie w e r d e n alle früher oder später bankrott sein und bleiben vorerst nur dadurch zahlungsfähig, daß sie den einzigen bestehlen, der nicht räuberisch veranlagt ist, den Schriftsteller. Den Drucker, Buchbinder oder Papierhersteller bestiehlt der Verleger nicht. Sie alle bestehlen ihn. Es gibt nicht einen einzigen Verleger, der bestreiten wird, daß der Buchpreis zu hoch ist. Doch genauso wenig gibt es einen Verleger, der weiß, wie das zu ändern ist. Keiner von ihnen weiß einen Ausweg, weil sie sich alle scheuen, das Privateigentum und die Produktion um des Profits willen anzuklagen. Ihre Auffassung von den Grundtatsachen ihres Geschäfts liegt auf einer Ebene mit den Anstrengungen der Bankiers, die ernsthaft den Goldpreis oder die Geschäftszyklen oder irgendeine andere Form der Prophezeiung studieren, mit denen der 322
Kapitalismus sich mit anderen Begriffen als denen des Diebstahls und der Verschwendung zu erklären sucht. Der ganze phantastische, vernunftwidrige Vorgang des Verlagsgeschäftes im Kapitalismus ist niemals erklärlich und kann wahrheitsgemäß nur beschrieben werden, wenn man die an jeder Stelle dieses Vorgangs durch das Wirken des Profitmotivs verursachten Verzerrungen zeigt. Doch bevor man das tut, wäre es gut, daran zu erinnern, daß ein Buch dazu geschrieben wird, den Menschen auf seiner Lebensreise zu ermuntern, zu stärken und zu beseelen und nicht zum Zwecke des Geldverdienens. Niemand im Verlagsgeschäft denkt daran, und viele der Autoren vergessen das, in dem Maße, wie sie älter werden und die Härten des Überlebenskampfes zunehmen. Viele Verleger rühmen sich dessen, daß sie Bücher verlegen, um Geld zu verdienen. Sie rühmen sich dessen, weil Verleger so schlechte Geschäftsleute sind; das heißt, daß sie nicht skrupellos und habgierig genug sind, und wenn sie zur Bank gehen, so wird ihnen bisweilen zum Bewußtsein gebracht, wie realitiv unbedeutend sie sind. Und folglich, um diesem Gefühl zu entrinnen, prahlen sie und beschließen, mit allen Narreteien aufzuhören und nur noch Geld zu verdienen. Und dennoch bringen fünfundsiebzig Prozent aller veröffentlichten Bücher kein Geld ein, und vierzig Prozent bringen Verlust. Nichtsdestoweniger glaubt der Verleger, daß er Geld verdienen wird, und verliert jedes Interesse am Inhalt der Bücher. Ausgenommen vielleicht einen schrulligen Chefredakteur oder Lektor verliert jeder mit dem Verlagsgeschäft in Verbindung Stehende bald jegliches Interesse am Inhalt der Bücher, einschließlich vieler Schriftsteller. Hier liegt das Problem des modernen Verlagswesens: Die Verleger betrachten die Bücher nur noch als einzelne Posten im Jahresgesamtumsatz. Wenn ein Verleger hundert Bücher im Jahr herausgibt, so schätzt er, im voraus, zu Beginn des Jahres, daß, wenn der schlimmste Fall eintritt, und das tut er für gewöhnlich, diese hundert Titel einen durchschnittlichen Absatz von je 1000 oder je 2000 Exemplaren oder was immer für eine Zahl er mutmaßt, haben werden. Wie hoch der Absatz eines einzelnen Titels ist, bleibt für ihn ohne Belang. Er interessiert sich nur für den Gesamtumsatz. Er wird naturgemäß für jene Titel die Werbetrommel rühren, von denen er meint, daß ihr Absatz am größten sein wird; das heißt fast immer, für jene Bücher, die den status quo feiern; und er wird völlig jene Titel vergessen, die kein Anzeichen guten Absatzes zeigen. Ahl Einzelschicksal eines Buches ist er wirklich nicht interessiert. Ihn interessiert, wie der Gesamtabsatz von hundert Titeln innerhalb eines Jahres sein wird. Wenn er kalkuliert, wie der Umsatz nach seiner Meinung sein wird, wird er wissen oder glauben zu wissen, ob er mit Gewinn oder Verlust abschließt; fallt die Kalkulation des Umsatzes negativ aus, so beschuldigt er den Redakteur und veranlaßt ihn, einige Bücher mehr herauszubringen. Viele Verleger sind erstaunlich unwissende Menschen und haben k e i n e r l e i persönliche Beziehung zu Büchern. Ich kenne einige, die nie ein Buch lesen. Es gibt 21*
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andere, die sich früher für Bücher interessierten, doch die Erfordernisse des Geschäfts lassen ihnen keine Zeit zum Lesen und zwingen sie, ausschließlich in Begriffen von Absatzdurchschnitt und Jahresumsatz zu denken. Da die Grundlage des Geschäftes so irrational ist, sind sie von den verwickelten Einzelheiten des Geschäftes so in Anspruch genommen, daß sie über keinerlei Zeit verfügen, um etwas einer vernünftigen Planung Ähnelndes zu unternehmen, und auch weder Zeit noch Neigung haben, mit anderen Verlegern zusammenzuarbeiten. Eine der Folgen davon ist, in derselben Saison werden zwei oder drei Biographien über dasselbe Thema veröffentlicht, was selbst vom kapitalistischen Standpunkt aus Verschwendung ist. Es gibt ein Axiom im Verlagswesen, daß einige Exemplare von j e d e m Buch zu verkaufen sind — gleichgültig, was es enthält oder wie es geschrieben ist. Alles zwischen zwei Buchdeckeln Befindliche trägt etwas zum Jahresumsatz bei. Das ist der Grund dafür, daß soviele schlechte Bücher, unnötige Bücher und Bücher, die überhaupt keinem Zweck, am wenigsten dem der Unterhaltung, dienen, veröffentlicht werden. Ich kenne einen großen Verlag, in dem die Restbestände eines Titels vor Annahme des Manuskripts sorgfaltig überrechnet werden. Der Verleger glaubt nicht, daß er nur Restauflagen publiziert, aber er tut es, und theoretisch tun es alle Verleger. Das ist eine der feineren, aber nichtsdestoweniger zutreffenden Tatsachen des Verlagswesens, die niemand eingestehen will. Restauflagen liegen lassen, wird im Verlagswesen nicht gern gesehen — selbst in guten Zeiten. Die Buchhändler lieben es nicht. Einige der ältesten und wohlhabendsten Verleger sind bemüht, keine Restauflagen liegen zu lassen. Einer der angesehensten unter ihnen stampft sie tatsächlich lieber ein. Diese Verlagsanstalt wird gemeinhin gelobt und ihre Praxis des Einstampfens als ein Beispiel höchster Berufsethik, die ein Verleger erreichen kann, angeführt. Die Bücher werden den Buchhändlern verkauft von Männern, die ebenfalls dahin gebracht wurden, jegliches Interesse am Inhalt der Bücher zu verlieren. Ich bin überzeugt, daß neunzig Prozent der Sortimentsbuchhändler nicht zehn Prozent der Bücher lesen, die sie verkaufen. Sie verkaufen sie an die Buchläden aus Gründen, die mit dem Thema der Bücher an sich absolut nichts zu tun haben. Wenn eine Biographie von einem etablierten Verfasser ein genügend großes Format besitzt, das heißt groß genug, um der Vorstellung eines Buchhändlers von der Größe eines Weihnachtsgeschenkes zu entsprechen, so kann es und wird es in großen Mengen verkauft werden. Besitzt es dieses Format nicht, wird der Verkauf um fünfundzwanzig und möglicherweise fünfundsiebzig Prozent niedriger liegen. Die äußere Größe wurde also, wie festzustellen ist, im Buchgeschäft zu einem Wert aufgebauscht. Funktionalität ist bei der Ausstattung eines Buches nicht erwünscht. Fast sämtliche Bücher sind größer als sie zu sein brauchen und haben ein Format, das über die Erfordernisse von Text und Illustration hinausgeht. Dabei ist es gleichgültig, daß viele, in engen Mietwohnungen lebende, potentielle Käufer vom Kauf von Büchern abgeschreckt werden, weil sie keinen Platz dafür haben. Die Buchhändler nehmen bekanntlich vierzig Prozent des Ladenpreises eines 324
Buches ein. Naturgemäß haben die Buchhändler ein größeres Interesse an einem Buch zum Preise von drei oder fünf Dollar als sie es an einem Buch für einen Dollar haben. In der Tat waren die Buchhändler die Hauptgegner der vor wenigen Jahren auf der Talsohle der Depression unternommenen Anstrengung, neue Bücher für einen Dollar herauszubringen. Und sie werden die Hauptgegner des gegenwärtigen, höchst lobenswerten Versuches sein, neue Bücher für fünfundzwanzig und fünfzig Cents zu veröffentlichen. Obgleich der Buchhändler viermal soviel wie der Autor erhält, ist er nicht reicher, und bis zu einhundert Buchläden machen alle drei oder vier Jahre bankrott. Die Gründe dafür sind natürlich, daß die Leute nicht das Geld haben, um die hohen Preise zu bezahlen, und daß die Verlagsvertreter die Buchhändler unter Druck setzen, für ihre Kundschaft ungeeignete Bücher zu kaufen — eine Tatsache, die der Buchhändler niemals entdeckt, weil er nicht die Zeit hat, zu ermitteln, was seine Kundschaft eigentlich wünscht. Zu dem Hausbesitzer, Bankier, der Telephongesellschaft und anderen kommen noch acht Personen hinzu, die aus einem Buch Profit schlagen wollen, den Autor nicht gerechnet. Erstens der Verleger, zweitens der Papierhersteller, drittens der Schriftsetzer und mittels Galvanoplastik arbeitende Vervielfältiger, viertens der Drucker, fünftens der Buchbinder, sechstens der Großhändler, siebentens der Einzelhändler, achtens die Zeitschriften, in denen der Verleger Werbeanzeigen aufgibt, wenn er welche aufgibt. Jeder macht einen Profit, und der Ladenpreis des Buches stellt nicht die Produktionskosten dar, sondern die zahllosen sichtbaren und unsichtbaren Profite. Neun oder zehn Hausbesitzer, neun oder zehn Aktienbesitzer, neun oder zehn Banken verdienen an jedem verkauften Buch einige Pennys. Jede dieser beteiligten Personen ist darin, die Profittreiberei effektiver zu gestalten, erfahrener als der Verleger selbst, und dieser bezahlt sie alle, ehe er den Autor bezahlt. Sie bestehen darauf. Es ist mir stets als bezeichnend für das Parasitäre des Verlegers aufgefallen, daß er dem Autor tatsächlich grollt. An die Tantiemen des Autors denkt er als letztes, und er trägt keine wie immer gearteten Bedenken, das Geschäft für den Autor, wo immer er nur kann, nachteilig zu gestalten. Selbst die angesehensten Verleger tun das. Sie werden alle versuchen, sich einen gewissen Prozentsatz der Nachdruckrechte, der Film- und Bühnenrechte und aller anderen Rechte zu sichern, obwohl sie zu nichts davon berechtigt sind. Wenn ein Einzeltitel besonders gut geht, so daß die ursprünglichen Herstellungs- und Verfielfaltigungskosten schon lange von der Kostenliste gestrichen sind, streicht der Verleger sämtliche hohen Profite ein, und der Autor geht leer aus. Wenn sich ein Buch über viele Jahre hinaus verkauft, erhält der Autor lediglich die ursprünglich festgelegte Tantieme. In den letzten Jahren haben die Verleger eine neue Methode für die Berechnung der Tantieme angewandt; sie legt nicht den Ladenpreis sondern den Großhandelspreis zugrunde. Das Reinergebnis ist, der Autor trägt die entstehenden Kosten, wenn der Verleger einem unwirtschaftlich arbeitenden Buchhändler unter die Arme greifen will und ihm einen höheren Preisnachlaß gewährt. 325
Es gibt immer einen Geschäftsführer in jedem Verlag, und meist ist es der Eigentümer, der sagt: „Das Verlagswesen wäre ein wunderbares Geschäft, wenn es nicht die Autoren gäbe." Wenn das auch ein Scherz sein soll, so ist er doch ein sehr genaues Anzeichen dafür, wie der Verleger empfindet. Er besitzt absolut keine Vorstellung davon, was ein Autor überhaupt ist, was in seinem Kopf vor sich geht, wie der schöpferische Gestaltungsprozeß beschaffen ist, auch nicht von den Schlägen und Beschimpfungen, die ein Autor in der kapitalistischen Gesellschaft empfangt, bloß weil er ein Schriftsteller und kein Börsenmakler ist. Die meisten Verleger würden einen Autor nicht vor einer Bauchfellentzündung retten, wenn der Blinddarm in ihrem Büro platzte. Und das stimmt wirklich, wenn der Autor nicht einträglich oder der Verkauf seiner letzten Bücher zurückgegangen ist. Wenn der Verleger kein Talent fördert, ausgenommen, er sieht eine Chance, Geld zu machen, so darf man kaum erwarten, daß der Kritiker oder der Buchhändler sich darum kümmern. Und was den Einzelhändler betrifft, er hat den Großhändler und den Hausbesitzer zu bezahlen, so daß er nicht einmal weiß, daß der Autor hungert. Die in einem begabten Schriftsteller hervorgerufene psychologische Verheerung ist so groß, daß man sich, wenn man sie persönlich gewärtigt, fast schämt, ein Mensch zu sein. Wir wissen alle sehr wohl, daß nur wenige Schriftsteller von ihren Werken leben können. Gelangen sie ins mittlere Lebensalter, so besteht dafür vielleicht eine M ö g l i c h k e i t . Einer meiner Freunde, der eine unmittelbare Untersuchung anstellte, schätzte, daß der durchschnittliche Schriftsteller von Talent in den ersten zehn Jahren etwa 300 Dollar jährlich verdient. Die Summe potentieller menschlicher Schöpferkraft ist allzu schrecklich, um sie uns vorzustellen, und viele, wie Ernest Hemingway, leugnen sie gänzlich und behaupten, daß es keine stummen Miltons gebe. 404 Es gibt für den Schriftsteller noch einen größeren Kampf als den, sich am Leben zu halten. Das ist der Kampf, den Glauben am Leben zu halten, daß er etwas deutlich begreift, daß er eine Wahrheit erkannt hat, die für alle Menschen nützlich sein wird, daß er ein Handwerk gemeistert hat, das ihn befähigt, diese Wahrheit zu vermitteln. Das ist in der Tat ein Kampf, denn unter Menschen, die sich nicht darum kümmern, und in einer Gesellschaft, deren Werte zu der Rolle und Funktion der Literatur keine Beziehung haben, ist es notwendigerweise ein einsamer Kampf, und zwar einer, der so bitter gewesen ist, daß nur wenige darüber berichtet haben, die meisten ihn lieber in Vergessenheit geraten lassen. Vergessen wir nicht alle Schmerzen gern? Doch manche Schriftsteller machen sich sogar Selbstvorwürfe und meinen, jede andere Erklärung der Schwierigkeiten, wie man seinen Glauben am Leben hält, sei Selbstrechtfertigung. In Schwere Stunde, einer Erzählung Thomas Manns, gibt es einen diesbezüglichen Abschnitt. In der Geschichte geht es um Schiller und der Abschnitt lautet: „Damals war er der Mann noch, eine Sache mit glücklicher Hand zu packen und sich den Sieg daraus zu gestalten. Skrupel und Kämpfe? O ja. Und krank war er gewesen, wohl kränker als jetzt, ein Darbender, Flüchtiger, mit der Welt Zerfallener, gedrückt und im Menschlichen bettelarm. Aber jung, ganz jung noch! Jedesmal, 326
wie tief auch gebeugt, war sein Geist geschmeidig emporgeschnellt, und nach den Stunden des Harms waren die anderen des Glaubens und des inneren Triumphes gekommen. Die kamen nicht mehr, kamen kaum noch. Eine Nacht der flammenden Stimmung, da man auf einmal in einem genialisch leidenschaftlichen Lichte sah, was werden könnte, wenn man immer solche Gnade genießen dürfte, mußte bezahlt werden mit einer Woche der Finsternis und der Lähmung. Müde war er, siebenunddreißig erst alt und schon am Ende. Der Glaube lebte nicht mehr, der an die Zukunft, der im Elend sein Stern gewesen. Und so war es, dies war die verzweifelte Wahrheit: Die Jahre der Not und der Nichtigkeit, die er für Leidensund Prüfungsjahre gehalten, sie eigentlich waren reiche und fruchtbare Jahre gewesen; und nun, da ein wenig Glück sich herniedergelassen, da er aus dem Freibeutertum des Geistes in einige Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung eingetreten war, Amt und Ehren trug, Weib und Kinder besaß, nun war er erschöpft und fertig." 405 In der Erzählung gewinnt Schiller seine Schöpferkraft wieder, und er beendet seine Arbeit, so wie wir es alle getan haben und immer wieder tun werden. D o c h welch eine V e r s c h w e n d u n g — welch eine s c h r e c k l i c h e V e r schwendung ! Es wird von uns erwartet, und zwar von jenen erwartet, die vorgeben, das Leben zu bestimmen, daß wir über die zeitgenössische Gesellschaft schreiben, als wäre sie ein ganz legitimes Thema, als wäre sie vernünftig. Man fordert uns auf, nichts zu schreiben oder zu tun, was ein Gesellschaftssystem verändern könnte, das keinen Sinn für Literatur und noch weniger Sinn für die Schriftsteller besitzt, ein rechtloses System, das Bücher verbrennt, Schriftsteller in Konzentrationslager steckt und sich auf Krieg und weltweite Zerstörung vorbereitet. Wahre Schriftsteller werden nicht eher zufrieden sein, als bis sie an der Spitze des Lebens, in der vordersten Linie menschlicher Bemühungen stehen. Sie werden alle dafür schreiben und wirken, daß diese Gesellschaft untergeht und eine neue und vernünftige ihr folgt. Auch wenn sie das wollen, können sie das nicht allein durch Schreiben erreichen, auch nicht dadurch, daß sie als Individuen schreiben und wirken. Die Schriftsteller so wie alle übrigen Enteigneten, müssen sich zusammenschließen. Sie müssen einer Gewerkschaft beitreten, um zu überleben; einer politischen Organisation, um ihren auf Umgestaltung der Gesellschaft abzielenden Bemühungen Wirksamkeit zu verleihen; und einer kulturellen Organisation wie der League of American Writers, um die Beziehungen zwischen den Alltagsereignissen und dem Hauptanliegen menschlicher Bemühung kennenzulernen. 406
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15 Eugene Holmes Die gesellschaftlichen Verpflichtungen eines Schriftstellers Unsere Epoche ist keinesfalls die einzige, in der Schriftsteller aus einem Verantwortungsbewußtsein der Gesellschaft gegenüber zum Handeln veranlaßt wurden. Im England des vorigen Jahrhunderts zeigten Dickens, Kingsley und William Morris sowohl soziale Aktivität als auch soziales Bewußtsein; dasselbe taten Balzac, Gautier, Flaubert und Zola in Frankreich und Bellamy, Crane und Norris — um nur einige wenige zu nennen — in den Vereinigten Staaten. Während des Weltkrieges und vor unserer Beteiligung daran gab es in den Vereinigten Staaten zahlreiche Schriftsteller, die sowohl gegen den Krieg wie gegen die Möglichkeit, wir könnten irgend etwas mit ihm zu tun haben, eingestellt waren. Zu denjenigen, die sich in mündlicher und schriftlicher Form mutig dazu äußerten, gehörten unter anderem Arturo Giovanitti, Floyd Dell, Lydia Gibson, H. W. L. Dana, Randolph Bourne, Frank Tannenbaum, Scott Nearing, Josephine Bell und McKeen Cattell. Späterhin, während der Streiks, traten viele Schriftsteller hervor und setzten sich für die Sache der in die Streikkämpfe verwickelten Arbeiter ein. Die Aktionen, mittels deren diese Schriftsteller auf die Gesellschaft einzuwirken versuchten, konzentrierten sich zumeist auf spezifische Probleme. Sie konnten nicht die Wurzeln sehen, die die von ihnen angegriffenen Übelstände sowohl hervorbrachten wie nährten. Wir sind in einer glücklicheren Lage. Heute gibt es niemanden, der, wenn er nur will, nicht die Grundursachen für Krieg, Faschismus, Ungerechtigkeit, die Entstellung des Menschen und alle ineinandergreifenden Beziehungen aller sich daraus ergebenden Verwicklungen und Widersprüche sehen und begreifen kann. Weil wir klarer sehen können, ist unsere soziale Verpflichtung größer. Das gleiche gilt für unsere künstlerische Verpflichtung. Wir leben in einer Zeit weltweiter Veränderungen und Wandlungen. Wir sj^d Zeugen des von Engels mit den Worten beschriebenen Vorgangs: „Die Expansivgewalt der Produktionsmittel sprengt die Bande, die die kapitalistische Produktionsweise ihr angelegt". 407 Das alte System des Privateigentums erstickt die Initiative und den Schöpfergeist der Menschen. Wenn der Schriftsteller dies gewahr wird und es wahrheitsgemäß darzustellen versucht, verschmelzen seine künstlerische und seine soziale Verpflichtung miteinander. Doch geschieht das, wird der Schriftsteller unterdrückt. Und zwar wird er nicht nur vom europäischen Faschismus unterdrückt, sondern auch von der amerikanischen Plutokratie. Überdies tendiert die amerikanische Plutokratie zum Faschismus; denn wenn die Plutokratie den demokratischen Prozeß nicht mehr manipulieren kann, b e k ä m p f t sie ihn, und wenn die Plutokratie.sich organisiert 328
und der Demokratie den offenen Kampf ansagt, dann wird sie Faschismus. Die kürzlich verlautete Bemerkung eines Vertreters der American Cyanamid Company über „ein paar wohlgezielte Kugeln für den Verrückten im Weißen Haus" ist nicht nur die Prahlerei eines Hanswurst. Erst vor wenigen Monaten wurde Waldo Frank in Terre Haute ins Gefängnis gesperrt, trieb man Langston Hughes aus Carmel und verbot ihm, in Los Angeles seine Gedichte zu lesen. Solche Organisationen wie die Crusaders, Order of American Patriots, Sentinels of the Republic, der Farmers' Independent Council und die Friends of New Germany (die sich jetzt die American German Peoples Union nennen) 408 schweigen nicht. Die Zahl der der Arbeiterschaft die Kehle zuschnürenden Gesetze wächst ständig. Die „industriellen Mobilisierungspläne" von Armee und Flotte sehen die Einziehung jedes männlichen Bürgers, Arbeiters wie Soldaten, vor. Die bisher örtlichen Überwachungsorganisationen aus Imperial Valley, Weirton, Jersey City und Flint dehnen sich nun über Johnstown hinausgehend aus und sind im Begriff, eine nationale Bewegung zu werden. Der Terrorismus ist im gesamten Süden bereits so sehr zur Regel geworden, daß man sagen kann, dieser Landesteil ist bereits faschisiert. Es gibt zahlreiche Individuen — Hoffman und Hague aus New Jersey, Harold Lord Varney, Pelley, Easley, Lawrence Dennis — die auf ein Zeichen ihrer Herren bereit sind, das Schreckgespenst des Faschismus zu entfesseln. Es gibt einige Schriftsteller, die immer noch der Illusion nachhängen, dasjenige, was Joseph Wood Krutch „die liberale Gemütslage und die liberale Denkart" nennt, sei angesichts solcher Gefahr das geeignete Mittel, dem zu begegnen. Die Erfahrungen europäischer Schriftsteller machen es unmöglich, einen derartigen Standpunkt ehrlich zu vertreten. Und was alle die Schriftsteller betrifft, die noch immer von ihrer „kostbaren Individualität" reden, so gleichen sie Oblomow, 409 jener großen literarischen Gestalt, die nur im Bett herumlag, die sogar zu träge war, um zu lieben, die hoffnungslos in kläglicher Faulheit verkam. In der Gestalt Oblomows zeichnete Gontscharow ein Bild der Trägheit und Tatenlosigkeit des Rußlands des neunzehnten Jahrhunderts. Der Schriftsteller, der seine „kostbare Individualität" pflegt, kann sich niemals entschließen und ist, so wie Oblomow, stets nur „beinahe im Begriff aufzustehen". Es erübrigt sich hinzuzufügen, daß solche Schriftsteller keinerlei soziale Verpflichtungen anerkennen. Es gibt keine Neutralität mehr, und der Schriftsteller hat, so wie alle Amerikaner, nur zwei Alternativen. Um es mit den Worten George Sands auszudrücken: „Kampf oder Tod; blutiges Ringen oder Auslöschen So wird die Frage unwiderstehlich gestellt." Im Gefolge der gesellschaftlichen Verpflichtung, den Faschismus zu bekämpfen, entsteht die gebieterische Pflicht, die Welt verändern zu helfen. Es genügt nicht mehr, sie zu interpretieren. „Die eigentliche Basis unserer Zusammenarbeit", schreibt Wintringham, „ist der Glaube, daß wir die Art, wie die Menschen ihren Unterhalt verdienen und wie sie leben, verändern k ö n n e n . " 4 1 0 Lenin forderte 329
die Schriftsteller nachdrücklich auf, „die Epoche, die Bewegung der sozialen Kräfte, den Klassenkampf, die politischen Beweggründe, die Hoffnungen und Ängste der Massen zu reflektieren". Und der bekannte englische Schriftsteller Montagu Slater hat die folgenden Ratschläge anzubieten: „Theoretischer Fortschritt ist eine der Vorbedingungen literarischen Fortschritts. Eine weitere Vorbedingung ist die Kenntnis der gewöhnlichen Welt der Menschen und Dinge, der Welt der Arbeit, der Welt des täglichen ökonomischen Kampfes. Für wen soll man schreiben? Für welche Schicht? Für diejenigen, die einen lebensvollen Ausdruck revolutionärer Arbeit erwarten. Wenn man sich einen Begriff davon verschaffen will, wie die Menschen die Welt verändern können . . . so gehe man hin und überzeuge sich. Wenn man sehen will, wie die Menschen als Bestandteil des Weltveränderungsprozesses sich selbst verändern, so lese man. Und wenn man an der Schaffung der Literatur der klassenlosen Zukunft teilhaben und den Boden für die Meisterwerke mitbereiten will, in denen die Zukunft leben wird, bevor sie Wirklichkeit geworden ist: so schreibe man" 4 1 1 Daraus folgt, daß eine weitere gesellschaftliche Pflicht des Schriftstellers darin besteht, die Sowjetunion jederzeit zu verteidigen. Es gibt solange keine freie Literatur, keine „reine" Kunst, bis, wie Joseph Freeman sagte, „in gesellschaftlichem Eigentum befindliche Maschinen die Sklaven von Menschen sein werden, statt daß Menschen die Sklaven von in Privateigentum befindlichen Maschinen sind". 412 Die Sowjetunion ist das einzige Land in der Welt, daß in der Weise arbeitet, daß diese wesentlichen Bedingungen einer freien Literatur und „reinen" Kunst Bestandteil der Wirklichkeit sind. Und es gibt noch einen zweiten Grund dafür, warum der Schriftsteller für die Sowjetunion eintreten, sie verteidigen und unterstützen muß. Sie ist das einzige Land in der Welt, das keine imperialistischen Pläne oder Absichten hegt und wirklich für den Frieden eintritt. Sie ist ein schöpferisches Land, ein Land, das eine neue Gesellschaft aufbaut. Schriftsteller sind schöpferische Menschen. Das ergibt eine Bindung. Albert Rhys Williams hat in seinem Vortrag Milliarden Bücher413 die Rolle beschrieben, die Schriftsteller dort bei der Verbreitung der Kultur spielen. Minderheitsgruppen, die bislang ohne Schriftsprache waren, werden zu schöpferischer Tätigkeit angeregt und tragen zu dem Fundus menschlichen Wissens und menschlicher Erfahrung bei. In welchem Gegensatz steht das zu unserem Land, wo sämtliche Minderheitsgruppen nicht nur behindert und unterdrückt, sondern wirklich verdorben werden! Das gilt besonders für den Neger. In den letzten beiden Jahren ist nur ein Roman eines Negers erschienen: Arna Bontemps' Black Thunder (Schwarzes GewitterJ414. ein historischer Roman, der den Nat Turner-Aufstand 415 behandelt. Lyrik ist kaum erschienen: Nur ein paar verlorene Rufe aus der Wildnis von Langston Hughes, Sterling Brown und Richard Wright, und nur ein oder zwei neue Namen wie Owen Dodson und Frank Davis, sind aufgetaucht. Das gleiche gilt für das Theater, wo die Schwierigkeiten für Neger unüberwindlich sind, da man 330
sie vom Theater ausgeschlossen und auf diese Weise verhindert hat, daß sie das Handwerk erlernen. Der Negerschriftsteller in den Vereinigten Staaten, der wegen seiner Zugehörigkeit zu der am meisten ausgebeuteten aller Minderheitsgruppen spezielle Fragen behandeln muß, weiß wohl, was mit den Minderheiten unter dem Faschismus geschieht; deshalb sollte man annehmen, daß er einer der ersten wäre, der für die Rechte der ausgebeuteten Minderheiten kämpft. Seine Probleme sind in der Tat ganz besondere, sie sind das noch ausgeprägter als diejenigen, vor die sich jüdische Schriftsteller gestellt sehen. Der Neger-Schriftsteller läuft beständig gegen die Wand aus amerikanischem Vorurteil und Diskriminierung, gegen die verabscheuenswürdige Unterwürfigkeit der Verlagsbüros, gegen die gesellschaftliche Ächtung, wenn er die puritanischen Hürden seines Gemeinwesens umstößt, und gegen die praktisch unlösbaren Probleme, als Schriftsteller seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Neger-Schriftsteller ist jedoch n i c h t unter den ersten, die für die Rechte der ausgebeuteten Minderheiten kämpfen. Seine scheinbare Apathie angesichts der Realitäten des verfallenden Kapitalismus und des kriegswütigen Imperialismus und sein langsames Gewahrwerden dieser Realitäten haben ihren Grund in dem schrecklichen Terror, der gegen ihn entfesselt wird, wie auch in der Verwirrung, in die der Neger-Schriftsteller gerät, wenn er aus seiner eigenen Klasse in die Arena der Mittelklasse Amerikas tritt. Auch der Neger ist vom „amerikanischen Traum" durchdrungen; und sehr oft hat sich dieser für ihn nur durch eine zufallige, eine Scheinaufnahme in die Welt der Weißen erfüllt. Das ist der Grund, warum soviele Negerschriftsteller, die glauben, sich aus der von ihnen verachteten Mittelklasse gelöst zu haben, so leicht den Mantel bürgerlicher Kultur anziehen und diese nachahmen. Darüber hinaus sind nicht alle Negerschriftsteller mit dem proletarischen Leben vertraut, und viele ziehen es lieber vor, in ihren Romanen das Leben der Mittelklasse darzustellen, zu der sie hinstreben. Das gilt für Dunbar, Jessie Fauset, Rudolph Fisher, Nella Larsen, Walter White, Du Bois, Thurman und Cullen. Infolge ihrer Erziehung, ihrer Umgebung, ihres Mangels an dem, was man Kosmopolitismus nennen könnte, und infolge ihrer Tagesberühmtheit als Negerschriftsteller ist das nicht gänzlich ihre Schuld. Das galt nicht für Jean Toomer oder den frühen Claude McKay. In McKays ersten Romanen und Erzählungen, die so vielversprechend waren, zeichnet er ein wahrheitsgetreues Bild des proletarischen Lebens, das er so gut kannte. Doch McKay war nach eigenem Geständnis stets ein Individualist. Der Neger besitzt einen unerschöpflichen Vorrat an schöpferischer Kraft, und es ist eine gesellschaftliche Pflicht des Schriftstellers, dafür zu sorgen, daß sie nicht vergeudet wird. Dabei darf der Schriftsteller jedoch nicht den Fehler begehen, den James Saxon Childers in seinem wohlmeinenden Werk A Novel of a White and a Black Man in the South*16 (Ein Roman über einen Weißen und einen Schwarzen im Süden) begangen hat. Childers schildert darin die gefahrliche 331
Freundschaft zwischen einem gebildeten Schwarzen und einem gebildeten Weißen, die beide im Norden des Landes dieselbe Universität besucht haben. In einem soziologischen Kapitel über „das wirkliche Harlem" schreibt Childers: „Harlem war weder eine Schöpfung aus Menschenhänden noch einer von kommerzieller Notwendigkeit angeregten militärischen Macht entsprungen; Harlem ist stattdessen eine Sehnsucht, ein Verlangen, eine Teilantwort und eine Prophezeiung . . . Harlem ist beiläufig ein Ort, an dem schwarze Orchester weiße Brieftaschen leeren, an dem braunhäutige, geschwungene Hüften sich wiegen, um weiße Begierden zu erwecken. . . (Es ist) ein einzigartiges, aus dem Individuum geborenes und von der Gruppe genährtes Feuer der Rassen, das verschwindet, wenn der weiße Mann naht, und hinter der steifsten Höflichkeit verborgen bleibt; oder unter den niederen sozialen und intellektuellen Klassen sein soziales Mißtrauen und seine Feindseligkeit in finsteren Blicken und gemurmelten Flüchen zur Schau stellt . . Heute gehört Harlem den Negern, auf hundert Millionen Dollar geschätzter Besitz befindet sich heute in den Händen Harlemer Neger." Die Mehrzahl dieser Verallgemeinerungen sowie der letzte Satz entbehren fast jeder Wahrheit. Selbst wenn man nur so wenige soziale Pflichten des Schriftstellers aufzeigt, so beweist das, denke ich doch, daß es in dieser Welt Dinge gibt, die nicht nur dogmatische Behauptungen, sondern kategorische Imperative erfordern. Von diesen Dingen überzeugt sein heißt, daß wir den engen Nationalismus und heimtückischen Chauvinismus hinter uns lassen und begreifen müssen, daß unsere Aufgaben international sind. Solche Schriftsteller werden bestrebt und entschlossen sein, die historische Wahrheit zu respektieren, und ihr Wissen über Ereignisse und Menschen wird mit dem Leben, so wie es tatsächlich gelebt wird, enger verbunden sein. Ihre Werke werden wahrhaftig die Frucht der sozialen, intellektuellen und emotionalen menschlichen Tätigkeit sein und der feste Bestandteil der sich entwickelnden menschlichen Kultur. Und eben diese Kultur ist der Künstler verpflichtet, mit seinem Leben zu verteidigen.417
16 Granville Hicks Der amerikanische Schriftsteller stellt sich der Zukunft In seiner Rezension einiger Bücher — ich weiß nicht mehr, welcher — kommentierte Robert Cantwell das sich darbietende Bild literarischer Frustration. „Das", sagte er verbittert, „ist die große Tradition in der amerikanischen Literatur." Wir können uns wohl dieser Ansicht anschließen. Denn seit nahezu vierzig Jahren ist die Literaturkritik vorwiegend mit den Frustrationen amerikanischer 332
Freundschaft zwischen einem gebildeten Schwarzen und einem gebildeten Weißen, die beide im Norden des Landes dieselbe Universität besucht haben. In einem soziologischen Kapitel über „das wirkliche Harlem" schreibt Childers: „Harlem war weder eine Schöpfung aus Menschenhänden noch einer von kommerzieller Notwendigkeit angeregten militärischen Macht entsprungen; Harlem ist stattdessen eine Sehnsucht, ein Verlangen, eine Teilantwort und eine Prophezeiung . . . Harlem ist beiläufig ein Ort, an dem schwarze Orchester weiße Brieftaschen leeren, an dem braunhäutige, geschwungene Hüften sich wiegen, um weiße Begierden zu erwecken. . . (Es ist) ein einzigartiges, aus dem Individuum geborenes und von der Gruppe genährtes Feuer der Rassen, das verschwindet, wenn der weiße Mann naht, und hinter der steifsten Höflichkeit verborgen bleibt; oder unter den niederen sozialen und intellektuellen Klassen sein soziales Mißtrauen und seine Feindseligkeit in finsteren Blicken und gemurmelten Flüchen zur Schau stellt . . Heute gehört Harlem den Negern, auf hundert Millionen Dollar geschätzter Besitz befindet sich heute in den Händen Harlemer Neger." Die Mehrzahl dieser Verallgemeinerungen sowie der letzte Satz entbehren fast jeder Wahrheit. Selbst wenn man nur so wenige soziale Pflichten des Schriftstellers aufzeigt, so beweist das, denke ich doch, daß es in dieser Welt Dinge gibt, die nicht nur dogmatische Behauptungen, sondern kategorische Imperative erfordern. Von diesen Dingen überzeugt sein heißt, daß wir den engen Nationalismus und heimtückischen Chauvinismus hinter uns lassen und begreifen müssen, daß unsere Aufgaben international sind. Solche Schriftsteller werden bestrebt und entschlossen sein, die historische Wahrheit zu respektieren, und ihr Wissen über Ereignisse und Menschen wird mit dem Leben, so wie es tatsächlich gelebt wird, enger verbunden sein. Ihre Werke werden wahrhaftig die Frucht der sozialen, intellektuellen und emotionalen menschlichen Tätigkeit sein und der feste Bestandteil der sich entwickelnden menschlichen Kultur. Und eben diese Kultur ist der Künstler verpflichtet, mit seinem Leben zu verteidigen.417
16 Granville Hicks Der amerikanische Schriftsteller stellt sich der Zukunft In seiner Rezension einiger Bücher — ich weiß nicht mehr, welcher — kommentierte Robert Cantwell das sich darbietende Bild literarischer Frustration. „Das", sagte er verbittert, „ist die große Tradition in der amerikanischen Literatur." Wir können uns wohl dieser Ansicht anschließen. Denn seit nahezu vierzig Jahren ist die Literaturkritik vorwiegend mit den Frustrationen amerikanischer 332
Autoren beschäftigt. Der Puritanismus, so hieß es, sei die Ursache des Versagens. Sodann schaute Van Wyck Brooks sorgfaltiger hin und klagte unsere von dem Geld bestimmte Kultur an. Schließlich sprachen die Marxisten von der Frustration, und zwar in Begriffen der Widersprüche und des Zerfalls des Kapitalismus. Wir mögen uns über die Erklärung streiten, doch die Tatsache selbst ist unumstritten. Kann jemand behaupten, daß Mark Twain, Henry James, Hamlin Garland, Frank Norris, Upton Sinclair und Jack London auch nur ein Viertel dessen leisteten, was sie hätten leisten können? Man betrachte die britischen Romanciers des achtzehnten Jahrhunderts, Richardson, Fielding und Smollett; man betrachte Scott und Jane Austen, ja selbst Dickens, Thackeray und George Eliot. Es ist dabei nicht von Belang, ob man ihre Werke bewundert oder nicht. Hier ist einzig zu beachten, daß es keine ausgesprochene Diskrepanz zwischen ihren Möglichkeiten und ihrer Leistung gab. Sie leisteten soviel, wie man nach vernünftigen Maßstäben erwarten konnte. Von den an erikanischen Schriftstellern des ausgehenden neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts können wir gleiches nicht behaupten. Auch in dem, was man die mittlere Generation genannt hat, können wir keine größere Befriedigung finden. Eine Zahl von Kritikern in der New Republic hat unlängst die Schriftsteller dieser Generation untersucht. Vielleicht haben gewisse Kritiker den Grad der Frustration übertrieben, oder sie den falschen Ursachen zugeschrieben, doch insgesamt ist die Artikelserie überzeugend. Und man beachte, daß die jüngeren Kritiker nicht die Ziele der älteren Schriftsteller angreifen, wie eine Generation oft die Ziele ihrer Vorgänger angreift. Ihr sich ständig wiederholender Vorwurf ist der, daß die Schriftsteller, die die amerikanische Literatur zwischen 1910 und 1930 beherrschten, nicht ihre Ziele verwirklichten, daß sie nicht ihren Erwartungen entsprachen. Frustration ist das Thema. 4 1 8 Wenn ein Zehntel dessen, was über die Frustration gesagt wurde, zutrifft, so ist augenscheinlich, daß die literarische Frustration und ihre Ursachen den Hauptgegenstand für die amerikanischen Schriftsteller bilden. Wenn die Mehrzahl unserer Vorgänger enttäuscht und zugrunde gerichtet wurde, welchen Grund besitzt dann die heutige Schriftstellergeneration anzunehmen, sie könne dem gleichen Schicksal entgehen? Und, einmal praktischer gefragt, was schlagen die zeitgenössischen Schriftsteller vor, um die drohende Frustration zu verhindern? Die amerikanischen Schriftsteller können sich nicht der Zukunft stellen, ohne sich diesem Problem zu stellen. Jeder Schriftsteller möchte gute Arbeit leisten. Jeder glaubt, daß er gewisse Talente besitzt und er will sie, ob diese nun größer oder kleiner sind, anwenden. Jeder sieht gewisse Seiten des amerikanischen Lebens, Seiten, die wahr zu sein scheinen und die andere nicht sehen; und jeder will mitteilen, was er oder sie sieht. Ein unbedeutender Schriftsteller zu sein, ist nicht unbedingt eine Tragödie; doch ein unbedeutender Schriftsteller sein, ist dann tragisch, wenn man ein bedeutendes Talent besitzt. Es ist tragisch, in den Selbstmord oder die Stille der Lohnschreiberei getrieben zu werden. Es ist tragisch, stolpernd seinen Weg von einem unvollkommenen Buch zum nächsten 333
zu suchen, und es ist tragisch, Vollkommenheit zu erreichen, indem man auf das Niveau von Trivialitäten herabsteigt. Es ist tragisch, in hartherzige Selbstgefälligkeit getrieben zu werden, und es ist tragisch, sein Talent in Anfallen von Sentimentalität zu verschwenden. Riesige Museen abschreckender Beispiele sind zu unserem Nutzen angehäuft worden; können wir etwas daraus lernen? Wir stehen vor der Zukunft mit der Hoffnung — der vielleicht unvernünftigen Hoffnung, angesichts dessen, was wir von der Vergangenheit wissen —, daß wir sie überreden können, uns unsere Arbeit verrichten zu lassen. Doch was für eine Zukunft könnte das wohl sein? Für mich ist es leichter, mit der ferneren Zukunft zu beginnen. Ich glaube, wir befinden uns inmitten eines weltweiten revolutionären Kampfes, und ich bin Determinist genug, um zu behaupten, daß es hinsichtlich des Ausgangs dieses Kampfes keinen Zweifel geben kann. Ich bin zuversichtlich, daß der Kommunismus früher oder später in der ganzen Welt begründet werden wird, und daß mit seiner Begründung eine neue Ä r a der Menschheitsgeschichte beginnen wird — ja, mit der Gründung der Sowjetunion bereits begonnen hat. Wie oder wann der Kommunismus siegen wird, maße ich mir nicht an zu sagen; wir mögen mehr zufallige Niederlagen erleiden, als wir annehmen, oder der Weg mag sich vor uns bereitwilliger öffnen, als die Optimistischsten unter uns zu hoffen wagen. Doch wenn es in der Geschichte Logik gibt, und ich denke, das ist so, so ist der endgültige Sieg des Kommunismus sicher. Und dieser Sieg, wiewohl er uns kein Utopia bringen wird, wiewohl er eine Zeitlang scheinbar entmutigend wenig erreicht haben mag, wird den menschlichen Fortschritt auf höherer Ebene ermöglichen. Soviel sollten wir aus den Annalen herauslesen, doch was uns im Augenblick betrifft — und zwar diejenigen, die mit meinen Ausführungen übereinstimmen, und die, die es nicht tun — ist die unmittelbarere Zukunft. Was werden uns die nächsten zehn oder zwanzig Jahre bringen? Erst einmal ist offenbar, daß wir uns gegenwärtig in einer Periode teilweiser Erholung befinden. Diese Erholung verdanken wir großenteils der Furcht vor dem Kriege, auf den sich die Länder Europas vorbereiten, indem sie nicht nur Armee, Flotte und Luftwaffe aufbauen, sondern auch große Vorräte an Lebensmitteln und Kriegsmaterial anlegen. Unsere eigene Regierung unternimmt, nur weniger hektisch, die gleichen Vorbereitungen. Der Apparat der Industrie wird wieder in Gang gesetzt, teils um durch die Militärprogramme entstandene, tatsächliche Nachfrage zu stillen, teils weil das amerikanische Finanzwesen auf künftige Nachfragen spekuliert. Die wirtschaftliche Erholung wird wie üblich von einer intensiven Aktivität seitens der organisierten Arbeiterschaft begleitet. Die Arbeiterbewegung hat gegenwärtig verschiedene deutliche Kennzeichen: eine klare Anerkennung der Notwendigkeit der industriellen Organisation, den Vorsatz, die breiten Massen der amerikanischen Arbeiter zu erreichen, und eine neue Art der politischen Orientierung. Die Siege der C I O 4 1 9 müssen vor allem ihrer größeren Militanz, 334
ihrer besseren Strategie und ihrem politischen Prestige zugeschrieben werden. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, daß selbst hier der Einfluß der Kriegsvorbereitungen bedeutend ist. In vielen Fällen ist die Kapitulation des Großkapitals vor der CIO nur als ein Zugeständnis zu verstehen, das erforderlich geworden ist einerseits durch die Möglichkeit, aus ausländischen Kriegsvorbereitungen größere Profite zu erzielen, und andererseits durch das Militärprogramm der eigenen Regierung. Man braucht keine größeren ökonomischen Kenntnisse zu besitzen, um in etwa vorauszusagen, was dieser wirtschaftlichen Erholung folgen wird. Wenn der Krieg in Europa hinausgeschoben wird, so wird der bekannte Wirtschaftszyklus wahrscheinlich schneller als in der Vergangenheit durchlaufen werden. Wird diese Hinauszögerung des Krieges von einer Drosselung der Kriegsvorbereitungen begleitet, so kann das allein schon zum Zusammenbruch führen. Doch selbst dann, wenn die Rüstungseinkäufe andauern, oder wenn die Industrieunternehmen stark genug sind, den Auswirkungen einer scharfen Reduzierung des Rüstungsgeschäftes standzuhalten, wird der Zusammenbruch nichtsdestoweniger kommen, wahrscheinlich noch von einer verderblichen Inflation begleitet. Nur wenige sind vermutlich optimistisch genug zu glauben, daß der Friede den Geschäftszyklus überdauern wird. Wenige bezweifeln, daß die nächsten zwei oder drei Jahre den Kriegsbeginn bringen werden. Die erste Folge des Krieges wird, da wir annehmen können, daß wir uns nicht von Anfang an daran beteiligen werden, eine anregende Wirkung auf das amerikanische Geschäftsleben sein. Im Falle unserer Neutralität würde das die unvermeidliche Depression zwar hinausschieben, gleichzeitig sie aber intensivieren. Wahrscheinlicher aber ist unsere Kriegsbeteiligung, die zu Folgen führen wird, die sich diejenigen, die sich noch an die Jahre 1917, 1918 und 1919 erinnern, unschwer vorstellen können. Sowohl Depression wie Kriegsbeteiligung würden zu einer Vorherrschaft der Reaktion führen. Denn wir dürfen nicht annehmen, daß das Großkapital, nur weil es häufig gegenüber der CIO nachgegeben hat, sich nun plötzlich in die Gewerkschaftsbewegung verliebt hat. Im Gegenteil, die Notwendigkeit, Zugeständnisse machen zu müssen, hat die Ängste und den Haß der Geschäftsleute verstärkt. Es finden sich Anzeichen genug, daß sie begierig auf den Tag warten, an dem sie ihren Vergeltungsfeldzug eröffnen können. Es gibt bereits amerikanische Kapitalisten, die glauben, daß nur der Faschismus imstande ist, ihre Profite zu schützen, und daß sowohl Depression wie Krieg in der einen oder anderen Form einen Versuch bringen werden, einen faschistischen Staatsstreich zu unternehmen. Was die nächsten wenigen Jahre — oder vielleicht sind es nur die nächsten wenigen Monate — uns bringen werden, ist eine Atempause, und das im ganz buchstäblichen Sinne, eine Gelegenheit, Atem zu schöpfen und uns für den faschistischen Ansturm zu rüsten. Der Sieg des Faschismus ist nicht unvermeidlich. Vor ein oder zwei Jahren war es Mode, insgeheim zu sagen, daß der Faschismus in den Vereinigten Staaten unbedingt siegen würde. Nunmehr wissen wir es
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besser. Wir wissen, daß es große Kräfte gibt, die in den Kampf zur Erhaltung und Ausweitung demokratischer Rechte geworfen werden können, Kräfte, denen die Macht des reaktionären Kapitalismus nicht zu widerstehen vermag. Die einzige Frage ist die, ob diese Kräfte schnell genug zur Aktion gebracht werden können. Wir wissen, daß die Begründung einer Einheitsfront unbedingt erforderlich ist. Wir wissen, daß dies nur zu erreichen ist, wenn wir nicht nur die Arbeiter, sondern auch große Teile der Mittelklasse zu einem Verständnis dessen führen, was sie unter dem Faschismus verlieren würden, zum Bewußtwerden der Unmittelbarkeit der Gefahr, zur Anerkennung der einzig möglichen Mittel, einen Sieg zu erringen. Die Einheitsfront in Amerika entsteht nicht so formal wie in Frankreich oder Spanien, doch nichtsdestoweniger ist sie stabil. Nichts in der Welt kann so bedeutsam sein wie die Förderung und Stärkung dieses Werkes. Das also ist die Zukunft, vor der der amerikanische Schriftsteller steht. Sollen wir uns selbst betrügen? Es wird keine für Menschen sehr bequeme Zeit sein. Es wird für Schriftsteller eine verteufelt unbequeme Zeit werden. Es wird für uns in einer solchen Zeit nicht leicht sein, die Arbeit zu leisten, die wir leisten können und auch müssen. Frustration wird uns, ich fürchte, vielerorts erwarten, und nur die Fähigsten, Männer wie Frauen, werden überleben. Entwerfen wir also, soweit wir dazu imstande sind, ein Überlebensprogramm. Untersuchen wir zuvörderst ein oder zwei Wege, die, wie ich hoffe, wohl keiner von uns einschlagen wird. Die Protesttradition in der amerikanischen Literatur ist so sehr gefestigt, daß wohl kein Schriftsteller die Schamlosigkeit besitzen wird, zu sagen: „Scher dich zum Teufel, ich werde ein Reaktionär sein." Doch es gibt Schriftsteller, die unter dem Vorwand, die etablierte Autorität oder, sagen wir, irgendein religiöses Dogma zu verteidigen, sich auf die reaktionäre Seite schlagen. Andere Schriftsteller wieder sind imstande, sich durch einen Hokuspokus einzureden, Loyalität gegenüber der Demokratie erfordere von ihnen, die Sonderprivilegien der Großkapitalisten zu verteidigen. Wieder andere, die sich in die Doktrin der aristokratischen Minderheit, der Adligen von Natur aus, flüchten, werden verachtungsvoll auf die Massen herabschauen und mit ihrem Versuch, die Massen zurückzuhalten, praktisch der Reaktion Hilfe leisten. Ich brauche nicht zu sagen, daß sich diese Schriftsteller auf einem der in die Frustration führenden Wege befinden. Wir haben einige der reaktionären Schriftsteller erlebt, und wir wissen, was sie sich selbst angetan haben. Wir haben andere, bessere Männer auf dem Wege der Reaktion umkehren sehen, ganz so, als hätten sie eine Vision des Todes gehabt, den Pesthauch des Verfalls gespürt. Wo sind heute, selbst in der allgemeinen Verwirrung unseres Landes, die großmütigen Impulse, die offenen Sympathien, das sehende Auge und das mitfühlende Herz zu finden? Wir wissen es, und wir wissen, was für eine Literatur entsteht, wenn diese Eigenschaften fehlen. Wir brauchen nicht zu warten, um unsere reaktionären Schriftsteller ihren Vorgängern, den faschistischen Schriftstellern Deutschlands und den faschistischen Schriftstellern Italiens und allen anderen 336
gadarenischen Schweinen,420 in einem selbstmörderischen Sprung in das Meer der Brutalität und Lügen folgen zu sehen. Da besteht für uns keine Versuchung, doch was ist mit dem Autor, der uns sagt, die Politik sei nicht seine — oder unsere — Sache? Pflicht des Schriftstellers ist es, sagt er, zu sehen und zu berichten und neutral zu bleiben — besonders in Zeiten wie diesen. Wie überzeugend das klingt! Wir wollen unsere Arbeit verrichten, und wir wissen, daß unsere Arbeit Konzentration erfordert, daß sie in der Tat ein gewisses Maß an Distanz erfordert. Politische Aktivitäten erfordern Zeit; politische Leidenschaften erschweren einen klaren Blick; politisches Denken kann in die besondere Denkart des Schriftstellers eingreifen. Das einzige Problematische an diesem Programm, sich auf Distanz zu halten, ist, daß es nicht gelingt. Es ist erstens deshalb nicht durchführbar, weil die Kräfte des Faschismus, während wir friedlich an unsere literarische Arbeit gehen, eifrig dabei sind, eine Welt zu schaffen, in der solch eine Arbeit nicht auszuführen ist. Man versuche einmal, sich auf Distanz zu halten, wenn einem von Sturmtruppen mit dem Gummiknüppel auf den Schädel geschlagen wird. Zweitens, und das ist viel wichtiger, ist es in einer Zeit wie der unseren einfach menschlich nicht möglich, sich herauszuhalten. Warum verlassen Robinson JefTers, Robert Frost, Edna Millay und all die anderen Anhänger des Elfenbeinturms 421 hin und wieder plötzlich ihren Winkel und besteigen die Rednerbühne? Weil kein fühlender, wachsamer und seine Mitwelt liebender Mensch — kurz gesagt, kein Künstler — angesichts der Ungerechtigkeiten unserer Welt, der Drohung organisierter Ungerechtigkeit in einer faschistischen Welt, auf die Dauer gleichgültig bleiben kann. Man kann sich nicht von den Hauptfragen der Zeit fernhalten und ein ganzer Mensch bleiben. Es gibt freilich welche, die um des Königreichs der Kunst willen gern Eunuchen werden; doch ich weiß nicht, ob sie es erreichen. Die besten Schriftsteller haben stets diese beiden Wege verworfen. Sie wollen der Reaktion nicht Vorschub leisten, noch wollen sie abseits stehen oder unsere Teilnahme am Kampf auf verworrene, unwirksame Ausfalle aus dem Elfenbeinturm, der so merkwürdig gefangnisähnlich geworden ist, beschränken. Sie geben zwei Thesen ihre Zustimmung: Sie sind gegen Krieg und Faschismus, und sie sind der Ansicht, der Schriftsteller müsse, als Mensch und als Schriftsteller, an dem Kampf gegen diese beiden Übel teilnehmen. Diese beiden Punkte bilden die feste und zureichende Grundlage unserer Einheitsfront. Unser Zusammenschluß bedeutet, wie Sie bemerken werden, keine Übereinstimmung in allen politischen, und noch viel weniger, in allen literarischen Fragen. Ich frage nicht nach Ihren Ansichten über die endgültige Umgestaltung der Gesellschaft, noch fragen Sie nach meinen. Sie brauchen nicht die gleichen Vorstellungen wie ich über James Joyce, T. S. Eliot oder Karl Marx zu haben, noch ich die gleichen wie Sie. Wir schließen uns zusammen, um gegen Krieg und Faschismus zu kämpfen. Die sich unmittelbar daraus ergebende Frage ist natürlich. Was können wir unternehmen? 22
New York 1935/37
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Wir sollten vielleicht als erstes einige praktische Probleme der Einheitsfront erörtern. Eine Einheitsfront bedeutet keine Auslöschung aller Unterschiede oder die Unterdrückung von Kritik. Jeder von uns besitzt die Freiheit und muß sie besitzen, seine eigene Position in literarischen wie politischen Dingen zu vertreten. Die einzige Beschränkung liegt darin, daß die Berücksichtigung unserer Differenzen nicht unsere Arbeit für die gemeinsam anerkannten Ziele behindern darf. Eine praktische Schwierigkeit der Einheitsfront verdient, glaube ich, ein beiläufiges Wort. Bislang waren die aktivsten Mitarbeiter in der literarischen Einheitsfront Kommunisten, entweder Parteimitglieder oder der Partei Nahestehende. Das mag daher rühren, daß der Kommunismus die enschlossensten und selbstlosesten Mitglieder einer Gruppe anzieht. In der literarischen Einheitsfront jedoch, wie auch andernorts, sind die Liberalen manchmal nicht bereit, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten, und zwar entweder aus Prinzip oder aus einem Mißverständnisse der Ziele der Kommunisten heraus oder aus bloßer Ängstlichkeit. Gewisse Kommunisten haben, aus einem verständlichen und bewunderswerten Eifer heraus, diese mangelnde Bereitschaft zu überwinden versucht, die von den Kommunisten in der Einheitsfront gespielte Rolle herabzumindern. Einige wenige sind sogar soweit gegangen, die Liberalen durch Schmeichelei gewinnen zu wollen. Nun kann man aber eine Einheitsfront nicht durch Katzbuckelei bilden, ebensowenig wie man aufrichtige Liberale, die einzigen, die wir haben wollen, durch Unaufrichtigkeit gewinnen kann. Ich begrüße jeden Schlag gegen das Sektierertum, doch ich vermag nicht zu glauben, daß Ehrlichkeit sektiererisch ist. Zu den Kommunisten sage ich, daß die Bedenken der Liberalen nur zu überwinden sind, wenn wir ihnen unsere Ergebenheit für die gemeinsame Sache beweisen. Sie fürchten den Kommunismus weniger als uns. Wenn wir sie zu betrügen versuchen,, in welch guter Absicht auch immer das geschehen mag, so werden wir sie in ihrem Verdacht nur bestärken. Wenn wir ehrlich zu ihnen gehen, können wir ihr Vertrauen, sofern wir dessen würdig sind, gewinnen. Solch ausgeprägt praktische Fragen mögen in einem Vortrag, der mit dem großartigen Ziel anhob, die Gefahren literarischer Frustration in den künftigen Jahren zu diskutieren, nicht erörternswert erscheinen, doch von unserer Fähigkeit, eben solche Fragen zu lösen, hängt unser Überleben ab. Nehmen Sie beispielsweise das überaus praktische Problem der Zeiteinteilung. Es ist gleichermaßen unsere Pflicht, gute schriftstellerische Arbeit zu leisten wie zu versuchen, kraft unserer Werke, und durch welche anderen Möglichkeiten auch immer, die Welt zu einem Ort zu machen, an dem man gute schriftstellerische Arbeit leisten kann. Es ist schon nicht leicht, eins von beiden zu tun; es ist in fast unmöglicherweise schwierig, beides zusammen zu tun. Und doch müssen wir beides tun. Ich brauche nicht die Hilferufe zu beschreiben, die uns alle erreichen: Sprechen Sie hier? Warum leisten Sie nicht dazu einen Beitrag? Bitte schicken Sie ein Protestschreiben an den-und-den! Besuchen Sie unbedingt diese Versammlung! Um Himmels willen, lassen Sie mich
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bloß arbeiten, schreit man dann. Ja, das stimmt, man muß seine Arbeit tun, wenn sie wert ist, getan zu werden — und das kann nur jeder selbst entscheiden. Doch gleichzeitig muß man auch helfen. Es gibt Dinge, die wichtiger sind als die literarische Arbeit. Es gibt Dinge, denen man dienen kann, nicht indem man seine Arbeit, doch seine Freizeit opfert. Wo soll man da den Trennungsstrich ziehen? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Niemand vermag es. Das muß man selbst entscheiden. Und wehe dem, der sich falsch entscheidet! Es gibt ein zweites, dem verwandtes, doch komplizierteres Problem. Schriftsteller sehen sich zusammen mit anderen Intellektuellen durch den gegen Faschismus gerichteten Kampf mit den großen Massenbewegungen, Gewerkschaften, politischen Parteien und Organisationen anderer Art in Berührung gebracht. Nun ist die Rolle des Intellektuellen in der Arbeiterbewegung schwierig, wie zahlreiche unglückliche Erfahrungen beweisen. Da gibt es beispielsweise den Schriftsteller, der von seiner eigenen vortrefflichen Weisheit überzeugt zur Arbeiterbewegung geht. In seiner Vorstellung ist er der begnadete Vertreter des Geistesadels, der sich dem Volk als führendes Haupt anbietet. Und es geschieht häufig, daß das Volk — manchmal sogar die Leute in der Kommunistischen Partei — sich geschmeichelt fühlen. Da seht, der große So-und-so ist zu uns gekommen. Doch der große So-und-so ist es nicht zufrieden, als Führer umschmeichelt zu werden, er will die Führungsrolle ausüben. Und das Volk, das bald entdeckt, daß er sich zum Führer einer Arbeiterbewegung weniger als der Schuhputzer an der Straßenecke eignet, weigert sich, ihm zu folgen. Daraufhin entdeckt er, daß die Partei, die Gewerkschaft oder die Organisation, der er sich angeboten hat, nicht nur undankbar, sondern auch dumm, inkompetent und bösartig ist. Er wird der echte Arbeiterfreund, der mit Sicherheit jede einzelne Maßnahme der Laborpolitik für die laborfeindliche Presse kritisiert. Es gibt andere und weniger unglückliche Typen. Es gibt den Perfektionisten, den Mann, der sich mit umnebeltem Blick der Arbeiterbewegung naht und den man wieder eilig zurück in seine Eremitenzelle schickt, sobald er entdeckt, daß die Arbeiter auch bloß Menschen sind. Es gibt den Mann, der sich dem offenen Radikalismus verschreibt, und der dann, wenn er nicht bereit ist, den Preis zu zahlen, sein Gesicht zu wahren versucht, indem er behauptet, daß der Radikalismus falsch sei. Da gibt es den Zaungast, den Mann, der stets für die Arbeiterbewegung überhaupt ist, doch der, natürlich aus den vernünftigsten theoretischen Gründen, gegen jede Politik ist, die seine aktive Beteiligung erfordert. Das sind frustrierte Typen. Und andererseits gibt es den Schriftsteller, der sich von einer Organisation völlig in Anspruch nehmen läßt. Die Inanspruchnahme kann entweder physisch oder geistig sein. Physische Inanspruchnahme ist zumindest würdig und manchmal die bessere Art. Geistiges Verschlungenwerden ist stets schlecht. Kein Schriftsteller kann es sich erlauben, daß eine Partei oder Gewerkschaft für ihn das Geschäft des Denkens übernimmt. Er mag zwar sein Handeln genau auf seine Gruppe abstimmen, doch die einzige Denkart, die geeignet ist, in seine Bücher einzugehen, ist sein eigenes Denken. 22*
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Die Schriftsteller werden in wachsendem Maße aufgefordert werden, an der Arbeiterbewegung aktiven Anteil zu nehmen; und der Schriftsteller muß es lernen, seine Persönlichkeit unterzuordnen, während er gleichzeitig seine geistige Integrität bewahrt. Genau wie bei dem einfacheren Problem der Zeit und Kraft muß der einzelne einen Trennungsstrich ziehen, und das ist nicht leicht. Das sind einige Beispiele der vor dem zeitgenössischen Schriftsteller stehenden Probleme. Ich könnte andere hinzufügen. Ich könnte von dem Druck sprechen, den einige von uns empfinden, einem Druck, denen wir absichtlich ausgesetzt werden, um uns für einen Dienst an den reaktionären Interessen gefügig zu machen; ich könnte von den Gefahren des Opportunismus sprechen. Ich könnte zeigen, wie leicht es geschieht, in Verwirrung zu geraten, besonders wenn sich Verworrenheit auszahlt. Ich schreibe von diesen vor uns liegenden Sorgen ganz offen, denn ich weiß, daß das, was ich sage, niemand davon abhalten wird, in dem vor uns liegenden Kampf kühn Partei zu ergreifen. Viel größere Gefahren erwarten diejenigen, die nicht in kühner Weise Partei ergreifen. Nein, wir können der Zukunft offen ins Auge schauen, und das müssen wir. Und die Zukunft ist keineswegs völlig schwarz. Wir wissen, in welche Richtung wir gehen und was wir wollen. Viele amerikanische Schriftsteller haben das nicht gewußt. Wir begreifen die Welt besser als unsere Vorfahren, und das nicht, weil wir klüger sind, sondern weil die Fragestellungen deutlicher geworden sind. Und wir fühlen uns, was viele frühere Schriftsteller nicht taten, Amerika zugehörig. In den mit uns den gleichen Weg marschierenden Massen haben wir Weggefahrten und eine potentielle, wenn nicht schon eine tatsächliche Leserschaft. Probleme, die für unsere Vorgänger unlösbar waren, lösen sich für uns, und ich glaube, daß die Probleme, vor denen wir stehen, so real sie sind, weniger schwierig sind. In der Vergangenheit waren es oft die begabtesten Schriftsteller, die die frustiertesten waren. Ich glaube sagen zu können, daß das für unsere Generation nicht stimmt. Weniger bedeutende Schriftsteller können Schwierigkeiten, wie ich sie beschrieben habe, erliegen. Unsere großen Schriftsteller werden über sie obsiegen. Ich glaube, daß es unter den Teilnehmern des 2. Kongresses amerikanischer Schriftsteller Männer und Frauen gibt, die in den nächsten fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren schriftstellerische Arbeit leisten werden, würdig der Besten in der amerikanischen Literatur. Sie werden wissen, wie man nicht nur aus dem Kampf, in den wir alle verwickelt sind, sondern auch aus den von mir geschilderten Schwierigkeiten Kräfte zieht. Sie werden in dem Kampf vielleicht Anführer, vielleicht auch keine sein, doch stets zuverlässige Kampfgenossen, die die Schläge austeilen, deren sie fähig sind, und sie werden den Geist dieses Kampfes zum Ausdruck bringen, auch wenn sie nie unmittelbar über ihn schreiben. Ihre Bücher werden im gleichen Schritt mit dem Schritt der Millionen marschieren, und sie werden so bedeutend sein wie die Aufgaben der kommenden Jahre. Und 340
vielleicht werden eines fernen Tages Menschen, die ihre Bücher lesen, diese Epoche besser verstehen, als wir sie verstehen, und werden in ihr nicht eine unbequeme Atempause voller quälender Entscheidungen und gefahrlich komplexer Probleme sehen, sondern einen bewegten Prolog zu einem ruhmreichen Zeitalter. 422
17 Joseph Freeman Den vierziger Jahren entgegen423 Der zweite amerikanische Schriftstellerkongreß trat Anfang Sommer 424 1937 zusammen. Das war dreiundzwanzig Jahre nach Beginn des Weltkrieges, zwanzig Jahre nach Amerikas Eintritt in diesen Krieg und zwanzig Jahre, nachdem das russische Volk die Sowjetrepublik gegründet hatte. Die Titelseiten der Zeitungen brachten Berichte über den Bürgerkrieg in Spanien, und einen Monat später kamen Berichte über den Überfall Japans auf China hinzu. Diese Tatsachen verliehen dem zweiten Kongreß amerikanischer Schriftsteller einen besonderen Charakter. Die Delegierten — gleichgültig welchen Alters — fühlten sich nicht einer Nachkriegs-, vielmehr einer Vorkriegsgeneration angehörig. Die literarischen Kämpfe der Vergangenheit, einer ziemlich jungen Vergangenheit, schienen einer grauen und fernen Vorzeit anzugehören. Zeit und Umstände hatten etliche grundlegende Fragen geklärt. Der angebliche Widerstreit zwischen Kunst und Propaganda, zwischen Dichtung und Politik kam Männern und Frauen angesichts der Realität von 1937 sehr akademisch vor. Die Delegierten bekundeten ein leidenschaftliches Interesse erstens dafür, wie sie den weltweiten Kampf gegen den Faschismus unterstützen konnten, und zweitens, wie sie sich der Aufgabe gewachsen zeigen konnten, das Leben in seinem dynamischen Wandel auf anschauliche Weise zu schildern, kurz, wie eine wahrhaft fortschrittliche Literatur zu schaffen sei. Einige Zeitungen zogen es vor, die Bedeutung des Kongresses zu übersehen; andere belegten den Kongreß mit abgeschmackten Beiworten. Die Hearst-Presse 425 brachte einen Leitartikel mit der Überschrift „Künstler in Uniform" 426 , in dem der Kongreß eine Moskauer Verschwörung genannt wurde. Kritiker, die es hätten besser wissen müssen, griffen diesen törichten Vorwurf in angeblich liberalen Zeitschriften wieder auf. Es gab auch Kritiker, die die Ansicht äußerten, es sei Torheit für Schriftsteller, sich mit Politik zu befassen, und ihre Bemühungen müßten, falls sie es täten, fruchtlos bleiben. Doch diese Stimmen waren in der Minderheit. Das allein ist schon ein Beweis dafür, daß der Kongreß den Abschluß einer genau bestimmbaren Periode in der amerikanischen Literatur sowie den Beginn einer neuen bezeichnete. Und es ist nunmehr, da, vom literarischen Standpunkt aus gesehen, die dreißiger Jahre ihrem Ende entgegengehen und die vierziger sich 341
vielleicht werden eines fernen Tages Menschen, die ihre Bücher lesen, diese Epoche besser verstehen, als wir sie verstehen, und werden in ihr nicht eine unbequeme Atempause voller quälender Entscheidungen und gefahrlich komplexer Probleme sehen, sondern einen bewegten Prolog zu einem ruhmreichen Zeitalter. 422
17 Joseph Freeman Den vierziger Jahren entgegen423 Der zweite amerikanische Schriftstellerkongreß trat Anfang Sommer 424 1937 zusammen. Das war dreiundzwanzig Jahre nach Beginn des Weltkrieges, zwanzig Jahre nach Amerikas Eintritt in diesen Krieg und zwanzig Jahre, nachdem das russische Volk die Sowjetrepublik gegründet hatte. Die Titelseiten der Zeitungen brachten Berichte über den Bürgerkrieg in Spanien, und einen Monat später kamen Berichte über den Überfall Japans auf China hinzu. Diese Tatsachen verliehen dem zweiten Kongreß amerikanischer Schriftsteller einen besonderen Charakter. Die Delegierten — gleichgültig welchen Alters — fühlten sich nicht einer Nachkriegs-, vielmehr einer Vorkriegsgeneration angehörig. Die literarischen Kämpfe der Vergangenheit, einer ziemlich jungen Vergangenheit, schienen einer grauen und fernen Vorzeit anzugehören. Zeit und Umstände hatten etliche grundlegende Fragen geklärt. Der angebliche Widerstreit zwischen Kunst und Propaganda, zwischen Dichtung und Politik kam Männern und Frauen angesichts der Realität von 1937 sehr akademisch vor. Die Delegierten bekundeten ein leidenschaftliches Interesse erstens dafür, wie sie den weltweiten Kampf gegen den Faschismus unterstützen konnten, und zweitens, wie sie sich der Aufgabe gewachsen zeigen konnten, das Leben in seinem dynamischen Wandel auf anschauliche Weise zu schildern, kurz, wie eine wahrhaft fortschrittliche Literatur zu schaffen sei. Einige Zeitungen zogen es vor, die Bedeutung des Kongresses zu übersehen; andere belegten den Kongreß mit abgeschmackten Beiworten. Die Hearst-Presse 425 brachte einen Leitartikel mit der Überschrift „Künstler in Uniform" 426 , in dem der Kongreß eine Moskauer Verschwörung genannt wurde. Kritiker, die es hätten besser wissen müssen, griffen diesen törichten Vorwurf in angeblich liberalen Zeitschriften wieder auf. Es gab auch Kritiker, die die Ansicht äußerten, es sei Torheit für Schriftsteller, sich mit Politik zu befassen, und ihre Bemühungen müßten, falls sie es täten, fruchtlos bleiben. Doch diese Stimmen waren in der Minderheit. Das allein ist schon ein Beweis dafür, daß der Kongreß den Abschluß einer genau bestimmbaren Periode in der amerikanischen Literatur sowie den Beginn einer neuen bezeichnete. Und es ist nunmehr, da, vom literarischen Standpunkt aus gesehen, die dreißiger Jahre ihrem Ende entgegengehen und die vierziger sich 341
bereits abzeichnen, wohl angebracht, eine Bilanz der Vergangenheit zu ziehen und den Faden der Kontinuität zu verfolgen, der sich durch alle Wandlungen im Denken und Schreiben amerikanischer Autoren vom Tag der deutschen Invasion in Belgien bis zum Tag der japanischen Invasion in Höpen durchzieht, und, wenn auch nur ungefähr, die künftigen Perspektiven abzuschätzen. In dem bemerkenswerten Vortrag über Wagner, den Thomas Mann Anfang des Jahres in New York hielt, zitierte er den Komponisten mit den Worten, daß „wer sich unter der Politik hinwegstiehlt, sich selber belüge". Mann erklärte anschließend, daß dieser Satz nicht nur für frühere Zeiten und Richard Wagner bedeutsam sei, er wandte ihn vielmehr nachdrücklich auf uns und unsere Zeit an. Ein so lebendiger und radikaler Geist wie der Wagners, erklärte er, „war sich selbstverständlich der Einheit des humanen Problems, der Untrennbarkeit von Geist und Politik bewußt; er hat nicht der bürgerlich-deutschen Selbsttäuschung angehangen, man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein — diesem Wahn, der Deutschlands Elend verschuldet hat". 427 Als er diese Worte aussprach, befand sich Mann, ein seines Landes Verwiesener, ein Sprecher jener Geistesschaffenden, die faschistischer Politik zum Opfer fielen, auf amerikanischem Boden. Keiner besaß ein größeres Recht, diese besondere Wahrheit auszusprechen. Thomas Mann, der den Höhepunkt europäischer Kultur verkörpert, steht am Ende einer Tradition, deren Anfang Goethe war. Mehr als jeder andere Schriftsteller unserer Zeit hat sich Mann mit dem Problem des Künstlers beschäftigt. Geisteshaltung und Schicksal des Mannes der Feder waren seine in Essay und Roman bevorzugten Themen. Er hat über die Hoffnungen, Kämpfe, Niederlagen und Siege der literarischen Persönlichkeit in der westlichen Zivilisation nachgedacht und geschrieben. Er kennt diese Persönlichkeit in ihrer Vorkriegsisolation; er weiß es, wie sie durch faschistisches Elend jetzt gezwungen ist, die Untrennbarkeit von Geist und Politik anzuerkennen, wie sie, gleich ihm, bewogen wurde, sich an Gemeinschaftsaktionen gegen Barbarei und Tyrannei zu beteiligen. Das mag als ein merkwürdiger Zwang erscheinen für jene, die über die Beschaffenheit von Literatur und die Rolle des Schriftstellers noch starre Vorurteile hegen, Vorurteile, wie sie noch aus der Zeit der Sensationsliteratur stammen und modifiziert wurden, um einer Literatur, die durch Unterhaltungs- und Marktwert bestimmt wird, gerecht zu werden. Doch jeden mit der Geschichte westlicher Kultur Vertrauten wird Thomas Manns Schlußfolgerung nicht überraschen. Wesentliche Geschichtsepochen — jene Zeiten des Konflikts und Wandels, in denen aufsteigende soziale Klassen absterbende ersetzten und neue Gedanken die Köpfe der Menschen bewegten — fanden bedeutsame Schriftsteller stets als Mitstreiter in der Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse. Der Schriftsteller mag ein Milton sein, der für die puritanische Revolution eines Oliver Cromwell eintrat; ein Shelley, der sich mit den Bestrebungen von 1776 und 1789 verband; ein Whitman, der die demokratischen Ideale des amerikanischen Volkes feierte; ein Zola, der für die wegen ihrer Rassenzugehörigkeit unschuldig Angeklagten 342
kämpfte. Stellung wird bezogen, der Kampf aufgenommen und der Schriftsteller tritt als Mann der Öffentlichkeit in Erscheinung. Nichts veranschaulicht die Geschichte der westlichen Kultur und die Rolle, die der schöpferische Schriftsteller darin spielt, besser als rart-pour-l'art-Schulen. Die französischen Schriftsteller des zweiten Kaiserreiches, die sich in eine Bohemewelt flüchteten, um die Bourgeoisie zu brüskieren, erklärten ganz offen, daß sie das aus Protest gegen ihren Ausschluß aus dem politischen Leben täten. Selbst Oscar Wilde, die bekannteste Symbolfigur des reinen Ästheten in der englischen Literatur, veröffentlichte einen Essay über The Soul of Man under Socialism (Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus) 428 Nichts bestätigt die Abhängigkeit der Kunst von der Gesellschaft so stark wie die paradoxe Negation dieser Tatsache. Die namhaften Kritiker des neunzehnten Jahrhunderts — das eigentlich den Zeitabschnitt zwischen der französischen und der russischen Revolution einschließen sollte — befaßten sich ernsthaft mit dem Problem von Dichtung, Politik und Partei. In den achtziger Jahren zog Georg Brandes die Schlußfolgerung, daß in dem Augenblick, da ein Literat ein Thema behandle, „in dem sich auch nur eine Spur von Theorie, Denken, grundlegendem Prinzip findet, er einen Standpunkt wählen, sich unter die Anhänger dieser oder jener Philosophie des Lebens eingliedern muß". 429 Brandes betonte weiter, daß „es bei der Parteinahme genau genommen nicht um die Frage gehe, wie man die Vergangenheit beurteile, sondern wie man die Zukunft zu gestalten denke, und daß kein Mensch sich gleichzeitig in zwei Richtungen bewegen kann". Er rechtfertigte das Recht des Literaten, einer Partei anzugehören, Partei, nicht so sehr im engen Sinne des Wortes als vielmehr im Sinne „eines Systems von Ideen, die auf Grund ihrer Beschaffenheit an keinen Ort gebunden sind — weltweite Gedanken, die großen, allgemeinen Ziele der Menschheit". Für Brandes bedeutete Literatur keine Traumwelt, sondern einen aktiven Faktor in der Geschichte, eine Auffassung, wie sie den amerikanischen Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts durchaus vertraut ist. Voll in Anspruch genommen von der Gegenwart und Zukunft der jungen amerikanischen Nation ergriffen die großen Pioniere unserer Literatur Partei, als das Haus in sich gespalten war. Als die Auseinandersetzung zwischen feudalem Süden und industriellem Norden heraufzog, erklärte Emerson: „Wir müssen die Sklaverei abschaffen, oder wir müssen die Freiheit abschaffen." 430 Der Bürgerkrieg sah ihn (genau wie Karl Marx in London) 431 als leidenschaftlichen Verfechter der Sache der Befreiung. Dies so sehr, daß Lowell bemerkte: „Ihm vor allen anderen Dingen verdankten die jungen Märtyrer unseres Bürgerkrieges die Durchhaltekraft besonnenen Heldentums, die in jedem ihrer Lebensberichte so beeindruckt." 432 Walt Whitman, die größte dichterische Stimme amerikanischer Demokratie, schrieb — auf ein langes Leben Rückschau haltend — voll Stolz in seinen biographischen Notizen : „1862: Er geht auf die Schlachtfelder des Sezessionskrieges. Beginnt seine Betreuung der Verwundeten in den Lazaretten und nach den Kämpfen, und bleibt drei Jahre ununterbrochen bei dieser Tätigkeit." 433 343
Wenn Schriftsteller an den großen sozialen Kämpfen des neunzehnten Jahrhunderts, vor dem Aufstieg des Imperialismus, vor seinem Höhepunkt im Weltkrieg und seinem Niedergang heute, aktiven Anteil nahmen, um wieviel eindeutiger sollte ihr Weg heute sein, da der Gang menschheitlicher Ereignisse sich stündlich ändert und der Schriftsteller, ob er es,einsieht oder nicht, gezwungen ist, sein Denken und Handeln den neuen und noch nicht dagewesenen Kräften anzupassen. Die Geschichte schreitet heutzutage so schnell voran, daß ein Jahr wie ein Jahrzehnt erscheint und ein Jahrzehnt wie ein Jahrhundert. Noch unlängst haben Schriftsteller darüber debattiert, ob ein Wandel überhaupt möglich sei; jetzt kommt dieser Wandel so schnell, daß wir vollauf damit zu tun haben, damit Schritt zu halten. Das Gesicht der Welt hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren völlig verändert, so daß Mark Twain, stiege er aus seinem Grabe, um Amerika zu durchstreifen, es nicht wiedererkennen würde. Überall befindet sich alles in Bewegung. Soziale Klassen sind eng verklammert in tötlichem Ringen; die Macht geht von einer Gruppe auf eine andere über, erbitterter Krieg und Bürgerkrieg werden um ihren Besitz geführt. Premierminister werden ermordet, Regierungen stürzen und erheben sich; Millionen von Männern und Frauen sind in den Hauptstädten der Welt unterwegs, auf der Suche nach Arbeit und Brot; riesige Armeen setzen Städte in Brand, lassen Tod auf Frauen und Kinder herabregnen. Maßloses Chaos und schreckliche Gewalt herrschen, während die alte Ordnung zerfallt. Man trifft auch überwältigendes Leben. Allerorts erheben sich Menschen, um aus dem alten Chaos eine neue Ordnung zu gestalten. Millionen, die anfangs allein und verzweifelt auf der Straße gehen, marschieren bald mit Fahnen, Liedern und Losungen, sich ihrer Macht, die Welt zu verändern, wohl bewußt. Und es gibt auch neue Armeen, die nicht mehr aus gefühllosen Werkzeugen derjenigen bestehen, die einst raubten und mit Gewalt regierten, vielmehr eine literarische Avantgarde der Menschheit darstellen, die für die Freiheit und eine neue Welt kämpfen. In weniger als dreißig Jahren haben folgende Ereignisse stattgefunden: der Weltkrieg, die russische Revolution, die große amerikanische Konjunktur und die noch größere amerikanische Depression, der Machtaufstieg der Nazis in Deutschland, der Erfolg der sozialistischen Planung in der Sowjetunion, der Beginn einer neuen Reihe von imperialistischen Kriegen mit Japans Einfall in die Mandschurei, Italiens Einfall in Äthiopien und der heldenhafte Kampf des spanischen Volkes gegen den faschistischen Überfall. Und jetzt, da diese Zeilen geschrieben werden, haben die militärischen Anführer Japans noch ein weiteres Konfliktkapitel eröffnet. In keinem Zeitabschnitt der menschlichen Geschichte waren die Veränderungen der Verhältnisse, Beziehungen und Werte so gewaltsam oder so weitreichend. Wie kann ein Schriftsteller eine solche Zeit durchleben, ohne von ihr berührt zu werden? Er mag kein philosophisches System haben, das ihn leitet; keine 344
Wissenschaft, die den Sturzbach der Ereignisse erhellt; er mag Logik hassen und sich völlig auf unmittelbare Beobachtung, Empfänglichkeit und Gefühl verlassen. Doch wenn er überhaupt ein Schriftsteller ist, so wird er sich mit Erfahrung befassen; und in unserer Zeit Erfahrung einfach wiedergeben, bedeutet, Aspekte eines weltweiten Konflikts und die tiefgreifendste soziale Wandlung in der Geschichte der Menschheit wiedergeben. Niemand kann heutzutage ernsthaft behaupten, Kunst um der Kunst willen zu betreiben. Diese einst scheinheilige Maxime ist heute nur noch lächerlich. Tiefe Veränderungen haben auch die handwerkliche Seite des Schriftstellerberufs ergriffen. Die Entwicklung der Wissenschaft hat die grundsätzliche Weltsicht des Schriftstellers verändert, der technische Fortschritt hat seine Position innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaft verändert. Das handwerkliche System der Literatur ist durch ein industrielles abgelöst worden. Druckwesen und Massenbildung schufen einen breiten Markt für Leseerzeugnisse. Eine wachsende Zahl von Schriftstellern arbeitet für solche industriellen Unternehmen wie Zeitung und Filmstudio. Der moderne Autor ist meistens Angestellter. Er ist lohnabhängig; zu Zeiten akuter ökonomischer Krise erfährt er die Bedeutung der Arbeitslosigkeit nicht als begabter junger Gott, der zur Erde niederschwebt, um mit der Arbeiterklasse zu sympathisieren, sondern in eigener Person und als entlassener Arbeiter. Es gibt arbeitslose Schriftsteller, sie leben von Unterstützung durch die W.P.A. 4 3 4 ; sie streiken für ihre eigenen Forderungen; sie haben nicht nur aus Sympathie für Arbeiter auf anderem Gebiet Streikposten gestanden, sondern für sich selbst; sie haben Massendemonstrationen organisiert, sie wurden verhaftet und geschlagen; sie schickten Delegationen nach Washington und verhandelten mit ihren Arbeitgebern. Ihre Erfahrung bei der Arbeit, bei Arbeitsverlust und in ihrer Gewerkschaft ist die Erfahrung anderer amerikanischer Arbeiter. Diese unmittelbare ökonomische Erfahrung hat die geistige Bewußtheit des Autors für die Hauptprobleme des modernen Lebens, welche Stufe sie auch erreicht haben mag, auf jeden Fall geschärft. Sie trägt zu seiner Erkenntnis bei, daß die Kunst nicht frei sein kann, solange die Gesellschaft in Ketten liegt. Diese bedeutsamen Erfahrungen verschmolzen mit gewissen früheren Gedanken, die tief im Bewußtsein des amerikanischen Schriftstellers verankert sind. Wie Newton Arvin an anderer Stelle 435 in diesem Buch ausführt, trifft nichts so sehr auf die amerikanische Literatur zu wie die Behauptung, daß sie über einen Zeitraum von drei Jahrhunderten das allmähliche Reifen und Vertiefen des demokratischen Gedankens widerspiegelt. 1910 stellte George Edward Woodberry f e s t 4 3 6 daß das amerikanische Geistesleben eher in Gesellschafts-, politischen und Naturwissenschaften als anderswo zu finden sei; die schöpferische Phantasie sei schwach, und wenn, nur grob spürbar; die poetische Kraft kaum wahrnehmbar. Zwei Jahre später war eine große poetische Renaissance im Gange und im „lyrischen J a h r " 19 1 2 4 3 7 begann phantasiereiche Dichtung in vielfaltigen Formen. War das ein Zufall? Arbeiter, Farmer und Gruppen der Mittelklasse fingen an, sich über den Druck des Monopolkapitals zu empören. Es war die Zeit, in der 345
man versuchte, die „Trusts zu zerschmettern", die Zeit der I.W.W.-Streiks 438 , der Million Stimmen für Gene Debs 439 und der „neuen Freiheit" 440 , die im Weißen Haus eingezogen. Die Hoffnung auf soziale Verbesserungen war groß und nirgends größer als unter den jungen Männern und Frauen, die Gedichte, Romane und Stücke schreiben wollten. Sie verbanden meistens ein aktives Interesse an der Politik mit ihren Bemühungen auf dem Gebiet der schöpferischen Literatur. Diejenigen, die nicht zufrieden waren, beim Liberalismus Halt zu machen, traten der sozialistischen Bewegung bei, deren eigener rechter Flügel an den Liberalismus grenzte. Die Schriftsteller, die in den kleinen Zeitschriften und auch kleinen Theatern erschienen, oftmals mit Gedichten oder Stücken von ausgeprägt sozialem Charakter, erschienen auch auf Streikversammlungen und radikalen politischen Veranstaltungen. Man kann nicht an Carl Sandburg, Vachel Lindsay, Sherwood Anderson, Sinclair Lewis, Theodore Dreiser, Randolph Bourne, Floyd Dell und Van Wyck Brooks denken, ohne auch die unauflösliche Verbindung ihrer Werke mit der Politik ihrer Zeit zu beachten. Die literarischen Bewegungen, die 1912 auftauchten, hielten mit geringer Unterbrechung auch nach dem Kriege an. Man vermag heute zu überschauen, daß es in den zwanziger Jahren zwei progressive Tendenzen in der amerikanischen Literatur gab. Die eine brachte die Haltung der aufgewecktesten Gruppen des Mittelstandes zum Ausdruck. Die Satiren über „Die Hauptstraße" und „Zenith", das Pathos von „Winesburg, Ohio", die Porträts der „Titanen" und „Finanziers" 441 waren im Grunde genommen Proteste gegen die erdrückenden Auswirkungen des Monopolkapitals auf die kleinen Geschäftsleute, Farmer und Gewerbetreibenden. Die zweite Tendenz wurde von der auf der Arbeiterklasse basierenden sozialistischen Bewegung beeinflußt. Es g a b in den Vereinigten Staaten eine sozialistische Bewegung lange vor der russischen Revolution. Man kann nur über diejenigen lachen, die behaupten, sei es aus Unwissenheit oder Bosheit, das marxistische Herangehen an die Literatur sei den amerikanischen Schriftstellern durch eine im Kreml ausgeheckte Verschwörung aufgedrängt worden. Bereits 1901 gründeten amerikanische Sozialisten eine Zeitschrift, 442 die eigens sozialistischer Kunst und Literatur gewidmet war; The Masses443 entwickelte 1912 diese Tradition weiter. Wenn fortschrittliche Köpfe in diesem Land die bolschewistische Revolution von 1917 als Anbruch eines neuen Zeitalters begrüßt hatten, so hatten amerikanische Radikale zuvor und aus ähnlichen Gründen die mexikanische Revolution 444 begrüßt; und bevor John Reed von Lenin gehört hatte, hatte er Zapata gehuldigt. Die Straße, die diesen Schriftsteller von Harvard nach Sonora und von Sonora nach Moskau führte, war von demokratischen Träumen erhellt, wie sie zu den Traditionen des amerikanischen Volkes gehören. Für ihn wie für viele andere war Demokratie im umfassendsten Sinne nur durch den Sozialismus zu erreichen, und er gab sein Leben in Rußland hin, weil dieses Land als erstes diese Sehnsucht verwirklichte. Diejenigen unserer radikalen Schriftsteller, die an den Sozialismus glaubten, gaben weder die höchsten literarischen Maßstäbe noch ihre eignen amerikanischen 346
Traditionen auf. Das muß betont werden, damit wir die gegenwärtigen Entwicklungen in ihrer wahren Perspektive sehen. Während des Krieges, und auch später in den zwanziger Jahren, besaßen literarische Auseinandersetzungen oft einen ausgeprägt politischen Charakter. 1918, als die Humanists,445 angeführt von Paul Elmer More und Irving Babbit, eine ausgesprochen reaktionäre Kritik veröffentlichten, geißelte sie Randolph Bourne wegen ihrer barbarischen Auffassung, daß das Privateigentum geheiligter sei als die Menschenrechte. Und zwei Jahre später wies Floyd Dell nachdrücklich darauf hin, daß der Sozialismus weitaus amerikanischer sei als die Reaktion. In einer Rezension von Waldo Franks Our AmericaM6 (Unser Amerika) charakterisierte Dell 1920 seine Generation als liberale und radikale Schriftsteller und beschwor die wertvollsten Traditionen amerikanischer Literatur. „Die Generation, der Waldo Frank und ich angehören", schrieb er, „ist eine eigenartige und unglückliche Generation . . . Es ist eine Generation, bestehend aus Individuen, die sich in den langen Jahren ihrer Jugend im einsamen Konflikt mit einer feindseligen Umwelt fühlten . . . Individualismus ist das eigentliche Kennzeichen unseres Lebens; wir haben zu lange jeder einzeln seinen Gedanken nachgehangen, um nun schmerzlos zu einem Bestandteil derjenigen sozialen Gruppe zu werden, zu der wir gehören . . . Uns fallt die Erkenntnis schwer, daß wir Teil desjenigen Amerikas sind, das uns soviel Schmerz und Schmähung zugefügt hat. Wir sind von eben der Tradition des Protestes und der Rebellion abgeschnitten, die wir gegenwärtig fortführen. Wir wissen nicht einmal, daß Amerikas Literatur mehr als alles andere eine Literatur des Protestes und der Empörung ist. Die meisten von uns wissen von der amerikanischen Literatur nicht mehr als ein Europäer. Für die meisten von uns gibt es zwei amerikanische Schriftsteller — Whitman und Poe; und wir wissen nicht, daß Whitman und Poe nur die höchste Blüte der amerikanischen literarischen Tradition waren und keine Ausnahmen in irgendeinem Sinne. Wir ahnen nicht, wieviele unserer ,Experimente' nur eine Wiederholung jener Bemühungen sind, die die Generation Longfellows unternahm, um einer unfreundlichen Umwelt zu entrinnen; und da wir die Vergangenheit nicht kennen, können wir nicht aus ihren Fehlern lernen — wir müssen begeistert vorwärtsstürmen und die Fehler auf eigene Kosten machen. Wir gelangen nur langsam zu der Erkenntnis, daß das, was wir bisweilen verächtlich als amerikanisch' bezeichnen, überhaupt nicht amerikanisch ist; daß, erstaunlicherweise, wir amerikanisch sind, daß Debs und Haywood genauso amerikanisch sind wie Franklin und Lincoln, und daß die Loyal Legions nicht mehr amerikanisch sind als der Ku-Klux-Klan." Aus dieser im Sozialismus wurzelnden Haltung entwickelte sich die Bewegung, die eine Literatur zu erwecken suchte, die nach Sujet und Sprache amerikanisch sein würde, jedoch Aspekte des amerikanischen Lebens behandeln sollte, die die konventionelle Literatur aussparte: amerikanische Arbeiter in ihren Fabriken und Wohnungen, die Slums der Großstädte, die Gewerkschaftssäle, die Streikposten und Demonstrationen, das Gefangnisleben derjenigen, die allzu laut gegen ihr 347
bitteres Los protestieren. Bedeutsamerweise standen während des ganzen Krieges und während der zwanziger Jahre diejenigen amerikanischen Schriftsteller, die sich als Sozialisten oder Kommunisten, Revolutionäre oder Proletarier bezeichneten, mit den Schriftstellern, die den Protest der Mittelklasse gegen das Monopolkapital zum Ausdruck brachten, auf brüderlichem Fuß. Es gab unvermeidliche Meinungsverschiedenheiten zwischen denjenigen, die den Weg bis zu Ende gehen wollten, und denen, die nur bereit waren, ein Stück des Weges zu gehen. Doch es existierte ein Bündnis zwischen beiden Arten von Schriftstellern; jeder sah im anderen einen notwendigen Verbündeten für den gemeinsamen Kampf. Der jeweilige Streitpunkt konnte eine Kampagne gegen die Palmer-Razzien 447 sein, die unterschiedslos gegen Liberale wie Radikale gerichtet waren; oder Proteste gegen die unerhörte Hinrichtung von Sacco und Vanzetti 448 ; oder die Unterstützung des Textilarbeiterstreiks in Passaic 449 ; oder Hilfsaktionen zugunsten der jungen Sowjetrepublik; oder Bemühungen zur Gründung einer Farmer-Labor Party, 450 die alle liberalen und radikalen Gruppen gegen die Unterdrücker des Volks vereinen sollte. Hinter solchen politischen Bündnissen stand eine tiefe, diejenigen Schriftsteller vereinende Bindung, die — jeder auf seine Weise — eine Literatur über das Leben des amerikanischen Volkes schaffen wollten in seiner, ihm eigentümlichen Sprache, vor dem eigenen Hintergrund, und beseelt von einem Glauben an die möglichst weitreichende Art von Demokratie. Doch die individualistische Tradition amerikanischer Schriftsteller war so stark, daß nicht einmal die radikalsten zu der Zeit bereit waren, in einer Schriftstellervereinigung tätig zu werden. Europäische Intellektuelle, die vom Kriege unmittelbarer betroffen waren, empfanden anders. Sie spürten, daß die westliche Kultur in eine heftige Krise geraten war, und suchten Organisationen zu ihrer Bewahrung zu schaffen. Eine solche Organisation wurde 1919 in einer von Romain Rolland entworfenen Unabhängigkeitserklärung des Geistes451 vorgeschlagen; das Dokument wurde u. a. unterzeichnet von Jane Addams, Ellen Key, Stefan Zweig, Selma Lagerlöf, Henri Barbusse, Bertrand Russell und Israel Zangwill. Amerikanische Schriftsteller wurden aufgefordert, sich dieser Gruppe anzuschließen, doch der gesamte Versuch kam zum Stillstand, bevor ernsthafte Ergebnisse erzielt wurden. Das Problem der Unabhängigkeitserklärung des Geistes war ihre völlig abstrakte und idealistische Ausgangsbasis. Sie betonte die Trennung des Geistes von jeglicher sozialen Wirklichkeit ohne Unterschied. Das Denken sollte von seiner Unterwerfung unter jede Art politischer oder sozialer Kaste, Staat, Nationalismus, Klasse oder Partei befreit werden; Denker und Künstler sollten für die gesamte Menschheit arbeiten, nicht für Völker, sondern „für d a s Volk — das einzige, weltweite — das Volk aller Menschen". Um diese brüderliche Gemeinschaft allen bewußt zu machen, wurden die Intellektuellen der Welt aufgefordert, die Bundeslade — „den befreiten Geist, den einen und vielfaltigen, den ewigen" — über die blindwütigen Kämpfe der Menschen zu erheben. Mit einem Wort, der Schriftsteller wurde aufgefordert, sich auf eine Ebene oberhalb 348
des Kampfes zurückzuziehen, doch sollte er es diesmal, um der Angst vor der Einsamkeit zu entgehen, in Gemeinschaft tun. Im Jahre 1919 organisierte Henri Barbusse eine weitere Gruppe von Intellektuellen, die sich Ciar té452 nannte, „eine Liga der geistigen Solidarität für den Sieg der internationalen Sache". Auch diese Gruppe forderte vergeblich zur amerikanischen Beteiligung auf. Doch Clarté brachte es in Frankreich zu Leben und Wirksamkeit. Erst einmal unterschied sie sich von Rollands Internationale der Denker und Schriftsteller dadurch, daß sie soziale Realitäten berücksichtigte; anstatt den abstrakten Geist von den Konflikten der Menschen befreien zu wollen, forderte sie ausgebildete Intellektuelle auf, am Kampf teilzunehmen und ihre Geistesgaben in den Dienst der fortschrittlichsten Kraft in diesem Kampfe zu stellen. Sie unterstützte ausdrücklich die Arbeiterklasse und die Kommunistische Internationale. Um 1921 gab Clarté seinen Anspruch, eine „Internationale des Geistes" zu sein, auf und erklärte sich zu einem „Zentrum internationaler revolutionärer Erziehung". Die Ziele dieser Gruppe erläuternd, sagte Barbusse, daß „wir es als unsere Aufgabe betrachten, das Gedankengut unserer Zeitgenossen zu untersuchen und die Begriffe, die sie sich von den vergangenen wie gegenwärtigen historischen Ereignissen machen, zu überprüfen, um sie zu korrigieren und in ihrem wahren Licht darzustellen". Er und seine Gefährten hatten die strapazierte Unterscheidung von Geistes- und Handarbeitern längst aufgegeben. Sie wußten sehr wohl, daß ein Verständnis der Dinge, die klare und einfache Auffassung von Grundsätzen und deren praktischer Verwirklichung kein Monopol derjenigen war, die auf Grund ihres Berufes oder ihrer Ausbildung Intellektuelle genannt werden konnten. Die C/ar/e-Bewegung war, wie Barbusse behauptete, notwendig, weil es in der gegenwärtigen Welt ein riesiges und phantastisches Mißverhältnis zwischen der Meinung der breiten Masse und der rationalen Wahrheit über die Interessen dieser Masse gibt. Es war das Ziel von Clarté, die Wahrheit allen deutlich zu machen, Fehler und Irrtümer überall zu korrigieren. Beide, die von Barbusse gegründete Gruppe und die Rollands, waren für die Besorgnis, die europäische Schriftsteller sich um die Zukunft der Kultur in einer vom Kriege zerrütteten Welt machten, wie für das Verlangen, den Kräften des Fortschritts gegen die Kräfte der Reaktion zu helfen, symptomatisch. In Amerika ließ das literarische Interesse an solchen Problemen im Laufe der zwanziger Jahre nach. Der Mittelschicht angehörende Schriftsteller genossen die Früchte des Nachkriegswohlstandes. Sie waren enttäuscht vom Versailler Vertrag, der ihnen zurecht jais Wilsons Verrat an der Demokratie erschien, und von der Neuen Ökonomischen Politik in Rußland, die ihnen zu unrecht als Lenins „Verrat" am Sozialismuß erschien. Der Politik den Rücken kehrend, wandten sie sich naturalistischen Schilderungen der amerikanischen Szene zu, ästhetischen Experimenten in den Hauptstädten Europas und, unter der Führung Freuds und Joyce' stehend, der literarischen Ausbeute des Unbewußten. Da sie von der Politik enttäuscht waren, gaben die meisten Schriftsteller ihren Glauben an den sozialen Fortschritt und ihr Verantwortungsgefühl dafür vollständig auf. 349
Dann explodierte die Wirtschaftskrise wie eine riesige Bombe in allen Teilen des Landes. Zeitungen, Zeitschriften, Verlage und Theater schlössen; die Schriftsteller fürchteten Arbeitslosigkeit; und selbst diejenigen, die weiter wirtschaftliche Sicherheit genossen, waren außerstande, weiter an jene Illusionen zu glauben, die sie während der großen Konjunktur gehegt hatten. Unsere literarische Welt wurde aus ihrer Lethargie gerüttelt. Lyriker begannen Ökonomie zu studieren, und Romanciers veröffentlichten politische Essays. Und gerade zu dieser Zeit zeigte der von Lenin „verratene" Sozialismus unter Stalin seine ersten großen wirtschaftlichen Erfolge. Unter den amerikanischen Schriftstellern begann sich Zweifel an den weiteren Möglichkeiten des Kapitalismus und damit ein Interesse an den Möglichkeiten des Sozialismus zu verbreiten. Zahlreiche Schriftsteller, die bislang Ökonomie und Politik wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten, fingen nun an, marxistische Literatur mit typisch amerikanischer Geschwindigkeit zu verschlingen. Und unter dem Druck von Ereignissen, die für die Mehrzahl von ihnen völlig unerwartet gekommen waren, bildeten sie nun Organisationen für ein gemeinsames Handeln sowohl auf dem Gebiete der Literatur als auf dem der Politik. Linke Gruppen und Zeitschriften entstanden, die sich mit Theater, Film, Tanz, mit Literatur und Malerei befaßten; Schriftsteller und Künstler organisierten in führenden Städten Großveranstaltungen, um die Wirtschaftskrise, die Politik der Hooverregierung, das Versagen der Banken, die Erschießung von Lohnerhöhung fordernden Demonstranten, den Marsch bewaffneter Farmer zum Schutz ihrer Heime, die Arbeitslosendemonstrationen, das Massaker der Fordarbeiter, den Erfolg des Fünfjahrplanes in der Sowjetunion, den Niedergang der Kunst im Kapitalismus und ihre Möglichkeiten im Sozialismus zu diskutieren. In der Presse erschienen zahllose Debatten über proletarische Literatur, und eine neue Generation amerikanischer Schriftsteller kam zum Vorschein, die in Dichtung, Prosa, Kritik und Drama eine lebensvolle Darstellung der kapitalistischen Gesellschaft brachte. Die Krise hatte alle lebenswichtigen Punkte der Existenz des Schriftstellers berührt. Sie hatte seinen vorher gesammelten Vorrat an Ideen, seine Haltungen und Überzeugungen zerstört; sie hatte ihn, indem sie den Markt für Artikel, Bücher und Stücke beschränkt hatte, um sein früheres Publikum gebracht. Jetzt, da er sich auf die Linke zubewegte, fand er seine Kräfte wieder und verzehnfachte sie. Statt seiner toten Illusionen gewann er nun in der vordersten Reihe der Arbeiterbewegung einen genaueren Einblick in die Wirklichkeit. Er nahm Gedanken, Haltungen, Überzeugungen auf, die von seiner tatsächlichen Erfahrung getragen wurden. Er fand auch ein neues Publikum, das teils aus Arbeitern bestand, die sich ihrer geschichtlichen Rolle bewußt waren und teils aus enttäuschten Angehörigen des Mittelstandes, die sich auf eine als notwendig erkannte Vereinigung mit den Arbeitern zubewegten. Dieses Publikum ermöglichte es dem Schriftsteller, die für die Kunst unerläßliche Integrität zu finden. Er war nicht mehr gezwungen, die Wahrheiten über die gegenwärtige Welt, die er beobachtete, oder jene Möglichkeiten einer neuen Welt, die er sich jetzt vorstellte, zu ver350
bergen. Und wie immer in lebendiger Literatur hatten die Lesenden von den Schreibenden, die sie selbst unterrichtet, gelernt. Die von der Krise in Bewegung gesetzte literarische Linke brachte vernachlässigte Aspekte aus dem Leben des amerikanischen Volkes zum Vorschein und neue Ideen in Umlauf. Schriftsteller schilderten nun das Leben amerikanischer Arbeitsloser in einem in unserer Geschichte noch nicht dagewesenem Maße. Andere setzten die Tradition der zwanziger Jahre fort und beschrieben das Leben der Mittelklasse. Doch es war eine veränderte Mittelklasse, über die sie schrieben — eine Mittelklasse, die vom Monopolkapital unbarmherzig ausgebeutet worden war, teilweise verarmt, teilweise in die Reihen des Proletariats getrieben und zu großen Teilen vom bestehenden Zustand bitter enttäuscht. Die Schriftsteller näherten sich dieser gewandelten Mittelklasse von einem Gesichtspunkt, der das Wesen sozialer Klassen und ihr Schicksal in einer Epoche von Kriegen und Revolutionen berücksichtigte. Doch kaum war diese literarische Bewegung entstanden, als ein neues Ereignis in unserer sich schnell wandelnden Zeit eine noch größere Anzahl von Schriftstellern, die noch nicht bereit waren, den Sozialismus zu akzeptieren, tief beeindruckte. Man kann nur hoffen, daß Gewohnheit die Erinnerung an jene Frühjahrstage 1933, als die Nazis in Deutschland zur Macht gelangten, noch nicht abgestumpft hat. Der durch dieses Ereignis ausgelöste Schock war unter den Intellektuellen besonders stark, weil sie wußten, daß, obwohl Deutschland ein entwickeltes Land war, sich die barbarischste Verfolgung nicht nur gegen die revolutionäre Arbeiterklasse, Kommunisten und Sozialisten, richtete, sondern mit gleicher Brutalität gegen der Mittelschicht angehörende Liberale, Demokraten und Pazifisten. Sie beobachteten, wie eine Orgie des Sadismus auf die Intellektuellen herniederging, wie Bücher voller Wut öffentlich verbrannt wurden; sie lasen davon, wie Deutschlands beste schöpferische Geister in Exil und Armut getrieben wurden, lasen von den Konzentrationslagern, in die Schriftsteller massenweise gepfercht wurden, wenn sie sich nur der geringsten demokratischen Äußerung schuldig machten. Während einige Amerikaner sich selbst einredeten, daß das hier nicht passieren könnte, waren sich unsere besten Schriftsteller wie die intelligentesten unserer Arbeiter und der Mittelklasse bewußt, daß ein neuer Abschnitt zeitgenössischer Geschichte begonnen hatte, der möglicherweise auch an uns nicht vorübergehen würde. Nicht nur, daß der Faschismus die Kultur auf seinem eigenen Territorium zerstörte; er schickte sich an, die Welt in einen Krieg, weit zerstörerischer und schrecklicher als der von 1914, zu stürzen. Sie mußten auch feststellen, daß, während diese Vorbereitungen im Gange waren, die Ideologien des Faschismus in den Vereinigten Staaten auf so bedrohliche Weise an Boden gewannen, daß, wenn sie nicht rechtzeitig aufgehalten würden, unser Land in einen Zustand der Reaktion gestürzt würde. Vor diesem Hintergrund trat der erste Kongreß amerikanischer Schriftsteller im Frühjahr 1935 zusammen. Dieser Kongreß umschloß die beiden Tendenzen in der amerikanischen Literatur, die während der zwanziger Jahre die demokra351
tische Tradition — die eine der liberalen, die andere weiter der marxistischen Linie folgend — vorangetragen hatten. Einige der Teilnehmer waren Kommunisten; andere erklärte Sprecher für die Mittelklasse. Die Position der letzteren wurde am treffendsten von Malcolm Cowley definiert, als er vor dem Kongreß erklärte: „Ich bin kein proletarischer Schriftsteller und ich zweifle, ob ich je ein proletarischer Schriftsteller werde. Durch meine Herkunft, meine Familie und meine Erziehung gehöre ich gleichermaßen im strengen Sinne der Mittelklasse an. Man könnte mich als einen in hohem Maße klassenbewußten kleinbürgerlichen Kritiker bezeichnen. Doch ich glaube, daß die Interessen meiner eignen Klasse eng mit denen des Proletariats verbunden sind, und ich glaube, daß vor allem Schriftsteller von diesem Bündnis profitieren können." 453 Was die amerikanischen Schriftsteller unterschiedlicher Herkunft im Jahre 1935 zu gemeinsamer Aktion verband, wurde in dem Aufruf zu dem Kongreß wie folgt formuliert: „Wir stehen vor zwei Arten von Problemen: erstens, den Problemen wirksamer politischer Aktion. Die Gefahren von Krieg und Faschismus sind überall offenbar; wir alle können die ständige Entwicklung der Völker zum Krieg und die Verwandlung sporadischer Gewalt in organisierten faschistischen Terror mitansehen. Die Frage lautet: Wie können wir am erfolgreichsten gegen diese beiden Bedrohungen wirken? Zweitens sind da die Probleme, die besonders uns als Schriftsteller betreffen, Probleme, wie wir in unserem Schaffen das neue Verständnis der amerikanischen Position, das aus unserer Beteiligung an der revolutionären Sache erwachsen ist, darstellen. Der Welt Stent eine neue Renaissance bevor ¡jeder Schriftsteller hat die Gelegenheit, sowohl die neue Lebensart als den revolutionären Weg zu ihrer Erreichung zu verkünden." 454 Dieser erste Schriftstellerkongreß hat eine ständige Organisation, die League of American Writers, gegründet. Er hat auch eine Anthologie linksgerichteter Arbeiten Proletarian Literature in the United States455 hervorgebracht. Der Titel war allzu eng gefaßt, um den Inhalt dieses Bandes anzuzeigen. Was er in Wirklichkeit darstellte, war ein zusammenfassender Überblick der neuen Kräfte in der amerikanischen Literatur. Von den über sechzig Autoren, die Beiträge lieferten, waren die meisten Schriftsteller der Mittelklasse, die sich mit der Arbeiterklasse verbündet hatten, und daher das Leben aller Klassen von einem neuen Gesichtspunkt aus betrachteten. Sie waren nach persönlichem Temperament und Begabung so unterschiedlich wie Clifford Odets, Josephine Herbst, Horace Gregory, Robert Forsythe, Langston Hughes, Granville Hicks und Michael Gold — um nur eine beliebige Auswahl von Namen zu nennen. Sie haben sich in der amerikanischen Literatur einen unumstrittenen Platz erworben. In dieser Hinsicht bedeutete die Anthologie, genau wie der Kongreß, einen wichtigen Schritt in der amerikanischen Literatur. Sie konzentrierte und richtete die Aufmerksamkeit auf Talente, die einer neuen Richtung Gestalt verleihen sollten, sowie auf einen Standpunkt, der den fortgeschrittensten Bestrebungen der Epoche entsprach. Die jüngeren Schriftsteller hatten in großartiger Weise den Forderungen des Jahrzehnts entsprochen; doch auch ältere hatten gelernt. Es war ein weiter Weg 352
von der Unabhängigkeitserklärung des Geistes zu jenem Romain Rolland, der im Jahre 1935 an den Ersten Amerikanischen Schriftstellerkongreß schrieb: „Wir in Europa und Sie in Amerika müssen unsere Bemühungen vereinigen. Ich begrüße eine Bewegung, die nicht nur an der notwendigen sozialen Aktion zur Neuordnung der Welt auf breiteren und gerechteren Grundlagen teilnehmen wird, sondern auch an der Aktion zur Erneuerung des menschlichen Geistes und der darauffolgenden Wiedergeburt der Kunst." Der Kongreß von 1935 nahm die drohende Gefahr von Krieg und Faschismus zum Ausgangspunkt seiner Diskussionen und seines Programms. Die beiden darauffolgenden Jahre ließen diese Gefahren nur realer und bedrohlicher werden. Drei Kriege wurden in dieser kurzen Zeit, alle drei von faschistischen Mächten, geführt. Äthiopien, Spanien und China — die alle drei grausam überfallen wurden — stehen als blutige Warnung vor noch finsterern Geschehnissen, wenn der Faschismus nicht zerstört wird. Alles Humanen beraubt, übertrifft der Faschismus die barbarischsten Abschnitte der Geschichte. Ohne daß Kriege erklärt wurden, werden Bomben auf Zivilisten wie Soldaten, Frauen wie Männer, Kinder wie Erwachsene geworfen. Der vom Faschismus der Welt angedrohte Krieg ist keine Sache der Zukunft mehr; er ist da — die schreckliche Frucht des im Niedergang begriffenen Kapitalismus. In Europa und im Fernen Osten stehen sich die Heere des Fortschritts und der Reaktion offen gegenüber. Die Faschisten und überall beheimateten Kriegstreiber richten ihre organisierte Bestialität nicht nur gegen die Kommunisten. Hitler, Mussolini und die japanischen Imperialisten haben der Welt eine schreckliche Lektion erteilt. Sie haben nicht nur Kommunisten und Sozialisten, sondern auch Liberale, Pazifisten, Gewerkschaftler, Intellektuelle ermordet, ins Gefängnis gebracht, ins Exil getrieben. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Kommunismus haben die faschistischen Regierungen die Demokratie zerschlagen. Andererseits haben Frankreich und Spanien der Welt eine eindrucksvolle Lektion gegenteiliger Natur erteilt. Dort haben die Liberalen, Pazifisten, Gewerkschaftler und Intellektuellen den Kommunisten und Sozialisten in einer Volksfront zur Erhaltung und Ausweitung der Demokratie die Hand gereicht. Unter dem Ansturm schrecklicher Ereignisse begriffen sie, daß der Faschismus zerschlagen werden muß, bevor wir an eine Neuordnung der Gesellschaft nach humaneren und zivilisierteren Grundsätzen, als sie der Kapitalismus heute anzubieten vermag, denken können. Das ist ein Problem, vor dem nicht nur die Völker Europas und des Fernen Ostens stehen. Seit dem Bürgerkrieg von 1861 hat das amerikanische Volk sich keinem so tiefgehenden Konflikt zwischen den Kräften des Fortschritts und der Reaktion gegenüber gesehen. Die reaktionärsten Kreise des Finanzkapitals, der Wallstreet drängen auf Faschismus und Krieg. Nicht bereit, der Mehrheit des amerikanischen Volkes in dieser Stunde fortgesetzter wirtschaftlicher Not die geringsten Zugeständnisse zu machen, möchten diese Reaktionäre der Krise in unserem nationalen Leben durch einen direkten und gewalttätigen Angriff auf die Rechte und Interessen des Volkes begegnen. Die reaktionären Interessen23
New York 1935/37
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Vertreter, die die Arbeiterlöhne beschneiden und den armen Farmer um sein Land bringen wollen, wollen auch eine faschistische Ordnung begründen und unser Land in einen Krieg stürzen. Sie greifen den Status der Geistesarbeiter und Intellektuellen an, kämpfen um die Vernichtung der WPA-Projekte im kulturellen Bereich456 und vergiften Presse, Radio, Film und Zeitschriften mit Falschmeldungen, die zu enthüllen für einen jeden ehrlichen Autor ein echtes Bedürfnis sind. Doch es gibt einen Gegenstandpunkt und eine Gegenkraft. Sie will mit Hilfe einer breiten Volksfront die Regierungskontrolle für die Vertreter der Volksorganisationen wiederherstellen. Sie will den Lebensstahdard des Volkes wiederherstellen und erhöhen, die Gewerkschaften auf die Grundindustrien und alle Arbeiter und Geistesarbeiter ausdehnen, den Farmern das Besitzrecht an ihrem Land sichern, soziale und Arbeitsgesetzgebung festigen und ausweiten, demokratische Rechte und Bürgerfreiheiten aufrechterhalten und erweitern, den Mißbrauch des Gesetzesapparates zur Unterdrückung der Volksbewegungen abschaffen. Und diese, Arbeiter, Liberale, Mittelklasse, freiberufliche und radikale Gruppen umfassende Bewegung kämpft energisch für die Entwicklung einer großen amerikanischen Kultur. Sie unterstützt die Schriftsteller-, Künstler-, Musiker-, Schauspieler* und Lehrergewerkschaft; sie kämpft für die Beibehaltung und Ausweitung der WPA-Kunstprojekte; und sie bietet ein breites für das amerikanische Volk wahrhaft repräsentatives Publikum an, das denjenigen Schriftstellern, die die großen Wahrheiten unserer Epoche zu beobachten und zu übermitteln wissen, gern und begierig Gehör schenkt. Der Schriftsteller hat in der ersten Hälfte des gegenwärtigen Jahrzehnts die Wirkung dieser widerstreitenden Kräfte unmittelbar gespürt. Der Konflikt in Spanien hat ihn darüber hinaus zutiefst aufgewühlt. Die Armeen der Republik und die sie hinter den Linien unterstützenden Zivilisten umfassen Liberale, Anarchisten, Sozialisten, Katholiken, Republikaner und Kommunisten. Es handelt sich um eine Volksfront in Aktion, und ihr strömen von jedem Teil des Erdballs, aus anderen Ländern Männer zu, die bereit sind, ihr Leben zu opfern, um sie zu verteidigen. Das war der Hintergrund des zweiten Schriftstellerkongresses. Was die Schriftsteller denken, mit welchen Augen sie die Zukunft betrachten, ist aus diesem Band zu erfahren. Es gibt alle Anzeichen dafür, daß die amerikanische Literatur im Begriff ist, in eine neue Periode einzutreten. Diese vor sieben Jahren gegründete und heute breite Bewegung hat ihre erste Phase abgeschlossen; sie hat Werke hervorgebracht, deren Bedeutung mit der Zeit noch wachsen wird. Jetzt ist eine Pause für einen neuen Anstoß entstanden. Reifere und bedeutsamere Werke werden entstehen: die besten Schriftsteller sind mit einem Wissen, einer Erkenntnis ausgerüstet, die ihnen vorher fehlten. Auf sie wartet ein weltweites Publikum, das die Taten liefern wird, die sie feiern werden. In dieser neuen schöpferischen Periode werden diejenigen Schriftsteller, die mit den fortschrittlichen, jetzt in der ganzen Welt kämpfenden Kräften verbunden sind, eine bedeutsame Rolle spielen. 354
18 Henry Hart Diskussionen und Sitzungsberichte Der am 4., 5. und 6. Juni 1937 in New York City abgehaltene zweite nationale Kongreß amerikanischer Schriftsteller wurde von der League of American Writers (Liga amerikanischer Schriftsteller), der auf dem ersten Kongreß 1935 gegründeten Organisation, einberufen. Zu den Hauptzielen dieses zweiten Kongresses gehörte der Wunsch, die Liga derart auszuweiten, daß erstens a l l e n Schriftstellern die vor ihnen wie vor der Welt stehenden Probleme zum Bewußtsein gebracht werden können, wie auch die sich daraus ergebende Notwendigkeit des Zusammenschlusses; und zweitens, daß die Liga in höherem Maße zum Sprecher der Schriftsteller in allen Landesteilen der Vereinigten Staaten wird. Ein Aufruf zu einem solchen Kongreß wurde verbreitet und veröffentlicht, er trägt die Unterschrift zweiundzwanzig bekannter Schriftsteller, von denen einige, nicht alle, bereits den Aufruf für den Kongreß vor zwei Jahren unterzeichneten. Diese Schriftsteller sind: Newton Arvin, Van Wyck Brooks, Erskine Caldwell, Märe Connelly, Malcolm Cowley, Waldo Frank, Langston Hughes, James Weldon Johnson, Paul de Kruif, John Howard Lawson, Robert Morss Lovett, Archibald MacLeish, Claude McKay, Lewis Mumford, Clifford Odets, Vincent Sheean, Upton Sinclair, Donald Ogden Stewart, Genevieve Taggard, Jean Starr Untermeyer, Carl van Dören und Ella Winter. Alle Schriftsteller von Rang, „die sich generell zu unseren Zielen bekennen", wurden zur Teilnahme eingeladen. In dem Aufruf hieß es : 457 „Es gibt im heutigen Amerika Anzeichen einer literatischen Erneuerung, die der Periode von 1912—1916 — der Periode der .Wiedergeburt der Lyrik' 458 und der ,Revolte gegen die vornehme Tradition' 459 — gleichen oder sie sogar übertreffen mag. Diejenigen von uns, die sich noch der hoffnungsfreudigen Aktivitäten jener Jahre erinnern, werden sich auch noch erinnern können, wie sie durch den Krieg ein jähes Ende fanden. Und wir sehen, daß die Verheißung der dreißiger Jahre in noch entschiedenerer Weise bedroht ist. Die faschistischen Mächte versuchen dem übrigen Europa und schließlich der ganzen Welt ihr System aufzuzwingen. Japan, Deutschland und Italien befinden sich alle im Kriegszustand, ohne den Krieg erklärt zu haben. Nach den anfänglichen Scharmützeln in der Mandschurei und in Äthiopien ist Spanien der erste wirkliche Kriegsschauplatz eines Bürgerkrieges und internationalen Konfliktes, der sich mit Sicherheit anderenorts wiederholen wird. Wenn man die Faschisten in Spanien siegen läßt, so werden Frankreich oder die Tschechoslowakei oder die Sowjetunion wahrscheinlich die nächsten sein, die einen Angriff erleiden. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie sich die Vereinigten Staaten aus dem Krieg heraushalten können, wenn er einmal im Weltmaßstab begonnen hat. Und sogar für die Schriftsteller steht bei weitem mehr auf dem Spiel als eine bloße literarische Erneuerung. Spanien beweist uns — oder vielmehr sind es 23*
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Mussolini und Hitler und Franco, die es uns in Spanien beweisen —, daß Kunstgalerien, Bibliotheken, Museen, Archive, Forschungslaboratorien, alle Kulturdenkmäler und -einrichtungen zusammen mit den Gelehrten, Wissenschaftlern und dem Publikum, für das sie da sind, der Zerstörung unterworfen sind. In unserem eigenen Land fürchtet sich der Faschismus noch, eine Uniform zu tragen. Es hat gegen ihn einen beeindruckenden Zusammenschluß aller für die Demokratie eintretenden Kräfte gegeben. Die amerikanische Arbeiterschaft — die stärkste dieser Kräfte — organisiert sich wirklich zum ersten Mal. Und diese Wiedergeburt der amerikanischen Arbeiterbewegung hängt mit neuen Ansätzen in der Literatur zusammen — nicht wie Ursache und Wirkung, sondern eher wie zwei parallele Erscheinungsformen derselben progressiven Kräfte. Doch es gibt Widerstände gegen das Wachstum der Arbeiterbewegung, und es wird sie geben. Dje Bankiers und Industriellen werden sich erbittert mühen, die Kontrolle über das amerikanische Leben zu wahren. Sie haben dazu die Hilfe der Gerichte, sie werden die Miliz auf den Plan rufen, sie haben die Zeitungen, die ihnen bei der Formung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung helfen. Der Faschismus wird gefördert und finanziert werden als wirksames Mittel, „die Arbeit auf den .zugewiesenen' Platz zu verweisen". Selbst den Krieg wird man als bestes Mittel, Streiks zu brechen nutzen, und er ist bereits dazu benutzt worden. In einem faschistischen Regime wird es der Literatur nicht besser ergehen als der Arbeiterschaft. Der Faschismus ist gegen die persönlichen und die beruflichen Interessen der Schriftsteller. Er bedeutet Zensur, er bedeutet die Ersetzung von Ideen, die das Arbeitsmaterial des Schriftstellers sind, durch Dogmen. Er bedeutet, daß die Ökonomie der Sparsamkeit460 auf die geistige Welt wie auf die Geschäftswelt angewandt wird, so daß das für Bücher und Theaterstücke in Frage kommende Publikum — das bereits jetzt zu klein ist — weiter durch willkürliche Beschränkung reduziert wird. Und der Faschismus bedeutet eine strengere Trennung zwischen den sozialen Klassen und das Ende für Entfaltungsmöglichkeiten, wie sie dem Talent heute noch offenstehen. Das ist eine die Schriftsteller unmittelbar angehende Frage. Wachstum und Verbreitung von Muße, Wohlstand, Geschmack, Bildung sind — bis sie das ganze Volk erreichen — den Schriftstellern sowohl individuell wie auch als Berufsgruppe nützlich. Die Interessen der Schriftsteller sind mit denen der großen Zahl derer, die ihre potentielle Leserschaft ausmachen, identisch. Überdies wurde die Literatur stets durch die Widerspiegelung sozialer Hoffnungen und Leidenschaften ihrer eigenen Zeit bereichert. Das ist das historische Privileg der Freiheit und Größe unserer Literatur. Wir tragen diese Gedanken nicht als unveränderliche Theorien vor, die bei Strafe der geistigen Exkommunizierung zu akzeptieren sind. Wir glauben im Gegenteil, daß sie unter den Schriftstellern so offen und breit wie möglich diskutiert werden sollten. Wir glauben, daß zahlreiche andere Gedanken, die technische und 356
berufliche Probleme betreffen, gleichzeitig diskutiert werden sollten. Und das ist einer der Gründe, warum wir Einladungen für einen nationalen Kongreß amerikanischer Schriftsteller verschicken. Solch ein Kongreß ist seit langem mehr als fallig. Seine Notwendigkeit fand bereits in den Regionalkongressen der Schriftsteller des Mittelwestens und Westens Ausdruck. 461 Andere Schriftsteller, die auf regionaler Ebene zusammenkamen, stimmten darin überein, daß solche Bemühungen auf nationaler Ebene zu vereinen sind, und die Liga amerikanischer Schriftsteller befürwortet daher den Kongreß. Als eines seiner Ergebnisse hoffen wir auf die Gründung einer nationalen Organisation amerikanischer Schriftsteller. Als Ziele einer solchen Organisation schlagen wir vor: „Erstens ein Zentrum zu schaffen für die kulturellen Aktivitäten amerikanischer Schriftsteller überhaupt sowie eine Verbindung zwischen alters- und ortsmäßig jetzt getrennten Schriftstellern. Zweitens vermittels Diskussion literarischer Probleme zur Hebung der kulturellen Standards beizutragen. Drittens Vorlesungen und Konferenzen zu veranstalten sowie eine Zeitschrift herauszugeben. Viertens freundschaftliche Beziehungen zu den Schriftstellern anderer Länder zu unterhalten durch Kontaktaufnahme mit deren Organisationen wie auch durch Förderung von Übersetzungen wichtiger Werke. Fünftens jene politischen und sozialen Institutionen zu verteidigen, die für den Frieden eintreten und eine gesunde Kultur unterstützen — und insbesondere die demokratischen Rechte auf Bildung, Denk- und Redefreiheit zu verteidigen. Sechstens ein Bündnis zum Schutze der Kultur zwischen amerikanischen Schriftstellern und allen progressiven Kräften der Nation zu schließen." Der Kongreß wurde am Freitagabend, dem 4. Juni, mit einer großen öffentlichen Veranstaltung in der Carnegie Hall eröffnet. Selbst die obersten Plätze waren besetzt, die Leute standen, und eintausend wurden abgewiesen. Botschaften trafen aus allen Teilen der Welt ein, von denen einige an dem Abend von dem gewählten Vorsitzenden Archibald MacLeish verlesen wurden. „Da es mir leider unmöglich ist, dieser bemerkenswerten Zusammenkunft amerikanischer Schriftsteller persönlich beizuwohnen", schrieb Albert Einstein, „möchte ich meine Überzeugung hinsichtlich der Bedeutung des von Ihnen beabsichtigten Kongresses schriftlich mitteilen. Die schwersten Schäden für das geistige Leben Deutschlands und Italiens hätten zweifellos vermieden werden können, wenn geistige Führer mit hohem Verantwortungsbewußtsein bereit gewesen wären, unseren wertvollsten Besitz, das kulturelle und moralische Erbe, gegen den Angriff einer gewissenlosen und machtgierigen Minderheit zu verteidigen. Es ist nicht nur eine entschlossene Verteidigung der Bürgerfreiheit (die stets untrennbar mit den Grundsätzen der Demokratie verbunden ist) notwendig, sondern nicht weniger wichtig scheint mir die Bildung einer wirksamen 357
Solidarität der schöpferischen Geister, um die Unterdrückung der Rede- und Schreibfreiheit durch die verschiedenen Wege des wirtschaftlichen Zwanges und der wirtschaftlichen Abhängigkeit zu verhindern. In den erwähnten Unterdrükkungen liegt für meine Begriffe das schwerste Hindernis für eine gesunde geistige Entwicklung. Zum Glück gibt es in diesem Land noch starke Kräfte, um die Freiheit und die individuelle Unabhängigkeit zu schützen. Mögen Ihre vereinten Bemühungen alle jene Anstrengungen schützen und fördern, die die Gerechten und Vorurteilslosen dieser Welt dessen für würdig erachten." 4 6 2 Thomas Mann übersandte telegraphisch die „besten Wünsche und meine ganze Sympathie" 4 6 3 , und aus Madrid traf folgendes Fernschreiben ein: „Die die Weltdemokratie in Spanien verteidigenden militanten Schriftsteller in der Internationalen Brigade grüßen den Kongreß amerikanischer Schriftsteller. Es ist eines Schriftstellers Pflicht, für die Demokratie zu kämpfen; der Faschismus ist der Feind der Freiheit des Künstlers. In Spanien haben die Faschisten Garcia Lorca ermordet und die Nationalbibliothek in Madrid bombardiert. Unterstützt unseren Kampf auf dem Schlachtfeld, Kollegen amerikanische Schriftsteller, mit all eurer Kraft in Werk und Wort. Salud!" Dieses Schreiben trug die Unterschrift von Ralph Bates, Ludwig Renn, Gustav Regler, Hans Marchwitza und Alfred Kantorowicz. Sylvia Townsend Warner schrieb aus England: „Ich begreife Ihr Anliegen, eine Einheitsfront der Schriftsteller gegen den Faschismus zu bilden. Wenn Sie ernsthafte Künstler sind, so können Sie in der Tat nicht anders handeln. Wir erleben gegenwärtig, wie der Faschismus nicht nur unfähig ist, jede Art von Kunst und Kultur hervorzubringen, sondern wie er auch mit der Boshaftigkeit des Unfruchtbaren Kunst und Kultur, wo immer sie existieren, zu vernichten trachtet. Mit unentrinnbarer Konsequenz geht Nazideutschland, das Land, das Bücher verbrannt und Künstler ins Exil geschickt hat, dazu über, Guernica zu bombardieren, eine offene Stadt ohne jede militärische Bedeutung, ein Denkmal alter Kultur des Baskenvolkes. Doch wir würden unseren Gegner unterschätzen, wenn wir annehmen würden, der Faschismus bedrohe nur die Werke der Kunst und Kultur. Der Faschismus zerstört den Stoff, aus dem Kunst und Kultur geschaffen sind, zerstört die Integrität der menschlichen Natur, korrumpiert den Wert jedes Handelns, Fühlens und Denkens. Als Vertreter der Humanität und als Treuhänder menschlicher Erfahrung müssen wir Dichter und Schriftsteller den Faschismus bekämpfen. Nicht nur mit verbrannten Büchern, zerstörter Wissenschaft, verfolgten Künstlern wird der Stoff der Kunst, der Grundlage der Kultur Gewalt angetan, sondern mit jedem unterdrückten Arbeiter, mit jedem reglementierten Kind, mit jedem gewöhnlichem Bürger, der gezwungen wird, eine Weltanschauung der Brutalität und des Militarismus zu unterschreiben." Als C. Day Lewis die Grüße der britischen Sektion der Internationalen Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur (von der die Liga amerikanischer Schriftsteller die amerikanische Sektion ist) übermittelte, fügte er hinzu: „Wir 358
erwarten von Ihrem Land mit seiner großen demokratischen Freiheitstradition zuversichtlich Sympathie und Unterstützung in dem Kampf (gegen den Faschismus), der für die englischen Schriftsteller täglich lebenswichtiger zu werden scheint." Ernst Toller schrieb aus Kalifornien : 464 „Liebe Freunde: Ich danke Ihnen für die freundliche Einladung, an dem Nationalen Kongreß der Liga der Amerikanischen Schriftsteller teilzunehmen. Unglücklicherweise machen es mir die Umstände unmöglich, gerade jetzt nach New York zu kommen. Gestatten Sie mir, auf diesem Wege meine aufrichtigen Wünsche zu übermitteln zusammen mit der Versicherung, daß ich die Arbeit des Kongresses mit höchstem Interesse verfolge. Es gab eine Zeit, in der man eine Grenze zwischen einer künstlerischen und einer menschlichen Aufgabe zog, aber es gibt keine solche Trennung. Für uns bedeutet Schreiben nicht nur Form und Stil, es bedeutet Charakter. Mit anderen Worten, die moralische Auffassung des Schreibens hat für uns wieder einmal eine zentrale Bedeutung angenommen. Wir wissen, daß wir nicht so sehr durch Schönheit, sondern durch Notwendigkeit dazu getrieben werden. Wir wissen, daß es unsere Aufgabe ist, in unseren Werken diese Notwendigkeit zu verkörpern, um die Wirklichkeit davon zu befreien. Wir erkennen, daß diese Notwendigkeit von zweierlei Art ist: einmal die Notwendigkeit, die das Leben uns auferlegt — die des Todes als eines unausbleiblichen Schicksals, zum andern die nutzlose Notwendigkeit, die nur die Folge unserer Gesellschaftsordnung ist. Die Ereignisse des letzten Jahrzehnts und besonders der letzten Jahre haben jeden denkenden Schriftsteller zu der Überzeugung gebracht, daß er nicht länger in seinem Elfenbeinturm eingeschlossen bleiben kann, der jahrzehntelang das Ideal der Künstler war. Das Schicksal der Gesellschaft ist unlösbar mit dem Schicksal der Literatur verbunden. Es genügt nicht, die Verehrung für Freiheit und Gerechtigkeit in allgemeinen Ausdrücken zu betonen. Ein Schriftsteller muß sich konkreten Situationen stellen und sich selbst ausdrücklich dafür oder dagegen erklären. Er muß seinen Feind erkennen und dessen Methoden kennenlernen, denn sonst ist er unfähig, ihn zu bezwingen oder zu bekämpfen. Einen Arzt, dem alle Kenntnis des menschlichen Organismus fehlt und der doch die Kühnheit besitzt, diesen Organismus zu behandeln, nennen wir einen Kurpfuscher; warum sollten wir nicht einen Schriftsteller, der in Romanen oder Dramen sich mit sozialen Problemen befaßt, obwohl er keine klare Vorstellung von der Gesellschaft hat, einen Pfuscher nennen? Er, der ein Lehrender sein will, muß zuerst ein Lernender sein. Sonst kann er nicht die Entwicklung seines Volkes und der gesamten Menschheit beeinflussen. Gegenwärtig steht die Welt vor dem Kampf zwischen zwei großen Mächten: Faschismus und Demokratie, letztere in politischer und ökonomischer Gestalt. Der Faschismus macht aus dem Schriftsteller einen Sklaven des Diktators. Sein 359
Werk ist nicht dafür gedacht, dem Humanismus zu dienen, es soll die einfaltigen Vorstellungen des Diktators rechtfertigen; es bildet einen Teil des materiellen Rüstungsprogrammes; es soll die Täuschung und Blindheit des Volkes vergrößern und soll die Begleitmusik ,auf der Leier' zu jeder barbarischen Tat darstellen. Die Literatur verliert ihre Würde, und der Schriftsteller begeht das größte aller intellektuellen Verbrechen, ,die Sünde wider den Geist'. Es gereicht den deutschen Schriftstellern zur Ehre, daß die besten unter ihnen den tödlichen Drohungen Hitlers widerstanden. Männer wie Erich Mühsam zogen einen schrecklichen Tod der Einwilligung vor. Männer wie Carl von Ossietzky können trotz jahrelanger Quälerei nicht dazu gebracht werden, die Ideen zu verraten, die sie vertreten. Ein Mann wie Ludwig Renn hat nach Jahren der Kerkerhaft in Nazi-Gefangnissen sich der Sache der Freiheit Spaniens verschrieben und kämpft heute in den Reihen der Spanischen Loyalisten. Hervorragende Autoren wie Thomas und Heinrich Mann teilen das Schicksal des freiwilligen Exils mit Dutzenden von deutschen Autoren, die an fremden Küsten jenem Deutschland dienen, das die Welt einst kannte und verehrte. Hitler kennt die magische Kraft des Wortes, und er benutzt jene Kraft in der Gestalt von Lügen. Aber er zittert vor der Macht der Wahrheit. Das ist der Grund, warum heute die Werke der großen deutschen Humanisten wie Goethe und Lessing ,gereinigt' werden. Doch nicht einmal Hitler kann den spontanen Beifallsausbruch des Berliner Volkes verhindern, als unlängst bei einer Aufführung von Schillers Don Carlos der edle Ruf nach Gedankenfreiheit ertönte. Der Faschismus ist der Feind jeder hellen und gerechten Zukunft. Er ist unser gemeinsamer Feind. Der Faschismus bedroht nicht nur das Volk, das unter ihm lebt, er bedroht das Schicksal aller Völker, wie das offenkundige Beispiel Spaniens zeigt. Die Verantwortlichkeit des modernen Schriftstellers wächst von Tag zu Tag. Es ist seine Verpflichtung, trotz aller Feindseligkeiten die Wahrheit zu verkünden. Mut allein führt zur Wahrheit. Wenn wir an die Macht des Wortes glauben — und wir glauben daran —, dann haben wir nur zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen: Wir können entweder Hammer oder Amboß sein. Wenn wir nicht der Vernunft zum Sieg verhelfen, werden wir selbst Opfer der Unvernunft sein. Lassen Sie uns unermüdlich bleiben in unserm Kampf gegen die Verwirrung des Geistes, die täglich listig und vorsätzlich durch die Vergifter der öffentlichen Meinung, die sich selbst Minister für Propaganda und Aufklärung nennen, gefördert wird. Mit intellektueller Unredlichkeit mißbrauchen sie jedes Wort. Aus dem Wortschatz des Humanismus stehlen sie die edelsten Worte und bemächtigen sich ihrer für die Verfolgung von Treue und Glauben, für die Diskriminierung von Völkern und Rassen. Lassen Sie uns mithelfen, diesen Verrat an den Worten zu offenbaren, lassen Sie uns helfen, einen öffentlichen Urteilsspruch zu fallen, der diese Machenschaften verdammt und verdirbt. Wir können ein solches öffentliches Urteil jedoch nur schaffen, wenn wir in 360
engem Kontakt mit dem Denken und Fühlen des Volkes leben. Völker sind wie Bäume, sie wachsen, atmen und entwickeln sich. Wenn Ihre Ohren fein genug sind, könnten sie die Herzschläge des Volkes hören. Heute werden wir in Nazi-Deutschland und in jedem anderen faschistischen Land verfolgt. Wir wissen nicht, wo die Jagd morgen beginnen wird. Es gibt nur eines, was Sie tun können: Stehen Sie fest zu Ihren Überzeugungen. Haben Sie Mut. Bestätigen Sie sich selbst in jedem Wort, in jeder Tat. Verbannen Sie die Furcht, die erniedrigt und entmutigt. Wir freien deutschen Schriftsteller lieben Deutschland und hassen Hitler. Wir hassen ihn, weil er uns hassen gelehrt hat. Hitler ist n i c h t Deutschland! Und unsere Liebe für Deutschland ist nicht blind. Wir denken so wie Carl Schurz, einer der ,Achtundvierziger', den die Macht der Tyrannei aus Deutschland vertrieb und in die Vereinigten Staaten führte: ,Ist mein Land im Recht, dann wahre sein Recht; ist es im Unrecht, führe es ins Recht'". Paul de Kruif kabelte aus Michigan : „Zu meinem größten Bedauern muß ich bei diesem Ruf zu den Waffen im Kampf der amerikanischen Schriftsteller gegen das Lügensystem, Faschismus genannt, wie gegen das Symbol der Verzweiflung und des Todes, Nazismus genannt, fehlen. Dies ist ein Kampf, der die Einschreibung und Teilnahme jedes amerikanischen Schriftstellers erfordert, der diesen Namen verdient. Nieder mit den Systemen der Lüge und des Todes! Lang lebe der Kampf des Volkes für die Wahrheit, die allen Menschen das Recht zum Leben geben wird!" Und Upton Sinclair aus Kalifornien : „Die heutige Weltsituation ist so, daß jeder Mensch mit Gewissen, jeder Mensch mit Herz, jeder Mensch mit Verstand um die Sicherheit der Freiheit und Gerechtigkeit unter den Menschen besorgt sein muß. Gewissen, Herz und Verstand verbunden mit handwerklicher Fähigkeit und Übung machen den Schriftsteller. Daher begreife ich nicht, wie ein Schriftsteller, der diesen Namen verdient, gleichgültig bleiben kann gegenüber dem Kampf gegen die Kräfte des Faschismus und der Reaktion, die in Europa, Asien und Afrika alles zerschlagen, was das menschliche Leben über das eines Raubtiers erhebt. Vor zwanzig Jahren schrieb ich über ein Untier mit dem Gehirn eines Ingenieurs. 465 Heute erstrebt es die Weltherrschaft." „Seien wir stolz", schrieb George Seldes aus Spanien, „auf Ralph Fox und die anderen Schriftsteller, die ihr Leben gaben, auf Wintringham, der verwundet wurde, wie auch Petro Nenni, der die Propagandaflugblätter schrieb, die zum Sieg in der Schlacht von Brihuega beitrugen, die die Geschichte (hoffentlich) für den Wendepunkt zwischen Aufstieg und Fall des internationalen Faschismus erachten wird. Seien wir stolz auf Ralph Bates und Ludwig Renn und Quintanilla und André Malraux und Claude Cockburn und Gustav Regler und Sir Richard McCartney und John Sommerfield und Dutzende anderer Schriftsteller, die auf den Barrikaden und in den Olivenfeldern kämpften. Und auf das Krankenpersonal und die Krankenwärter und unseren Ernest Hemingway für das, was er ohne feierliche Ankündigung in Madrid leistete. 361
Seien wir auch Stolz auf die Tatsache, daß zum ersten Mal in unserer Geschichte, wenn nicht zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt, alle Intellektuellen der Welt sich einig sind. Sie stehen auf unserer Seite — heute auf der Seite der spanischen Republik, morgen auf der Seite der Volksfront in Frankreich — und schließlich auf unserer Seite, in unserem Kampf gegen den Faschismus in Amerika. Wir haben schon immer gewußt, daß der Faschismus den Tod der Kultur und schließlich den Tod der Zivilisation bedeutet. Nunmehr sehen wir es. Doch bislang hatten wir noch keinen Beweis dafür, daß die Vertreter der Kultur und Zivilisation, die Menschen guten Willens jemals sich zusammenschließen, den gemeinsamen Gegner erkennen und den Faschismus mit der Waffe und der Feder bekämpfen würden. Ich habe das in Spanien erlebt. Der Kampf der arbeitenden Menschen, einschließlich der Intellektuellen der Welt, ist das Beflügelndste, was ich je erlebt habe. Er ist ein Zeichen dafür, daß unsere Seite auf dem Wege zum internationalen Sieg ist." Einige der Beiträge dieses Bandes wurden an dem Abend vorgetragen — die von Archibald MacLeish, Donald Ogden Stewart, Earl Browder und Ernest Hemingway. Vier Reden wurden aus dem Stegreif gehalten — Muriel Draper, Walter Duranty, Harry Carlisle und Joris Ivens. Mrs. Draper sagte unter anderem: „Das Wort ist eines der herausforderndsten und mächtigsten Mittel, das der Mensch geschaffen hat, um es in dem gewaltigen, seit unserer Bewußtwerdung als Mensch vor sich gehenden Kampf zu verwenden. Es ist dies ein Kampf jener, die ein gutes, anständiges und vernünftiges Leben schaffen und das von den Jahrhunderten der Zivilisation angehäufte Wissen nutzen wollen. Mit anderen Worten, mir scheint, es gab immer Menschen auf dieser Erde mit dem unaustilgbaren Wunsch, das Leben zu vervollkommnen. Doch es gibt auch Menschen, die das zu verhindern suchen, die bis zum letzten kämpfen, um das zu verhindern. Es war für mich interessant, während meines Aufenthalts in Spanien zu hören, wie Dr. Bethune, der kanadische Chirurg, sagte, er habe während seiner ganzen Zeit an der Front auf der loyalistischen Seite nur einen Fall von Kriegsneurose erlebt. Wenn man weiß, wofür man kämpft, bekommt man keine Kriegsneurose!" „Was haben die Faschisten in Spanien zu suchen?" fragte Walter Duranty. „Warum ist Spanien das Guernicadrama passiert? Warum, sagen manche, tun die Kommunisten und die Weltrevolution dies und jenes? Was wollen die Russen? Sie wollen ihren eigenen Acker bestellen, wollen ihr Werk fortsetzen. Sie wollen als freie Menschen leben. Sie wollen in ihrem Lande glücklich sein. Sie wollen nicht anderer Völker Länder überfallen. Das will der Faschismus." Harry Carlisle überbrachte dem Kongreß die Grüße der Schriftsteller von der Pazifikküste. Er sagte, er sei auf seiner Fahrt quer durch das Land auch durch das Streikgebiet gekommen, „wo der Tod unmittelbar die Szene beherrschte", eine Bezugnahme auf den Gedenktag an das Massaker, als dreizehn streikende Arbeiter von der Ostchicagoer Polizei und durch von der Republic Steel Corporation gedungene Revolverhelden ermordet wurden. 362
Er erinnerte daran, wie geehrt sich der Schriftstellerkonkreß des Westens 466 gefühlt hatte, als „Harry Bridges eine Streikversammlung verließ, um uns schlicht einige der vielen Dinge zu nennen, die Schriftsteller tun könnten, um den Werftarbeitern ihren Streik gewinnen zu helfen". Er bemerkte, daß nicht alle Schriftsteller an der Pazifikküste so reich wie die Hollywoodautoren seien, von denen Donald Ogden Stewart in seiner humoristischen Art berichtet hätte, und sagte, daß außerhalb Hollywoods die reichsten Schriftsteller die bei der W P A 4 6 7 wären. „Das gilt für die Schriftsteller insgesamt", sagte er. „Außerhalb New Yorks", fuhr er fort, „gibt es viele Schriftsteller, die unbekannt und ohne Ruf, doch gewiß nicht unbegabt sind. Ich glaube, daß es eines der wichtigsten Ziele dieses Kongresses ist, dafür zu sorgen, daß die bereits unternommenen regionalen Anstrengungen auf eine praktisch organisatorische Weise erfolgreich fortgeführt werden. Es gibt Tausende von Schriftstellern, deren Ruhm noch nicht begründet ist, doch deren Ruhm, so hoffen wir, nicht auf dem Felde der Reaktion, nicht in blinder Unterwerfung unter den Status quo, sondern durch den Anschluß an jede progressive heutige Tendenz begründet werden wird." Als Mr. MacLeish Joris Ivens, 468 den holländischen Filmregisseur vorstellte, sagte er: „Wenn ich Ihnen nun den nächsten Redner vorstelle, so erweise ich Ihnen eine große Gunst. Joris Ivens ist ein Name, den sie, wenn er überlebt, immer häufiger hören werden. Ich sage, wenn er überlebt, denn die Bedingungen, unter denen er den Film, von dem wir heute abend einen Ausschnitt zeigen, drehte, sind nicht angetan, seinem Leben Dauer zu verleihen. Hemingway telegraphierte mir einige Zeit nach seiner Rückkehr aus Spanien, daß es zweifelhaft sei, ob Ivens überleben werde, da er sich der täglichen Gefahr eines Infanterieoffiziers aussetze. Als Dos Passos nach Madrid fuhr, erzählte man ihm von einem verrückten Holländer, der, die Kamera in der Hand, zusammen mit der Infanterie angreife. Dieser Holländer in Madrid war Ivens. Er verließ sein Land einen Tag nach Weihnacht und war seit Anfang Januar bis vor zwei oder drei Wochen in Madrid." „Es mag vielleicht etwas seltsam erscheinen, auf einem Schriftstellerkongreß einen Film vorzuführen", sagte Mr. Ivens, „doch ich denke, daß er hierher gehört. Denn dieser Film entstand an der gleichen Front, an der heute jeder ehrliche Autor stehen sollte. Der Film gehört zu dem heutigen Abend, weil er die Zusammenarbeit europäischer und amerikanischer Künstler zeigt, die gemeinsam gegen die in der Welt unmittelbar bevorstehende Gefahr kämpfen. Wir in Europa sind den faschistischen Gefahren sehr nahe. Holland, mein eigenes Land, liegt sehr nahe an der faschistischen Grenze und bereits seit Jahren wissen wir — Maler, Schriftsteller, Schauspieler, alle die in Holland etwas zu sagen haben — von den unglaublichen Unmenschlichkeiten, die gleich hinter der Grenze vor sich gehen." Mr. Ivens erklärte sodann, daß er uns zwei Ausschnitte aus dem Film The Spanish Earth (Spanische Erde) zeigen würde, für den Hemingway dann den Text verfaßte und ihn in Zusammenarbeit mit Archibald MacLeish und Lillian Hell-
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man sprach. Mr. Ivens erklärte, daß er bei den Dreharbeiten in Spanien nicht nur Kämpfende und Tote zu zeigen versucht habe, sondern w a r u m die Menschen kämpften. Als der fertige Streifen im August in New York City uraufgeführt wurde, erhielt er das enthusiastische Lob jedes Kritikers, das der reaktionären New York Sun*69 ausgenommen. Nach der Filmvorführung verlas Ernest Hemingway den hier abgedruckten Beitrag. Es war die erste öffentliche Ansprache seines Lebens. Für viele der Zuhörer war sie seine erste politische Meinungsäußerung. Die geschlossenen Sitzungen des Kongresses begannen am nächsten Morgen in der New School for Social Research (Neuen Schule für soziale Forschung). Kyle Crichton eröffnete den Kongreß und war der Vorsitzende der ersten Sitzung. Er bemerkte, daß die Veranstaltung des Vorabends ihm als eine der erfolgreichsten, die je auf amerikanischem Boden abgehalten, erscheine, weil sie das Ausmaß enthüllt habe, in dem sich die kulturelle Einheitsfront verbreitert habe. Er sagte, die Anwesenheit einiger Delegierter im Präsidium erstaune „jedermann, der ihre ausgefochtenen Kämpfe und die von ihnen noch vor ein oder zwei Jahren vertretenen Ideen kenne". „Das Problem", sagte er, „das von jetzt an auf der Tagesordnung steht, ist natürlich die weitere Verstärkung dieser Front. Ich habe einige sehr interessante, aus der spanischen Situation entstandene Dinge gesehen. So fand am Penn State College zum Beispiel auf Initiative der Rotary und Kiwanis-Klubs*10 eine Veranstaltung statt, um Geld aufzubringen für das Medizinische Büro des Nordamerikanischen Hilfskomitees für die spanische Demokratie!" Mr. Crichton stellte darauf als ersten Redner Kenneth Burke vor, der nach Beendigung seines Vortrags und in Erwiderung einer Bemerkung aus dem Saal sagte: 471 „Ich gestehe, daß eine rein poetische Reaktion und eine rein kritische Reaktion, soweit es die wirkliche Erfahrung betrifft, in völliger chemischer Reinheit nicht existieren. Mit der rein poetischen Reaktion meine ich die Art und Weise, wie wir auf das beschwörende Element' eines Ereignisses reagieren. So würde ich es eine ,poetische' Reaktion nennen, wenn man sich bei gutem Wetter gehobener, bei schlechtem Wetter bedrückter Stimmung fühlt. Das Wetter ist ein .beschwörendes' Ereignis und wir gehorchen den Zwängen seiner hypnotischen Wirkung. Andererseits können wir das Wetter unberücksichtigt' lassen und uns weigern, so darauf zu reagieren, wie ein Leser auf die Einzelheiten eines Gedichtes reagiert — und solche Überschneidung mit der Hypnose würde ich ,Kritik' nennen. Wenn wir auf neue Bedeutungen durch .analoge Ausweitung' unserer Reaktionen auf alte Bedeutungen reagieren, so gleichen wir dem Kind, das die Bedeutung für Kaninchen auf die Bedeutung Pelzhandschuh oder Baumwolldecke überträgt. Ich will nur andeuten, daß die Ehrfurcht des ,reinen' Dichters Erfahrung in dieser Weise integriert und so eine immer weitere hypnotische Struktur webt. Wenn die Situation, für die eine solche Bedeutungsstruktur entwickelt wurde, eine tiefgreifende Veränderung erfahrt (verursacht durch die Häufung ,neuen Materials',
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das die frühere Bedeutungsstruktur nicht berücksichtigt hat), müssen wir den Bann brechen — und diese Entzauberung ist, wie ich zu verstehen geben möchte, ein k r i t i s c h e r Akt." Sodann folgten die Beiträge von Newton Arvin, B. A. Botkin und Malcolm Cowley. Daraufhin bat Maxwell Bodenheim um das Wort und erklärte, daß er seit 1914 zur amerikanischen Literatur gehöre und so wie viele andere Dichter ein stärkeres Klassenbewußtsein entwickelt habe. Er sagte, man habe heute morgen eine Menge anregender und erbaulicher Prosa gehört; und er wolle nun ein Gedicht vorlesen, das er geschrieben habe und das, wie er hoffe, die Odyssee seiner Generation zum Ausdruck bringe. Mr. Bodenheims Gedicht lautet: Eine Generation Oh wankelmütige Brust, voll Zorn und Arg, Lang ausgebliebenen Geiern ausgesetzt! Im Schwärmersonntagsstaat, darunter karg, So gingen wir, zart, dünn und unverletzt. Wir fegten von der Mainstreet Schein und Nippes, Erschlugen — Spielzeugritter — Roheit dumpf. Warn stolz auf unsere Einsamkeit und Leere, Verhöhnten was wir nannten Bürgersumpf. Wir warn nicht glücklich, nein: kein Friede wird Dir ohne Übergabe — dürftige Kost. Und als verstreut die Krumen warn im Regen, Liehn Kasuistik und Patience uns Trost. Oh, wankelmütige Brust, voll Zorn und Arg! Gefühlvoll Stelldichein der Ironie! Oh düstrer Chor und Heidenabenteuer, Gebannt in Worte, uns erlösend nie. Wir sahen dich im Hausflur drinnen stehen, Auf der Veranda, geißblattgrün im Glast; Genüßlich schlürften wir Pernod und scheuten nicht, Zeit totzuschlagen auf dem Montparnasse. Als du entschwandest, warst du nur ein Traum — Traum von des Volkes Gleichheit, fern vom Berg — Carl Sandburg, brüllend hinter Pferd und Pflug, Gingst auf des Denkens Acker kühn zuwerk. Nun raten uns die Mächtigen, Allgewaltigen — Die unsichtbar das arge Spiel betreiben — Statt mit dem Diebesgut uns anzulegen, Hoch ob der Wolken Majestät zu bleiben. 365
Die Majestät, da die Matratze hart, Doch Sorge sie in zarte Tinte taucht, Ist trunken, glücklich, wenn geladen sie Zur Gönnertafel, wo der Teeschwatz Brauch. Oh Schönheit, Anmut, du gedankenvolle, Da sitzt du eines Tags auf kaltem Stein. Und als du angeschaut die Hungermienen, Schriest du entsetzt: Gesichter sinds wie meins. Bevor die Vormittagssitzung vertagt wurde, machte Mr. Crichton die Delegierten auf einen Stimmzettel aufmerksam, der verteilt worden war und vorgeschlagene Titel für den besten Roman, die beste Biographie, das beste Theaterstück, das beste Sachbuch und den besten Lyrikband des Jahres vom 1. Mai 1936 bis zum 1. Mai 1937 enthielt. Er bat, die angestrichenen Stimmzettel nach dem Essen abzugeben, damit die Öffentlichkeit erfahre, welche Bücher S c h r i f t s t e l l e r für die besten hielten. Die Nachmittagssitzung unter dem Vorsitz von Harry Carlisle begann mit dem Diskussionsbeitrag Martha Gelhorns. Ihm folgte der Beitrag Rolfe Humphries, der in Zusammenarbeit mit M. J. Bernardete den Band . . . And Spain Sings (Und Spanien singt) (Vanguard Press; die Tantieme wurden für die Sache der spanischen Loyalisten gespendet) herausgegeben hat, einen Band mit fünfzig Balladen, geschrieben von spanischen Dichtern seit der faschistischen Erhebung in Spanien und in englischer Sprache von amerikanischen Lyrikern nachgedichtet. Mr. Humphries erklärte, daß die spanischen Dichter ihre individuellen stilistischen Eigenheiten aufgegeben und ein gemeinsames Medium gefunden hätten, um der Welt die Geschichte des spanischen Volkes nahezubringen. Die Gedichte erschienen zuerst in der von Intellektuellen finanzierten Zeitschrift Blue Monkey. Prof. Bernadete hat die Gedichte ins Englische übersetzt, und er und Mr. Humphries haben auf dem Umweg über die Liga amerikanischer Schriftsteller amerikanische Dichter aufgefordert, die Übersetzungen künstlerisch zu überarbeiten. Zu denjenigen, die außer Prof. Bernadete und Mr. Humphries an diesem literarischen Gemeinschaftswerk teilnahmen, zählen Edna St. Vincent Millay, George Dillon, Genevieve Taggard, Muriel Rukeyser, William Carlos Williams, Jean Starr Untermeyer, Shawmas O'Sheel, Ruth Lechlitner und andere. Das erste von Mr. Humphries vorgetragene Gedicht stammt von Rafael Alberti, der Nachdichter ist Mr. Humphries selbst. Der letzte Herzog von Alba Herzog von Alba, Herzog der Dämmerung, Letzter und Geringster eines berühmten Geschlechts; Eher: Herzog der untergehenden Sonne, 366
Entschwunden glanzlos, ohne Abendrot. Flandern erlebte das Schwert deiner Ahnen — Ruhmreiche Tage einstiger Ritterschaft — Du schaust zurück, und was du ergreifst, Ist, durch Frankreich eilend, einzig das Hasenpanier. Erwarben sich deine Ahnen Ruhm, Daß sie — lag eine Schlacht in der Luft — Die königlichen Hosen runterließen, Um die königliche Unterwäsche zu retten, So bedienst du mit zitternder Hand Alfonso und knöpfst ihm Die Unaussprechlichen und das rosa Hemd, Letzten Schliff an Spaniens letzten König legend. Stolz und Grausamkeit verliehen Dem Haus deiner Väter einst Glanz; Du bringst Hosen und Schuhe auf Glanz, Willst einer Stierkämpferlaus gefallen. Es malte Tizian deine Ahnen, Zuloaga dagegen deine Schande verewigt, Ein Pinsel in sattes Gold, Der andere in frischen Mist getaucht. Herzog der Dämmerung, entschwunden deine Sonne ist; Du hast des Prados Schlüssel übergeben, Goya, einst Kerkermeister der Kunst, Malte, damit alle Welt es sieht. Vorbei der falsche überkommene Stolz, Die Nackte Herzogin sich allen Blicken zeigt, Die Kunst ist wieder auf des Volkes Seite, Nicht mehr Diener eigner Nabelschau. Sollten Sie, Herzog, je aus London wiederkommen, Will sagen, sollten Sie's je wagen Die traurigwelke Blume Aristokratie Dort sterbend zurücklassend, So verweilen Sie und schauen Sie, mit dem Blick Die Mauern entlang fahrend, zu den Fenstern hinauf, Klopfen Sie an die Tür, die einst die ihre war, Betreten Sie die enteigneten Säle.
Die weitläufige Treppe hinauf, durch die Flure, Wieder in die mit Tapisserien behängten Räume, Wo gestickte Gobelins die Kampfszenen Kraftvoller, siegreicher Männer zeigen, Wieder hinunter und hinaus durch die Gartenpforte, In die Garage, auf den Boden, in den Stall, Winkel, die ein neugierig Kind durchstöbern würde, Die es, umherirrend, besichtigen würde. Dann würde sich Ihnen an jedem vertrauten Ort Ein rätselhafter Anblick darbieten : Warum ist der Palast so eigenartig und hell? Das bewaffnete Volk hält ihn sauber! Alle Lakaien, die einst hier waren, Endlich aus ihren Klamotten heraus, Reden ohne eine Träne von Ihnen, Seufzen dem ruhmreichen Gestern nicht nach. Herzog von Alba, Herzog der Morgendämmerung, Letzter und Geringster eines berühmten Geschlechts, Lauscht und seht, ob Ihr uns nicht beipflichten könnt, Was nun kommt, weiß ein jedermann : Die Sonne mag im bleichenden Westen verschwinden, Doch die Morgendämmerung ist eine nie vergehende Kraft; Jeder Morgen beweist es aufs neue — Seht, wie herrlich der Morgen strahlt ! Das zweite Gedicht, eine Ballade José Bergamins, wurde ebenfalls von Mr. H. Humphries nachgedichtet: Ballade vom störrischen Mola Die große Maultierstute hat eine Leistung vollbracht: Mola, ihr Sohn, ein prächtiger Narr, Sprößling zweier ungeweihter Biester, Nahm mangels Soldaten Priester. Fernab der Verräter Frankreich stützte seine Herrschaft, Süßes zu Süßem fügend, Mulatten zum Maultier. Die marokkanischen Truppen brauchten Frauen, um ihre Verluste zu betrauern. Es empfangt der Halbmond den Segen des Kreuzes; Kirchengängerinnen pflegen ihre Wunden und beten, Ihre Paten reichen jedem einen Blumenstrauß — In jeder schwarzen Hand erscheint ein blutiger Zweig, Der seine Blüte abgeschnittener Ohren trägt. Ihre Maultiere reitend suchen sie das große Obermaultier 368
Und bitten um ihren seit Wochen überfalligen Sold. Der General laßt den Segen vom Himmel regnen Und zahlt mit deutscher Mark und Lügen. Auf jedem Platz hallt aus dem Lautsprecher Des trunkenen Anführers heisere wütende Stimme, Ungeheuerliche und grobe Lügen verbreitend — Nur Hammer und Sichel sagen die Wahrheit. Unsere Kämpfer lassen über den Streit hinweg freudig ihre Stimmen erschallen; Der Tod kann ihresgleichen nicht besiegen. Ihr heller Blick schickt die Kugel nach Westen, Taglicht den Gipfel des Guadarrama erhellt, Das Morgenrot, der rötliche Strahl der Hoffnung, Während Spaniens Tod jenseits des Berges talwärts rollt. Das dritte Gedicht entstammt der Feder José Moreno Villas und wurde von David Efron übertragen : Der Mann des Augenblicks Schwere Stiefel, rauhe Decke, ein Gewehr, eine Pistole, das ist der Mann. Verfilzter Bart, dichter Bart, einmal ausgespuckt und geflucht, ein schwerer Schritt ein fester Blick, er schläft in Kleidern: das ist der Mann. Der Mann der Stunde. Man sieht keinen andren als ihn, auf Straßen, in Zügen, in Fluren, im Regen, in der Sonne, zwischen umgekippten Stühlen und im trüben Laternenschein, zwischen dreckigem Papier, das kalter Winterwind vor sich hertreibt. Die ganze Stadt gehört ihm und ihm ist es egal, wo er den Kopf hinlegt bleiern schwer von der Müdigkeit zehn schlafloser Nächte. Wie es scheint, hat er nie eine Herde oder Arbeit, eine Familie, die für ihn sorgt, oder Frauen gehabt. Er trinkt und singt, er kämpft und fallt, weil Fallen sich für Männer geziemt. Er weiß fast nichts (doch das geziemt sich fast für Männer). 24
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Doch er hat Wünsche (und das geziemt sich für Männer). Er möchte sich als Herr seiner selbst und einig mit allen übrigen sehen. Er möchte Bücher, Brot, Ansehen, Bett, Arbeit, Vergnügen und all die andern guten Dinge, die der Mensch für den Menschen schafft oder die Natur ihm schenkt, damit er sie sich nehme. Im kalten Winterregen, im hallenden Geschützdonner, in den Trümmern der Stadt sehe ich ihn ernst und vornehm wie einen seine Wurzeln suchenden Halm. Das ist der Mann. Es folgten die Beiträge von Frances Winwar, Harry Slochower, Carlton Beals und Albert Rhys Williams. In der sich Mr. Beals Beitrag anschließenden Diskussion sagte Samuel Putnam: „Ich habe insofern ein besonderes Interesse an der brasilianischen Literatur, als es alljährlich meine Pflicht ist, den Abschnitt über brasilianische Literatur des von Harvard Universität herausgegebenen Lateinamerikanischen Jahrbuchs zu betreuen. In den letzten beiden Jahren gab es in Brasilien proletarische Literatur mit hohem Niveau. Einer der besten proletarischen Romane, den ich je gelesen habe, stammt von einem jungen Portugiesisch schreibenden Brasilianer. Es ist die einfache Geschichte eines Kochs auf einer Plantage in Brasilien. Es gab eine Reihe weiterer proletarischer Schriftsteller, einschließlich eines Dramatikers, der das Stück Horse and Man (Pferd und Mensch) schrieb, das einen Abend in Brasilien aufgeführt und dann von der Polizei verboten wurde. Dann kam der Faschismus nach Brasilien und unterdrückte die Literatur. Sie existiert nicht mehr. In Argentinien ist die sogenannte Republik nichts weiter als Faschismus. Vor etwa einem Jahre las ich den Roman Gold von einem argentinischen Romancier, Hubert Watts. Die erste Auflage betrug 30000 Exemplare. Seitdem sind zwei weitere Auflagen erschienen und mindestens 100000 Exemplare des Romans verkauft. Das Titelblatt bringt ein Zitat der seit langem in ihrer Echtheit bezweifelten Zion-Protokolle.472 Das Vorwort schließt mit der Behauptung, daß, wenn das Vaterland überleben wolle, die Juden getötet werden müßten. Dieser eigenartige Autor, der lange Zeit in Argentinien der Autor mit den besten Verkaufszahlen gewesen ist, rühmt sich, daß er nie etwas schreiben würde, worüber sein fünfzehnjähriger Sohn erröten müßte. Offenbar errötet sein Sohn bei Anstiftung 1 zum Mord nicht. 370
Ich halte es für ziemlich wichtig festzustellen, daß in Südamerika eine faschistische Bewegung im Entstehen ist, daß sie ihren Niederschlag in der Literatur findet und daß sie politisch die Kennzeichen der alten katholischen Zentrumspartei besitzt. Das bedeutet, wer früher der katholischen Mitte angehörte, wird heute Faschist. Eine ganze Gruppe von Dichtern ist, besonders in Brasilien, vor allem durch den Einfluß Bergsons, des Faschisten, dessen philosophische Ansichten in verschiedenen südamerikanischen Ländern gepflegt werden, zum Katholizismus übergetreten." Ein weiterer Delegierter, José Pombo, bat kurz auf einige Aspekte der Literatur unter der Diktatur in Portugal eingehen zu dürfen und sagte: „Seit Mai 1926, dem Beginn der militär-faschistischen Diktatur in Portugal, ist die vorher so reichhaltige Produktivität der portugieischen Intellektuellen — besonders auf dem Gebiet der Literatur — qualitativ und quantitativ auf ein so niedriges Niveau wie noch nie zuvor gesunken. Seit der ersten Stunde der Diktatur gab es eine systematische und unbarmherzige Unterdrückung und Verfolgung aller Formen der Kultur sowie aller Quellen volkstümlichen, nationalen und menschlichen Gedankenguts. Das wurde erzielt durch eine vollständige Zensur von Presse, Theater und Kino, durch willkürliche Beschlagnahme von Büchern und die Schließung von Zeitungen und Zeitschriften, durch das Verbot von Vorträgen und Veranstaltungen welcher Art auch immer, durch persönliche Angriffe auf Schriftsteller und Lehrer, kurz, durch Zwang und Terror. Vor der militärisch-faschistischen Erhebung in Portugal des Jahres 1926, die Carmona und Salazar an die Macht brachte, standen die portugiesischen Schriftsteller in der vordersten Linie des Kampfes gegen den Faschismus. Italien hatte ihnen gezeigt, welchen Schaden der Faschismus für das Geistesleben anrichtet. Die bekannte Grupo da Biblioteca — die Gruppe, die sich in der Nationalbibliothek Lissabons traf — zog hervorragende Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst und Wissenschaft an und vereinte sie im Kampf gegen die politische Korruption, die später die faschistische Diktatur ermöglichte. Aus dieser Gruppe kamen bald die ersten Opfer der faschistischen Tyrannen. Die portugiesischen Intellektuellen lassen in ihrem Kampf nicht nach. Sie haben ausdauernd gegen den Ausverkauf der nationalen Unabhängigkeit an die britischen Rüstungshändler und internationalen Faschisten gekämpft. Mit allen möglichen Mitteln — Überredung, Ermahnung, Flugschriften, Verschwörung und bewaffnetem Aufstand seitens der Massen — haben sie versucht, den kalten Zorn Salazars, ,des Diktators, der nie lächelt', zu mindern und zu beseitigen. Um dem zu begegnen, hat die Diktatur die Massen und die junge Intellektuellengeneration durch eine grobe, schreierische und kostspielige Propaganda zu vergiften versucht, die den Aufstieg des Herrn Goebbels vorwegnahm und seinem demagogischen Talent in nichts nachsteht. Es erübrigt sich zu sagen, daß diese Propaganda kläglich gescheitert ist. Unter den Intellektuellen, die diesen Namen verdienen, wie unter den Massen kann die Diktatur nicht auf einen einzigen Freund verweisen. 24*
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Ich möchte die Namen einiger Männer nennen, die sich dem Regime nicht gebeugt haben : Raoul Proenga, der die erste Serie illegaler, gegen die Diktatur gerichteter Flugschriften herausgab. Lange Jahre der Untergrundtätigkeit, Exil, ständige Verfolgung und schreckliche Not brachten ihn um den Verstand. Er befindet sich jetzt in einer Anstalt in Oporto. Jaime Cortesäo, ein Dichter, Historiker und Dramatiker, Weltkriegsteilnehmer, der sich 1927 an der Erhebung in Oporto beteiligte. Er wurde verfolgt und ausgewiesen und lebt jetzt in Barcelona. Armando Cortesäo, sein Bruder, der Verfasser monumentaler Studien über Kartographie und geographische Entdeckungen, der wegen illegaler Presseaktivitäten festgenommen und ausgewiesen wurde. Er lebt jetzt in London. Antonio Sergio, früherer Erziehungsminister, ein brillanter Essayist und Erzieher, ein Führer des demokratischen Gedankens, wurde verhaftet und wegen ,Agitation' ausgewiesen. Aquilino Ribeiro, der beliebteste nationale Romancier, wurde verhaftet und des Landes verwiesen. Hauptmann Augusto Casimiro, ein Dichter, Weltkriegsteilnehmer, und demokratischer Idealist, wurde verhaftet und nach der Ilha do Sai, der portugiesischen Teufelsinsel, auf dem kapverdischen Archipel deportiert. Joaquin de Carvalho, ein Philosophiedozent an der Coimbra-Universität und Leiter des Universitätsverlages, wurde entlassen. Oberst Sarmento de Beires, ein Dichter, einer der Pioniere der portugiesischen Luftfahrt, wurde verhaftet, geschlagen und zu vierzehn Jahren •Exil in portugiesisch Afrika verurteilt. Es gibt noch viele. Abel Salazar, ein brillanter Schriftsteller und Professor an der Oportoer Schule für Medizin, wurde ins französische Exil geschickt. Aurelio Quintanilha, ein Botaniker und Träger eines schwedischen Preises, wurde von der Coimbra-Universität entlassen und des Landes verwiesen. Rodrigues Lapa, Professor an der Abteilung Literatur der Lissaboner Universität, wurde entlassen, weil er auf Fehler im faschistischen Erziehungswesen hingewiesen und die Beschränkungen, die man der Universitätsarbeit auferlegt hat, gerügt hatte. José Neves, Sekretär der Coimbra-Universität, wurde entlassen und ausgewiesen. Teixeira Pascoaes, der größte zeitgenössische portugiesische Dichter, durfte sich nicht in der Presse gegen die Angriffe verteidigen, die giftige Reaktionäre gegen sein Buch Säo Paulo473 gerichtet hatten. Ich habe sie nicht alle aufgeführt. Soeben erreichte mich die Nachricht von der Festnahme zweier großartiger Schriftsteller, Männer dieser Generation, die sich der Welt der Ideen in einer Atmosphäre des Hasses und der Lügen bewußt geworden sind. Sie wurden wegen S y m p a t h i e b e k u n d u n g f ü r die s p a n i s c h e n L o y a l i s t e n verhaftet. Es sind Adolfo Casaes Monteiro, Dichter, Essayist und Herausgeber der literarischen Zeitschrift Presenga (seine Frau wurde mit ihm verhaftet), und Fernando Lopes 372
Grapa, ein Musiker und Kritiker, der bereits vorher schon einmal verhaftet wurde, während er an einem Wettbewerb um die Professur am Lissaboner Konservatorium für Musik teilnahm, einem Wettbewerb, in dem er die höchste Klassifizierung erreichte. Vor der faschistischen Erhebung in Spanien stellte Portugal den ,vergessenen Faschismus' Europas dar. Zehn Jahre lang kämpfte das portugiesische Volk, einsam und verlassen, gegen die Unterdrückung. Der Krieg in Spanien sollte der Welt die Augen öffnen über die Gefahren, die einer Demokratie drohen, die eine faschistische Diktatur — selbst eine so kleine und unbedeutende wie die portugiesische — zum Nachbar hat." Der Vorsitzende Carlisle stellte sodann Dr. H. C. Tao, einen Nachfahren eines der größten Dichter Chinas, vor; er ist Mitglied des Exekutivkomitees der Förderation Nationaler Befreiungsorganisationen (des chinesischen Äquivalents der Volksfront), (ein führendes Haupt in der Bewegung zur Erziehung des Volkes und Direktor einer Schule für Arbeiter. Dr. Tao bemerkte, die Faschisten hätten die jüngste Widerlegung der Prophezeiung Kiplings über den Osten und den Westen geliefert. Er sagte, daß China eine nationale Krise bevorstehe und daß sie, übertragen auf die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten, so aussähe, als ob „ein freundlicher Nachbar, der einem acht Staaten geraubt habe, nun in sieben weitere eindringe — einschließlich, sagen wir, Minnesotas mit seinem Einsenerz, Oregons mit seinem Holz, Pennsylvaniens mit seiner Kohle, Alabamas und Mississippis mit ihren Baumwollfeldern. Dieser Freund und Nachbar benutzt Kuba als Ausgangsbasis, um in Florida einzudringen, schmuggelt über Boston Waren ein, um die einheimische Industrie zu ruinieren, und zwingt die Bauern, Opium anzubauen, um das Volk zu vergiften. Und wenn einer von Ihnen es sich einfallen ließe, es für seine Pflicht zu halten, New York zu verteidigen, so würde dieser Freund und Nachbar Washington bedrohen und Sie festnehmen und einsperren. Das ist unsere Situation in China. Unsere Schriftsteller halten es naturgemäß für ihre oberste Pflicht, für unsere nationale Unabhängigkeit und Freiheit zu kämpfen. Sie glauben, daß dieser Kampf auch im Interesse des Weltfriedens liegt.474 Es freut mich, Ihnen berichten zu dürfen, daß es in China eine besondere Organisation, die Vereinigung der Laienschriftsteller, gibt. Ihr steht ein aus fünf Mitgliedern bestehendes ,Literaturkomitee' vor: ein Musiker, ein Bauer, ein Arbeiter, ein professioneller Schriftsteller und ein Junge. Jedes zu fördernde Werk muß von diesem Komitee gebilligt werden. Und das Urteil muß einstimmig sein. Übrigens, wenn einer ein Werk ablehnt, so wandert es in den Papierkorb. Nun unterscheiden sich in China die geschriebene und die gesprochene Sprache sehr stark. Die breite Masse des Volkes kann die Literatur nur durch Hören aufnehmen. Darum muß die Literatur des Volkes so geschrieben werden, daß sie, wenn sie vorgelesen wird, vom Volk verstanden wird. Vielleicht werden Sie es für angebracht halten, wenn ich einige der von diesem Komitee gebilligten Sachen ver373
lese. Ein Gedicht, das Captain Short, einem Flieger, der bei der Verteidigung Shanghais fiel, gewidmet ist und auch an dessen Grab gesprochen wurde, wird, denke ich, Sie besonders interessieren: An Hauptmann Short Unser tapferer Hauptmann! Niemand ist tapferer. Warm war deine die Schranken des Landes überwindende Liebe. Dein Vaterland — die Welt, Der blaue Himmel — dein Reich. Es gibt Flieger, die dienen dem mächtigen Aggressor und bringen Tod den Niederen. Du kämpftest für die Unterdrückten. Wer zu kämpfen wagt, verwandelt Niederlage in Sieg. Wer sich zu wehren fürchtet, wird vom Feinde besiegt. Das China, für das du starbst, ist in Feindes Hand. Doch die Massen erheben sich, die Nation zu befreien! Stürmen wir den Nankow-Paß, erobern wir unsere verlorenen Gebiete! Ein neues China werden wir im Geiste deines Opfers errichten. In diesem neuen China wirst du leben und das Volk wird dein Gedenken wahren. Wir haben in China eine besondere Art Lehrer, die sogenannten,kleinen Lehrer'. Das sind Schulkinder, die den Tag in der Schule verbringen und am Abend ihre Großeltern, oder Brüder oder Schwestern, oder andere Kinder in der Nachbarschaft unterrichten. Ein Lehrer darf in China keine Mädchengruppe unterrichten. Wagt er das, wird Gerede entstehen. Und es gibt sehr wenige Lehrerinnen. Doch die .kleinen Lehrer' dürfen sogar ins Gemach der Braut und dort eine Lektion erteilen. Sie erweisen China einen sehr großen Dienst; man hat ein kleines Gedicht über sie geschrieben, es wurde vom ,Komitee' gebilligt; vielleicht gefällt es Ihnen: 374
Kleiner Lehrer Ein kleiner Lehrer, geh ich meine Bahn. Mein Herz gleicht einem Vulkan. Fürcht weder Frost noch Schnee, Unwissenheit schmelz ich, wo immer ich geh. Vielleicht interessiert Sie die Haltung der chinesischen Frauen, so wie sje in einem von einer Frau verfaßten Gedicht, das ebenfalls von dem, Komitee' gebilligt wurde, zum Ausdruck komm);: Geschenk für einen General Du gibst dich für einen Helden aus, Doch beugst dich Chinas Feind. Mit Rückzugsbefehlen Gibst du Berge und Flüsse preis. Mein Weiberrock für dich. Uns schreckt nicht Feindes Macht. Gib Uniformen uns! Wir ziehen in die Schlacht. Ich möchte Ihnen noch ein weiteres Gedicht verlesen, weil es die Empfindungen der Volksmassen hinsichtlich der früheren, formalen Bildung, an der sie keinen Anteil hatten, spiegelt. Sie wissen, China besitzt viele Gelehrte, die völlig davon in Anspruch genommen sind, Bücher zu lesen. Will man etwas zur Rettung des Landes tun, sagen sie, lies erst ein Buch. Sagt man „Leistet Japan Widerstand", so sagen sie, „Lies ein Buch." Wir bezeichnen sie mit einem Begriff, der als Titel des folgenden Gedichts verwendet wurde: Das gelehrte Gespenst Was ist ein gelehrtes Gespenst? Es lebt an der Pazifikküste. Es rühmt sich seines Bücherwissens. Es ist aus auf ein Amt. Es ißt gern gut Und läßt sich vom halbverhungerten Bauern bewirten. Wenn brotlos, unterrichtet es Kinder, Wie man wird ein kleines gelehrtes Gespenst." 475 Am Sonnabendabend fand für die Delegierten ein Empfang mit Tanz statt. Der Sonntagmorgen war den Arbeitsgruppen einzelner Gattungen gewidmet, von denen es fünf gab. Vorsitzende der Gruppe Roman war Leane Zugsmith; der Gruppe Lyrik Horace Gregory, der Gruppe Film und Funk Robert Gessner, der Gruppe Dramatik Albert Maitz und der Gruppe Kritik Granville Hicks. 375
Protokoll geführt wurde nur bei zwei dieser Sektionen, der für Kritik und der für den Roman, und in beiden Fällen waren die Protokolle ziemlich verstümmelt. So zeigte das Protokoll der Kritikersektion, daß keines der für die Diskussion vorgeschlagenen Themen diskutiert wurde, daß die Zeit vielmehr mit einem von einer kleinen Sechsergruppe gegen den Kongreß vorgebrachten Angriff hinging, der in der Bemerkung Dwight MacDonalds gipfelte, er sei gegen die Einheitsfront und „für Trotzki". Diese Angriffe wurden natürlich abgewehrt, und die Veranstaltung scheint durch die Antwort Mr. Hicks auf die Frage Joseph Freemans gekennzeichnet: „Darf ich ein Wort über die Kritik sagen?" — „Nein, Joe", erwiderte Mr. Hicks, „das ist etwas, das wir nicht diskutieren dürfen." Aus dem Protokoll der Sektion der Romanautoren fertigte Miß Zugsmith folgende Zusammenfassung an: Das Interesse an der Arbeitsgruppe für Roman und Kurzgeschichte war so intensiv, daß die Delegierten den Vorschlag einbrachten, künftig Regionaltreffen für Romanciers und Kurzgeschichtenautoren allmonatlich abzuhalten. Als Entgegnung auf die lebhafte Debatte über die Frage, wie aus der Mittelklasse stammende Schriftsteller ihre Erfahrung erweitern könnten, um gut über die Arbeiterklasse schreiben zu können, sagte Ben Field: „Als einige von uns vor vier oder fünf Jahren mit Arbeitern und Bauern zusammenzuarbeiten begannen, sahen wir unsere Probleme nicht so deutlich wie heute, und da wir aus der Mittelklasse kamen, brauchten wir viel mehr Zeit, sie zu verstehen. Für schöpferische Arbeit blieb wenig Zeit. Doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt widmen wir dem Versuch, literarische Probleme zu lösen und Literatur, nicht nur Flugschriften, zu schreiben, mehr Zeit. Ein Schriftsteller sollte ein Organisator werden, wenn ihm das hilft, eine bessere Geschichte zu verfassen. Er sollte diese Tätigkeit seiner Arbeit als schöpferischer Schriftsteller unterordnen. Das wichtigste für einen Schriftsteller ist es, eine gute Geschichte zu schreiben. Es gab die Tendenz, den Arbeiter in ihren Mittelpunkt zu stellen. Der Arbeiter ist der Hebel der Handlung; doch das amerikanische Volk besteht aus Arbeitern, Bauern und sogar Millionären, und wenn ich eine gute Geschichte über einen Millionär schreiben kann, schreibe ich sie." Während andere Delegierte Möglichkeiten schilderten, durch die Schriftsteller an Massen- und Arbeiterbewegungen teilhaben können, warnte Richard Wright vor „der Tendenz bei manchen Schriftstellern, die in die Arbeiterbewegung gingen und ihrer Schriftstellerpersönlichkeit zu entrinnen versuchten. Die Gewerkschaften handeln nicht rückständig, wenn sie einen Schriftsteller als Schriftsteller akzeptieren. Sie erkennen seine Aufgabe an, wenn er sie erkennt. „ ,Die Befangenheit des Schriftstellers', sagt Nancy Bedford-Jones, ,ist ein Überbleibsel der Elfenbeinturmtradition. 476 Wir haben Angst, uns als Schriftsteller einzuführen. Wir halten das nicht für wichtig und schämen uns irgendwie dessen.' Einige andere Delegierte verurteilten den Antiintellektualismus und sagten wie John Hyde Preston: ,Der Schriftsteller vernachlässigt sich. Derselbe Schriftsteller, der hingeht und Arbeiter organisiert, duldet, daß Blutsauger wie Reader's Digesf11 seinen eigenen Markt vernichten. Es gibt zu viel Antiintellektualismus.' 376
Um eine möglichst breite Diskussion zeitgenössischer Literatur zu ermöglichen, schlug Benjamin Appel eine Reihe monatlicher Foren vor und sagte: ,Das amerikanische Publikum ist auf Kontakte mit Schriftstellern äußerst bedacht. Um die gegenseitigen Kontakte von Schriftstellern, Publikum und politischen Persönlichkeiten zu fördern, sollten monatliche Veranstaltungen stattfinden, die die von den verschiedenen Buchklubs getroffenen Entscheidungen diskutieren, wobei unter Beteiligung des Publikums Romanautoren und Kritiker diese Entscheidungen billigen oder verurteilen sollten. Wenn solche Veranstaltungen in allen Städten des Landes stattfanden, so würde das ein literarisches Feuerwerk liefern.' ,Die Kritik versagt oder hat es schon', sagt George Albee. ,Der Kritiker greift auf eine Basis oft ungültiger persönlicher Erfahrung zurück. Was Appel vorschlägt, ist gut, weil wir auf diese Weise zu einer besseren Art mündlicher, lebensnaher Kritik gelangen.' Der Erfolg des linken englischen Buchklubs 478 wurde diskutiert mit der Empfehlung, die Mitglieder der Liga amerikanischer Schriftsteller sollten zur Ausweitung des Buchklubs mit beitragen. Ebenfalls diskutiert wurde die Stellung des Schriftstellers hinsichtlich seines Beitritts zu einer Gewerkschaft. Die mögliche Funktion einer Gruppe zur Förderung junger Schriftsteller wurde zur Sprache gebracht, und eine Empfehlung, auf dem nächsten Kongreß den Arbeitsgruppen mehr Zeit zu widmen, beschloß die Zusammenkunft." Die Sonntagsnachmittagssitzung wurde in zwei Abschnitte unterteilt, den Vorsitz des ersten Teils übernahm Leane Zugsmith, den Vorsitz des zweiten Richard Wright. Der erste Teil begann mit einer Diskussion des Vortrags von Albert Rhys Williams, wozu am Sonnabendnachmittag keine Zeit mehr gewesen war. Mr. Williams bekam von Harry Roskolenko eine Menge Fragen gestellt, deren eine lautete: „Warum ist Lew Trotzkis Buch Literatur und Revolution479 in der Sowjetunion aus dem Handel gezogen worden?" Diese Frage wurde von H. W. L. Dana beantwortet, der sagte: „Ich habe heute morgen die Arbeitsgruppe Drama besucht und fand, daß man dort ziemlich kritisch vorging; ich erfuhr, daß es in der Kritikersektion recht dramatisch zuging, und ging. Hier finde ich einige Trotzkisten, die sich offenbar in jeder kritischen Sektion wohlfühlen. Mich interessiert die Feststellung, wie zeitgemäß diese Kritik ist. Max Eastman redet von Künstlern in Uniform. 480 Das ist gar nichts verglichen mit der Uniformität der Kritik an der Sowjetunion. Trotzkis Buch Literatur und Revolution ist nicht mehr zeitgemäß. Die schöpferische Arbeit sowjetischer Schriftsteller hat es überholt. In der Sowjetunion sind die Dinge in der Entwicklung begriffen, und ich stelle fest, daß diese Kritiker hier gegen jede Entwicklung sind, weil man dann gewisse Dinge aufgeben muß." Eli Siegel bemerkte, solche Fragenden glichen jenen „schrecklichen, stets wohlmeinenden Ratgebern", die in Spanien „jetzt die Arbeit behindern würden". Er sagte, solche Fragen seien angesichts dessen, was die Sowjetunion für die Literatur tue, unbedeutend. „Wenn man auf kleine Dinge achtet", fuhr er fort, „so kann man, wie meines Wissens viele Leute tun, sagen ,Sehen Sie nur, was 377
diesem Mann geschehen ist. 1919 war er das-und-das. 1927 ist er dies-und-das.' Nun, wo es Veränderung gibt, geschehen solche Dinge eben. Zum Beispiel hielten die Amerikaner 1776 sehr viel von einem Manne namens Burke. Doch Paine, der damals ebenfalls sehr viel von ihm hielt, mußte ihn 1793 angreifen, als Burke alt, erfolgreich, verwirrt und reaktionär geworden war." 4 8 1 Der erste Vortrag des Nachmittags war der Henry Harts, er wurde von Clifton Fadiman wie folgt erörtert: „Ich möchte vom Standpunkt dessen sprechen, der ein praktischer Verleger ist, das heißt, jemand, der, wie Mr. Hart sagt, zum Großteil Geschäftsmann ist. Ich möchte sagen, daß die Mahrzahl der Autoren, die ich kennenlernte, und i