1. Mose (Genesis) 1-11: Die Urgeschichte Gen 1–11 [2 ed.] 9783666516450, 9783525516454


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1. Mose (Genesis) 1-11: Die Urgeschichte Gen 1–11 [2 ed.]
 9783666516450, 9783525516454

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Jan JanChristian ChristianGertz Gertz

Das erste Buch Mose (Genesis) Die DieUrgeschichte UrgeschichteGen Gen1–11 1–11

Das Alte Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk

herausgegeben von Reinhard Gregor Kratz und Christoph Berner

Band 1

Genesis 1–11

Vandenhoeck & Ruprecht

Das erste Buch Mose Genesis Die Urgeschichte Gen 1–11

Übersetzt und erklärt von Jan Christian Gertz

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. 2 ., veränderte Auflage 2021

© 2021, 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen ­Einwilligung des Verlages. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978 -3 -666-51645 -0

Für Julius, Konrad und Adriana

Vorwort Die biblische Urgeschichte gehört zu den zentralen Texten der Bibel und blickt auf eine jahrhundertelange Auslegungs- und Forschungsgeschichte zurück. Auch dieser Kommentar reiht sich also mit Bernhard von Chartres gesprochen in die Reihe derer ein, die auf den Schultern von Riesen sitzen und vielleicht mehr und weiter sehen als die Alten, nicht wegen der besseren Augen und des schärferen Blicks, sondern weil sie uns tragen und wir ihre Größe nutzen dürfen. Für die vorliegende Kommentierung ließe sich das mühelos mit einer Unzahl an Literaturbelegen dokumentieren. Doch wäre nur wenig gewonnen, wenn die Genese jedes einzelnen Arguments nachverfolgt und die Ersterwähnung jeder Textbeobachtung notiert worden wäre. Sollte der Kommentar seinem Anspruch gerecht werden, Lesern und Leserinnen innerhalb wie außerhalb des Faches auf beschränktem Raum eine lesbare Synthese der bisherigen Forschung zu bieten und zugleich eine eigene Position zu entfalten, so mussten die Anzahl der Literaturhinweise und die Diskussion von Forschungsmeinungen auf das Notwendigste begrenzt werden. Sofern ich mich einem weitgehenden Konsens anschließe, habe ich lediglich besonders wichtige und weiterführende Untersuchungen angeführt sowie wörtliche oder sachliche Anleihen notiert. Die Diskussion abweichender Meinungen dient der Klärung der eigenen Position, wo ich eine Minderheitsmeinung vertrete, ist dies ebenfalls durch Literaturhinweise angezeigt. Ich habe Vielen zu danken: Die Arbeit an dem Kommentar wurde durch das Israel Institute for Advanced Studies an der Hebräischen Universität in Jerusalem und die Deutsche Forschungsgemeinschaft großzügig gefördert. Ich hatte das große Glück und Vergnügen, viele Aspekte der Kommentierung immer und immer wieder diskutieren zu können. Namentlich genannt seien wenigstens Erhard Blum, Walter Bührer, Detlef Jericke, Christoph Koch, Ann-Kathrin Knittel, Matthias Köckert, Konrad Schmid, Friederike Schücking-Jungblut, Dirk Schwiderski, der mir mit hebraistischer Expertise zur Seite stand, sowie Markus Witte. Den beiden Herausgebern der Kommentarreihe, Reinhard G. Kratz und Hermann Spieckermann, danke ich für ihre Langmut und ihre hilfreichen Hinweise, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die verlegerische Betreuung. Zu danken habe ich schließlich Marie Götz, Konstanze Kupski, Elisabeth Maikranz, Johanna Pähler sowie Christoph Wind. Sie haben mich bei der Literaturbeschaffung, den Korrekturen und der Kontrolle der Belegstellen tatkräftig unterstützt. Heidelberg, im September 2017

Jan Christian Gertz

Vorwort zur zweiten Auflage Die erfreulich positive Aufnahme des Kommentars hat sehr schnell eine zweite Auflage ermöglicht. Niemand wird erwarten, dass sich innerhalb von zwei Jahren die Ansichten des Verfassers grundlegend gewandelt haben, doch bot die Vorbereitung der zweiten Auflage die Gelegenheit zur abermaligen Durchsicht des Textes. Dabei konnten Fehler, auf die mich aufmerksame Leserinnen und Leser dankenswerterweise hingewiesen haben, korrigiert werden. Auch habe ich einige Formulierungen ausgeführt und präzisiert. Bei der Durchsicht haben mir Sabine Kirsch und Daniel Seifert geholfen. Heidelberg, im Oktober 2020

Jan Christian Gertz

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Zur Druckgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII 1. Quellen- und Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Antikes Judentum, Rabbinica, antikes Christentum und mittelalterliche Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Sonstige Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX 2. Grammatiken und Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI Grammatiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI 3. Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXII 4. Monographien, Sammelbände und Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . XXIII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhalt, Gliederung und Abgrenzung der biblischen Urgeschichte, ihre Stellung im Buch Genesis und im Pentateuch . . . . . . . . . . 2. Die Entstehung der biblischen Urgeschichte . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Priesterschrift in Genesis 1–11 . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der nicht-priesterschriftliche Textanteil in Genesis 1–11 2.2.1 Die ehedem selbständige Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die nachpriesterschriftliche Redaktion . . . . . . . . 3. Die biblische Urgeschichte im Rahmen der Literaturen des alten Vorderen Orients . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

I. Genesis 1, 1–2, 3: Die Erschaffung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort zum Schöpfungsbericht der Priesterschrift . . . . . . .

28 79

II. Genesis 2, 4 –3, 24: Die Paradieserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

III. Genesis 4, 1–26: Die Nachkommen des ersten Menschenpaares 1. Genesis 4, 1–16: Kain und Abel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verständnis der Sünde in Gen 2 –4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Genesis 4, 17–26: Kainiten und Setiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152 158 175 177

1 1 6 9 11 16 19

XII

Inhalt

IV. Genesis 5, 1–32: Das Register der Zeugungen Adams . . . . . . .

189

V. Genesis 6, 1–4: Göttersöhne und Menschentöchter . . . . . . . .

204

VI. Genesis 6, 5 –9, 17: Die Fluterzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220

VII. Genesis 9, 18 –29: Noachs Söhne – Hams Sündenfall und Kanaans Erbfluch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

VIII. Genesis 10, 1–32: Die Völkertafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

300

IX. Genesis 11, 1–9: Der Turmbau zu Babel . . . . . . . . . . . . . . . . . .

332

X. Genesis 11, 10 –26: Die Zeugungen Sems . . . . . . . . . . . . . . . . .

348

Zur Druckgestaltung In der Übersetzung werden Textpassagen unterschiedlicher Herkunft auf folgende Weise gekennzeichnet: halbfett Priesterschrift (Fortschreibungen in petit) kursiv Weisheitlicher Erzähler (Fortschreibungen in petit) mager Redaktion und weitere Zusätze Erläuternde Ergänzungen und Textkorrekturen sind durch normale Klammern gekennzeichnet. Einzelne Versteile werden in der Kommentierung durch Buchstaben angegeben. Die lateinischen Buchstaben a und b kennzeichnen die beiden durch den masoretischen Akzent Atnach unterschiedenen Vershälften, griechische Buchstaben kleinere Einheiten innerhalb der Teilverse, die in der Regel durch den masoretischen Akzent Zaqef qaton voneinander abgegrenzt sind. Ein * hinter einer Versangabe bedeutet, dass nur ein Teil des betreffenden Textes gemeint ist. Umschrift und Eigennamen Die Umschrift für das Hebräische ist grundsätzlich phonetisch und folgt mit einigen Vereinfachungen den fachlichen Gepflogenheiten: Auf eine Unterscheidung von harter und weicher Aussprache (Begadkephat-Laute) und Plene- oder Defektivschreibung wird verzichtet. Kurzvokale sind nicht gesondert gekennzeichnet, reduzierte Vokale sind hochgestellt, Langvokale sind durch einen Längsstrich gekennzeichnet. Damit die Wortwurzel auch für diejenigen erkennbar ist, die kein Hebräisch können, werden proklitische Wörter (Präpositionen, Artikel, He interrogativum) durch Bindestrich abgesetzt. Hebräische Wortwurzeln werden durch * vor den jeweiligen Konsonanten markiert. Zur leichteren Identifizierung beginnen Personen- und Ortsnamen mit einem Großbuchstaben, auch wenn das Hebräische dies nicht kennt. Für das Akkadische und Sumerische folgt die Umschrift R. Borger, Mesopotamisches Zeichenlexikon, AOAT  305, Münster 2003. Übrige Umschriften richten sich nach der RGG4. Die Schreibung der biblischen Eigennamen entspricht den Loccumer Richtlinien.

Abkürzungsverzeichnis Bibliographische Abkürzungen richten sich grundsätzlich nach dem Abkürzungsverzeichnis von „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG4). Zum leichteren Gebrauch sind Abkürzungen für Textausgaben, Lexika, Grammatiken etc. eigens im Literaturverzeichnis aufgeführt. Folgende Abkürzungen werden im Kommentartext oder den Anmerkungen verwendet: a.a.O. am angegebenen Ort Abb. Abbildung Anm. Anmerkung Bd. Band bes. besonders cons. consecutivum ebd. ebenda fem. femininum Fragm. Fragment hi. Hif ’il hitp. Hitpa’el hitpol. Hitpolel ho. Hof ’al Imperf. Imperfekt Impt. Imperativ Inf. Infinitiv Infinitiv absolutus Inf. abs. Inf. cstr. Infinitiv constructus mask. masculinum MS Manuskript NF Nebenform ni. Nif ’al non-P nicht-priesterschriftlich P Priesterschrift pass. passiv Perf. Perfekt Pers. Person pi. Pi’el pl. Plural po. Po’al Praep. Praeposition

Abkürzungsverzeichnis

Ptz. Partizip pu. Pu’al q. Qal R Redaktion s.i.F. siehe im Folgenden s.  o. siehe oben sg. Singular st. abs. status absolutus st. cstr. status constructus Suff. Suffix und öfter u. ö. V. Vers wE weisheitlicher Erzähler Z. Zeile

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Literaturverzeichnis 1. Quellen- und Textausgaben Bibel MT

masoretischer Text: BHS = Biblia Hebraicia. Stuttgartensia, hg. v. K. Ellinger/W. Rudolph u.  a. Stuttgart 1967/1977 (BHS), editio quinta emendata opera A. Schenker, Stuttgart 1997 und BHQ = Biblia Hebraica Quinta editione cum apparatu critico novis curis elaborato, hg. von A. Schenker u.  a., Stuttgart 2004  ff. samaritanischer Pentateuch: A. Tal, The Samaritan Pentateuch, Sam Edited According to MS  6 (C) of the Shekhem Synagogue, Texts and Studies in the Hebrew Language and Related Subjects  8, Tel Aviv 1994. LXX Septuaginta: Septuaginta. Vetus Testamentum graecum auctoritate academiae scientiarum Gottingensis editum, Göttingen 1931  ff. und Septuaginta, id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, hg. von A. Rahlfs, editio altera quam recognovit, et emendavit, hg. von R. Hanhart, Stuttgart 2006. Pesch Peschitta: Vetus Testamentum Syriace Iuxta Simplicem Versionem, ed. Institutum Peshittonianum Leidense, I/1, Praefatio. Liber Genesis – Liber Exodi, Leiden 1977. Vulg Vulgata: Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, hg. von R. Weber, Stuttgart 52007. Lat Vetus Latina: Die Reste der altlateinischen Bibel nach Petrus Sabatier neu gesammelt und hg. von der Erzabtei Beuron, 2 . Genesis, hg. von B. Fischer, Freiburg 1951–54. Lut Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, hg. v. der Evangelischen Kirche in Deutschland, rev. Fassung, Stuttgart 2017. Buber/Rosenzweig Die Schrift – verdeutscht von M. Buber gemeinsam mit F. Rosenzweig, Berlin u. a. 1926  ff. (rev. Neuausg. Gütersloh 2007 ). Zü Zürcher Bibel, hg. v. Kirchenrat der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Zürich 42013.

Antikes Judentum, Rabbinica, antikes Christentum und mittelalterliche Exegese 1Hen (äthHen)

äthiopischer Henoch: S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, JSHRZ V/6, Gütersloh 1984, 463 –780 (aram Fragmente des äthHen nach J.T. Milik, The Books of Enoch. Aramaic Fragments of Qumran Cave 4, Oxford 1976; gr. Fragmente nach M. Black, Apocalypsis Henochi Graece, Pseudepigraphica Veteris Testamenti Graecae 3, Leiden 1970).

XVIII 4Esr

Literaturverzeichnis

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Quellen- und Textausgaben

Philo QG PRE

Raschi

Sir TestAbr TestIss TFrag TJ TN

TO VitAd Weish

XIX

VII, hg. von L. Cohn/I. Heinemann/M. Adler/W. Theiler, Berlin 2 1962 , Bd. II, 381–426. Philo, Questiones in Genesim (Fragen zur Genesis): Philo. Supplemet  1: R. Marcus, Philo, Questions and Answers on Genesis, London 1953. Pirqe de-Rabbi Elieser/Sefer Pirqe Rabbi Eliʿeser: Pirke de-Rabbi Elieser nach der Edition Venedig 1544 unter Berücksichtigung der Edition Warschau 1852 aufbereitet und übers. von D. BörnerKlein, SJ 26, Berlin u.  a. 2004. Schelomo Jizchaqis Kommentar zur Tora (Pêrûš hat-tôrā ): Pentateuch with Targum Onkelos, Haphtaroth and Raschi’s Commentary, Bd. 1 Genesis, hg. von A.M. Silbermann und übersetzt von M. Rosenbaum, Jerusalem 1973. Jesus Sirach: G. Sauer, Unterweisung in lehrhafter Form. Jesus Sirach (Ben Sira), JSHRZ III/5, Gütersloh 1981, 483 –644. Testament Abrahams: E. Janssen, Unterweisung in erzählender Form. Das Testament Abrahams, JSHRZ III/2 , Gütersloh 21980, 193 –256. Testament Issachars: H.-J. Becker, Unterweisung in lehrhafter Form. Die Testamente der zwölf Patriarchen, JSHRZ III/1, Gütersloh 1974, 79 –84. Fragmenten-Targum (Targum Jeruschalmi  II): M.L. Klein, The Fragment-Targums of the Pentateuch, Bd. I–II, AnBib  76, Rom 1980. Targum Pseudo-Jonathan: E.G. Clarke, Targum Pseudo Jonathan of the Pentateuch. Text and Concordance, Hoboken, NJ 1984. Targum Neophyti: A. Díez Macho, Neophyti  I. Targum Palestinense. MS de la Bibliotheca Vaticana. Tomo I. Génesis. Edición príncip, Introduccíon general y Versión Castellana, Madrid/Barcelona 1968. Targum Onkelos: A. Sperber, The Bible in Aramaic. Based on Old Manuscripts and Printed Texts, Vol. I, Leiden, 1959. Vita Adae et Evae: O. Merk/M. Meiser, Unterweisung in erzählender Form. Das Leben Adams und Evas, JSHRZ II/5, Gütersloh 1998, 739 –870. Weisheit Salomos: D. Georgi, Unterweisung in lehrhafter Form. Weisheit Salomos, JSHRZ III/4, Gütersloh 1980, 391–478.

Sonstige Quellen 1. Sammelausgaben RTAT W. Beyerlin (Hg.), Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament, ATD Ergänzungsreihe 1, Göttingen 1975. TUAT O. Kaiser u.  a. (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, I–III, Gütersloh 1982 –1997. TUAT.NF B. Janowski/G. Wilhelm (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge I–VIII, Gütersloh 2004 –2015.  

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Literaturverzeichnis

2 . Einzelausgaben Apollodor Apollodorus. Götter und Helden der Griechen. Griechisch-Deutsche Ausgabe: Apollodor, Bibliotheke. Götter und Heldensagen, hg., übers.  u. kom. von P. Dräger, Düsseldorf/Zürich 2005. Arrianus von Nikomedien, Alexanderzug (Anabásis Aléxandrou), Arr.an. Übersetzung: G. Wirth/O. v. Hinüber, Arrian. Der Alexanderzug, Indische Geschichte, München/Zürich 1985. Atr Atra(m)ḫasis. Übersetzung: von W. Soden, Der altbabylonische Atramchasis-Mythos, TUAT III, 612 –645; K. Hecker, Atra-ḫasīs, TUAT.NF VIII, 132 –143. Stellenangaben richten sich nach der altbabylonischen Fassung, die Belegangaben der von Hecker übersetzten spätbabylonischen Fassung sind in [] notiert. Berossos s.  u. F. Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker. Denkmal memphitischer Theologie. Übersetzung: C. Peust/H. DMT Sternberg-el Hotabi, TUAT Ergänzungslieferung, 166 –175. EnEl Enuma Eliš. Übersetzung: W.G. Lambert, Enuma Elisch, in: TUAT  III, 565 –602; ders., Babylonian Creation Myths, Winona Lake, IN 2013; T.R. Kämmerer/K.A. Metzler, Das babylonische Weltschöpfungsepos Enūma elîš, AOAT  375, Münster 2012; K. Hecker, Enūma eliš, in: TUAT.NF VIII, 88 –132 . Gilgm Gilgamesch (Zwölftafel-Epos). Übersetzung und Zählung nach S.M. Maul, Das Gilgamesch-Epos. Neu übersetzt und kommentiert, München 62014. Herodot Historiae, zitiert nach Herodotus, Historien. Griechisch – Hdt. deutsch, 2 Bde., hrsg. von J. Feix, Zürich 72006. Hes.erg. Hesiod, Werke und Tage, zitiert nach Hesiod, Theogonie/Werke und Tage. Griechisch – deutsch, hrsg. von A. von Schirnding, mit einer Einführung u. Register von E.G. Schmidt, Berlin 52012 . Hes.theog. Hesoid, Theogonie, zitiert nach Hesiod, Theogonie/Werke und Tage. Griechisch – deutsch, hrsg. von A. von Schirnding, mit einer Einführung u. Register von E.G. Schmidt, Berlin 52012 . 3 KTU M. Dietrich/O. Loretz/J. Sanmartín, Die keilalphabetischen Texte aus Ugarit, 3. erw. Aufl., AOAT 360/1, Münster 2013. Luc. Prom. Lucianus von Samosata, Prometheus. Übersetzung: C.M. Wieland, Lukian. Werke in drei Bänden, Bd. I, Berlin/Weimar 1981. Orph. frg Orphicorum Fragmenta, hg. v. O. Kern, Berlin 1963. Englische Übersetzung: C.R. Holladay (Hg.): Fragments from Hellenistic Jewish Authors, Vol. 4 Orphica, Chico, CA 1996. Ov.met. Ovid, Metamorphosen. Text und Übersetzung: Ovid, Metamorphosen, hg. u. übers. von G. Fink, Düsseldorf 22007. Paus. Pausanias (Periegeta). Übersetzung: Pausanias (Periegeta), Reisen in Griechenland. Gesamtausg. in 3 Bdn. Übers. von E. Meyer, hrsg. von F. Eckstein, Zürich 31986 –1989. Plato Prot. Platon, Protagoras. Text und Übersetzung: Platon, Protagoras. Anfänge politischer Bildung, hg. u. übers. von K. u. G. Bayer, Düsseldorf 2008. Plin.nat.hist. Plinius d.Ä., Naturalis Historia. Text und Übersetzung: Plinius Secundus, Gaius, Naturkunde, Buch  6: Geographie, Asien, hg. u. übers. Von K. Brodersen, Darmstadt 1966.

Grammatiken und Lexika

Ptol.geogr.

XXI

Ptolemaios Handbuch der Geographie. Text und Übersetzung: Ptolemaios, Handbuch der Geographie (griechisch – deutsch), hg. von A. Stückelberger/G. Graßhoff, Basel 2006.

2. Grammatiken und Lexika Grammatiken GK HS Joüon/Muraoka

Wilhelm Gesenius’ Hebräische Grammatik völlig umgearbeitet von E. Kautzsch, Hildesheim 1962 . C. Brockelmann, Hebräische Syntax, Neukirchen-Vluyn 1956. P. Joüon/T. Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, Subsidia Biblica 27, Rom 2006.

Lexika ADB BRL DDD2 EBR GGG

Ges18 HAE HALAT3 NBL odb RGG4 THAT ThWAT

D.N. Freedman (Hg.), The Anchor Bible dictionary, New York u.  a. 1992 . K. Galling (Hg.), Biblisches Reallexikon, HAT 1, Tübingen 21977. K. van der Toorn/B. Becking/P.W. van der Horst (Hg.), Dictionary of Deities and Demons in the Bible, Leiden 21999. D.C. Allison/H.J. Klauck/C. Helmer (Hg.), Encyclopedia of the Bible and Its Reception, Berlin u.  a. 2009  ff. O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, QD 134, Freiburg i.  B. 62010. W. Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. 18. Aufl. neu bearb. u. hg. von U. Rüterswörden, Heidelberg 2013. J. Renz/W. Röllig (Hg.), Handbuch der althebräischen Epigraphik, Darmstadt 1995. L. Köhler/W. Baumgartner (Hg.), Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, 3. Aufl. neu bearb. v. W. Baumgartner u.  a., Leiden 1967–1996. M. Görg (Hg.), Neues Bibel-Lexikon, Zürich 1991–2001. J.C. Gertz/E. Gaß (Hg.), Ortsangaben der Bibel, 2017 ff: http:// www.odb.bibelwissenschaft.de. H.D. Betz (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 4 1998  ff. E. Jenni/C. Westermann (Hg.), Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 2 Bde., München 62004. G.J. Botterweck/H.-J. Fabry (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.  a. 1973  ff.

XXII TRE WiBiLex

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XXIX

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„Freudig traf ich auf die Erzählung vom Paradies, kurz zu lesen, aber reich zu untersuchen.“

(Ephraem der Syrer, Hymnen über das Paradies I,3)

Einleitung 1.  Inhalt, Gliederung und Abgrenzung der biblischen Urgeschichte, ihre Stellung im Buch Genesis und im Pentateuch Die biblische Urgeschichte bedenkt die Entstehung der Welt und ihrer Ordnung, das Woher des Menschen und die Ursprünge der Kultur. Ihre Erzählungen von Adam und Eva, Kain und Abel, der Arche Noach und dem Turmbau zu Babel haben wie wenige andere Literaturwerke unser Selbstund Weltbild geprägt. Ihre kosmologischen und anthropologischen Vorstellungen markierten in unserem Kulturraum über die Jahrhunderte hinweg den wichtigsten Orientierungspunkt für eine naturkundliche Welterschließung. Freilich hat die biblische Urgeschichte nach und nach ihre Position als Erklärung für die Entstehung des Kosmos und der Entwicklung des Lebens wie auch als Urkunde der Geschichte der frühen Menschheit zugunsten der modernen Wissenschaften räumen müssen. Uns Heutigen mag sie daher auf den ersten Blick wie eine kulturmächtige, gleichwohl überholte Kosmologie und Geschichtsschreibung wirken, die naturwissenschaftliche und geschichtliche Unkenntnis durch schöne Geschichten ausgleicht. Das ist sie sicher auch. Doch recht verstanden ist sie zunächst einmal der Ausdruck für die in antiken Kulturen weitverbreitete und nach dem damaligen Kenntnisstand durchdeklinierte Grundüberzeugung, dass alles Gegenwärtige und alles Zukünftige sein Wesen im Anfang erhalten hat. In diesem Sinne ist die biblische Urgeschichte von vornherein nicht nur Welterklärung, sondern auch der Versuch, die Welterfahrung deutend zu verstehen. Die dazugehörige sprachliche Ausdrucksform ist der Mythos vom Uranfang, der von dem erzählt, „was niemals geschah, aber immer ist“1. Im Zentrum dieses Nachdenkens in beispielhaften Erzählungen, zu denen sich naturkundliche, genealogische und geographische Ausführungen gesellen, die bereits über den Mythos reflektieren und mit der frühen Form einer naturkundlichen Weltsicht in Einklang zu bringen suchen, steht der Mensch in seinen vielfältigen Beziehungen zum Mitmenschen, zur nichtmenschlichen Schöpfung und zu Gott. Schon der Bericht über die Entste1  Salustios, De diis et mundo, IV, 9 (Sallustius, Concerning the gods and the universe, griechengl., hg. von A.D. Nock, Cambridge 1926, Nachdr. Hildesheim 1988).

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Einleitung

hung der Welt und ihre zeitliche wie räumliche Ordnung (Gen  1, 1–2, 3) ist ganz auf die Erfahrungswelt des Menschen hin ausgerichtet. Aussagen über die Welt vor der Schöpfung, über den Himmel oberhalb des sichtbaren Himmels oder die Tiefen des Meeres sind auf das absolut Notwendige reduziert, während die Beauftragung und Befähigung des Menschen zur Herrschaft über die Welt und die nichtmenschliche Schöpfung prominent am Ende der Schöpfungswerke stehen und breiten Raum einnehmen. Für die Erzählungen vom Paradies (Gen  2, 4  –3, 24) und vom Brudermord (Gen  4, 1–16) sowie die genealogischen Notizen über die Nachkommen Kains (Gen 4, 17– 24) liegt die ätiologische Ausrichtung auf die Grundgegebenheiten menschlicher Existenz noch deutlicher zu Tage. Vor dem kontrastierenden Hintergrund des paradiesischen Gartens als dem verlorenen Ort einer mühelosen und ungefährdeten Lebenssicherung und eines naiv-ungetrübten Verhältnisses zwischen Mann und Frau sowie des Menschen zu Gott beschreiben sie die Ambivalenz menschlicher Existenz: Die wesensmäßige Verbindung des Menschen mit dem Ackerboden, von dem er genommen ist (Gen 2, 7 ), von dem er in mühseliger Arbeit seine Nahrung gewinnt und zu dem er im Tod zurückkehrt (Gen 3, 17–19); die geschöpfliche Nähe und gleichzeitige Feindschaft zwischen Mensch und Tier (Gen  2, 18 f; 3, 15); die Freude der Geburt unter Schmerzen (Gen 3, 16); die Verkehrung menschlicher Nähe in ein Herrschaftsgefälle zwischen Mann und Frau (Gen 3, 16); die Erfahrung von Förderung oder Schädigung, die der Mensch unabhängig von seiner Leistung, gleichsam schicksalhaft erfährt und die durch diese Erfahrung hervorgebrachte tödliche Gewalt unter Brüdern (Gen 4, 1–16); die fortschreitende kulturelle Entwicklung (Gen  3, 21; 4, 17. 20 –22) durch die Entdeckung des praktischen Wissens (Gen  3, 7 ) bei gleichzeitig abnehmender Gottesnähe (Gen  3, 24; 4, 11. 14) und zunehmender Gewalt (Gen  4, 8. 14  –15. 23 –24); die Möglichkeit der Weitergabe des Lebens (Gen  3, 20; 4, 1) und die dem Menschen mit der Vertreibung aus dem Paradies gesetzte Grenze des Todes (Gen 3, 22. 24). Mit der Todesgrenze klingt neben der ambivalenten Welterfahrung ein weiteres Bestimmungsmerkmal menschlicher Existenz an, und zwar die Unterscheidung von göttlicher und menschlicher Sphäre (Gen 3, 22). Dies wird in der Episode der sexuellen Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern nochmals aufgegriffen (Gen 6, 1–  4) und in der Turmbauerzählung auch in räumlicher Perspektive entfaltet (Gen 11, 1–9). Grundsätzliche Aussagen zum Wesen des Menschen rahmen schließlich auch die umfangreiche Fluterzählung (Gen  6, 5 –9, 17 ). Der unabänderliche Hang des Menschen zum Bösen und das Übermaß an Gewalttat provozieren Gottes Beschluss zur nahezu vollständigen Vernichtung allen Lebens (Gen  6, 5 –7. 11–13) und bestimmen nach der Flut das resignierte Urteil des Schöpfergottes über den Menschen (Gen  8, 21). Als Gegenmythos zur Schöpfungsgeschichte, der die Schöpfung aufgrund ihrer „Verderbnis“ bis an den Rand des Abgrundes der vollständigen Vernichtung führt, markiert die Sintfluterzählung einen tiefen Einschnitt. Mit ihr endet die Entstehung

Inhalt, Gliederung und Abgrenzung und Stellung

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der Welt und der Bedingungen des menschlichen Daseins. Zugleich verkörpert sie den Auftakt der bis in die Gegenwart der Leser reichenden Epoche der Geschichte dieser Welt, hinter den es kein Zurück in die Welt des Uranfangs gibt. In dieser zweifachen Perspektive symbolisiert sie, dass die grundsätzliche Infragestellung der Schöpfung durch den Schöpfergott ein für alle Mal überwunden ist – wenn auch um den Preis einer im Kontrast zum ursprünglichen Schöpferwillen stehenden Ordnung regulierter Gewalt (Gen 8, 21–22; 9, 9 –17 ). Die biblische Urgeschichte wird durch die sogenannte Toledotformel „Dies sind die Toledot/Zeugungen von N.N.“ gegliedert. Diese nach dem hebräischen tōl edōt („Familiengeschichte“, „Genealogie“2) benannte Formel trennt den Schöpfungsbericht als Prolog von der mit der Paradieserzählung einsetzenden Geschichte der Menschen ab (Gen  2, 4a). Im Fortgang unterteilt sie die Ereignisfolge in die „Toledot/Zeugungen“ Adams (Gen  5, 1), Noachs (Gen  6, 9), der Söhne Noachs (Gen  10, 1) und Sems (Gen  11, 10). Nach dieser Gliederung endet die Urgeschichte mit den Nachkommen des Noachsohnes Sem. Mit den auf Abraham hinauslaufenden „Toledot/ Zeugungen“ Terachs (Gen  11, 27 ) beginnt dann nahtlos die Geschichte der Erzeltern Israels. Daneben ist noch eine zweite Abgrenzung erkennbar. In Analogie zu einigen Literaturwerken des alten Vorderen Orients, in denen der Mythos vom Uranfang die Epochen von Schöpfung und Flut umfasst, kommt auch in der Bibel die Darstellung der Anfänge schon mit dem Ende der Sintfluterzählung an ihr (vorläufiges) Ziel. Die auf die Fluterzählung unmittelbar folgenden Begebenheiten sind nämlich eher als Zeit zwischen der Urgeschichte und der Vorgeschichte des Volkes Israel zu charakterisieren. Diese Zwischenzeit ist insofern urgeschichtlich, als die Völkertafel und die Turmbauerzählung auf die gesamte Menschheit bezogen sind, die in der Turmbauerzählung sogar als handelndes Subjekt auftritt (vgl. Gen  11, 1). Auch nehmen die Unterschrift der Völkertafel und der Auftakt der Genealogie Sems jeweils die Flut zum „ereignisgeschichtlichen“ Ausgangspunkt ihrer Chronologie (Gen  10, 32; 11, 10). Zugleich kündigt sich in der Erzählung von Noach und seinen Söhnen der Antagonismus zwischen „Israel“ und „Kanaan“ an. Dieser prägt die nachfolgende Darstellung der Geschichte Israels über weite Teile und stellt wie die Aufteilung der Menschheit in die ethnisch und geographisch gegliederte Welt der Völker des alten Vorderen Orients kein urgeschichtliches Thema im engeren Sinne mehr dar.3

2  3 

Die Übersetzung von tōl edōt mit „Zeugungen“ folgt Buber/Rosenzweig. Zur Diskussion vgl. Baumgart, Umkehr, 34  –37; Witte, Urgeschichte, 48 –50.

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Einleitung

Aufbau der biblischen Urgeschichte und ihrer Bestandteile Der Gesamttext Die Urgeschichte nach P Der nicht-priesterliche Bestand4 Schöpfung Toledot des Himmels und der Erde (Gen 1,1–2,3) Paradieserzählung (Gen 2, 4  –3, 24) Kain und Abel (Gen 4, 1–26) Toledot Adams: Genealogie von Adam bis Noach (Gen 5,1–32*) Flut Engelehen (Gen 6,1–  4) Fluterzählung Toledot Noachs: (Gen 6, 5 –9, 29*) ­Fluterzählung (Gen 6, 9 –9, 29*) Zwischenzeit Toledot der Söhne Noachs: (Gen 10*) Völkerliste (Gen 10*) Turmbau (Gen 11, 1–9) Toledot Sems: Genealogie von Sem bis Terach (Gen 11, 10 –26*) Väterzeit Genealogie von Terach bis Abram (Gen 11, 27–32*) Die Frage der Abgrenzung der biblischen Urgeschichte berührt diejenige nach ihrer Stellung im Buch Genesis und im gesamten Pentateuch5. Als Be4  Bestandteile der ehedem selbständigen Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers sind fett gedruckt. Hierzu und zur Unterscheidung der priesterschriftlichen (P) und der nichtpriesterschriftlichen Passagen s. im Folgenden unter 2 . Die Entstehung der biblischen Urgeschichte. 5  Pentateuch, griechisch/lateinisch „das fünfteilige (Buch)“, ist die in der Wissenschaft übliche Bezeichnung für die Tora, zu Deutsch „Weisung“, die fünf Bücher Mose der deutschen Bibeln reformatorischer Tradition.

Inhalt, Gliederung und Abgrenzung und Stellung

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schreibung eines jeder Geschichte vorausliegenden Urgeschehens stellt sie eine in sich geschlossene Größe dar und ist auch in der Folgezeit immer wieder als solche rezipiert worden. Doch auch wenn sie die allgemeinen Menschheitsthemen anspricht und das Ursprungsgeschehen der conditio humana erzählt, so handelt es sich hierbei nicht um „die Welt“ oder „den Menschen“ im Allgemeinen, sondern stets um die Konkretion dieser Allgemeinbegriffe, also die vorfindliche Welt und den vorfindlichen Menschen. Für die biblische Urgeschichte bedeutet dies die Ausrichtung auf eine wie auch immer zu bestimmende Größe Israel. Schon die Schöpfung der Welt in sechs Tagen sowie der Gottesruhe am siebten Tag ist nach der Struktur des Sabbats ausgerichtet, auch wenn der Sabbat selbst ein Privileg Israels ist und deswegen nicht explizit erwähnt wird (s.  u. zu Gen 2, 1–3). Noachs Arche ist eine Schöpfung im Kleinen und zugleich nach dem Modell des späteren Jerusalemer Tempels gestaltet (s.  u. zu Gen 6, 14  –16), der seinerseits die im Schöpfungsbericht dargelegte kosmische Ordnung widerspiegelt (s.  u. zu Gen  2, 1–3). Sem, Ham und Jafet sind die Söhne Noachs, die mit ihrem Vater, ihrer namenlosen Mutter und ihren ebenfalls namenlosen Frauen die Flut überleben und von denen es im Anschluss an die Flut heißt: „Diese drei sind die Söhne Noachs und von ihnen aus bevölkerte sich die ganze Erde.“ (Gen 9, 19). Dieser Gedanke wird in der Völkertafel entfaltet (Gen  10, 1–32) und führt schließlich auf die bis Terach und Abraham reichende Genealogie Sems (Gen 11, 10 –26). Am Ende der biblischen Urgeschichte steht also die spezielle Geschichte des Auszugs der Vorfahren Israels aus Ur in Chaldäa. Damit läuft das Urgeschehen auf die mit Gen  12 einsetzende Ursprungsgeschichte Israels hinaus. Besonders deutlich lässt sich diese Perspektive an den Toledotformeln aufweisen. Sie gliedern nicht allein Gen 1–11, sondern auch die Geschichte der Erzeltern Israels (Gen  25, 12. 19; 36, 1. 9; 37, 2), wobei die Geschichte des Volkes Israel in die „Toledot/Zeugungen Jakobs“ (Gen  37, 2) eingereiht ist, insofern Jakob den Namen Israel erhält (Gen  32, 29; 35, 10) und der Vater der zwölf Stämme Israels ist. Ferner zieht sich das mit dem Schöpfungsbericht anhebende Thema von Mehrung und Segen wie ein Leitmotiv zunächst durch die Urgeschichte und dann durch die nachfolgende Geschichte der Erzeltern und die Gründungsgeschichte des Volkes Israel: Nach der Menschenschöpfung segnet Gott den Menschen und setzt ihn als seinen Beauftragten zum Herrscher über die Erde und ihre Lebewesen ein (Gen 1, 28). Nach der Flut segnet er den Menschen abermals und richtet seinen Bund mit ihm auf (Gen 9, 1–17). Das Motiv von Segen und Bund wird dann mit Blick auf Abraham und seine Nachkommen aufgegriffen und entfaltet. Gott offenbart sich Abraham und richtet seinen Bund mit ihm und seinen Nachkommen auf. Abraham wird zum Vater vieler Völker, vor allem aber wird er zum Ahnherrn des Volkes Israel, dem die Bundeszusage und die Verheißung von Gottesgegenwart und Landgabe gelten (Gen 17). Auch Jakob werden Fruchtbarkeit und Segen zugesprochen (Gen 35), wie es sich dann für Israel in Ägypten realisiert (Ex 1, 7). Auf den Aufenthalt Israels in Ägypten weisen schließlich auch sprachliche Anklänge in der Turmbauerzählung hin (s.  u. zu Gen 11, 1–9). In

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Einleitung

Verbindung mit der „Berufung Abrahams“ (Gen  12, 1–3) charakterisieren diese Abrahams Auszug aus Mesopotamien als exemplarische Vorwegnahme von Israels Exodus aus Ägypten.

2.  Die Entstehung der biblischen Urgeschichte Schon wegen der skizzierten Verbindungslinien lässt sich die Entstehung von Gen 1–11 nicht gänzlich unabhängig von derjenigen der nachfolgenden Kapitel der Genesis und der übrigen Bücher des Pentateuchs erörtern. Darüber hinaus ist in forschungsgeschichtlicher Hinsicht zu berücksichtigen, dass die literarhistorische Analyse des Pentateuchs mit der Untersuchung der biblischen Urgeschichte eingesetzt hat und diese auch in der jüngeren Forschung vielfach noch als Paradigma für die Entstehung des gesamten Pentateuchs dient. Dies zu entfalten, kann jedoch nicht Aufgabe der Einleitung eines Kommentars zu Gen 1–11 sein. Vielmehr ist es geboten, sich auf einige wenige Seitenblicke zu beschränken. Sachlich lässt sich dies mit der in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion zunehmend geteilten Annahme rechtfertigen, nach der Gen 1–11 in weiten Teilen in relativer Unabhängigkeit zum restlichen Pentateuch entstanden ist. Dies gilt im Übrigen in ähnlicher Weise auch für die Geschichte der Erzeltern, die Erzählung von Mose, Exodus und dem Sinai sowie der Landnahme und schließlich auch für Teile der Rechtssammlungen des Pentateuchs: Der Gesamtentwurf der von der Schöpfung der Welt bis zur Eroberung des Landes reichenden Pentateucherzählung ist wesentlich jünger als die einzelnen Überlieferungsblöcke. Diese haben in aller Regel eine eigenständige Vorgeschichte und wurden erst im Laufe ihrer Entstehung zu größeren Teilkompositionen und schließlich zum Gesamtwerk verbunden.6 In ihren Anfängen im 17. und frühen 18. Jh. war die Pentateuchforschung von der Frage nach der literarischen Einheit des Pentateuchs und mehr noch nach der Rolle Moses bei seiner Abfassung bestimmt. Die bei einer historischen Betrachtung naheliegende Frage, wie Mose im Buch Genesis über die Begebenheiten vor seiner Zeit berichten konnte, wurde mit der wirkmächtigen Annahme beantwortet, Mose habe auf Urkunden zurückgreifen können. Auch wenn die Frage nach der Mosaizität des Pentateuchs von der Forschung 6  Für eine Skizze der eigenen Position vgl. Gertz, Tora. Zur Pentateuchforschung und ihrer Geschichte vgl. C. Houtman, Der Pentateuch. Die Geschichte seiner Erforschung neben einer Auswertung, CBET  9, Kampen 1994; speziell zur Genesis und zur biblischen Urgeschichte vgl. J.-L. Ska, The Study of the Book of Genesis: The Beginning of Critical Reading, in: C.A. Evans/ J.N. Lohr/D.L. Petersen (Hg.), The Book of Genesis. Composition, Reception, and Interpretation, VT.S 152, Leiden 2012, 3 –26; J.C. Gertz, Genesis in Source and Redaction Criticism Today, in: B.T. Arnold (Hg.), The Cambridge Companion to Genesis, Cambridge 2021; Witte, Urgeschichte, 1–52; zur Dokumentation der jüngeren und jüngsten Diskussionslage die Beiträge in T. Dozeman/K. Schmid/B. Schwartz (Hg.), The Pentateuch, FAT 78, Tübingen, 2011; J.C. Gertz/B.M. Levinson/D. Rom-Shiloni/K. Schmid (Hg.), The Formation of the Pentateuch, FAT 111, Tübingen 2016.

Die Entstehung der biblischen Urgeschichte

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schon im 19. Jh. endgültig zu den Akten gelegt und in eine Literaturgeschichte anonymer Schriften aus weit späteren Epochen der Geschichte Israels überführt wurde, so hat die „Entdeckung“ von zwei Urkunden in Gen 1–11 aufgrund inhaltlicher Spannungen und Doppelungen sowie sprachlicher und stilistischer Unterschiede einen bis heute gültigen Grundkonsens der Forschung begründet. Danach lassen sich in der biblischen Urgeschichte aufgrund ihres jeweiligen sprachlichen und inhaltlichen Profils und ihrer jeweiligen internen Querbezüge zwei Gruppen von Texten unterscheiden. Ihre Abgrenzung ist seit den grundlegenden Analysen von Hermann Hupfeld (1796 –1866), Eberhard Schrader (1836 –1908), Karl Budde (1850 –1935) und Hermann Gunkel (1862 –1932) mit Ausnahme einiger Details unstrittig. Das gilt auch für diejenigen Passagen, in denen die beiden Textgruppen wie in der Sintfluterzählung kunstvoll zu einem neuen Ganzen verwoben sind.7 Die erste Gruppe setzt in Gen 1, 1 mit dem Schöpfungsbericht ein. Zu ihr gehören ferner das Register der Zeugungen Adams, eine Version der Sintfluterzählung, der Hauptbestand der Völkertafel und die Genealogie Sems. Die Texte dieser Gruppe werden durch die Toledotformel strukturiert und sind somit deutlich auf eine Fortsetzung in der Geschichte der Erzeltern Israels hin angelegt. Entsprechendes gilt für den Schöpfungsbericht, dessen Aussagen zur räumlichen und zeitlichen Ordnung der Welt in der Darstellung der Einrichtung des Zeltheiligtums am Sinai aufgegriffen werden. Auch das Leitmotiv von Mehrung und Segen, das sich zunächst durch die Urgeschichte und dann durch die nachfolgende Geschichte der Vorfahren Israels und die Gründungsgeschichte des Volkes zieht, hat hier seinen Ausgangspunkt. Schließlich zeichnen sich die Texte dieser Gruppe wie auch ihre Bezugstexte im weiteren Verlauf des Pentateuchs durch eine eigentümliche Sprache, einen definitorischen Stil sowie durch ihr Interesse an chronologischen und genealogischen Sachverhalten aus und entwickeln mit diesen gemeinsam eine von der Schöpfung bis zur Etablierung des Kultes am Sinai reichende universalhistorische Perspektive. Die verschiedenen Modelle zur Entstehung des Pentateuchs werten diesen Befund einhellig so aus, dass sie von einem entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang der fraglichen Passagen in Gen 1–11 mit den gleichsinnigen Abschnitten in den nachfolgenden Büchern des Pentateuchs ausgehen. Aufgrund ihres sprachlichen und theologischen Profils werden diese Texte modellübergreifend als priesterschriftlich (bzw. priesterlich) bezeichnet.8 Weitgehende Einmütigkeit besteht auch über ihre Datierung in die erste Hälfte des 6. Jh. v. Chr. Die Texte zur 7  H. Hupfeld, Die Quellen der Genesis und die Art ihrer Zusammensetzung von neuem untersucht, Berlin 1853; E. Schrader, Studien zur Kritik und Erklärung der biblischen Urgeschichte. Gen Cap. I–XI, Zürich 1863; Budde, Urgeschichte; Gunkel, Genesis. 8  Das Siegel „P“ für „Priesterschrift“ geht auf Abraham Kuenen (1821–1891) zurück. Vgl. A. Kuenen, Dina en Sichem, ThT  14 (1880) 257–281. Ältere Arbeiten sprechen wegen der Gottesbezeichnung „Elohim“ (Gott) von „Elohim-Epos“ oder von „Grundschrift“, weil sie die priesterschriftlichen Texte als Grundlage der Pentateucherzählung beurteilen. In der Bezeichnung „priesterschriftlich/Priesterschrift“ klingt die Vorstellung eines ehedem selbständigen Literaturwerks an.

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Einleitung

Errichtung des Zeltheiligtums am Sinai stehen in einem sachlichen Zusammenhang mit dem zweiten Jerusalemer Tempel, dem 515 v. Chr. geweihten Nachfolgebau des 587/6 v. Chr. durch Nebukadnezzar II. zerstörten ersten („salomonischen“) Tempels, womit freilich nicht ausgeschlossen ist, dass die gedanklichen Voraussetzungen dieses Literaturwerks zum Teil in die Zeit vor dem babylonischen Exil zurückreichen. Zur zweiten Gruppe gehören die Paradieserzählung, die Erzählung von Kain und Abel, die Genealogie von Kain und Set, die Episode von den Göttersöhnen und Menschentöchtern, eine zweite Version der Sintfluterzählung, die Erzählung von Noach und seinen Söhnen, einige Verse der Völkertafel sowie die Turmbauerzählung. Die Neuere Urkundenhypothese, die in ihrer maßgeblich von Julius Wellhausen (1844  –1918) formulierten und später von Martin Noth (1902 –1968) modifizierten Gestalt über lange Zeit geradezu unhinterfragte Gültigkeit hatte, weist diese Texte dem sogenannten Jahwisten ( J) zu.9 Der Jahwist, der seinen Namen der Verwendung des Gottesnamens Jhwh10 verdankt, gilt als ein ehedem selbstständiges Literaturwerk aus der frühen Königszeit. Dieses habe wie die exilische oder frühnachexilische Priesterschrift (P) sowie der erst mit den Erzählungen um Abraham einsetzende und aus dem Nordreich stammende Elohist (E) die Hauptthemen der Pentateucherzählung umfasst. In einem mehrstufigen redaktionellen Prozess sei der Jahwist zunächst mit dem Elohisten zum Jehowisten ( JE) und später mit der Priesterschrift und dem im Kern aus der ausgehenden Königszeit stammenden Buch Deuteronomium verbunden worden.11 In der gegenwärtigen Diskussion ist die Teilhypothese eines Elohisten weitgehend aufgegeben worden. Darüber hinaus ist hinsichtlich des Jahwisten so ziemlich alles strittig: die literarische und theologische Kohärenz, die Abgrenzung und literarische Erstreckung sowie das Alter und das theologische Profil. Aus diesem Grund werden die jahwistischen Texte unter Einschluss der ehedem dem Elohisten zugeschriebenen Texte in der jüngeren Forschung zunehmend als „nicht-priesterschriftlich“ (non-P) bezeichnet. Diese relativ unspezifische Bezeichnung ist darin zutreffend, dass sie das eine gemeinsame Merkmal dieser Texte benennt und alle weiteren Festlegungen meidet. Ob das Gros der nicht-priesterschriftlichen Texte vor der Verbindung mit der Priesterschrift Teil eines übergreifenden Erzählwerks gewesen ist und ob Daher wird im Rahmen von Modellen, die in den P-Texten eine Bearbeitungsschicht erkennen, die Bezeichnung „priesterlich/priesterliche Redaktion/priesterliche Komposition“ bevorzugt. 9  Wellhausen, Composition; Noth, Überlieferungsgeschichte. 10  Die Aussprache der vier Buchstaben yhwh, die im hebräischen Text den Gottesnamen bezeichnen, hat nach einigen spätantiken Zeugnissen „Jahwe“ gelautet. Aus Respekt vor der Heiligkeit des Namens (vgl. Ex 20, 7 ) wurde sein Aussprechen im Judentum schon relativ früh gemieden und stattdessen ʾadōnāy „(mein) Herr“ gelesen. Die LXX gibt den Namen entsprechend mit κύριος „Herr“ wieder. Ihr folgen Luther und die meisten deutschen Bibelübersetzungen und lesen „der Herr“. Im wissenschaftlichen Kontext ist die Verwendung des Tetragramms „Jhwh/JHWH“ weithin gebräuchlich. 11  Vgl. für eine knappe Darstellung Gertz, Tora, 205 –210.

Die Entstehung der biblischen Urgeschichte

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einzelne Texte älter sind als die Priesterschrift oder diese bereits voraussetzen und ergänzen, wird kontrovers diskutiert und ist jeweils im Einzelfall zu prüfen. Das gilt auch für die biblische Urgeschichte – und damit endet der eingangs genannte Konsens. 2.1  Die Priesterschrift in Genesis 1–11

Nach der im Kommentar entfalteten Analyse gehören in Gen 1–11 folgende Texte zur Priesterschrift: Gen  1, 1–2, 3 (Schöpfung des Himmels und der Erde); 5, 1–27. 28*. 30 –32 (Toledot/Zeugungen Adams); 6, 9 –22; 7. 6 –7. 11. 13 –16a. 17a*. 18 –21. 24; 8, 1–2a. 3 –5. 13a. 14  –19; 9, 1–18a(. 19?). 28 –29 (Toledot/Zeugungen Noachs); 10, 1–7. 20. 22 –23. 31–32 (Toledot/Zeugungen der Söhne Noachs mit der Völkertafel); 11, 10 –26 (Toledot/Zeugungen Sems). Gen 2, 1; 7, 24; 8, 3b; 9, 16; 10, 4b sind sekundär-priesterschriftliche Eintragungen. Die Zuweisung von Gen 9, 19 an die Priesterschrift ist unsicher. Die Priesterschrift ist eine vergleichsweise beständige Größe in der gegenwärtigen Pentateuchforschung. Über die Abgrenzung der im weiteren Sinne zur Priesterschrift gehörigen Texte herrscht seit Theodor Nöldeke (1836 –1930) im Wesentlichen Einmütigkeit.12 Umstritten sind hingegen die literarhistorische Differenzierung innerhalb der Priesterschrift und die damit zusammengehörigen Fragen nach der Reichweite der Priesterschrift und ihrem ursprünglichen literarischen Charakter. Die Diskussion darüber, ob die Priesterschrift ursprünglich in Dtn 34* mit Moses Tod und einem Ausblick auf die Inbesitznahme des Landes geendet hat oder  – wahrscheinlicher  – schon in Ex 40* mit der Errichtung des Zeltheiligtums am Sinai und dem Einzug Jhwhs in das Heiligtum, muss an dieser Stelle nicht aufgegriffen werden. In der Perspektive der priesterschriftlichen Textanteile in Gen 1–11 erscheinen jedenfalls die Ereignisse am Sinai als der Höhe- und Zielpunkt der priesterschriftlichen Erzählung, während sich für das vermutete Ende in Dtn 34* keine Rückbezüge zum Anfang in der Urgeschichte aufzeigen lassen.13 Die Debatte über den ursprünglichen literarischen Charakter ist dagegen für das Verständnis der priesterschriftlichen Texte von unmittelbarer Bedeutung: Lassen sich die priesterschriftlichen Texte in Gen 1–11 als ein eigen12  T. Nöldeke, Die s.g. Grundschrift des Pentateuchs, in: ders., Untersuchungen zur Kritik des Alten Testaments, Kiel 1896, 1–144. 13  Dies gilt auch für Überlegungen von N. Lohfink, Die Priesterschrift und die Geschichte, in: ders., Studien zum Pentateuch, SBA.AT 4, Stuttgart 1988, 213 –253, wonach die Priesterschrift bis ins Buch Josua reicht. Vgl. ferner E.A. Knauf, Buchschlüsse in Josua, in: T. Römer/K. Schmid (Hg.), Les dernièrs rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque, BETL 203, Leuven 2007, 217–227, 219. Für diese Annahme wird auf sprachliche Entsprechungen zwischen Gen  1, 28 und Jos  18, 1; 19, 51 und den Umstand verwiesen, dass von den Segensankündigungen in Gen 1, 28 einzig die Inbesitznahme des Landes ausstehe. Doch der Besitz der Erde in Gen 1, 28 beschreibt den Herrschaftsbereich des zur Herrschaft über die Tiere befähigten Menschen. Dies ist etwas anderes als die Inbesitznahme des Landes Kanaan durch die Israeliten und die Unterwerfung seiner Vorbewohner.

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ständiger Entwurf lesen oder sind diese schon immer auf die nicht-priesterschriftlichen Texte der biblischen Urgeschichte bezogen? Auch wenn sich die Forschungsmehrheit nach wie vor dafür ausspricht, dass die Priesterschrift eine ehedem selbständige Quellenschrift gewesen ist, so hat die intensive Debatte der letzten Jahre doch einige Neujustierungen zur Folge gehabt:14 Für die priesterschriftlichen Textanteile an Gen 1–11 hat sich bei der Kommentierung die These eines sich selbst tragenden priesterschriftlichen Fadens bewährt.15 Ähnliches gilt für die Exoduserzählung. Dagegen sieht der Befund für die Erzählungen von den Erzeltern und in der Josefsgeschichte ganz anders aus und es bleibt zu überlegen, ob hier die ohnehin nur spärlich vertretene Priesterschrift nicht von vornherein die nicht-priesterschriftlichen Textanteile integriert hat. Sie wäre dann in Gen 12 –50 als Bearbeitungs- oder Kompositionsschicht anzusprechen, die im Anschluss an eine eigenständig formulierte Urgeschichte eine von ihr redigierte Erzeltern- und Josefsgeschichte mit einer eigenen Darstellung der Entstehung des Volkes Israel in Ägypten und der Mosezeit fortgesetzt hat.16 Wie auch immer der Befund in Gen 12 –50 auszuwerten ist, in jedem Fall bilden die priesterschriftlichen Texte in Gen 1–11 den Auftakt eines größeren, ehedem selbständigen Literaturwerks, das in der frühnachexilischen Zeit den Versuch unternimmt, „die Ursprungs- und Gründungsgeschichte des Volkes von Grund auf neu zu erzählen, um den Menschen [seiner] Generation wieder Orientierung und Hoffnung zu vermitteln“17. Im Rahmen dieser Selbstvergewisserung in einer fortwährenden Krisenerfahrung liegt der besondere Beitrag der Urgeschichte in der Betonung des souveränen Handelns des transzendenten Schöpfergottes, der im Bund mit Noach und seinen Nachkommen seinen universalen Heilswillen bekundet und sich im Fortgang der Heilsgeschichte als der Gott Israels erweisen wird. Die priesterschriftliche Urgeschichte ist literarisch weitgehend einheitlich; Ergänzungen der noch selbständigen Priesterschrift beschränken sich auf wenige (Teil-)Verse.18 Dies schließt freilich nicht aus, dass die Texte eine 14  Vgl. dazu die Beiträge in S. Shectman/J.S. Baden (Hg.), The Strata of the Priestly Writings. Contemporary Debate and Future Directions, AThANT  95, Zürich 2009; F. Hartenstein/K. Schmid (Hg.), Abschied von der Priesterschrift? Zum Stand der Pentateuchdebatte, VWGTh 40, Leipzig 2015. 15  Zur Begründung vgl. den Kommentar zu den P zugewiesenen Passagen, ferner Gertz, Genesis 5; für eine Gegenposition vgl. Blum, Studien, 278 –285. 16  Vgl. Gertz, Genesis  5; J. Wöhrle, Fremdlinge im eigenen Land. Zur Entstehung und Intention der priesterlichen Passagen der Vätergeschichte, FRLANT 246, Göttingen 2012 . 17  J. Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT  6, Göttingen 2015, 244 (im Original mit Hervorhebung). 18  Für den Nachweis kann auf die Kommentierung verwiesen werden, jedoch sollen zwei ganz unterschiedliche Gegenpositionen exemplarisch an dieser Stelle genannt sein: So rechnet Levin, Tatbericht, in Gen  1, 1–2 , 3 neben einer Vorlage und deren priesterschriftlicher Edition mit sehr umfangreichen sekundär-priesterschriftlichen Nachbearbeitungen. B. Arnold, The Holiness Redaction of the Primeval History, ZAW  129 (2017 ) 483 –500, weist dagegen Gen  1, 1–2 , 3 der sog. „Holiness School“ zu, die hauptsächlich darum bemüht war, die Gesetzgebung des Heiligkeitsgesetzes in Lev 17–26 weiterzuentwickeln und andere Traditionen, vornehmlich diejenigen der

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längere Vorgeschichte haben. So lässt sich für den Schöpfungsbericht vermuten, dass der Priesterschrift eine Aufzählung von Gottes Schöpfungstaten vorgegeben war. Eine genaue Abgrenzung dieser „Vorlage“ ist allerdings kaum noch möglich. Sehr wahrscheinlich stammt sie ihrerseits schon aus priesterlichen Kreisen und ist somit ein Indiz dafür, dass die in frühnachexilischer Zeit konzipierte Priesterschrift auf älteren priesterlichen Traditionen und Vorstellungen aufruht. Ähnliches gilt wohl auch für die Genealogien in Gen  5 und 11 sowie die Völkertafel in Gen  10. Die Überschrift „Dies ist das Register der Toledot/Zeugungen Adams“ und erkennbare Nahtstellen in Gen  5, 1–3; 11, 10 –11 legen die Vermutung nahe, dass die Priesterschrift ihre Erzählstoffe in ein vorgegebenes „Toledotbuch“ eingeschrieben hat. Für die Völkertafel wird man an überkommene Listen von Handelspartnern oder dergleichen zu denken haben. Darüber hinaus steht die Priesterschrift in einem breiten Traditionsstrom der Religions- und Literaturgeschichte des alten Vorderen Orients, dessen Gedankenwelt sie eigenständig aufnimmt und weiterdenkt. Gänzlich ungewiss ist dagegen, ob die Priesterschrift die mutmaßlich älteren nicht-priesterschriftlichen Texte in Gen 1–11 gekannt hat und auf diese reagieren wollte. Der in der Forschung gelegentlich festgestellte „dialogische Charakter“ der biblischen Urgeschichte lässt sich jedenfalls für die priesterschriftlichen Texte im Verhältnis zu den nicht-priesterschriftlichen Texten nicht aufzeigen. Er ist eher das Ergebnis redaktioneller Tätigkeit. 2.2  Der nicht-priesterschriftliche Textanteil in Genesis 1–11

Seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jh. wird die Neuere Urkundenhypothese zunehmend in Frage gestellt. Zwar spielt sie in der exegetischen Diskussion nach wie vor eine gewichtige Rolle, im Detail wird sie aber mit derartig großen Unterschieden vertreten, dass kaum noch von einem einheitlichen Modell gesprochen werden kann. Auch konnten sich in Anknüpfung wie Widerspruch zur Neueren Urkundenhypothese weitere Entstehungsmodelle etablieren. Besonders strittig ist in dieser zuweilen unübersichtlichen Forschungslage die literarhistorische Einordnung der nicht-priesterschriftlichen Texte. Dies liegt in erster Linie daran, dass diese innerhalb wie außerhalb der Urgeschichte in sprachlicher und theologischer Hinsicht wesentlich disPriesterschrift, den Vorstellungen und Intentionen des Heiligkeitgesetzes anzugleichen. In Gen 1–11 sei die „Holiness School“ für die Verbindung von P und non-P verantwortlich; sie habe den Schöpfungsbericht beiden Werken vorangestellt und darüber hinaus den priesterschriftlichen Text mehr oder weniger umfangreich bearbeitet. Die Priesterschrift beginnt nach Arnold mit Gen  5, 1 und umfasst in der Urgeschichte nur die Genealogien, die Völkertafel und einen Kernbestand der Fluterzählung (ohne Prolog und Epilog in 6, 9 –22; 9, 1–17, die üblicherweise P, von Arnold hingegen der „Holiness School“ zugeschrieben werden). Carr, Formation, 26 –29, erwägt wiederum in Gen 1, 1–2 , 3 eine am Sabbat interessierte Redaktion, die er in die Nähe der Holiness School rückt.

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parater sind als die Priesterschrift und zahlreiche Inkohärenzen aufweisen. Dieser Befund wurde im Rahmen der Neueren Urkundenhypothese für Gen 1–11 eine Zeit lang mit der Annahme mehrerer Rezensionen des Jahwisten erklärt.19 Nachhaltiger wirkten Erklärungen, die von späteren Überarbeitungen eines jahwistischen Grundbestandes sowie der Verarbeitung vorjahwistischer Quellen durch den Jahwisten ausgehen.20 Dass die dem Jahwisten zugeschriebenen Texte keinen geschlossenen Erzählzusammenhang bilden, wird zumeist auf die redaktionelle Verbindung mit der Priesterschrift zurückgeführt, die der Redaktion als Grundlage gedient habe.21 Die grundsätzliche Differenzierung in vorgegebene Materialien, einen Kernbestand und spätere, zum Teil auch nachpriesterschriftliche Ergänzungen lässt sich in unterschiedlicher Akzentuierung und Interpretation auch in der gegenwärtigen Diskussion vielfach beobachten. Besonders auffällig ist jedoch die Verschiebung der relativen Chronologie zwischen der Priesterschrift und den meisten nicht-priesterschriftlichen Texten in Gen 1–11. Nach der Neueren Urkundenhypothese sind die nicht-priesterschriftlichen Textanteile in Gen 1–11 fast durchweg älter als die spätexilisch oder frühnachexilisch datierte Priesterschrift. Diese Einschätzung hat sich grundlegend gewandelt. In einer Reihe neuerer Untersuchungen wird die These vertreten, die nicht-priesterschriftlichen Passagen in Gen 1–11 seien von vornherein als eine Ergänzung zur Priesterschrift konzipiert worden.22 Diese nachpriesterschriftliche Redaktion habe sich vorgegebener, zum Teil auch vor-priesterschriftlicher Traditionen bedient und sei als programmatischer Vorbau zu Gen 12 ff entworfen worden. So wird etwa in der Paradieserzählung in Gen  2, 4  –3, 24 eine midraschartige Reflexion zum priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen  1, 1–2, 3 erkannt, die aus spätweisheitlichskeptischer Anschauung und vor dem Hintergrund negativer geschichtlicher Erfahrungen in der nachexilischen Zeit die optimistische Sicht der Priesterschrift korrigiere. Ihr Hauptanliegen sei es, zu erklären, wie die sehr gute Schöpfung (Gen  1, 31) so sehr verderben konnte, dass Jhwh sich genötigt sah, sie ins uranfängliche Chaos zurückzustoßen.23

Vgl. Budde, Urgeschichte; Gunkel, 2 –  4 und passim. Bereits Wellhausen, Composition, 7–14, rechnet mit der Überarbeitung eines jahwistischen Grundbestandes, der erst nachträglich um die Flut und damit zusammenhängende Partien ergänzt worden sei. Die Annahme, der Jahwist habe auf (zumeist: mündliche) Quellen zurückgegriffen, hat in jüngerer Zeit Levin, Jahwist, 48. 82 –132 , in ein redaktionsgeschichtliches Modell überführt, das den Jahwisten als Redaktor versteht, was freilich umfangreiche nach-jahwistische Überarbeitungen nicht ausschließt. 21  Vgl. Noth, Überlieferungsgeschichte, 11  f. 22  Vgl. Blenkinsopp, Pentateuch, 54  –97; ders., Post-exilic Lay Source; Otto, Brückenschläge in der Pentateuchforschung, ThR 64 (1999) 84  –99, 87–89. 91 f Anm. 21; Bosshard-Nepustil, Sintflut, 187–246; Schüle, Prolog; A. de Pury, Pg as the Absolute Beginning, in: T. Römer/K. Schmid (Hg.) Les dernières Rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque, BEThL  203, Leuven 2007, 99 –128, 113 –118; Arneth, Adam. 23  So Otto, Paradieserzählung. 19  20 

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Von dieser grundsätzlichen Umkehrung der literarhistorischen Verhältnisse sind solche Erklärungsansätze zu unterscheiden, die an der These einer nicht-priesterschriftlichen Version der Urgeschichte festhalten, die erst nachträglich mit den priesterschriftlichen Texten verbunden worden ist. In diesem Fall wird zumeist mit weitreichenden Bearbeitungen des nicht-priesterschriftlichen Kernbestandes durch eine (nach-)priesterschriftliche Redaktion gerechnet. Das kann auch die Ergänzung um eine oder gleich mehrere Erzählungen einschließen, ohne dass dieses Urteil jedoch auf den gesamten nicht-priesterschriftlichen Textbestand in Gen 1–11 ausgedehnt wird.24 Die Ergebnisse dieser Analysen unterscheiden sich im Detail und in der Gesamtschau mitunter recht deutlich. In der Regel zählen zum Grundbestand der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte zumindest die Paradieserzählung, die Brudermorderzählung samt der genealogischen Auflistung der Nachkommen Kains und Sets sowie eine nicht-priesterschriftliche Version der Sintfluterzählung.25 Ausgangspunkt für diese Auffassung, die auch in diesem Kommentar geteilt wird, sind altbekannte Beobachtungen zur Quellenscheidung in Gen 1–3: Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht und die nicht-priesterschriftliche Paradieserzählung sind zwei in sich geschlossene Texte mit einem markanten sprachlichen Profil, die beide auf jeweils unverwechselbare Weise das göttliche Schöpfungshandeln thematisieren, sich aber in der Gesamtszenerie wie in der Abfolge der Schöpfungswerke widersprechen. Beide Texte geben in der Grundsubstanz keine gegenseitige Kenntnisoder Bezugnahme zu erkennen. Einige wenige Angleichungen, die gerne für eine redaktionelle Herkunft der gesamten Paradieserzählung angeführt werden, lassen sich hingegen leicht von der Erzählsubstanz als Nachträge ablösen. Gerade weil sich die Spannungen, die durch die kanonische Abfolge von Schöpfungsbericht und Paradieserzählung entstehen, auch auf Nebenzüge erstrecken und sich nicht mit der unterstellten Intention einer midraschartigen Kommentierung von Gen 1, 1–2, 3 erklären lassen, darf die Annahme einer redaktionellen Verbindung von zwei ehedem unabhängig voneinander überlieferten Texten nach wie vor als die einfachere und deshalb zu favorisierende Erklärung gelten. Vergleichbar ist der Befund für die teilweise parallelen Genealogien in Gen 4, 17–26* und Gen 5, 1–32* und für 24  Zu Gen  6, 1–  4 vgl. Vervenne, Love, 37–   4 0; Witte, Urgeschichte, 71–74. 293 –297; Blum, Art. „Urgeschichte“, 443; Bührer, Göttersöhne; zu den nicht-priesterschriftlichen Anteilen in Gen  6, 5 –8, 22 vgl. Ska, Relato; Krüger, Herz, 73 –76; Kratz, Komposition, 252  f. 259 –262; Schmid, Unteilbarkeit, 38 f mit Anm. 81; zu Gen 9, 20 –27 vgl. Witte, Urgeschichte, 102 –105. 185 – 187; Gertz, Hams Sündenfall; zu Gen 10* vgl. Witte, Urgeschichte, 105 –114. 187–189; Knohl, Nimrod, 47 f; Bührer, Nimrod; zu Gen 11, 1–9 vgl. Witte, Urgeschichte, 87–99.189 f; Gertz, Babel. 25  Anders vor allem Kratz, Komposition, 252 –263, der in Aufnahme von Wellhausen, Composition, 7–14, mit einer „jahwistischen“ Urgeschichte (Gen  2 , 5 –  4, 26; 6, 1. 4*; 9, 19; 10, 2 –31; 11, 2 –8a) rechnet, die von der Sintflut nichts weiß, jedoch anders als Wellhausen die nicht-priesterschriftlichen Passagen der Sintfluterzählung und weitere Texte auf eine nachpriesterschriftliche Redaktion zurückführt. Ähnlich, K. Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments, Darmstadt 2008, 153 –156.

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die Fluterzählung in Gen 6, 5 –9, 17, wofür an dieser Stelle auf die Kommentierung verwiesen werden kann. Aus den genannten Gründen wird in verschiedenen Entstehungsmodellen an der These eines mit der Paradieserzählung eröffneten Literaturwerkes festgehalten. Dessen Reichweite und damit der Auslegungshorizont sind jedoch umstritten: Die Annahme einer ursprünglichen Zusammengehörigkeit des nicht-priesterschriftlichen Textbestandes in der Urgeschichte und in der Erzelterngeschichte gehört zu den Grundlagen der klassischen Hypothese eines Jahwisten. Mit von Rads Genesiskommentar wurde sie zum Schlüssel für die Herausarbeitung des literarischen und theologischen Profils dieser Quellenschrift.26 Nach von Rad ist die Voranstellung der Urgeschichte vor die mit Gen  12, 1–3 einsetzende „Heilsgeschichte“ das originäre Werk des Jahwisten: „[Es] fehlen […] Anzeichen dafür, daß der Jahwist hier schon einer vorgegebenen Tradition folge. Diese Schau ist so einmalig, und man glaubt jenem noch Lockeren der ganzen Komposition das Wagnis des ersten Wurfes noch abfühlen zu können“27. Die theologische Konzeption der aus sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzten Komposition entfalte sich im Zusammenspiel zweier gegenläufiger Bewegungen, dem „lawinenartigen Anwachsen der Sünde“28 einerseits und dem „heimliche[n] Mächtigwerden der Gnade“29 in Gottes vergebendem Heilshandeln andererseits. Lediglich in der abschließenden Turmbauerzählung wirke das Gericht auf den ersten Blick wie das letzte Wort. Doch deute dies auf die charakteristische Verzahnung von jahwistischer Urgeschichte und Erzelterngeschichte hin, insofern die Berufung Abrahams in Gen  12, 1–3 auf die offene Frage nach dem „Verhältnis Gottes zu seiner empörerischen, nun aber in Splitter zerschlagenen Menschheit“30 antworte und zugleich eine partikulare Segensgeschichte in universaler Ausrichtung eröffne. Die Rede vom „lawinenartigen Anwachsen der Sünde“ hat jedoch zunehmend Widerspruch erfahren.31 Insbesondere die Sintfluterzählung fügt sich nur schlecht in die aufgezeigte Kompositionslinie. Die im Flutprolog in Gen  6, 5 –8 festgestellte Totalität der Sünde und die Härte des Gerichts, das beinahe zur totalen Vernichtung der Menschheit führt, sowie die am Ende der Flut in Gen  8, 20 –22 zugesagte gnädige Entkoppelung von menschlicher Schuld und göttlicher Reaktion entziehen sich der vermeintlichen Steigerungslogik.32 Auch fällt es im

26  von Rad, 9  f. 116 –118 . Vgl. ferner ders., Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, BWANT  26, Stuttgart 1938, und unter den neueren Arbeiten Van Seters, Prologue, 202 f; Levin, Jahwist, 134. 27  von Rad, 9. 28  von Rad, 116. 29  von Rad, 10. 30  von Rad, 116. 31  Vgl. bereits Westermann, 73  f. 85 f, sowie Crüsemann, Eigenständigkeit, 22 –26. 32  Vgl. dazu Gertz, Noah.

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Vergleich mit der Flutgeschichte schwer, in der Turmbauerzählung das abschließende „gnadenlos[e] Gottesgericht über die Menschheit“33 zu sehen. In Auseinandersetzung mit von Rad wurde daher die These der ursprünglichen Selbständigkeit der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte entwickelt.34 Auf diese These führt vor allem deren große thematische und kompositionelle Geschlossenheit. Obgleich die nicht-priesterschriftliche Urgeschichte von einem feinmaschigen Netz an Querverweisen durchzogen ist, weist sie im Kernbestand nicht über sich hinaus. Hiermit korrespondiert, dass im Kernbestand der nicht-priesterschriftlichen Erzählungen von den Erzeltern nirgends auf die Urgeschichte Bezug genommen wird. Vor allem für Gen  12, 1–3, den vermeintlichen Ziel- und Fluchtpunkt der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte, ist das Fehlen eines derartigen Rückverweises auffällig. Ferner unterscheiden sich die „Weltentwürfe und Problemhorizonte“35: Die Urgeschichte schildert den Menschen als Ackerbauern mit existentieller Bindung an seine Scholle (vgl. Gen 2, 5; 3, 23). Hingegen zeichnen die Erzählungen von den Erzeltern das Idealbild eines halbnomadischen Daseins, was wiederum in der Perspektive der Urgeschichte als Fluchexistenz erscheinen muss (vgl. Gen 4, 11 f ). Zudem sind die Verheißungen an die Patriarchen nicht als Gegenbewegung zu den in der Urgeschichte herausgestellten Daseinsminderungen menschlichen Lebens entworfen. Selbst das Ziel des Exodus, die Sesshaftwerdung in einem „Land, fließend von Milch und Honig“ (Ex  3, 8; Dtn  26, 9 u. ö.), ist nicht als Überwindung der Fluchdimension von Gen 3 –  4 gekennzeichnet. Dementsprechend lässt sich die nicht-priesterschriftliche Urgeschichte besser verstehen, wenn sie als eigenständige Komposition und nicht als unselbständiger Vorbau zu den Erzählungen von den Erzeltern Israels gelesen wird. Es bleibt die Frage nach ihrem Umfang. Die gängige, sich vom kanonischen Endtext und der Auslegungsgeschichte her nahelegende Abgrenzung lässt sie mit der Turmbauerzählung in Gen  11, 1–9 enden.36 Angesichts des für biblische Erzähltexte üblichen Achtergewichts ist es jedoch nur schwer vorstellbar, dass eine in Juda, in Israel oder im Kreise der babylonischen Diaspora verfasste Urgeschichte ausgerechnet mit der Notiz geendet haben soll „Darum nennt man ihren Namen Babel, denn dort vermengte Jhwh die Sprache der ganzen Menschheit. Und von dort hat Jhwh sie über die ganze Erde zerstreut“ (Gen  11, 9). Verstärkt wird diese Einschätzung durch die Schwierigkeiten, der unterstellten Abfolge von Schöpfung, Flut und Turmvon Rad, 117. Grundlegend: Crüsemann, Eigenständigkeit. Vgl. ferner Blum, Komposition, 349 –361; ders., Art. „Urgeschichte“, 438 f; M. Köckert, Vätergott und Väterverheißung. Eine Auseinandersetzung mit Albrecht Alt und seinen Erben, FRLANT  142 , Göttingen 1988, 264  –266; Carr, Reading, 234  –248; Witte, Urgeschichte, 192 –205; Gertz, Babel, 10 –16. Vgl. dort jeweils auch zum Folgenden. 35  Blum, Art. „Urgeschichte“, 439. 36  Für eine ausführliche Begründung vgl. Carr, Reading, 235 –240; Blum, Art. „Urgeschichte“, 439  f. Zur Kritik vgl. Gertz, Babel, 13 –15. 33  34 

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bauerzählung eine Analogie aus der Literatur des alten Vorderen Orients zur Seite zu stellen, zu der die nicht-priesterschriftliche Urgeschichte ansonsten eine deutliche Affinität erkennen lässt.37 Dagegen ist die Konzentration auf die Themen „Schöpfung“ und „Flut“ gut belegt.38 Dies spricht wie die kompositionelle Geschlossenheit von Gen 2, 4  –8, 22* eher für ein Ende mit dem Abschluss der Fluterzählung.39 Diese Annahme wird durch das Ergebnis der literarischen Analyse bestätigt. Wie im Kommentar dargelegt, liegen die Querbezüge innerhalb des durch Gen  2, 4b und Gen  8, 20 –22 gesetzten Rahmens auf einer anderen, und zwar älteren literarischen Ebene als diejenigen, welche die Texte einbinden, die auf die Sintfluterzählung folgen und die wohl bereits die Verbindung mit der Priesterschrift voraussetzen. Auf dieser Linie wird im Folgenden innerhalb des nicht-priesterschriftlichen Textes zwischen einer ehedem selbständigen Urgeschichte und einer nachpriesterschriftlichen Redaktion unterschieden. Der Verfasser der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte wird als weisheitlicher Erzähler bezeichnet. 2.2.1  Die ehedem selbständige Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers

Der ehedem selbständigen Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers werden folgende Texte zugerechnet: Gen 2, 4b–3, 24* (Paradieserzählung; ohne Angleichungen an P in Gen  2, 20*; 3, 14* und durch die Erweiterung des Gottesnamens Jhwh zu Jhwh-Gott sowie ohne die Paradiesgeographie und das Motiv vom Lebensbaum); 4, 1–5. 8b–26a; 5, 28*. 29 (Kain und Abel; Kainiten und Setiten); 6, 5 –7a*. 8; 7, 1a. 2. 3b–5. 16b. 10a. 12. 17b. 22*. 23*; 8, 2b.  6. 8 –12. 13b. 20 –22 (Sintflut). Gen  2, 7aα*. 9(b*?). 10 –15; 3, 19b. 22. 23a*. 24; 4, 6 –8a; 8, 7 sind sekundäre Passagen, deren redaktionsgeschichtliche Einordnung und Verhältnisbestimmung zur Priesterschrift zum Teil recht unsicher ist. Das so abgegrenzte Literaturwerk umfasst die Themen Schöpfung und Flut und bildet ein judäisches Pendant zu den mesopotamischen Mythen vom Uranfang. Seine kompositorische Höhenlinie ist schnell skizziert. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Geschichte der Krise und ihrer Überwindung sowie eine Beschreibung der ambivalent wahrgenommenen Erfahrungswirklichkeit als Folge schuldhafter Daseinsminderungen. Diese Geschichte setzt mit der wider den Willen des Schöpfergottes erlangten Fähigkeit des Menschen ein, sich zwischen dem Guten und dem Schlechten, Zu einer vermeintlichen Analogie in den Babyloniaca des Berossos s.  u. S. 342 . So in der sumerischen Flutgeschichte (Einleitung und Übersetzung: W.H.P. Römer, Die Flutgeschichte, TUAT III, 448 –  458) und im altbabylonischen Atram­ḫasis-Epos. 39  Vgl. Witte, Urgeschichte, 184  –205; Baumgart, Umkehr, 385 –398, ferner die Hinweise bei Rendtorff, Genesis  8, 21, 74; E. Zenger, Beobachtungen zu Komposition und Theologie der jahwistischen Urgeschichte, in: Kath. Bibelwerk (Hg.), Dynamik im Wort, Stuttgart 1983, 35 –54; W.M. Clark, The Flood Story and the Structure of the Pre-patriarchal History, ZAW  83 (1971) 184  –211; Uehlinger, Weltreich, 339  f. 37 

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dem Lebensförderlichen und Lebensfeindlichen, zu entscheiden. Am Beispiel der Brudermorderzählung illustriert sie die Wahl des Schlechten, wie sie sich ungeachtet aller kulturellen Errungenschaften im Lied des Lamech verfestigt. Mit dem im Prolog der Sintfluterzählung über die Menschheit ausgesprochenen Urteil und dem darin begründeten Entschluss, die Erschaffung des Lebens grundsätzlich in Frage zu stellen, erfährt die Krise ihre äußerste Zuspitzung, der dann in der Bestandszusage des Schöpfergottes nach der Flut die Auflösung folgt: Der Bestand der Erde ist vom menschlichen Tun entkoppelt, die Ambivalenz menschlichen Lebens ist nicht aufgehoben, wohl aber in die Schöpfungsordnung integriert. Als Geschichte der grundsätzlichen Infragestellung der Schöpfung und der Überwindung dieser Krise bietet die Fluterzählung den kaum überbietbaren Höhepunkt und zugleich Abschluss eines Erzählwerks, das mit der Erschaffung des menschlichen Lebens und der Grundsituation seiner Ambivalenz einsetzt. Überdies ist dieser Abschluss mit seiner Bestandszusage auf die Lebenswirklichkeit seiner Autoren und Leser hin formuliert, und zwar ohne dass dies einer weiteren Entfaltung bedarf. Die Zuschreibung an einen weisheitlichen Erzähler nimmt die vielfach vorgebrachte Einschätzung einer weisheitlichen Prägung der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte und hier insbesondere der Paradieserzählung auf:40 Die in Gen  2, 4  –3, 24 durch das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis eröffnete Möglichkeit der Unterscheidung zwischen dem lebensförderlichen Guten und dem lebenshinderlichen Schlechten ist nach 1Kön 3, 9. 12 „nichts anderes als praktizierte Weisheit“41. Darüber hinaus ist die in vielen Facetten entfaltete Thematik menschlicher Erkenntnis samt der damit zusammenhängenden Frage nach der Möglichkeit gelingenden Lebens angesichts der Ambivalenz der Welterfahrung eine spezifisch weisheitliche Problematik. Das gilt ebenso für die Reflexion menschlichen Lebens und Handelns in Relation zu Gott und Welt, wie sie die gesamte nicht-priesterschriftliche Urgeschichte durchzieht. Gleichwohl sollte die Zuschreibung an einen weisheitlichen Erzähler nicht zu eng im Sinne „weisheitlicher Trägerkreise“ oder einer gattungsspezifischen Zuweisung der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte verstanden werden. Die Teilhabe an weisheitlichen Themen und der weisheitlichen Gedankenwelt kann auch etwas weniger spezifisch in den Kontext der gelehrten Welt der Schreiber weisen.42 In diese Richtung deutet auch der souveräne Umgang mit den Bildungsstoffen des alten Vorderen Orients. Sie zeigt eine Intellektualität und Textkenntnis, wie sie vornehmlich in der Schreiberausbildung beheimatet war. Von besonderem In40  Vgl. den Überblick bei Schmid, Unteilbarkeit, 21–24, der u.  a. mit Otto, Paradieserzählung; Witte, Urgeschichte, 201 und passim, näherhin für eine Verortung in der späten Weisheit plädiert. 41  Albertz, „Ihr werdet sein wie Gott“, 16. Vgl. auch Schmid, Unteilbarkeit, 28 . 42  Bührer, Anfang, 304  f. Zur grundlegenden Bedeutung weisheitlicher Themen und Gattungen für die Schreiberausbildung vgl. D.M. Carr, Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature, Oxford 2005, 126 –134.

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teresse ist dabei die nicht-priesterschriftliche Version der Sintfluterzählung. Sie verrät nicht nur eine allgemeine Vertrautheit mit den mesopotamischen Stoffen, sondern bezeugt höchstwahrscheinlich die konkrete Kenntnis von Texten aus Mesopotamien, die dem weisheitlichen Erzähler als Anregung und Exempel für die Formulierung der eigenen Gotteskonzeption gedient haben. Anders als die stark von assyrischen Texten beeinflusste deuteronomisch-deuteronomistische Literatur ist die Urgeschichte aber nicht durch eine Abgrenzung gegenüber dem Fremden geprägt. Vielmehr ist ihre Rezeption der mesopotamischen Traditionen unbeschadet aller Eigenständigkeit der judäischen Lesart durchweg positiv. Die Ursprünge dieser Textkenntnis können versuchsweise mit den Hofschreibern während der langen Regierungszeit des Königs Manasse von Juda (694  –640 v. Chr.) oder deren Nachfolgern in Verbindung gebracht werden. Hierfür sprechen neben der geschilderten Art und Weise der Rezeption nicht zuletzt die intensiven Kontakte des Jerusalemer Hofes zu den neuassyrischen Oberherren. Damit ist die schwierige, wenn nicht unlösbare Aufgabe der Datierung der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte angesprochen. In jüngerer Zeit wurde der Hinweis auf ihre weisheitliche Prägung dahingehend konkretisiert, dass sie eine besondere Nähe zur späten Weisheit aufweise.43 Doch der weisheitliche Erzähler setzt andere Akzente. Es geht im Unterschied zu den Hauptstimmen der späten Weisheit weder um eine offenbarungstheologische Aufwertung der Weisheit noch um die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis, die nach Hiob 28 und Pred 3, 11; 8, 6  f. 17 dem Menschen einen Zugang zur göttlichen Weisheit verwehrt. Die Erkenntnisfähigkeit wird nicht an die Frömmigkeit gebunden und das Erkennen wird auch nicht mit der Befolgung der Tora in eins gesetzt. Vielmehr hat der Mensch nach der Paradieserzählung mit dem Essen der verbotenen Frucht generell und ohne Einschränkung die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen dem lebensförderlichen Guten und dem lebenshinderlichen Schlechten erlangt. Problematisiert werden dagegen die Folgen dieser an sich positiv bewerteten Fähigkeit und der mit ihr gegebenen Freiheit zur Entscheidung.44 Damit ist ein Hauptthema der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte angestimmt, und zwar die Ambivalenz der Wirklichkeitserfahrung. Die Einordnung der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte in die späte Weisheit bleibt daher unsicher. Auch eine vor allem aus dem Erzählzug der Übertretung des göttlichen Gebots hergeleitete Nähe zur deuteronomisch-deuteronomistischen Theologie hilft hinsichtlich der literarhistorischen Einordnung nicht weiter. Die in der Diskussion genannten Motivkombinationen, etwa das Hören auf Gottes Stimme, die Furcht vor Gott, die Androhung von Strafe für den Ungehorsam 43  Eine gründliche Auseinandersetzung bietet Bührer, Anfang, 290 –305, der vor allem die beigebrachten lexematischen, thematischen und stilistischen Übereinstimmungen zwischen Gen 2 , 4  –3, 24 und (späten) weisheitlichen Texten einer genauen Überprüfung unterzieht und zu einem negativen Ergebnis gelangt. Vgl. dort auch zum Folgenden. 44  Vgl. Schellenberg, Erkenntnis, 240 –254.

Die Entstehung der biblischen Urgeschichte

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gegenüber dem göttlichen Verbot, sowie das angeführte Vokabular sind zu unspezifisch für den Nachweis eines deuteronomisch-deuteronomistischen Einflusses.45 Auch ist es kaum vorstellbar, dass ein durch deuteronomischdeuteronomistische Texte geprägter Autor es sich hätte nehmen lassen, die grandiose Verhörszene nach der Entdeckung der Übertretung des göttlichen Verbots mit einer ausführlichen Predigt über Gehorsam und Ungehorsam gegenüber den guten Geboten Gottes anzureichern und dadurch zu verderben. Eine gewisse literarhistorische Orientierung ermöglichen hingegen unheilsprophetische Anklänge in der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers. Die Vorstellung von der Reue Gottes und die illusionslose Sicht des Menschen setzen die Unheilsprophetie des 8. und 7. Jh. v. Chr. voraus, wobei jedoch nicht primär an konkrete Textkenntnis (vgl. Hos 11; Jer 18), sondern eher an konzeptionelle Übereinstimmungen zu denken ist.46 Grundsätzlich wird für die literarhistorische und theologiegeschichtliche Einordnung der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte auch ihr sehr komplexes Gottesbild zu bedenken sein. Es sind sehr unterschiedliche Wahrnehmungen Gottes, die in dem einen Gott Jhwh zusammengedacht werden: der gute Schöpfergott, der strafende und fürsorgliche Gott, der aus Barmherzigkeit rettende Gott, der Gott, der sich angesichts der Bosheit der Menschen göttliche Selbstbeschränkungen auferlegt. Dieses Nebeneinander der verschiedenen Perspektiven ist in einer sehr frühen Epoche der Religions- und Literaturgeschichte des antiken Israel schlechterdings nicht denkbar. 2.2.2  Die nachpriesterschriftliche Redaktion

Die Redaktion ist für die Verbindung der Priesterschrift mit der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers verantwortlich. In diesem Zusammenhang stehen Angleichungen der Paradieserzählung an den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht durch die Erweiterung des Gottesnamens Jhwh zu Jhwh-Gott, durch die Toledotformel in Gen 2, 4a und durch Einträge in Gen 2, 20*; 3, 14* sowie ausgleichende Notizen in der Sintfluterzählung in Gen 6, 7aα*.βγ; 7, 1b. 3a. 8 –9. 10b. 17a*. 22*. 23a*. Die Abschnitte Gen  6, 1–  4 (Göttersöhne und Menschentöchter); 9, 18b(.  19?). 20 –27 (Noach und seine Söhne); 10, 8 –19.  21. 24  –30 (Erweiterungen der priesterschriftlichen Völkertafel) und 11, 1–9 (Turmbauerzählung) sind für den jetzigen Kontext geschrieben und setzen die übrigen nicht-priesterschriftlichen Texte und deren Verbindung mit der Priesterschrift voraus. Das schließt freilich nicht aus, dass sie im Einzelfall auf älterem Traditionsgut aufruhen, auch wenn sich dieses nicht mehr trennscharf abgrenzen lässt. Hinzu kommen weitere Nachträge zur Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers in Gen 2, 7aα*. 9(b*?). 10 –15; 3, 19b. 45  46 

Vgl. im Einzelnen Blum, Gottesunmittelbarkeit, 15; Bührer, Anfang, 305 –313. Vgl. Gertz, Noah.

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22. 23a*. 24; 4, 6 –8a; 8, 7. Wie erwähnt, ist deren redaktionsgeschichtliche Einordnung und Verhältnisbestimmung zur Priesterschrift zum Teil recht unsicher. Die der Redaktion zugewiesenen Texte gehen sicher nicht auf eine Hand oder einen einstimmigen Redaktionsvorgang zurück. Zum einen lassen einige der als redaktionell qualifizierten Abschnitte in sich noch Spuren späterer Bearbeitungen erkennen. Dies gilt etwa für die Auffüllung der bereits redaktionell überarbeiteten Völkertafel in Gen  10 um weiteres geographisches Material. Zum anderen setzen die redaktionellen Texte zum Teil eigene Akzente, die sie unbeschadet der erkannten Querbezüge aus dem Kreis der anderen redaktionellen Texte herausheben. Ihr Profil gewinnen die redaktionellen Texte jeweils durch ihre Bezüge auf den Nahkontext sowie die Einbeziehung von Problemhorizonten, die weit außerhalb der Urgeschichte liegen. Dies wird im Kommentar im Einzelnen dargelegt. Für das Profil der redaktionellen Endgestalt der biblischen Urgeschichte kann auf das erste Teilkapitel dieser Einleitung zurückverwiesen werden.

3.  Die biblische Urgeschichte im Rahmen der Literaturen des alten Vorderen Orients Aufbau und Inhalt der biblischen Urgeschichte sind nicht auf das Alte Testament beschränkt. Dies war für einige Erzählungen und Motive schon in der Antike bekannt und musste dort als das geradezu Natürliche gelten. Wie hätte denn ein universales Ereignis wie die Sintflut keinen Eingang in die Erinnerung der gesamten von Noach abstammenden Menschheit finden können? Doch erst mit der Wiederentdeckung und Entzifferung der keilschriftlichen Originaldokumente seit dem 19.  Jh. wurde deutlich, wie eng die biblische Urgeschichte mit den mesopotamischen Überlieferungen verbunden ist. Als George Smith 1872 erstmals den Originaltext einer mesopotamischen Fluterzählung präsentierte, war dies eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Sensation.47 Die Ähnlichkeiten zur biblischen Sintfluterzählung waren so auffällig, dass die Annahme eines entstehungsgeschichtlichen Zusammenhangs unabweisbar war. Damit schloss sich der Kreis zu dem jüdisch-römischen Historiker Flavius Josephus, der bereits im 1.  Jh. n. Chr. Noach mit den Fluthelden der mesopotamischen Überlieferung identifiziert hatte ( Jos.Ant. I, 93). Mit der Erschließung einer immer größeren Anzahl an Originaltexten setzte sich in der Folgezeit schnell die Einsicht durch, dass es sich bei der Fluterzählung wie bei den anderen aus den mesopotamischen Mythen bekannten Inhalten in Gen 1–11 um keine genuin israelitischen Traditionen handelt. Dies legt im Übrigen auch der biblische Text nahe, 47  G. Smith, The Chaldean Account of the Deluge, Transactions of Society of the Biblical Archaeology 2 (1873/74) 213 –234.

Die Urgeschichte im Rahmen der Literaturen des alten Vorderen Orients

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lokalisiert die biblische Urgeschichte doch die meisten ihrer Erzählungen selbst in der Region von Euphrat und Tigris. Die Frage, welche Texte die biblischen Autoren gekannt und für ihre eigenen Werke verwendet haben, ist im Einzelfall jedoch genauso schwierig zu beantworten wie diejenige nach den Rezeptionswegen und den Gründen für die Aufnahme des fremden Traditionsguts. Für die biblische Urgeschichte werden zumeist drei große mesopotamische Epen als vorbildgebende Parallelen genannt, das Gilgamesch-Epos, das Atram­ḫasis-Epos und das Marduk-Epos Enuma Eliš: 1.  Das Gilgamesch-Epos war im gesamten alten Vorderen Orient bis in die hellenistische Zeit hinein bekannt.48 Es reflektiert am Beispiel des herausragenden Herrschers und Helden Gilgamesch die Suche des Menschen nach dem Leben angesichts von Tod und Endlichkeit. Einzelzüge des Epos wie die Schlange, die dem Helden das Kraut der Unsterblichkeit entwindet, oder die Erschaffung des Wildmenschen Enkidu aus Lehm und seine in Stufen vollzogene „Menschwerdung“ vom „Wildling“ zum „Kulturmenschen“ werden immer wieder mit der Paradiesgeschichte des weisheitlichen Erzählers in Gen 2, 4  –3, 24 in Verbindung gebracht. Besondere Aufmerksamkeit verdient indes die Fluterzählung der elften Tafel des Epos, die ihrerseits ein Exzerpt aus dem Atram­ḫasis-Epos ist. Die Übereinstimmungen mit der biblischen Fluterzählung reichen bis in die Details. Sie lassen sich schwerlich allein mit der Aufnahme des Plots einer Erzählung von einer großen Flut erklären, sondern beruhen höchstwahrscheinlich auf Textkenntnis. 2. Das altbabylonische Atram­ ḫasis-Epos ist neben der Fluterzählung auch deshalb von besonderem Interesse, weil es zudem die aus der biblischen Urgeschichte bekannte Abfolge von (Menschen-)Schöpfung und Flut bietet.49 Nach dem Atram­ḫasis-Epos wurden die Menschen erschaffen, um den Göttern die Arbeit abzunehmen und um sich um deren Versorgung zu kümmern. Die Vermehrung der Menschheit führt jedoch zum Konflikt mit den Göttern, die daraufhin die Menschen erst mit Plagen und dann in letzter Konsequenz durch eine Sintflut zu vernichten suchen. Am Ende der Flut ist das Verhältnis der Götter untereinander und der Götter zu den Menschen grundsätzlich geklärt. Die Götter sind auf die Versorgung durch die Menschen angewiesen, weshalb der abermalige Versuch ihrer Vernichtung unklug wäre. 3. Das wohl aus der Regierungszeit Nebukadnezars  I. (ca. 1120 –1098 v. Chr.) stammende und durch zahlreiche Textvertreter aus der ersten Hälfte des 1. Jt. v. Chr. belegte babylonische Marduk-Epos Enuma Eliš erzählt von 48  Vgl. für eine kommentierte Übersetzung Maul, Gilgamesch-Epos, zur Einführung ferner Sallaberger, Gilgamesch-Epos. 49  Übersetzung und knappe Einführung: W. von Soden, Der altbabylonische Atramchasis-Mythos, TUAT III, 612 –645. Eine Übersetzung der spätbabylonischen Fassung mit einem synoptischen Vergleich bietet K. Hecker, Atra-ḫasīs, TUAT.NF VIII, 132 –143. Vgl. ferner F. van Koppen, The Scribe of the Flood Story and his Circle, in: K. Radner/E. Robson, The Oxford Handbook of Cuneiform Culture, Oxford 2012 , 140 –166.

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der Erschaffung und Ordnung der Welt und preist den Aufstieg des babylonischen Stadtgottes Marduk zum Götterkönig.50 Die Darstellung der Welt vor ihrer Erschaffung weist eine Reihe von motivischen Anklängen an den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1, 1–2, 3 auf. Die drei genannten Texte gehören nach der Anzahl sowie der zeitlichen und geographischen Streuung ihrer Textvertreter zu den bekanntesten Literaturwerken des alten Vorderen Orients. Ausweislich einiger Bruchstücke des Gilgamesch-Epos aus dem israelitischen Meggido und Emar am mittleren Euphrat sowie einer mittelbabylonischen Rezension des Atram­ḫasis-Epos in Ugarit waren diese beiden Epen in der Levante bekannt.51 Passagen des Marduk-Epos Enuma Eliš und des Gilgamesch-Epos sind auf sogenannten Schultafeln belegt. Das Abschreiben und Memorieren dieser beiden Werke war offensichtlich Bestandteil des Curriculums der Schreiberausbildung in Mesopotamien. Daher liegt es durchaus nahe, dass auch judäische Schreiber, die für eine diplomatische Laufbahn die Sprache und Schrift der politischen und kulturellen Hegemonialmacht zu erlernen hatten, zumindest in Grundzügen mit ihnen vertraut waren. Hinzu kommt, dass es sich um literarische Kompositionen handelt, die auf älteren Erzählstoffen und Überlieferungen beruhen, weswegen einzelne Erzählzüge und Motive auch auf anderen Überlieferungswegen zu den biblischen Autoren gelangt sein können. Unbeschadet der möglichen, im Fall der Sintfluterzählung sogar höchst wahrscheinlichen Kenntnis der mesopotamischen Texte durch judäische Schreiber ist gleichwohl in jedem Einzelfall sehr genau zu prüfen, inwieweit sich die Ähnlichkeiten mit Text- oder Stoffkenntnis erklären lassen oder ob diese lediglich auf einer ähnlichen Weltsicht oder einem ähnlichen Welterleben beruhen. Dies sei im Vorgriff auf die Kommentierung an einigen wenigen Beispielen illustriert: Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht in Gen  1, 1–2, 3 teilt Vorstellungen, Motive und Sprachformen mit einer ganzen Reihe von mesopotamischen, ägyptischen und griechischen Texten. Hinzu kommt eine große Nähe zu kosmologischen Vorstellungen des Ezechielbuches, das wiederum enge Verbindungen zu mesopotamischen Texten aufweist. Damit befindet sich der priesterschriftliche Schöpfungsbericht in einem ganzen Netzwerk an Texten, zu denen sich Beziehungen oder Gemeinsamkeiten feststellen lassen. So erinnert seine strenge Systematik in der Ordnung der Lebewesen nach Stamm, Gattung und Art deutlich an die Naturphilosophie der Vorsokratiker, für die sich ihrerseits Berührungen mit 50  Übersetzung und knappe Einführung: W.G. Lambert, Enuma Elisch, TUAT III, 565 –602; ders., Babylonian Creation Myths, Winona Lake, IN 2013; K. Hecker, TUAT.NF VIII, 88 –132 . 51  Zu Meggido vgl. K. Hecker, Das akkadische Gilgamesch-Epos, TUAT III, 646 –744, 670; Y. Goren/H. Mommsen/I. Finkelstein/N. Na’aman, A Provenance Study of the Gilgamesh Fragment from Megiddo, Archaeometry  51, 5 (2009) 763 –773; zu Emar vgl. D. Arnaud, Recherches au pays d’Aštata. Emar VI/4: Textes de la bibliothèque, Recherche sur les grandes civilisations: Synthèse 28, Paris 1987; zu Ugarit vgl. T. Kämmerer, Das Sintflutfragment aus Ugarit (RS 22 . 421), UF 25 (1993) 189 –200.

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neuassyrischen Kommentaren zu den klassischen mythischen Texten Mesopotamiens aufweisen lassen. Dieser Befund spricht gegen eine einlinige Herleitung des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts aus dem Enuma Eliš. Eher sind die Verfasser der Priesterschrift grundsätzlich in einem maßgeblich von Mesopotamien inspirierten ostmediterran-nahöstlichen Kulturund Wissenschaftsraum zu verorten.52 Auf einem vergleichbaren Welterleben dürfte hingegen die Vorstellung der Erschaffung Adams und von Gilgameschs Gefährten Enkidu aus Lehm beruhen (vgl. Gen 2, 7; Gilgm I, 101–112). Sie erklärt sich wie die korrespondierende Aussage, dass der Mensch im Tode (wieder) zu Staub oder Lehm wird (vgl. Gen 3, 19; Gilgm X 68 f u. ö.), hinreichend mit der Anschauung der in weiten Teilen des alten Vorderen Orients einschließlich Israels geübten Praxis, den Körper Verstorbener zu bestatten und nicht zu verbrennen. Auch für die Schlange in Gen  3, die immer wieder mit dem Gilgamesch-Epos in Verbindung gebracht wird, muss keine Übernahme des mesopotamischen Stoffes angenommen werden. Der Auftritt der Schlange in den beiden Texten unterscheidet sich im Detail recht deutlich. Ferner gelten Schlangen kulturübergreifend als besonders klug und erscheinen obendrein in der Ikonographie des antiken Israel häufig in Verbindung mit heiligen Bäumen. Die Schlange ist daher auch ohne das Vorbild des Gilgamesch-Epos dafür prädestiniert, den Menschen zum Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis zu verführen  – was eine Bekanntschaft des weisheitlichen Erzählers mit dem Gilgamesch-Epos keineswegs ausschließt. Schon diese Beispiele machen deutlich, dass die biblischen Verfasser in der Regel aus der ganzen Fülle von Vorstellungen schöpfen konnten, wie sie in den Literaturen des alten Vorderen Orients belegt sind, und dass sie sich nur im Einzelfall für uns erkennbar an einen bestimmten Text angelehnt haben. Die kaum zu bezweifelnde Vertrautheit der Verfasser der biblischen Urgeschichte mit den mesopotamischen Stoffen sollte demnach nicht gegen eine Erklärung der Texte aus dem eigenen, ganz allgemein von der Kultur des alten Vorderen Orients geprägten Milieu ausgespielt werden. Dies gilt nicht nur für die Herkunft der Stoffe, sondern auch und vor allem für die in ihnen angesprochenen Problemstellungen. Der vergleichende Blick auf die Überlieferungen der anderen Völker wurde und wird häufig mit der Frage nach dem Geltungsanspruch der biblischen Überlieferung verbunden. Den einen verbürgt die Existenz paralleler Überlieferungen die Historizität der biblischen Darstellung. Den anderen dient sie als Beweis dafür, dass die biblische Überlieferung keinen Anspruch auf Originalität erheben kann, womit vielfach ihre Anerkennung als Offenbarungszeugnis grundsätzlich in Frage gestellt wird. Besonders heftig wurde die Auseinandersetzung um das Verhältnis der biblischen Urgeschichte zu den übrigen Literaturen des alten Vorderen Orients im sog. „Babel-Bibel52 

Vgl. Gertz, Polemik.

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Streit“ geführt, der 1902 durch einen Vortrag des Assyriologen Friedrich Delitzsch (1850 –1922) in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II. und den Spitzen von Hof, Wissenschaft und Kirche ausgelöst wurde und der die deutsche Öffentlichkeit gut zwei Jahre erregt über die Zuordnung von „Babel“ und „Bibel“ diskutieren ließ.53 Delitzsch vertrat die These, dass das Alte Testament und hier besonders die biblische Urgeschichte eine wenig originelle Adaption mesopotamischer Traditionen sei, behauptete im Laufe der Auseinandersetzung immer stärker die kulturelle, sittliche und religiöse Überlegenheit der babylonisch-assyrischen Kultur gegenüber dem Alten Testament und bestritt schließlich jeglichen Nutzen des Alten Testaments für das Christentum. Weit differenzierter fiel das Urteil der von Wellhausen beeinflussten Forschung und der Religionsgeschichtlichen Schule aus, die beide ebenfalls die Einbindung des Alten Testaments in die Welt des alten Vorderen Orients betonten, zugleich aber gegenüber Delitzsch und anderen Vertretern des Panbabylonismus die Eigenständigkeit der Religion und Kultur des antiken Israel hervorhoben. So stellte Karl Budde die Frage nach der Vermittlung der mesopotamischen Stoffe und Traditionen und konstatierte, dass ein massiver Einfluss der mesopotamischen Kultur auf Israel lediglich für die Zeit der assyrischen Vorherrschaft über Syrien-Palästina im 8. und 7. Jh. v. Chr. und während des babylonischen Exils im 6. Jh. v. Chr. nachweisbar sei. Die Aufnahme der Sintfluterzählung in die biblische Urgeschichte gehöre in die assyrische Zeit und zeichne sich dadurch aus, dass die von den assyrischen Eroberern übernommene Erzählung unter dem Vorzeichen der eigenen Religion und ihrer Vorstellung von dem einzigen und gerechten Gott rezipiert worden sei.54 Nach Hermann Gunkel, dem vielleicht profiliertesten Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule, ist Israel hingegen nicht direkt, sondern vermittelt über die Kultur der kanaanäischen Stadtstaaten im Zuge seiner Sesshaftwerdung und der Staatenbildung mit den mesopotamischen Mythen in Kontakt gekommen.55 Im Laufe der Zeit habe Israel das übernommene Gut als ein eigenes angenommen und in einem innerisraelitischen Läuterungsprozess in ein zunehmend verständigeres Nachdenken über Gott und Welt überführt. Für das Verständnis der biblischen Urgeschichte folgt hieraus, dass diese nach Gunkel anders als bei Delitzsch nicht auf der Kontrastfolie der mesopotamischen Texte zu lesen ist. Die damit gewonnene Eigenständigkeit der biblischen Texte beruht jedoch auf einer sehr voraussetzungsreichen These zur Frühgeschichte Israels und den Anfängen der 53  Vgl. R. Lehmann, Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, OBO  133, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1994; R. Liwak, Bibel und Babel. Wider die theologische und religionsgeschichtliche Naivität, BThZ 15 (1998) 206 –233. 54  K. Budde, Was soll die Gemeinde aus dem Streit um Babel und Bibel lernen?, Tübingen/ Leipzig 1903. 55  H. Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen  1 und Ap Joh  12 , Göttingen 1894. Vgl. ferner seine Kommentierung von Schöpfungsbericht und Sintfluterzählung (Gunkel, 67–73. 116 –120. 151 f ).

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alttestamentlichen Literaturgeschichte, die sich nur schwer mit dem gegenwärtigen Stand der Forschung vereinbaren lässt. Aus diesem Grund wird eher der älteren Einschätzung Buddes zuzustimmen sein, der die Kenntnis der genuin mesopotamischen Stoffe mit der neuassyrischen und später neubabylonischen Oberherrschaft und den damit verbundenen Kulturkontakten in Verbindung bringt. Damit rückt aber die Frage nach dem Grund für die Rezeption der mesopotamischen Traditionen ins Zentrum. Eine gängige Erklärung hat insbesondere den Schöpfungsbericht in Gen  1, 1–2, 3 als antibabylonische Polemik verstehen wollen.56 Doch schon der gänzlich unpolemische Tonfall der priesterlichen Verfasser weckt Zweifel an dieser These. Die immer wieder angeführte Benennung von Sonne und Mond als Lampen (Gen  1, 14  –19) zielt nicht auf die Abwertung der babylonischen Astralgottheiten. Sie steht vielmehr im Kontext einer im gesamten östlichen Mittelmeerraum seit dem 7. Jh. v. Chr. zu beobachtenden Bemühung, die Einsichten einer neuen Auffassung von Naturbeobachtung in die tradierten Vorstellungen zu integrieren (s.  u. zur Auslegung von Gen 1, 14  –19). Jüngere Arbeiten haben die polemische Lesart dahingehend modifiziert, dass sie die biblische Urgeschichte zur Gänze oder in Teilen nach dem Muster postkolonialer Literaturtheorie als einen „Gegentext“ verstehen, der sich die Literatur der Hegemonialmächte durch Mimikry und Inversion subversiv angeeignet hat.57 Auch diese Deutung hat zur Voraussetzung, dass sich die biblischen Verfasser durchweg unmittelbar auf die mesopotamischen Texte beziehen und sich von diesen abgrenzen wollen. Beide Annahmen sind jedoch nicht unproblematisch, und der am Einzelfall zu führende Nachweis, dass die biblischen Texte als „Gegentexte“ konzipiert worden sind, bleibt schwierig. Ist es wirklich evident, dass die biblischen Verfasser die Vertreibung aus dem Garten Gottes in Mesopotamien lokalisiert haben, um den Makel auszugleichen, innerhalb der antiken Zivilisationen ein politisch unterlegener Spätling zu sein?58 Stimmt diese Interpretation zu der ätiologischen Ausrichtung der Paradieserzählung des weisheitlichen Erzählers, der den Garten Gottes auch nach der Vertreibung „in mythischer Ferne im Wonneland“ (Gen 2, 8) belässt und dessen Aussagen über die Ambivalenz menschlichen Lebens und den Hang des Menschen zum Bösen (Gen  6, 5; 8, 21) allen Menschen gelten? Fraglich ist auch, ob bei der Rede vom Menschen als Ebenbild Gottes (Gen  1, 26 –28) die Kritik an den Herrschaftsansprüchen der mesopotamischen Großkönige im Vordergrund gestanden hat.59 Auch hier liegt eine immanente Erklärung näher. Die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seinem Herrschaftsauftrag gehört zu den Transformationen religiöser Vorstellungen, die das Nachdenken über den Verlust Zur kritischen Diskussion dieser These vgl. Gertz, Polemik. Vgl. Hendel, Problem; Frahm, Creation, bes. 115  f. Abwägend: Carr, Formation, 8 –15. 58  So Hendel, Problem, 24. 59  Vgl. a.a.O., 27. 56  57 

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von König, Land und Tempel im Exil hervorgebracht hat. In diesem Fall sind es königsideologische Vorstellungen, welche die Könige in Jerusalem in der einen oder anderen Weise mit dem gesamten alten Vorderen Orient geteilt haben werden und die von den Verfassern der Priesterschrift in die Anthropologie überführt wurden. Dass das Resultat dieser Transformation auch herrschaftskritisch gelesen werden kann, lässt sich kaum bezweifeln, doch spielt die Herrschaftskritik in der priesterschriftlichen Urgeschichte selbst keine Rolle. Interessant ist schließlich auch die Gegenprobe. Eindeutig polemischer Natur ist die Erzählung von Noach und seinen Söhnen in Gen  9, 18 –29. Die Polemik dieses sehr spät in die biblische Urgeschichte aufgenommenen Textes richtet sich freilich nicht gegen Babylon, sondern gegen die „Kanaanäer“. Die Stoßrichtung dieser Polemik und derjenigen in vergleichbaren Passagen in der Völkertafel steht ganz im Dienst des im Alten Testament breit entfalteten Gegensatzes von „Israel“ und „Kanaan“. Trotz dieser kritischen Rückfragen sollte jedoch nicht von vornherein ausgeschlossenen werden, dass sich die biblischen Verfasser mit ihrem Mythos vom Uranfang zu den ihnen bekannten Überlieferungen Mesopotamiens und damit zur intellektuellen Leitkultur positiv wie negativ ins Verhältnis gesetzt haben. So lässt sich für die Erzählung vom Turmbau zu Babel mit guten Gründen vermuten, dass diese auf ein Spottgedicht gegen Babylon und seinen Tempelturm zurückgeht. Andererseits zeigt ausgerechnet die Sintfluterzählung, mithin die einzige Passage der biblischen Urgeschichte, für die sich mit einiger Sicherheit von einer Textkenntnis der mesopotamischen Überlieferung ausgehen lässt, dass es ihren Verfassern nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit der fremden Vorlage ging, sondern um die Klärung der eigenen Vorstellung von Gott, Welt und Mensch. Die Wahl ausgerechnet des mesopotamischen Sintflutmythos für diese Selbstklärung kann schlicht dadurch veranlasst gewesen sein, dass aufgrund der politischen Gegebenheiten Mesopotamisches in Israel zeitweilig sehr en vogue gewesen ist. Bei wenigen Texten des Alten Testaments liegt die enge Verschränkung mit den übrigen Kulturen des alten Vorderen Orients so offen zu Tage wie bei der biblischen Urgeschichte. Ihre Verfasser sind mit den Überlieferungen Mesopotamiens vertraut. Sie kennen die Motive, Erzählstoffe und im Einzelfall sicher auch die Texte. Doch auch wenn die biblischen Autoren vielfach die Vorstellungsgehalte mit den übrigen Kulturen des alten Vorderen Orients teilen und immer wieder für vergleichbare lebensweltliche und existentielle Fragen auch zu ähnlichen Antworten gelangen, so ist damit die historische Individualität der biblischen Urgeschichte (wie jeder anderen Literatur des alten Vorderen Orients auch) in ästhetischer wie theologischer Hinsicht nicht bestritten. Die Grundfragen nach der Entstehung der Welt und ihrer Ordnung, nach dem Woher des Menschen und den Ursprüngen der Kultur werden in Gen 1–11 vor einem genuin alttestamentlichen Hintergrund bedacht und mit Blick auf das nachmalige Israel und die Geschichte seines Gottes entfaltet, wie dies für die priesterschriftlichen Texte die zu-

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nehmende Fokussierung der Toledot auf die Vorfahren Abrahams und die Entsprechungen zwischen Schöpfung und Zeltheiligtum deutlich zeigen. Kurzum: Die biblische Urgeschichte ist die höchst individuelle Ausprägung des Mythos vom Uranfang.

I. Genesis 1, 1–2, 3: Die Erschaffung der Welt 1, 1 Am Anfang1 hat Gott den Himmel und die Erde geschaffen. 2 Und die Erde war ein Tohuwabohu und Finsternis lag über der Urflut und der Hauch Gottes schwebte über dem Wasser.   3 Da sprach Gott: Es werde Licht! Und es wurde Licht.   4 Und Gott sah das Licht als gut an. Und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis.   5 Da nannte Gott das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein2 Tag. 6 Da sprach Gott: Es werde eine Feste mitten in den Wassern, dass sie zwischen Wasser und Wasser scheidet.3   7 Und Gott machte die Feste, sodass sie schied4 zwischen dem Wasser unter der Feste und dem Wasser oberhalb der Feste. Und es geschah so.   8  Da nannte Gott die Feste Himmel. Und es wurde Abend und es wurde Morgen: ein zweiter Tag. 9  Da sprach Gott: Das Wasser unter dem Himmel sammle sich an einem Ort, sodass das Trockene sichtbar werde. Und es geschah so.5   10 Da nannte Gott das Trockene Erde, und die Sammlung des Wassers nannte er Meer. Und Gott sah es als gut an.   11 Da sprach 1  Zur Artikellosigkeit von b e-rēšīt „Am Anfang“ vgl. die Auslegung. V. 1 ist ein Mottovers, in sachlicher Hinsicht ist V. 2 vorzeitig zu V. 1. 2  Zur Verwendung der Kardinalzahl und ihrer kontextbedingten Bedeutung als Ordinale s. GK §§  98a, 134p. Nach Raschi ist die Kardinalzahl gewählt, um die Einzigartigkeit des ersten Tages zu betonen. 3  Der Schöpfungsbericht in Gen 1, 1–2 , 3 ist besonders sorgfältig aufgebaut und durch wiederkehrende Formelelemente strukturiert. Vgl. die Auslegung. Die LXX gehorcht dem Schema und lässt in V. 6 die Geschehensformel „Und es geschah so“ unmittelbar auf den Befehl folgen (vgl. V. 9. 11.15. 24. 30). Im MT steht diese Formel dagegen vom Schema abweichend, aber sachgemäß zwischen der Funktionsbestimmung der Feste (V. 7 ) und ihrer Benennung (V. 8). Die allein gegen die wichtigsten Textzeugen stehende LXX bietet eine harmonisierende Übersetzung. Das gilt auch für die Ergänzung der am Ende der einzelnen Schöpfungswerke üblichen Billigungsformel „Und Gott sah es als gut an“ (vgl. V. 4. 12 . 18. 21. 31) in V. 8. 4  Es ist nicht ganz eindeutig, ob Gott oder die Feste das Subjekt zu „scheiden“ ist. Sofern Gott Subjekt ist, wird er sonst immer ausdrücklich genannt (vgl. V. 8a). Dies und die Korrespondenz des Verses zu V. 6 sprechen dafür, dass es sich um einen Konsekutivsatz zum ersten Verbalsatz in V. 7 mit der Feste als Subjekt handelt. Vgl. Jacob, 38 –  41; Steck, Schöpfungsbericht, 78 –81, 256. 5  Die LXX bietet hier die fehlende Ausführungsnotiz: „Und das Wasser unter dem Himmel sammelte sich in seine (pl.) Sammelbecken, und das Trockene wurde sichtbar.“ MT ist als die besser bezeugte, schwierigere und kürzere Lesart beizubehalten. Vgl. auch den textkritischen Kommentar der BHQ. Anders Hendel, Text, 120  f. Die LXX beruht möglicherweise auf einer hebräischen Vorlage, insofern die Pluralform des Personalpronomens (αὐτῶν) nicht zum Singular seines Bezugsworts „Wasser“ (ἱδωρ) passt und eventuell dessen pluralische Bildung im Hebräischen (ham-mayim) voraussetzt. In diesem Fall bietet schon die hebräische Vorlage der LXX eine harmonisierende Lesart. Vgl. Wellhausen, Composition, 184.

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Gott: Die Erde lasse junges Grün grünen6: Kraut, das Samen bildet, und7 Fruchtgehölz, das Frucht trägt, nach seinen Arten, in welchem sein Same ist auf der Erde. Und es geschah so.   12  Und die Erde brachte junges Grün hervor: Kraut, das Samen bildet, nach seinen Arten, und Gehölz, das Frucht bringt, in welcher sein Same ist, nach seinen Arten. Und Gott sah es als gut an.   13 Und es wurde Abend und es wurde Morgen: ein dritter Tag. 14  Da sprach Gott: Es werden8 Lichter an der Feste des Himmels,9 um zu unterscheiden zwischen dem Tag und der Nacht. Und sie sollen dienen als Zeichen, und zwar für Zeiten und für Tage und für10 Jahre.   15 Und sie werden als Lichter dienen an der Feste des Himmels, um zu leuchten auf die Erde. Und es geschah so.   16 Da machte Gott die beiden großen Lichter, das größere11 Licht zur Herrschaft über den Tag und das kleinere Licht zur Herrschaft über die Nacht, und die Sterne.   17 Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, um zu leuchten auf die Erde   18 und zu herrschen über den Tag und die Nacht und zu scheiden zwischen dem Licht und der Finsternis. Und Gott sah es als gut an.   19 Und es wurde Abend und es wurde Morgen: ein vierter Tag. 20 Da sprach Gott: Das Wasser soll wimmeln vor Gewimmel an lebenden Wesen, und Flugtiere12 sollen fliegen über der Erde, die Feste des Himmels entlang.13   21 Da schuf Gott die großen Seeschlangen und alle lebenden Wesen, die sich regen, von denen das Wasser wimmelt, nach ihrer Art und alle geflügelten Flugtiere nach ihrer Art. Und Gott sah es als gut an.   22 Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt das Wasser in den Meeren, und die Flugtiere seien zahlreich auf der Erde!   23 Und es wurde Abend und es wurde Morgen: ein fünfter Tag. 24 Da sprach Gott: Die Erde bringe hervor lebende Wesen nach ihrer Art: Vieh und Kriechtier und das Wild der Erde nach seiner Art. Und Gegen die LXX (βοτάνην χόρτου) sind „Grün“ und „Kraut“ nicht zusammenzuziehen. Im MT fehlt die Kopula. Zur gut bezeugten Lesart (LXX, Sam, Pesch, Vulg, einige MS von TJ) vgl. V. 12 . 8  Zur singularischen Verbform vgl. GK §  145 o. 9  LXX und Sam bieten hier einen in Anlehnung an V. 15. 17 ergänzten Text. 10  Im MT ist die von 4 QGenk, Fragm. 2 (DJD XII, 77 ), Pesch und LXX (εἰς) bezeugte Präposition l e ausgefallen. 11  Die Abfolge von zwei entgegengesetzten Adjektiven mit Artikel drückt den vergleichenden Komparativ aus. Vgl. GK §  133  f. 12  Gemeinhin wird ‘ōp kollektiv mit „Vögel“ übersetzt, doch bezeichnet der Ausdruck alle fliegenden Tiere, einschließlich der Fledermäuse und Insekten (vgl. Lev 11, 19. 20 –24). Vgl. auch das erläuternde kānāp „Flügel“ in V. 21 im Sinne einer Gattungsbezeichnung für alle geflügelten Tiere (‘ōp). 13  Im MT fehlt die Geschehensformel „Und es geschah so“. Die Abweichung vom Schema bleibt unerklärlich, ist aber nicht mit der LXX zu beheben. Zudem versteht die LXX den Befehl analog zu V. 11. 25: Das Wasser soll Kriechtiere und Vögel entstehen lassen (so auch Ibn Esra). Gegen diese Auffassung spricht die Formulierung des zweiten Halbverses. 6  7 

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es geschah so.   25 Da machte Gott das Wild der Erde nach seiner Art und das Vieh nach seiner Art und alles, was kriecht auf dem Erdboden, nach seiner Art. Und Gott sah es als gut an.   26 Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, wie ein uns vergleichbares Bild, sodass sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Flugtiere des Himmels und über das Vieh und über das ganze Wild14 der Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen.   27 Da schuf Gott den Menschen als sein Bild15. Als Bild Gottes schuf er ihn. Männlich und weiblich schuf er sie.   28 Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen:16 Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und nehmt sie in Besitz und herrscht über die Fische des Meeres und über die Flugtiere des Himmels und über jedes Lebewesen17, das auf der Erde kriecht.18   29 Da sprach Gott: Siehe, ich gebe euch alles Kraut, das Samen gibt, das auf der Oberfläche der ganzen Erde ist, und das ganze Gehölz, an dem Baumfrüchte sind, die Samen geben. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.   30  Und allen Lebewesen der Erde und allen Flugtieren des Himmels und allem Kriechtier auf der Erde, in denen ein lebendes Wesen ist, [gebe ich]19 das ganze Grün des Krautes zur Nahrung. Und es geschah so.   31 Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe es war sehr gut. Und es wurde Abend und es wurde Morgen: der sechste Tag.20 2, 1  So wurden vollendet der Himmel und die Erde und ihr ganzes Heer.  2  Und Gott vollendete am siebten21 Tag seine Arbeit, die er getan hatte, und er ruhte am siebten Tag von seiner Arbeit, die er getan hatte.   3 Da 14  Trotz der nur sehr schwachen Bezeugung durch die Peschitta wird man mit Blick auf V. 24. 25 und die sonst zu beiläufige und innerhalb der Aufzählung der Tiere seltsame Erwähnung des Herrschaftsauftrages über die Erde (MT: ū-b  e-kål hā- ʾāræṣ „über die ganze Erde“) wohl ḥayyat „Wild“ ergänzen dürfen. Vielleicht beruht ū-b  e-kål hā- ʾāræṣ im MT auch auf einer Haplographie des dann im Folgenden vollständig wiedergegebenen ū-b  e-kål hā-rǣmæś… ʿal hā- ʾāræṣ „über alle Kriechtiere  … auf der Erde“. Der Fehler muss sich schon sehr früh in die Textüberlieferung eingeschlichen haben. 15  Die  LXX lässt b   e-ṣalmō aufgrund eines Lesefehlers (Homoioarkton) oder aus stilistischen Gründen unübersetzt. Vgl. Rösel, Übersetzung, 50. 16  In Anlehnung an V. 22 formuliert die LXX gefälliger und streicht den zweiten Verbalsatz zum einfachen λέγων. 17  ḥayyā bezeichnet eigentlich das Wild im Unterschied zu den Haustieren (b ehēmā; vgl. V. 26, wo im Anschluss an die Peschitta das „Wild“ zu ergänzen ist), wird hier aber als Kollektivbegriff für alle auf der Erde lebenden Tiere verwendet, und zwar einschließlich der Kriechtiere. V. 30 verwendet ḥayyā wohl als Oberbegriff für „Wild“ und „Vieh“, während die Kriechtiere eigens genannt sind. 18  LXX und Peschitta gleichen die gliedernde Aufzählung der Tierwelt an V. 26 an. 19  Sinngemäß aus V. 29 zu ergänzen. 20  Zur Konstruktion vgl. Joüon/Muraoka §  138b. 21  Gegen  LXX, Sam und Pesch sowie der Mehrzahl der Handschriften von Lat (vgl. ferner Jub 2 , 1. 16. 25), die in V. 2a „sechster Tag“ lesen. MT ist wohl als lectio difficilior beizubehalten. Vgl. die Auslegung. Anders Hendel, Text, 122 f; T. Krüger, Schöpfung und Sabbat in Genesis  2 , 1–3, in: C. Karrer-Grube u.  a. (Hg.), Sprachen – Bilder – Klänge. Dimensionen der Theologie im Alten Testament und in seinem Umfeld (FS R. Bartelmus), AOAT 359, Münster 2009, 155 –169, wonach

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segnete Gott den siebten Tag und er heiligte ihn, denn an ihm hatte er geruht von all seiner Arbeit, die Gott geschaffen hatte, indem er sie tat. Analyse: Der Abschnitt geht auf die Priesterschrift zurück. Gen 2 , 1 ist ein sekundärpriesterschriftlicher Eintrag.

Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht in Gen  1, 1–2, 322 gehört zu den Aufbau besonders behutsam und wohlüberlegt formulierten Texten des Alten Testaments. Die stetige Wiederkehr einzelner Formelelemente und die klare zeitliche Struktur der einen Schöpfungswoche vermitteln den Eindruck einer durchgeplanten und im höchsten Grade reflektierten Komposition. Jedes einzelne Schöpfungswerk beginnt mit Gottes Befehl: „Und Gott sprach …“ (Gen  1, 3. 6. 9. 11. 14. 20. 24. 26). Im Regelfall folgen die formelhafte Feststellung der Entsprechung von Befehl und Ausführung „Und es geschah so“ (Gen 1, 7. 9. 11. 15. 24. 30; LXX auch V. 20) und ein knapper Bericht über die Umsetzung des Befehls sowie die göttliche Billigung des Schöpfungswerkes: „Und Gott sah es als gut an“ (Gen 1, 4. 10. 12. 18. 21. 25. 31; LXX auch V. 8). Jeder Schöpfungstag endet mit der Zählung der Tage: „Es wurde Abend und es wurde Morgen: ein zweiter Tag“ etc. (Gen  1, 5. 8. 13. 19. 23. 31; 2, 2 –3). Das Sieben-Tage-Schema folgt einer strengen Sachlogik:23 Die Gegebenheiten der Welt vor der Schöpfung sind durch das Fehlen der Ordnungskategorien „Zeit“ und „Raum“ charakterisiert (Gen 1, 2: Finsternis und Urflut). Die Zeit wird am ersten Schöpfungstag mit der Einrichtung des für die Zeitdie Lesung des MT auf einem Schreibversehen beruht, das durch den nahezu gleichlautenden Schluss von V. 2a und V. 2b verursacht worden ist. 22  Seit Werner Carl Ludewig Ziegler (1794) wird üblicherweise die Toledotformel von Gen 2 , 4 a („Dies sind die Toledot des Himmels und der Erde, als sie erschaffen wurden“) als formaler Abschluss des Schöpfungsberichts betrachtet. Dies hat sogar Eingang in das Druckbild der BHS gefunden, die hier von ihrer Vorlage, dem Codex Leningradensis, abweicht (anders BHQ). Die These lässt sich nicht halten: 1. Die Toledotformel begegnet sonst ausschließlich als Überschrift (vgl. Gen  5, 1; 6, 9; 10, 1; 11, 10. 27; 25, 12 . 19; 36, 1. 9; 37, 2 und außerhalb der Genesis: Num  3, 1; Ruth 4, 18; 1Chr 1, 29), entsprechend wird sie auch in Gen 2 , 4a als Überschrift zur folgenden Paradieserzählung aufzufassen sein. Als solche schlägt sie eine (redaktionelle) Brücke zwischen dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht und der Paradieserzählung des weisheitlichen Erzählers in Gen  2, 4  –3, 24. Hierzu greift sie wie üblich Inhalt und Formulierungen des vorangehenden Textabschnitts auf (s.  u. zur Auslegung von Gen 2 , 4). 2 . Der Schöpfungsbericht Gen 1, 1–2 , 3 hat in 2 , 3 ein eigenes, mit 1, 1 korrespondierendes Summarium. 3. Die singuläre Rede vom „Buch der Toledot“ in Gen 5, 1 ist ein starkes Indiz für die Annahme, dass innerhalb der priesterschriftlichen Urgeschichte die Reihe der Toledot ursprünglich mit Adam in Gen  5, 1 eröffnet wurde und der unmittelbar voraufgehende Schöpfungsbericht wie im vorliegenden Textzusammenhang einen Prolog zur Geschichte der Toledot (Israels) darstellte. Auch die wiederholt vorgetragene Vermutung, Gen  2 , 4a habe innerhalb einer selbständigen Priesterschrift ursprünglich vor Gen  1, 1 gestanden und sei erst redaktionell zur Überschrift von Gen  2 , 4bff (bzw. Schlussvers des Schöpfungsberichts in Gen  1, 1–2 , 3. 4a) geworden (vgl. Gunkel, 101), ist nur schwer plausibel zu machen: Der Mottovers Gen 1, 1 ist eine vollgültige Überschrift des Schöpfungsberichts. Zur Toledotformel und ihrer Funktion vgl. D. M. Carr, Βίβλος γενέσεως Revisited: A Synchronic Analysis of Patterns in Genesis as Part of the Torah, ZAW 110 (1998) 159 –172 , 327–347. 23  Vgl. Zenger, Bogen, 71–80, 200; Janowski, Statue, 200. Skeptisch: Steck, Aufbauprobleme, 288 –292 .

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einteilung grundlegenden Wechsels von Nacht/Finsternis und Tag/Licht gestiftet (Gen 1, 3 –5). Die Trennung des ungeschiedenen Wassers der Urflut in Himmel, Meer und Land am zweiten und dritten Schöpfungstag etabliert den Raum (Gen 1, 6 –8. 9 –13). Darüber hinaus werden die Zeit und ihr stetiger Ablauf von Tag und Nacht am vierten und siebten Schöpfungstag noch feiner strukturiert. Die Erschaffung der Gestirne am vierten Schöpfungstag ermöglicht die Rhythmisierung durch den Sonnen- und Mondkalender und die Beachtung herausgehobener Festzeiten (Gen 1, 14  –19), während die Ruhe Gottes am siebten Schöpfungstag die Wochenzählung und die Unterscheidung von Arbeits- und Ruhezeit begründet (Gen 2, 2 –3). Die räumliche Ordnung bestimmt noch den fünften und sechsten Schöpfungstag, insofern es um das Bevölkern des dreigeteilten Raumes mit Meerestieren im Wasser und Flugtieren unter dem Himmel (Gen  1, 20 –23) sowie mit Landtieren (Gen 1, 24  –25) und Menschen auf dem Erdboden geht (Gen 1, 26 –31). Insgesamt ergibt sich also ein sorgfältiger Gesamtaufbau anhand der Zuordnung der Tage zu den Kategorien „Zeit“ und „Raum“: Zeit (1. Tag) – Raum (2. und 3. Tag) – Zeit (4. Tag) – Raum (5. und 6. Tag) – Zeit (7. Tag), wobei die Schlusswendung des siebten Schöpfungstages ( ʾašær bārā  ʾælōhīm „die Gott geschaffen hatte“; Gen 2, 3) zugleich einen Bogen zum Auftakt des Kapitels schlägt (be-rēšīt bārā   ʾælōhīm „Am Anfang hat Gott … geschaffen.“; Gen 1, 1). Die bestimmende Kategorie ist bei alldem die „Zeit“. Ihr sind der Rahmen und die Mitte des Schöpfungsberichts zugeordnet. Die grundlegende Ordnung der Welt und des irdischen Lebens ist somit die in der Schöpfung angelegte (priesterliche) Zeitstruktur der Sieben-Tage-Woche: Gen 1, 1 Gen 1, 2 Gen 1, 3 –5 Gen 1, 6 –8 Gen 1, 9 –13 Gen 1, 14  –19 Gen 1, 20 –23 Gen 1, 24  –31 Gen 2, 1–3

Mottovers – Überschrift Die raum- und zeitlose Vorwelt 1. Tag Licht und FinsStiftung ternis 2. Tag Himmel Etablierung 3. Tag Erde und Meer 4. Tag Sonne, Mond, Rhythmisierung Sterne: Festzeiten Bevölkerung 5. Tag Lebewesen im Wasser und unter dem Himmel 6. Tag Lebewesen an Land Rhythmisierung 7. Tag Abschluss: Gottes Ruhen am siebten Tag

Zeit Raum Zeit Raum

Zeit

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Der sorgfältige Aufbau des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts zeugt Entstehung von äußerster gedanklicher Konzentration und „vermittelt auch in ästhetischer Hinsicht den Eindruck von verhaltener Kraft und lapidarer Größe“24. Gleichwohl gibt der Text kleine Webfehler zu erkennen. Zuweilen fehlen formelhafte Elemente oder ihre Position weicht vom Schema ab, was schon die antiken Übersetzungen zu Ergänzungen oder Umstellungen bewogen hat (vgl. die LXX zu Gen 1, 6. 8. 9. 20). Auch will die Zahl von acht Werken auf den ersten Blick nicht richtig zum zeitlichen Rahmen einer Woche mit sechs Schöpfungstagen und einem Tag der göttlichen Ruhe passen. Befremdlich wirkt dabei nicht allein die numerische Differenz. So fällt auf, dass der Erschaffung des Menschen am sechsten Tag, auf welche die Reihe der Schöpfungswerke insgesamt hinausläuft, kein eigener Tag vorbehalten bleibt. Man mag auch fragen, warum die sachlich zusammengehörende Scheidung des Wassers und seine Unterscheidung vom Land auf zwei Tage verteilt ist. Wird der Himmelsozean am zweiten Tag geschaffen, so das Meer und das Land am dritten Tag, und zwar gemeinsam mit den Pflanzen. Schließlich steht die Erschaffung der Gestirne am vierten Tag in merkwürdiger Doppelung zu derjenigen des Lichts am ersten Tag. Obendrein ist sie noch nach der Erschaffung der Pflanzen angesetzt. Auch wenn sich die genannten Auffälligkeiten im Einzelfall gut in das Aussagegefälle des Textes einfügen lassen, so sind sie doch ein ernst zu nehmendes Indiz dafür, dass die Verfasser der Priesterschrift bei allem Gestaltungswillen nicht völlig frei formulieren konnten. Ihr Schöpfungsbericht fußt auf einer breiten religionsgeschichtlichen Tradition und stellt das Ergebnis jahrhundertealten (Priester-)Wissens dar. Beides hat Spuren im vorliegenden Text hinterlassen. Als das wichtigste Kennzeichen zur Unterscheidung des vorgegebenen Stoffes von seiner priesterschriftlichen Durchdringung gilt gemeinhin das Nebeneinander von Gottes Schaffen durch das Wort („Wortbericht“) und Gottes bildnerischem Tun („Tatbericht“). Im vorliegenden Textzusammenhang wird das Nebeneinander von „Wort“ und „Tat“ so zu verstehen sein, dass die Anordnung durch das Wort auf den Dauerzustand des jeweiligen Schöpfungswerkes zielt, während der Bericht von Gottes Tun die Ersterschaffung in den Blick nimmt.25 Fragt man angesichts der genannten Unebenheiten nach der Vor- und Entstehungsgeschichte des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts, so setzt die Schöpfung allein aufgrund des göttlichen Befehls einen entsprechenden Bericht über die Ausführung voraus. Hingegen bedarf die Schilderung der göttlichen Tat nicht des vorausgehenden Wortes. Auch scheint die Schöpfung durch das Wort innerhalb der biblischen Schöpfungstexte eine Neuerung der exilisch-nachexilischen Zeit gegenüber der älteren Vorstellung von der Schöpfung als göttlicher Tat zu sein. Dies legen zumindest die übrigen expliziten Belege für eine Schöp24  25 

von Rad, 43. Ähnlich schon Wellhausen, Prolegomena, 297; Gunkel, 117. Steck, Schöpfungsbericht, 70.

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fung durch das Wort nahe (vgl. Ps  33, 4. 6. 9; 148, 5; Jes  48, 13; Klgl  3, 37 ).26 Aus diesen Gründen wird das vorgegebene Material in der Aufzählung von Gottes Schöpfungstaten zu suchen sein. Eine genaue Abgrenzung ist kaum mehr möglich, doch lässt sich als Vorgabe aus der Tradition eine Auflistung priesterlicher Herkunft mit sieben oder acht Schöpfungswerken vermuten.27 Diese bietet im Kontext des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts eine Phänomenologie der vorfindlichen Welt, deren Lebensräume durch Ausdifferenzierung und Benennung entstehen und deren sukzessive Auffüllung sich an der Systematik der nach Lebensräumen, Arten, Gattungen und Geschlecht klassifizierten Lebewesen orientiert. Sie steht in der Tradition der Listenwissenschaft des alten Vorderen Orients, deren Inventarisierung einzelner Lebensbereiche und ihrer Bezeichnungen in Form mitunter knapp erläuterter und teilweise mehrsprachiger lexikalischer Listen als Urform einer naturkundlichen Weltbewältigung gelten darf (vgl. 1Kön 5, 12 f; Ps 148).28 Mit dem Gedanken der Schöpfung durch das Wort sind die Herausstellung der alleinigen Schöpfermacht Gottes durch den einleitenden Vers Gen  1, 1, die Geschehensformel „Und es geschah so“ (Gen  1, 7. 9. 11. 15. 24. 30) sowie die Billigungsformel „Und Gott sah es als gut an“ (Gen 1, 4. 10. 12. 18. 21. 25. 31) untrennbar verbunden. Die Geschehensformel konstatiert die dem Befehl entsprechende Ausführung, weshalb sie im Einzelfall den Ausführungsbericht ersetzen kann (vgl. Gen 1, 9) oder dort, wo Befehl und Bericht in den Details deutlicher differieren, dem Bericht nachgeordnet ist

26  Vgl. Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 175 –178 sowie Bührer, Anfang, 320 ff, mit Hinweisen zur weiteren Entwicklung einer immer stärker ausgeprägten Wortschöpfungstheologie in der nachexilischen Zeit. 27  Abgrenzung und Beschaffenheit des Materials – verschiedene Traditionsstoffe, feste mündliche Tradition oder schriftliche Quelle – werden kontrovers diskutiert. Nach Werner H. Schmidt steht hinter Gen  1, 2 . 4b. 7. 9(LXX). 12 . 16. 21. 25. 26 –27a; 2 , 2 f(  ?  ) älteres Überlieferungsgut, das von der Priesterschrift interpretierend überformt worden ist (vgl. Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 161). Dieser Vorschlag hat mit folgenden Einschränkungen nach wie vor einige Wahrscheinlichkeit für sich: Grundsätzlich ist zu bedenken, dass das Überlieferungsgut selbst schon in priesterlicher Tradition steht. Der Schöpfungsbericht lässt sich daher kaum hinreichend aus der Gegenüberstellung der altvorderorientalischen Tradition und ihrer kritischen Interpretation durch die Priesterschrift erklären. So klingt in der Rede von der Scheidung (Gen  1, 4b. 6. 7. 14. 18) der im alten Vorderen Orient verbreitete Trennungsmythos allenfalls noch von Ferne an. Das verwendete Verb *bdl hi. ist jedenfalls im Alten Testament ausschließlich im priesterlichen Kontext belegt. Höchst unsicher ist, ob in V. 9 mit Schmidt der LXX zu folgen ist (s.  o. Anm. 5). Auch dürfte bei der Menschenschöpfung der genuin priesterschriftliche Anteil größer sein und sich das überkommene Material auf die Aussage „und Gott ‚machte‘ den Menschen“ beschränkt haben (vgl. 1, 27aα*  – ohne das für die Priesterschrift typische Schöpfungsverb *br  ’). Zu Versuchen einer quellenkritischen Unterscheidung von Wort- und Tatbericht sowie zur Annahme, dass im Wortbericht der Traditionsbestand zu suchen ist, konstatiert bereits Westermann, 120: „Deshalb ist es eine Vergröberung des Tatbestandes, wenn man Gn 1 in einen ‚Wortbericht‘ und einen ‚Tatbericht‘ aufteilen will; der ‚Wortbericht‘ hat als solcher nie existiert, und der ‚Tatbericht‘ ist nicht rekonstruierbar.“ 28  Für den übrigen alten Vorderen Orient vgl. W. von Soden, Der Alte Orient. Eine Einführung, Darmstadt 22006, 138  ff.

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(vgl. Gen  1, 7b. 30b).29 Hinter der Billigungsformel steht die Vorstellung eines verantwortungsvollen Handwerkers, der den Herstellungsprozess mit der Prüfung des Werkstücks beendet und lediglich die für gut befundenen Stücke aus den Händen gibt.30 Entsprechend beschließt die Billigungsformel den jeweiligen Schöpfungsakt mit dem anerkennenden Lob des Schöpfers, dessen Wohlgefallen auf seinen Geschöpfen ruht. Dass sich die Billigungsformel ungeachtet dieser Analogie nicht von der Schöpfung durch das Wort trennen lässt, zeigt ihr erstes Vorkommen bei der Erschaffung des Lichts aufgrund des göttlichen Befehls (Gen 1, 4). Zu den prägenden Vorgaben des Textes, und zwar sowohl der überkommenen Liste von Schöpfungswerken und ihrer Rede vom Scheiden und Benennen dieser Werke als auch der priesterschriftlichen Interpretamente, gehört sodann der Strom altvorderorientalischer Weltschöpfungsvorstellungen. Allerdings lässt der „hohe Grad der Abstraktion […] die Vorgänger eher erahnen als triftig belegen“31. Überdies will es nicht einmal gelingen, eine bestimmte Tradition oder Epoche namhaft zu machen. Erkennbar ist nur der weite Vorstellungsraum,32 der für einzelne, in der Auslegung zu benennende Aspekte und Aussagezusammenhänge mehr oder weniger weitgehende Entsprechungen bietet und deutlich macht, wie sehr die Verfasser im Denken altvorderorientalischer Kosmologie beheimatet waren. Die Unebenheiten des Textes lassen sich also weitgehend mit seiner Verwurzelung in der Tradition erklären; spätere Erweiterungen hat der Text lediglich in Gen 2, 1 erfahren (s.  u. zur Auslegung des Verses). Die Charakterisierung der literarischen Gestalt von Gen 1, 1–2, 3 ist schwie- Gattung rig. Schon Johann Gottfried Herder hat konstatiert, dass sich der Text wegen seiner Wirksamkeit und Vorbildlosigkeit jeder gattungstypischen Klassifizierung entzieht.33 Auch wenn er in allen seinen Einzelheiten fest in die Vorstellungs- und Sprachwelt des alten Vorderen Orients eingebunden ist, so hat sich für das Gesamtwerk bislang keine Analogie beibringen lassen. Die Bezeichnung als Mythos oder auch nur als Erzählung scheitert schon daran, dass der Text anders als die Paradieserzählung keinen Plot hat, keinen Spannungsbogen entwickelt und streng genommen auch keine Auflösung einer eingangs geschilderten Problemstellung bietet. Weder wird der göttliche Kampf gegen Chaosgewalten geschildert, noch die Schöpfung dramatisch inszeniert. Vielmehr entfaltet der Text sein theologisch gedeutetes Wissen über die Lebenswelt und entwickelt darin den einen Gedanken von 29  Zur Diskussion um die noch in Ri 6, 38; 2 Kön 7, 20; 15, 12 belegte „Geschehens-“ oder „Ausführungsformel“ vgl. Bührer, Anfang, 48 –78. 30  Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 62 . 31  Levin, Tatbericht, 128 . 32  Für einen Überblick vgl. R.G. Kratz/H. Spieckermann, Art. „Schöpfer/Schöpfung II. Altes Testament“, TRE 30 (1999) 258 –283; Keel/Schroer, Schöpfung. 33  Vgl. C. Bultmann, Die Biblische Urgeschichte in der Aufklärung, BHT 110, Tübingen 1999, 149  f.

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Gottes Schöpfersein. Insofern diese theologische Lehre und das von ihr gedeutete Weltwissen als zeitliche Abfolge von Schöpfungsakten präsentiert wird, bietet es sich an, von einem Schöpfungsbericht zu sprechen, wie dies auch der nüchterne und ganz auf das Wesentliche konzentrierte Berichtsstil nahelegt. Die alles bestimmende klare und abgeklärte, beinahe schon monoton wirkende Strukturierung ist aber nicht nur den Stilvorgaben geschuldet. Sie hat auch eine unverkennbare inhaltliche Abzweckung. Unter den Bedingungen einer Krisenzeit, in der Israel seinen König, sein Land und seine Selbständigkeit verloren hatte und sich der schier übermächtigen Kultur der babylonischen (oder persischen) Oberherren ausgesetzt sah, mithin Weniges Bestand zu haben schien, betont allein schon die sprachliche Gestalt des Schöpfungsberichts, „wie wohlgeordnet, beständig, verlässlich, rhythmisch wiederkehrend Gott die Schöpfung gemacht hat“34. Hinter der Wissenschaftsprosa steht also das Bekenntnis zur Verlässlichkeit des einen Gottes und seiner Schöpfungsordnung, was wiederum in den hymnischen Elementen des Textes seinen sprachlichen Ausdruck gefunden hat.35 In diesem Sinne handelt es sich um eine theologische Abhandlung über die grundlegenden Ordnungen der Welt. 1, 1–3 Die Bestimmung der syntaktischen Struktur und damit die Übersetzung und

die Auslegung der ersten drei Verse der Bibel sind umstritten.36 Die antiken Übersetzungen haben hier drei eigenständige Sätze erkannt („Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer … Und Gott sprach …“). Viele, darunter der Verfasser des Prologs zum Johannesevangelium (vgl. Joh  1, 1), sind ihnen gefolgt, doch hat sich auch immer Widerspruch geregt. Grund hierfür ist das Fehlen eines Artikels in dem berühmten b e-rēšīt („am Anfang“)37. Die klassische Übersetzungstradition versteht den Ausdruck als nominale Zeitangabe zu einem selbständigen Satz im Umfang von V. 1. Daran gilt als problematisch, dass die nominale Zeitangabe in V. 1 unbestimmt ist, während die Übersetzungen wie selbstverständlich davon ausgehen, dass es sich um einen bestimmten Anfang handelt: Die eine Welt kann nur einen Anfang haben, was die Aussage erwarten lässt, dass es sich um einen bestimmten und keinen beliebigen Anfang handelt. Sprachlich könnte dies außer durch den (hier fehlenden) Artikel auch durch ein auf das Seebaß, 62 . Vgl. Janowski, Schöpfung, 506 f, der diesen Aspekt jedoch zu einseitig betont und gegen die Charakterisierung als „Schöpfungsbericht“ anführt. Stattdessen spricht er von einer „Schöpfungserzählung mit doxologischem Charakter“, hält aber mit Westermann, 112 daran fest, dass es eine „Form einer Erzählung [ist], die eigentlich keine Erzählung ist“. 36  Die Diskussion ist monographisch aufgearbeitet bei Bauks, Welt. 37  Anders als es der Apparat der BHS vermuten lässt, ist die zuweilen vorgeschlagene Lesung mit Artikel (bā-rēīt) „eine freie Konjektur, die sich weder auf griechische Transkriptionen der Väter noch das samaritanische Material stützen kann“ (U. Rüterswörden/G. Warmuth, Ist ‫בראשית‬ mit Artikel zu vokalisieren? in: W. Zwickel [Hg.], Biblische Welten [FS M. Metzger], OBO 123, Fribourg/Göttingen 1993, 167–175, 175). 34  35 

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„Anfang“ bezogenes Nomen angezeigt werden. In der Tat steht das hebräische rēšīt („Anfang von etwas“) gewöhnlich als nomen regens in einer „Genitivverbindung“ (status constructus) und wird so determiniert (vgl. Jer  26, 1 u. ö.). Das Fehlen des Artikels ist in diesem Fall regelkonform, weil das nomen regens in einer Konstruktusverbindung keinen Artikel tragen darf. Freilich fehlt in V. 1 ein auf das „am Anfang“ bezogenes Nomen (nomen rectum) und rēšīt steht für sich (status absolutus). Deshalb wurde verschiedentlich im Anschluss an die beiden bedeutenden jüdischen Kommentatoren des Mittelalters Raschi (1040 –1105) und Ibn Esra (1092 –1167 ) vermutet, dass stattdessen der Rest von V. 1 als genitivischer Attributsatz zu dem einleitenden be-rēšīt aufzufassen ist.38 Nach diesem Vorschlag ist b e-rēšīt das nomen regens einer den ganzen V. 1 umfassenden Konstruktusverbindung. Entsprechend wird V. 1 nicht als selbständiger Satz verstanden, sondern gilt als ein temporaler Nebensatz. Sofern dieser nicht als unvollständiger Satz (Anakoluth) aufgefasst wird, findet sich der Hauptsatz zu V. 1 dann in V. 2 oder – wahrscheinlicher – in V. 3a. Die Passage wäre dann wie folgt zu übersetzen: „Am Anfang von Esschuf-Gott-den-Himmel-und-die-Erde (war es), während die Erde als Tohuwabohu existierte, wobei Finsternis über der Oberfläche der Flut (lag) und ein starker Wind über der Oberfläche des Wassers ‚rüttelte‘, da sprach Gott: Es werde Licht!“39 Die wichtigste sachliche Akzentverschiebung gegenüber der gewohnten Übersetzung besteht darin, dass sich das „Am Anfang“ nicht auf den absoluten und voraussetzungslosen Anfang der Welt, sondern auf den Beginn des Schöpfungshandelns Gottes bezieht. Syntaktisch ist die vorgeschlagene Auflösung von V. 1–(2.)3a als ein Satzgefüge von unter- und übergeordneten (Neben-)Sätzen grundsätzlich möglich. Auch fehlt es nicht an Analogien (vgl. Gen 2, 4b–7 und aus der altvorderorientalischen Literatur Atr  I, 1–7; EnEl  I, 1–9/29 f ). Gegen diese Lösung spricht indes, dass das Alte Testament den für V. 1 vermuteten Gebrauch von Verbalsätzen als Ersatz für ein nomen rectum innerhalb einer Konstruktusverbindung nur in wenigen und an besondere Bedingungen geknüpften Ausnahmen kennt.40 Aus diesem Grund liegt es näher, das be-rēšīt zu denjenigen Fällen im biblischen Hebräisch zu zählen, wonach bei bestimmten Substantiven für Zeitangaben die Determination in der Regel nicht eigens durch einen Artikel angezeigt wird.41 Das Fehlen des Artikels wäre demnach kein Einwand gegen die traditionelle Auffassung, wonach be-rēšīt einen bestimmten Anfang meint und als Vgl. Weippert, Schöpfung. A.a.O., 14. 40  Vgl. H.-J. Stipp, Gen  1, 1 und die asyndetischen Relativsätze im Bibelhebräischen, in: S.Ö. Steingrímsson/K. Ólason (Hg.), Literatur- und sprachwissenschaftliche Beiträge zu alttestamentlichen Texten, ATSAT  83, St. Ottilien 2007, 323 –355. Genau genommen gilt dies für die vorliegende tiberische Fassung des masoretischen Textes. Mit Stipp steht zu vermuten, dass es im vortiberischen Hebräisch mehr Möglichkeiten gegeben hat, ein nomen rectum durch einen Verbalsatz zu ersetzen und dies auch sprachlich eindeutig anzuzeigen. 41  H.-J. Stipp, Anfang und Ende. Nochmals zur Syntax von Gen 1, 1, ZAH 17–20 (2004  –2007 ) 188 –196, mit Hinweis auf den „artikelscheuen“ Gegenbegriff qēṣ („Ende“). 38  39 

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nominale Zeitangabe zu V. 1 zu verstehen ist und die drei ersten Verse der Bibel jeweils selbständige Sätze sind. Ganz unabhängig von der Diskussion um die Artikellosigkeit von be-rēšīt („Am Anfang“) ist die Frage zu beantworten, wie das Verhältnis der drei selbständigen Sätze in V. 1–3 sachlich zu bestimmen ist. In der Tradition wurden die drei Sätze in der Regel als Abfolge von Handlungen verstanden und zumeist so ausgedeutet, dass V. 1 von der Erschaffung der Materie (creatio immediata) spricht, aus der dann, wie V. 2 ff berichten, alles Existierende geformt und gestaltet worden ist (creatio mediata). Nach diesem Verständnis handelt es sich um den klassischen Beleg für die Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo). Doch die Aussage dieser Lehre, Gott bedürfe in seiner Allmacht keines vorgegebenen Stoffes, der schon durch die Vorgabe des Materials die Freiheit des Schöpfungshandelns einschränken würde, ist dem vorhellenistischen Orient schon hinsichtlich der Problemstellung noch völlig fremd. Sie hat sich erst in der Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus und im argumentativen Weiterdenken der biblischen Texte entwickelt. Entsprechend begegnet die Formel von Gottes Schaffen „nicht aus dem, was war“ (οὐκ ἐξ ὄντων) in der biblischen Tradition erstmals im hellenistischen Makkabäerbuch, besagt hier jedoch (noch) nichts anderes, als dass die Welt zuvor nicht war (2Makk 7, 28; vgl. Röm 4, 17; Hebr 11, 3).42 Das Verständnis von V. 1 und V. 2 als Handlungs- oder Ereignisfolge ist aber auch in sprachlicher Hinsicht schwierig: Der Ausdruck „Himmel und Erde“ (V. 1) ist ein Merismus. Damit ist eine Stilfigur gemeint, die zwei sich ausschließende, aber aufeinander bezogene Begriffe gegenüberstellt, um die zwischen diesen Polen gedachte Ganzheit auszudrücken („jung und alt“ = „jeder“, „gut und böse“ = „alles“, „Tag und Nacht“ = „immer“). Entsprechend bezeichnet der Ausdruck „Himmel und Erde“ das, was das griechische κόσμος oder das lateinische universum zu einem Begriff zusammenfassen. Als eigenständiger Satz gelesen, besagt V. 1 demnach „Gott hat alles geschaffen“, und sicher nicht „Gott hat die ungestaltete Materie geschaffen“. Sollten die V. 1–3 als Handlungs- oder Ereignisfolge zu verstehen sein, käme die Schilderung der ungeordneten Welt in V. 2 also eindeutig zu spät. Hinzu kommt, dass V. 2 mit seinen drei Nominalsätzen eine Zustandsbeschreibung bietet und insofern aus der unterstellten Abfolge von Handlungen oder Ereignissen herausfällt. So bietet es sich an, die drei als eigenständig erkannten Sätze als Überschrift oder Mottovers (V. 1), als Schilderung der Gegebenheiten vor der Schöpfung (V. 2) und als Auftakt des Schöpfungshandelns (V. 3) voneinander abzuheben.43 Für diese Lösung spricht, dass sie den Konventionen altvorderorientalischer Literatur entspricht und sich bestens in den Gesamtaufbau des 42  Vgl. W. Groß, Art. „Creatio ex nihilo“, RGG  2 (41999) 485 –  4 87; ferner G. May, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, AKG  48, Berlin 1978 und speziell zu 2 Makk  7, 28 G. Schmuttermayer, „Schöpfung aus dem Nichts“ in 2 .  Makk. 7, 28?, BZ 17 (1973) 203 –228. 43  Vgl. Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 73 –76; Steck, Schöpfungsbericht, 223 –228 .

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priesterschriftlichen Schöpfungsberichts einfügt. Der das Folgende zusammenfassende Mottovers ist in dieser Literatur ein gängiges, unseren Überschriften entsprechendes Verfahren der Texteröffnung. Die an den Mottovers anschließende Schilderung der Gegebenheiten vor der Schöpfung legt in Übereinstimmung mit der streng sukzessiven Anlage des Schöpfungsberichts dar, was den Geschehnissen ab V. 3 ff vorausgegangen ist. Als Analogie kann hier auf die „Vorweltschilderungen“ in altvorderorientalischen Schöpfungstexten verwiesen werden, die den Zustand der Welt vor ihrer Erschaffung in aller Regel kontrastierend als ein Zustand des „Noch-Nicht“ (V. 2aα; vgl. Gen  2, 5) oder als Negation der bestehenden Welt (V. 2aβ; vgl. Gen  2, 6) schildern.44 Ein schönes Beispiel für eine ausführliche Vorweltschilderung bietet das babylonische Marduk-Epos Enuma Eliš. Das wohl aus der Regierungszeit Nebukadnezars I. (ca. 1120 –1098 v. Chr.) stammende und durch zahlreiche Textvertreter aus der ersten Hälfte des 1.  Jt. v. Chr. belegte Werk beginnt wie folgt: „Als oben der Himmel (noch) nicht benannt war (= existierte) und unten die Erde (noch) nicht mit Namen genannt war, war Apsu, der erste, ihr Erzeuger, und die Schöpferin Tiamat, die sie alle gebar. Ihre Wasser hatten sie miteinander vermischt, ehe sich Weideland verband und Röhricht zu finden war. Als die Götter noch nicht hervorgebracht waren, kein einziger, sie mit Namen noch nicht gerufen waren, ihnen die Schicksale noch nicht bestimmt waren, da wurden die Götter in ihrer Mitte geschaffen …“ (EnEl I, 1–9).45 Der Mottovers  V. 1 bildet mit Gen  2, 3 einen Rahmen um den priester- V. 1 schriftlichen Schöpfungsbericht (s.  o.) und fasst zugleich zusammen, was im Folgenden entfaltet wird. In dieser Funktion gibt der Vers wichtige Verstehenshilfen für den Gesamttext, dessen Hauptaussage von Anfang an feststeht: Gott ist als Schöpfer Gott. Gott ist der alleinige Schöpfer von allem, was ist, und als ihr Schöpfer ist Gott von Himmel und Erde entkoppelt und ihnen gegenübergestellt. Schon die Wahl der Gottesbezeichnung ʾælōhīm („Gott“ oder „Götterwesen“) formuliert einen besonderen Anspruch.46 Streng genommen handelt 44  Das Material ist zusammengestellt bei Bauks, Welt. Zur literarischen Funktion und zum Erkenntnisinteresse derartiger Aussagen über den Zustand der Welt vor der Schöpfung s.  u. zu V. 2 . 45  Die geläufige und dem Vergleich mit Gen  1 und 2 geschuldete Bezeichnung „Schöpfungsepos“ ist etwas irreführend, insofern im Zentrum des Epos nicht die Erschaffung der Erde und des Menschen steht, sondern der Aufstieg Marduks zum Götterkönig. Dies ist auch der grundlegende Unterschied zum biblischen Schöpfungsbericht, in dem die Frage der Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs des universalen Schöpfergottes gegenüber anderen Göttern keine Rolle (mehr) spielt. Zur Charakterisierung des Werks als „Geheimwissen der Marduk-Priesterschaft“ und seiner damit scheinbar in Widerspruch stehenden weiten Verbreitung vgl. G. Gabriel, enūma eliš – Weg zu einer globalen Weltordnung, ORA 12 , Tübingen 2014, 101–106. Zur Verbreitung als Schultext vgl. P. Gesche, Schulunterricht in Babylonien im ersten Jahrtausend v. Chr., AOAT 275, Münster, 2001, 177  f. 46  Vgl. A. de Pury, Gottesname, Gottesbezeichnung und Gottesbegriff: ’Elohim als Indiz zur Entstehungsgeschichte des Pentateuch, in: J.C. Gertz/K. Schmid/M. Witte, Abschied vom Jahwisten, BZAW 315, Berlin 25 –  47.

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es sich um einen Gattungsbegriff. Der Plural kann entweder eine Mehrzahl von Göttern bezeichnen oder hat als Hoheitsplural die Bedeutung „Gott“. Letzteres ist ausweislich der durchweg singularischen Verbformen in Gen 1 und der übrigen Urgeschichte der Priesterschrift der Fall.47 Die Gattungsbezeichnung verlangt in polytheistischen Kontexten eine Angabe darüber, um welche Gottheit es sich handelt. Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht verzichtet bewusst auf eine entsprechende Näherbestimmung und gebraucht stattdessen die Gattungsbezeichnung wie einen Individualbegriff. Der zunächst namenlose Weltschöpfer, der sich im weiteren Verlauf der Geschichte zunächst als El Šaddaj, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und dann als Jhwh, der Gott Israels, offenbaren wird (vgl. Gen 17, 1; Ex 6, 2 f ), ist der eine universale und transzendente Gott. Auch wenn der Weltschöpfer in Gen  1 noch nicht eindeutig als Jhwh benannt ist, so dürfte für die Autoren und Leser der Priesterschrift nie ein Zweifel daran bestanden haben, dass der Weltschöpfer mit dem Gott Israels zu identifizieren ist. Gleichwohl eröffnet die offene Formulierung bemerkenswerte Möglichkeiten des Verstehens. Die Priesterschrift erhebt in Gen 1 den Anspruch, dass der Gott Israels der eine universale und transzendente Gott ist. Doch diese Exklusivität ist nicht ausgrenzend, da die Darstellung der Welt am Anfang im Grunde von jedem mitgesprochen werden konnte, der mit der Kosmologie des alten Vorderen Orients und ihrem religiösen Rahmen vertraut war.48 Unterstrichen werden Universalität und Transzendenz des einen Gottes durch den Gebrauch des Verbs *br  ʾ („schaffen“). Das Verb ist ausschließlich in exilischen und nachexilischen Texten belegt, wobei der Schwerpunkt bei Deuterojesaja samt seinen Fortschreibungen und in der Priesterschrift liegt. Im Jesajabuch steht das Verb gleichermaßen für vergangenes und gegenwärtiges ( Jes  40, 26. 28; 42, 5; 45, 12. 18) wie auch zukünftiges Schaffen Gottes ( Jes 41, 20; 45, 8; 65, 17; vgl. Jer 31, 22), während es die Priesterschrift konsequent auf Gottes anfängliches Schaffen (Gen  1, 1. 21. 27; 2, 3 f; 5, 2) beschränkt. Für das Verstehen des priesterschriftlichen Gebrauchs ist dabei entscheidend, dass *br   ʾ von allen Verben, die im Alten Testament für das Schöpfungshandeln Gottes benutzt werden, dasjenige mit dem höchsten Grad theologischer Abstraktion ist. Das in Gen 1 ebenfalls für Gottes Schöpfungshandeln belegte * ʿśh („machen/tun“) bezeichnet jedwedes menschliches oder göttliches Tun und bei den anderen Schöpfungsverben des Alten Testaments wie *bnh („bauen“), *yṣr („bilden/formen“), *qnh („kaufen/ erwerben“) und *kūn („aufstellen/gründen“) sowie *ysd („errichten/begründen“) überwiegt der konkrete und zumeist handwerkliche Gebrauch. Dagegen ist *br  ʾ ausschließlich Gott vorbehalten und nie mit einer Material-

47  Die einzige Ausnahme in der Priesterschrift ist die Rede von den „Göttern Ägyptens“ in Ex 12 , 12 . 48  Vgl. Schüle, Prolog, 62 –65.

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angabe dessen verbunden, woraus oder womit Gott schafft.49 Das mit *br  ʾ bezeichnete Schöpfungshandeln ist somit jeder Vorstellbarkeit enthoben. Dies wird zwar im Folgenden nicht konsequent durchgehalten, insofern der Schöpfungsbericht in V. 3 ff notgedrungen auf bildliche Vorstellungen zurückgreifen muss, will er Gottes Schöpfungshandeln überhaupt beschreiben können. Doch selbst dann ist die bildliche Veranschaulichung durch die Voranstellung des göttlichen Befehls vor jedes göttliche Tun eigentümlich gebrochen. Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht beschreibt mithin ein Geschehen, das sich streng genommen jeder Beschreibung entzieht. Das aus der Tradition übernommene Wissen über die Weltentstehung, das sicherlich dem damaligen Erkenntnisstand entsprochen hat, wird nicht um seiner selbst willen überliefert, sondern lediglich um die theologische Kernaussage des ersten Verses zu entfalten. Auf den Punkt bringt dies der späte Ps 148: Kosmos und Kreatur sollen Jhwh loben, „denn er befahl, da wurden sie geschaffen (*br  ʾ ni.)“ (V. 5a). Das „Wie“ ist dabei von untergeordnetem Interesse. Der universale Charakter des Schöpfergottes, die „Tendenz, umfassend das Ganze als Gottes Werk zu denken“50, findet schließlich in dem auch in mesopotamischen Kosmologien belegten Merismus „Himmel und Erde“ einen passenden Ausdruck. Die Schilderung des Vorher der geschaffenen Welt nimmt mit dem Stich- V. 2 wort „Erde“ den Merismus „Himmel und Erde“ auf, konzentriert sich aber auf den erfahrbaren Lebensraum des Menschen. Der Himmel wird hingegen nur noch als trennende „Feste“ zwischen Himmelsozean und Meer thematisiert (vgl. V. 8). Somit macht schon die Vorweltschilderung deutlich, dass es im Folgenden um die Lebenswelt des Menschen geht. Sie ist die bestimmende Perspektive des Schöpfungsberichts. Insofern V. 2 von der „ungeschaffenen“ Erde handelt, steht ihre Erwähnung nicht im Widerspruch zur Erschaffung der Erde als Lebensraum von Pflanzen, Landtieren und Menschen am dritten Schöpfungstag (V. 9 f ). Der Zustand der „ungeschaffenen“ Erde wird außer durch das sprichwörtliche „Tohuwabohu“ (tōhū wābōhū ) noch durch die Stichworte „Finsternis“ (ḥōšæk), „Urflut“ (t   ehōm) und „Schweben des Hauches Gottes“ (m eraḥǣ  pæt rū     aḥ ʾælōhīm) charakterisiert. „Die Erde war ein Tohuwabohu“ ist eine „Noch-nicht-Aussage“ über den Zustand der Erde als Lebenswelt in Form einer Negation. Das zweiteilige Reimwort „Tohuwabohu“ ist noch in Jes  34, 11 („Nichtiges“) und Jer  4, 23 („Leere“) belegt. Sein zweiter Teil hat wie „warr“ im deutschen „Wirrwarr“ keine eigene Bedeutung und dient der Verstärkung. Der erste Teil hängt etymologisch mit arabisch tīh „wasserarme Wüste“ zusammen (vgl. Dtn 32, 10; 49  Der mögliche Beleg für br  ’ „Bildhauer“ (  ?  ) in einem phönizischen Text (CIS I, 347, 4; vgl. J. Hoftizjer, Dictionary of the North-West Semitic inscriptions Vol. 1, Leiden 1995, 196 [s.v. br’]) ändert an diesem Befund nichts, da im Alten Testament auf diese Verwendung des Wortes, sofern er den biblischen Autoren überhaupt geläufig war, verzichtet wurde. Die Substantivbildung berī  ʾā „Schöpfung“ ist erstmals in Qumran und dann in der rabbinischen Literatur belegt. 50  W.H. Schmidt, Art. „br  ’“, THAT I (1971) 336 –339, 339.

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Hi  6, 18; Ps  107, 40). Sonst hat tōhū im Alten Testament vorwiegend die Bedeutung „nicht“ oder „Nichtiges“. In einem kosmogonen Kontext steht die Parallelisierung mit dem, „was nicht ist“ in Hi  26, 7: „Der den Zaphon ausspannt über dem tōhū, der die Erde auffängt über dem, was nicht ist.“ In Jes  45, 18 f bezeichnet tōhū den nicht vorhandenen Lebensraum: „Nicht zum tōhū hat er ( Jhwh) sie (die Erde) geschaffen (*br  ʾ), zum Wohnen hat er sie gebildet“. Ähnlich begegnet der Ausdruck mit Blick auf die historische Situation des Landverlustes in Jer 4, 23. Ausweislich der kosmischen Dimensionen des dort geschilderten Unheils („Die Himmel waren finster“) geht es in Jer  4, 23 nicht um eine konkrete Beschreibung des verwüsteten Landes, sondern um die Umkehrung der intendierten Ordnung, wenn das Kulturland, seiner ursprünglichen Funktion beraubt, zum unbewohnbaren Ort geworden ist. Ein entsprechendes Verständnis bietet sich für die Vorweltschilderung in V. 2 an. Das „Nichts“ ist als Umkehrung des konkret Vorfindlichen gedacht, oder anders formuliert: Die Erde war (noch) nicht ihrer Bestimmung gemäß als Lebensraum vorhanden, sie war „wüst und leer“. Es ist wichtig für das Verständnis der Schilderung des Vorher der geschaffenen Welt, dass sie sich keinem im engeren Sinne spekulativen Interesse verdankt. Auch beruht die assoziative Nähe zu modernen Kosmologien und deren Metaphorik nicht auf einer naturkundlichen Ahnung der biblischen Autoren. Die Vorweltschilderung ist vielmehr durch die Vorgabe der Logik eines Berichts und der Erkenntnismöglichkeit bestimmt: Der Bericht schildert das Ins-Sein-Kommen aller erkennbaren Ordnung und Gegebenheiten als Geschehensfolge und bedarf deshalb eines Ausgangspunkts, der sich der Erfahrung entzieht und daher nicht anders beschreibbar schien denn als Negation oder als „Noch-Nicht“ des Vorhandenen. Der folgende Nominalsatz (V. 2aβ) konkretisiert das Tohuwabohu mit den Qualitäten Urflut (t   ehōm) und Finsternis (ḥōšæk), wie sie auch aus mesopotamischen, ägyptischen, phönizischen und griechischen Vorweltschilderungen bekannt sind. Weniges aus der Vielzahl des Vergleichsmaterials sei zur Veranschaulichung genannt: Die in ramessidischer Zeit (13. bis 11. Jh. v. Chr.) ausgebildete und noch in hellenistischen Texten belegte Schöpfungskonzeption von Hermopolis spricht für die Vorwelt von einer aus vier Urgottpaaren gebildeten „Achtheit“, welche vier Kategorien der Vorwelt verkörpert, und zwar Nun und Naunet (Urwasser), Huh und Hauhet (Endlosigkeit), Amun und Amaunet (Verborgenheit) und Kuk und Kauket (Finsternis).51 In einem sumerisch und akkadisch überlieferten Schöpfungsmythos aus dem 6.  Jh. v. Chr. heißt es zum Urzustand des noch nicht gegliederten Kosmos schlicht: „Alle Länder waren (noch) Meer“52. Bei dem im 1.  Jh. n. Chr. wirkenden Philo von Byblos lesen wir über die phönizische Mythologie: „Als Anfang von allem nimmt er (sc. der Priester Sanchunjaton) dunkle und wehende Luft Vgl. Bauks, Welt, 162 –173. K. Hecker, Kleinere Schöpfungserzählungen, TUAT III, 603 –611, 608. Vgl. Horowitz, Geography, 129 –132 . 51  52 

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an oder einen Hauch dunkler Luft und ein schmutziges finsteres Chaos“.53 Der babylonische Priester Berossos, der sich im 3. Jh. v. Chr. bemühte, mit einer Geschichte Babyloniens von den Uranfängen bis zur Zeit Alexanders des Großen der griechischen Welt die Kultur seiner Heimat nahezubringen, verbindet griechische und phönizische Traditionen mit mesopotamischen Vorstellungen und spricht von der Vorwelt als einem Zustand, „da durch das ‚Welt‘-All hin Finsternis und Wasser war“ (Berossos I, 6).54 So vielfältig die Texte sind, so vielfältig sind die Vorstellungen, die sich mit den genannten Charakteristika der Vorwelt verbinden. Für den alttestamentlichen Text wird man sagen können, dass die uneingeschränkte Finsternis und die grenzenlose Urflut diejenigen Charakteristika der Vorwelt sind, welche das Fehlen der beiden konstitutiven Ordnungskategorien der Erfahrungs- und Lebenswelt symbolisieren: „Zeit“ und „Raum“. Dass sie noch nicht vorhanden sind, zeichnet die Vorwelt als einen Zustand der schlechthinnigen Lebensunmöglichkeit. Finsternis (ḥōšæk) als „Nicht-Licht“ markiert das Fehlen der „Zeit“, die in V. 3 –5 mit der Einrichtung des für die Zeiteinteilung grundlegenden Wechsels von Nacht/Finsternis und Tag/ Licht etabliert wird. Anders als dies Jes  45, 7 („Der das Licht bildet und die Finsternis schafft“) und Ps  104, 20 („Du schickst Finsternis, und es wird Nacht“) herausstellen, ist die Finsternis kein Schöpfungswerk. Sie wird lediglich durch die Hervorrufung ihres Gegenübers, des Lichts, in die Weltordnung als Nacht eingeordnet. Als eine rein negative Qualifikation des noch nicht geschaffenen Lichts ist die Finsternis kaum als eine eigenständige Chaosmacht vorgestellt. Letzteres ist im Übrigen schon durch die Betonung von Gottes alleinigem Schöpfungshandeln in V. 1 ausgeschlossen. Neben der Finsternis ist das ungeschiedene Wasser der Urflut (t   ehōm) eine der Qualitäten der Vorwelt, in die hinein sich das göttliche Schöpfungshandeln ereignet. Ihre Erwähnung weist voraus auf die Einführung der Kategorie „Raum“ am zweiten und dritten Schöpfungstag: Die Erschaffung der Feste/des Himmels inmitten des Wassers teilt das ungeschiedene in das Wasser über der Feste/dem Himmel und das Wasser, das darunter ist (V. 6 –8). Dessen Sammlung ermöglicht wiederum das Sichtbarwerden des Trockenen, d.  h. der Erde als Lebensraum im Rahmen des dritten Schöpfungstages (V. 9 f ).

53  Von der „phönizischen Geschichte“ des Philo von Byblos sind nur längere Exzerpte bei Euseb von Caesarea (ca. 260 –339/40 n. Chr.) erhalten (Praeparatio Evangelica I 10, 1–14a; Übersetzung: Eusebius, Die Praeparatio Evangelica, hrsg. von K. Mras, Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte  43/1, Berlin 21982). Philo beruft sich auf das Werk eines Priesters Sanchunjaton, der noch vor dem Trojanischen Krieg gelebt habe. Die Historizität dieser Angabe ist umstritten, was jedoch kaum gegen das Alter der aufgenommenen Traditionen spricht. Zu Philo vgl. Ebach, Weltentstehung (ebenfalls mit Übersetzung der Fragmente). 54  Das Babyloniaca genannte Werk des Berossos ist nur in Fragmenten, genauer in Zitaten und Exzerpten bei anderen antiken Autoren bekannt. Eine Zusammenstellung sowie Übersetzungen der Fragmente finden sich bei Jacoby, Fragmente, 370.

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Der traditionsgeschichtliche Hintergrund des hier mit „Urflut“ wiedergegebenen Ausdrucks t   ehōm ist umstritten. In der Literatur wurde wiederholt eine direkte oder indirekte etymologische und sachliche Verbindung mit der (mesopotamischen) UrGöttin und Chaosmacht Tiamat behauptet.55 Zur Begründung wird außer auf den Gleichklang der Worte und den gemeinsamen Kontext einer Vorweltschilderung noch gerne auf den fehlenden Artikel zu t   ehōm in V. 2 verwiesen. Da t   ehōm seiner Stellung und Singularität entsprechend determiniert sein müsste, könne es sich nur um einen per se determinierten Eigennamen handeln. Gängig ist die Interpretation, wonach die im Hintergrund stehende Göttin in polemischer Abgrenzung und zur Herausstellung der Alleinwirksamkeit und Überlegenheit des einen Gottes auf den Status bloßer Materie reduziert wird.56 Gegen die Herleitung sprechen aber philologische wie motivgeschichtliche Gründe: Das hebräische t   ehōm ist anders als sein mutmaßliches Ursprungswort nicht weiblich gebildet, und der gegenüber dem akkadischen Tiamat überschüssige H-Laut in t   ehōm ließe sich lautgeschichtlich kaum erklären. Zudem scheint in Gen 1, 2 jede Anspielung auf den in anderen Texten des Alten Testaments durchscheinenden Mythos vom Meereskampf zu fehlen, wie er mit der Göttin Tiamat verbunden ist (zumeist ohne Erwähnung der t   ehōm; vgl. Ps 74, 13 –15; 89, 10 –13; 93 und mit t   ehōm in Ps 104, 5 –7 ). Zwar wurde hinter der in V. 2b erwähnten rū     aḥ Gottes die Tradition der Winde, welche nach dem babylonischen Marduk-Epos Enuma Eliš dem Schöpfergott Marduk als Waffe gegen Tiamat gedient haben, vermutet, doch spricht gegen diese Verbindung, dass V. 2b jegliche kämpferische Konnotation fehlt. Die Polemik bestünde also bestenfalls in der Nichterwähnung dieser Motive, wobei vorausgesetzt ist, dass der Ausdruck t   ehōm zumindest die Assoziation an die Göttin Tiamat geweckt hat. Angesichts dieser Unwägbarkeiten sollte man sich für den traditionsgeschichtlichen Hintergrund von t   ehōm in Gen  1, 2 (und den anderen Belegen im Alten Testament) nicht auf die Chaosmacht Tiamat fokussieren. Der mit dem Begriff bei seinen ursprünglichen Adressaten und Adressatinnen aufgerufene Vorstellungsraum dürfte viel breiter gewesen sein und zumindest auch die ägyptische Vorstellung des ruhenden Urmeeres Nun oder die in dem schon genannten zweisprachigen Schöpfungsmythos aus neubabylonischer Zeit belegte Vorstellung eines (Ur-)Meeres beinhaltet haben. Zu diesen Vorstellungen passt jedenfalls, dass in den übrigen alttestamentlichen Belegen t   ehōm den unterirdischen Süßwasserozean bezeichnet, der als eine Art Urquelle das Land bewässert und fruchtbar macht (vgl. Gen  49, 25; Am  7, 4; Ez  31, 4. 15; Hi  38, 30; Ps  78, 15) und der in der raumlosen Vorwelt vom späteren Himmelsozean über der Feste noch ungeschieden ist (vgl. das durch die Determination auf t   ehōm bezogene „Wasser“ in V. 2b und seine Scheidung in V. 6 –8; ferner Gen  7, 11; 8, 2; ähnlich Ps  29, 10). Gleichwohl dürfte der Ausdruck t   ehōm für seine intendierten Leser einen mythisch-chaotischen Beiklang gehabt haben, und nicht zuvörderst ein „reines ‚Naturphänomen‘“ bezeichnet haben.57 Dies geht für die Verwendung in Gen 1, 2 schon daraus hervor, dass nach der Priesterschrift die Sintflut über die Erde kommt, indem die Quellen der großen Urflut (t   ehōm) aufbre55  So zuerst H. Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, Göttingen 21921, 115, und jetzt wieder Schüle, Prolog, 72 . Zur Kritik vgl. D. Tsumura, Creation and Destruction. A Reappraisal of the Chaoskampf Theory in the Old Testament, Winona Lake/IN 2005. 56  Wenig bedacht wird bei der Gegenüberstellung von Gen 1 und Enuma Eliš, dass Tiamat im Enuma Eliš meist ohne das Determinativ für Gottheiten und mit Kasusendung geschrieben wird, mithin weniger die Gottheit als das Schöpfungselement in den Blick tritt. Die alttestamentliche „Polemik“ würde also lediglich eine im Enuma Eliš bereits angelegte Linie ausziehen. 57  E.-J. Waschke, Art. „t   ehôm“, ThWAT VIII (1995 ) 563 –571, 566.

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chen und sich die Luken des Himmels öffnen (Gen 7, 11; vgl. 8, 2). Die von Gott einst geordneten Wasser werden in der Sintflut wieder aktiv. Auch Ps 104 belegt, dass aus der Erwähnung der t   ehōm die Bedrohung durch das Chaos herausgehört wurde (vgl. auch Ps  148, 7 ). Der in die Nachgeschichte von Gen  1 gehörende Psalm schildert in Aufnahme eines Mythologems aus dem Baal-Mythos, wie die Urflut (t   ehōm) die Erde bis über die Bergspitzen wie ein Kleid bedeckte, dann aber vor der Donnerstimme Jhwhs flüchtete (Ps 104, 5 –7 ).

V. 2b nennt als letztes Merkmal der Vorwelt das Schweben (m eraḥǣpæt) der rū     aḥ Gottes über dem Wasser. Das Bedeutungsspektrum von rū     aḥ umfasst alle Formen bewegter Luft und reicht vom Atemhauch bis zum Sturm. Im übertragenen Sinn kann das Wort auch „Geist“, „Leben“ und „Wegwehendes“, d.  h. „Nichtiges“ bedeuten. Entsprechend reichen die Übersetzungen der Wendung rū     aḥ Gottes vom schöpferischen „Geist Gottes“ bis hin zum chaotischen „Gottessturm“. Unstrittig ist nur, dass das Partizip m eraḥǣpæt einen Zustand unablässiger Bewegung beschreibt, der mit Blick auf den zweiten alttestamentlichen Beleg der Wurzel rḥp im pi. mit dem Rüttelflug eines Raubvogels verglichen werden kann, der in der Luft steht und seine Flügel hin und her bewegt (Dtn 32, 11).58 Grundlegend für das Verständnis des Verses ist seine Zugehörigkeit zur Schilderung der Vorwelt in V. 2a, wie sie noch durch eine parallele Konstruktion in beiden Teilversen unterstrichen wird: Die rū     aḥ Gottes liegt wie die Finsternis über der Oberfläche ( ʿal p enē ) des Wassers der Urflut. Hinzu kommt, dass die Schilderung des Schöpfungshandelns in V. 3 ff nicht von der rū     aḥ Gottes als schöpferisch tätiger Macht spricht. V. 2b beschreibt also noch nicht das Schöpfungshandeln Gottes, sondern wie die beiden vorangehenden Nominalsätze in V. 2a die Gegebenheiten vor der Schöpfung. Dies legt auf den ersten Blick ein Verständnis der rū     aḥ Gottes als eines „Gotteswindes“ nahe, wie er in Schöpfungstexten der Umwelt als Urgegebenheit häufig belegt ist.59 Gegen diese grundsätzlich mögliche Interpretation spricht jedoch, dass die Apposition ʾælōhīm mehr oder weniger explizit als Umschreibung eines Superlativs aufgefasst wird (Gotteswind = ein göttlicher Wind, d.  h. ein besonders heftiger Wind, ein Urorkan; vgl. qōlōt   ʾælōhīm „mächtige Donner“ in Ex 9, 28). Angesichts der beiden übrigen Belege von ʾælōhīm in V. 1–3 (und der insgesamt 35 Belege in Gen  1, 1–2, 3), 58  Die Wurzel rḥp ist ansonsten nur noch in Jer  23, 9 („es zittern [rḥp; q.] meine Glieder“) belegt. Für die obige Übersetzung vgl. auch die ugaritischen Belege der Wurzel: „Anat mit den Flügeln, die Fliegerin, die Schwebende (rḫpt [*rḫp D]) am hohen Himmel“ (KTU3 1. 108, 8 f = M. Dietrich/O. Loretz, Lieder und Gebete aus Ugarit, TUAT II, 818 –826, 822 f ). Weitaus weniger wahrscheinlich ist die von Gunkel vorgeschlagene Übersetzung „und der Geist Gottes brütete“ (vgl. Gunkel, 102 f ). Der von Gunkel angeführte Hinweis auf das syrische *rḥp ist problematisch, da das Verb im D-Stamm vermutlich einfach nur „fliegen“ und nicht wie in älteren Lexika notiert auch „brüten“ heißt. Von Gunkels Übersetzung hängen wiederum Überlegungen über eine Verbindung mit kosmogonischen Vorstellungen eines von der Urgöttin ausgebrüteten Welteis zusammen, wie sie u.  a. in Ägypten belegt sind. 59  Vgl. Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 81–84, und zuletzt wieder Weippert, Schöpfung, 14 mit Anm.  33, und H. Rechenmacher, Gott und das Chaos. Ein Beitrag zum Verständnis von Gen 1, 1–3, ZAW 114 (2002) 1–20, 13  ff.

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bei denen es sich eindeutig und betont um die Gottesbezeichnung handelt, ist eine derartig verblasste Verwendung von ʾælōhīm unwahrscheinlich. Auch würde ein „Gottessturm“ anders als die Finsternis und das Wasser der Urflut nicht mit in die Schöpfung hineingenommen werden und fände anders als die Urflut auch keine Erwähnung in der Erzählung von der Sintflut (vgl. 7, 11; 8, 2).60 Bedenkt man ferner, dass Tohuwabohu, Finsternis und Urflut als ein „Noch-Nicht“ auf die vorfindliche Lebenswelt rekurrieren, dann ist zu fragen, ob nicht auch die rū     aḥ   ʾælōhīm ein „Noch-Nicht“ der vorfindlichen Lebenswelt formuliert, und zwar mit Blick auf den Schöpfergott. Dieser ist „in der Vorwelt zwar bereits anwesend, aber noch nicht aktiv“61. Im Moment des Hin- und Herschwebens (m eraḥǣpæt) über dem Wasser mag das „NochNicht“ der bei Vollendung der Schöpfung erreichten Gottesruhe (vgl. 2, 2 f ) angesprochen sein. Die Erwähnung der rū     aḥ   ʾælōhīm zeigt hingegen das „Noch-Nicht“ von Gottes Sprechen an, welches die Darstellung des göttlichen Schöpfungshandelns vom unmittelbar folgenden Vers an bis zur Gottesruhe bestimmt und den entscheidenden Unterschied von Vorwelt und Schöpfung markiert. Es erscheint daher angemessener zu sein, rū     aḥ   ʾælōhīm mit „Hauch“ oder „Atem Gottes“ wiederzugeben (vgl. Ps  33, 6), wobei die Wendung noch nicht das schöpferische Sprechen selbst, sondern nur seine (noch) nicht realisierte Möglichkeit benennt.62 Insofern das Schweben der rū     aḥ   ʾælōhīm über dem Wasser wie die zuvor festgestellte Raum- und Zeitlosigkeit eine negative Alternative zur vorfindlichen Lebenswelt beschreibt, geht es V. 2b allerdings weniger darum, anhand einer latenten Macht zur Wortschöpfung die „Gegenwart“ Gottes vor der Schöpfung zu betonen. Dies dürfte außerhalb des priesterschriftlichen Interesses liegen. Eher trägt die Erwähnung des „Noch-Nicht“ von Gottes Schöpfungswort der theologischen Grundeinsicht des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts Rechnung, wonach Gott nur als Schöpfer Gott ist. Erst und allein im Gegenüber zu seiner Schöpfung lässt sich von Gott anders als in der Negation reden. Insofern ändert sich die Rede von Gott grundlegend mit dem Beginn des Schöpfungshandelns in V. 3. Im Zentrum des ersten Schöpfungstages steht die Etablierung der Ord1, 3 –5 nungskategorie „Zeit“ durch die Erschaffung des Lichts und den darin beschlossenen Wechsel von Licht/Tag und Finsternis/Nacht. Darüber hinaus hat das Licht im altvorderorientalischen Denken eine symbolische Funktion. Es steht für „Wahrheit“, „Ordnung“, „Leben“ und „Gerechtigkeit“ und markiert damit die Gegenposition zum uranfänglichen Chaos: Wer in einem dunklen Raum Ordnung zu schaffen versucht, wird sich zunächst ein Licht besorgen.63 Ihrer grundlegenden Funktion entsprechend, unterscheiGen 8, 1 (P) erwähnt einen von Gott (’ælōhīm) geschickten Wind (rū     aḥ), der die Wasser der Flut (t    hōm: V. 2) sinken lässt. Es ist aber ausdrücklich nicht von der rū     aḥ   ’ælōhīm die Rede. 61  Bauks, Welt, 140. 62  Vgl. Steck, Schöpfungsbericht, 233 –237. 63  Cassuto, I 25 nach BerR III, 1. 60 

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det sich die Erschaffung des Lichts von den folgenden Werken. Wie bei den übrigen Werken steht am Anfang der göttliche Befehl, doch korrespondiert dem Sprechen Gottes bei seinem ersten Werk kein Tun. Hinzu kommt ein scharfer Kontrast zur unmittelbar voraufgehenden Vorweltschilderung. Das Licht wird allein durch das schöpferische Sprechen Gottes, welches in die Finsternis der Vorwelt hinein erfolgt, ins Dasein gerufen (V. 3). Die Vorstellung von der Schöpfung durch das Wort, die auch durch die Befehlsgewalt von Königen angeregt sein wird, hat Analogien in den kosmologischen Vorstellungen der Umwelt. Häufig genannt wird das in seiner Datierung umstrittene „Denkmal memphitischer Theologie“.64 Danach erschafft der Schöpfergott Ptah die Welt durch „Herz und Zunge“, insofern er die im Herzen geformte Erkenntnis der Dinge durch die Zunge mitteilt und so ins Dasein setzt. Die Darstellung der Welterschaffung schließt mit der Notiz: „So wurde befunden und erkannt, daß er der mächtigste unter den Göttern ist. Dann ruhte Ptah aus, nachdem er alles und auch alle heiligen Texte geschaffen hatte“65. Nach dem babylonischen Marduk-Epos Enuma Eliš verlangen die Götter ihrem (designierten) König Marduk als Nachweis seiner Autorität ab, dass auf seinen Befehl hin Sternzeichen verschwinden und wieder erscheinen (EnEl IV, 19 –24). Unverkennbar soll die Rede von der Wortschöpfung die Souveränität der jeweiligen Schöpfergottheit betont herausstellen. Die phänomenologische Ähnlichkeit ist offensichtlich, doch angesichts eines naturgemäß beschränkten Repertoires an geeigneten Ausdrucksformen lässt sich daraus kaum auf identische Vorstellungsgehalte oder gar auf eine unmittelbare Abhängigkeit schließen. So steht im Enuma Eliš der Machterweis Marduks gegenüber den anderen, durch die besagten Sternenbilder repräsentierten Göttern im Vordergrund, während im Denkmal memphitischer Theologie die Aussage darauf zielt, dem lokalen Urgott einen Vorrang vor den anderen Göttern zu sichern. In Gen  1 liegt der Akzent dagegen auf der Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt. Wie der Schöpfungsbericht insgesamt dient auch die Rede von der Schöpfung durch das Wort dazu, Gott der Welt als Schöpfer gegenüberzustellen.66 Darüber hinaus ist die priesterschriftliche Rede von der Schöpfung durch das Wort auch der prophetischen Theologie verpflichtet, in der die Wirksamkeit des durch den Propheten vermittelten göttlichen Wortes zunehmend in den Mittelpunkt gerückt ist: „Denn gleichwie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, ohne dass er die Erde befeuchtet und fruchtbar gemacht hat und wachsen lässt, dass sie Samen dem Säenden gibt und Brot dem Essenden, so soll das Wort, das aus meinem 64  Der auf einem Basaltstein aufgezeichnete Text gibt sich als Neufassung eines alten Papyrus durch Pharao Schabako (716 –702 v. Chr.) aus. Sofern man hierin nicht eine Auffindungslegende erkennt und den Text entsprechend in das 8. Jh. v. Chr. datiert, tendiert die Forschung zu einer Datierung der Vorlage in die Ramessidenzeit (13. bis 11. Jh. v. Chr.). Einleitung und Übersetzung: C. Peust/H. Sternberg-el Hotabi, TUAT III Ergänzungslieferung, 166 –175. 65  A.a.O., 174 Zeile 59. 66  Vgl. Kaiser, Theologie II, 263.

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Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, ohne dass es getan hat, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende“ ( Jes  55, 10 f ).67 In einer Krisenzeit, in der genau diese Wirksamkeit häufig genug nur gegen den Augenschein geglaubt werden konnte, stellte der Hinweis auf die Schöpfung durch das Wort die denkbar stärkste Versicherung der Gültigkeit und Mächtigkeit des göttlichen Wortes dar. Unter den biblischen Schöpfungsvorstellungen ist die Wortschöpfung eine theologiegeschichtliche Neuerung gegenüber älteren Vorstellungen von der göttlichen Schöpfungstat.68 Die Billigungsformel (V. 4a) nennt nur bei der Erschaffung des Lichts ausdrücklich noch einmal das für gut befundene Werk. Dies wird damit zu erklären sein, dass Gott vom Gegensatzpaar des ersten Schöpfungstages allein das Licht geschaffen hat. Hingegen gehört die Finsternis zu den Vorwelteigenschaften, die als bereits existierend gedacht sind und die Gott zur Schöpfung ordnet. Die schwierige Zuordnung des durch den göttlichen Befehl erschaffenen Lichts und der Vorwelteigenschaft Finsternis bestimmt auch den Rest des Abschnitts über den ersten Schöpfungstag. In der Vorweltschilderung erscheint die Finsternis als Größe ohne eigene Potenz. Im Kontext des ersten Schöpfungstages wird sie dem Licht durch Trennung als Gegenüber zugeordnet (V. 4b) und durch die Benennung als Nacht in die zeitliche Struktur der Weltordnung integriert (V. 5a). Die Benennung von Licht und Finsternis ist dabei mehr als ihre bloße Identifikation mit Tag und Nacht. Sie ist ein Akt der Herrschaftsausübung (vgl. Gen 2, 19) und Inbesitznahme durch denjenigen, der den Namen vergibt (vgl. Ps  74, 16). Vor allem aber beinhaltet sie eine Zuschreibung des Wesens des Benannten und bringt so den Schöpfungsakt erst zu seinem Abschluss. Dies ist offenkundig dort notwendig, wo sich das Schöpfungswerk wenigstens zum Teil einer Transformation der Vorwelteigenschaften verdankt, wie dies außer bei Licht und Finsternis noch bei der Erschaffung des Himmels, der Erde und der Meere der Fall ist, die sich einer Teilung der Urflut verdanken (vgl. Gen 1, 8. 10). In diesem Sinn werden die Finsternis, das Trockene und das Wasser nicht geschaffen, wohl aber durch ihre Benennung als Nacht, Erde und Meere durch den Schöpfergott in ihre Bestimmung gerufen. Das Bedrohliche der Finsternis ist ein Grundmotiv der Kulturgeschichte. Auch im Alten Testament haben sich mit der Finsternis nahezu ausschließlich negative Vorstellungen verbunden. Sie galt wie in der Umwelt als Sphäre dämonischer Bedrohung (Ex 12, 23; 1Sam 28) und des Todes (vgl. Hi 17, 13; Ps  88, 7 ) und wurde als zerstörerische, die Weltordnung gefährdende Realität gefürchtet (vgl. Jes  5, 30; 13, 9 f; Jer  4, 23; Joel  2, 1–10; vgl. DDD2, 624). Dementsprechend wird häufig für Gen  1 die Auffassung vertreten, dass die Finsternis zwar in die Schöpfungsordnung hineingenommen und da67  Zum Zusammenhang von priesterschriftlicher und prophetischer Theologie des Wortes vgl. Levin, Tatbericht, 131–133. 68  S.o. die bei Anm. 26 genannten Belege.

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durch entmachtet ist, gleichwohl aber eine untergründige Bedrohung bleibt. Letzteres ist für die Priesterschrift jedoch ganz ungewiss. Sie thematisiert in der Sintfluterzählung eine fundamentale Bedrohung der Schöpfungsordnung, lässt dabei jedoch die Finsternis anders als die Urflut unerwähnt. Von dualistischen Vorstellungen weit entfernt, wird der Finsternis in Gen  1 von Beginn an jegliche Macht abgesprochen. Eine nahe Entsprechung und gute Veranschaulichung des zugrunde liegenden Ordnungsgedankens bietet das Bild von der tageszeitlichen Trennung der von Gott genährten, nachtaktiven Raubtiere und des am Tage arbeitenden Menschen in Ps 104, 20 –23. Im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht werden Licht und Finsternis neben der Benennung durch ihre vorherige Scheidung ins Verhältnis gesetzt (V. 4b). Die Rede von Gottes Scheiden (*bdl hi.) erinnert von Ferne an den in mesopotamischen und ägyptischen Texten breit belegten Trennungsmythos.69 Allerdings schildert dieser in der Regel das Trennen von Himmel und Erde. Hingegen wird in Gen 1 die Entstehung der Erde nicht als Scheidungsvorgang, sondern als Hervortreten der Landmassen durch das Zusammenfließen des Wassers dargestellt (V. 9 f ). Hinzu kommt, dass die Vorweltschilderung gerade nicht von der chaotischen Vermengung von Licht und Finsternis spricht, wie sie dem vermeintlichen Trennungsakt eigentlich vorgegeben sein müsste. Vielmehr gehört allein die Finsternis zu den Vorwelteigenschaften, während die Erschaffung des Lichts Gottes Schöpfungshandeln eröffnet. Zwar ist nicht gänzlich auszuschließen, dass sich in V. 4b eine traditionelle Vorstellung erhalten hat und mitgehört werden konnte (oder auch sollte), doch ist dies für das Verständnis des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts von untergeordnetem Interesse. Wie bei den übrigen priesterschriftlichen Belegen des Verbs *bdl hi. („aussondern“, „unterscheiden“; vgl. Ex  26, 33; Lev  10, 10 u. ö.) geht es weniger um das Entmischen von Stoffen als um die ordnende und räumlich vorgestellte Unterscheidung (vgl. Hi 26, 10; 38, 19 f ): Licht und Finsternis bilden ein zusammengehöriges Gegensatzpaar, dessen unterscheidende Zuordnung den Tageszeitenwechsel und damit die Kategorie „Zeit“ etabliert. Mit dem Ende des ersten Schöpfungstages setzt die strukturierende und auf den abschließenden Ruhetag hinauslaufende Tageszählung ein. Diese wird immer wieder metaphorisch gedeutet. So hat man schon in der frühjüdischen Exegese mit Hinweis auf Ps  90, 4 („Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.“) an „Gottestage“, mithin erheblich längere Zeiträume gedacht. Andere verneinen, dass es überhaupt um eine physikalisch messbare, chronologische Einheit geht, sondern sprechen lieber vom „Tag ‚als solchen‘“70. Derartige Interpretationen mögen der Darstellung der Schöpfungswoche etwas von 69  So in der Kosmologie des Berossos (vgl. Jacoby, Fragmente, 372); in EnEl IV, 135 –140; im Epitheton des Atum, der „der große Gott, der den Himmel von der Erde scheidet“ genannt werden kann. Vgl. Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 21 f, 24 f, 29 f (mit weiteren Belegen). 70  Vgl. Grund, Entstehung, 212 .

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ihrer Anstößigkeit angesichts der Zeiträume naturwissenschaftlicher Kosmogonien nehmen. Sie berücksichtigen aber nicht hinreichend, wie sehr es dem Text darum zu tun ist, dass die erfahrbare Ordnung von Raum und Zeit im Schöpfungshandeln gründet. Ebenso wie die in V. 7 erschaffene Himmelsfeste der für den Menschen von unten sichtbare Himmel ist, so ist die mit dem Wechsel von Tag und Nacht etablierte und auf den Ruhetag hinauslaufende Tageszählung diejenige, die auch Autoren und Adressaten des Schöpfungsberichts vertraut ist.71 Mit der das Schöpfungswerk beschließenden Benennung der Nacht wurde (  !  ) es Abend, der neue Tag beginnt am nächsten Morgen (V. 5b). Wie die Schöpfung insgesamt beginnt jeder Tag mit Aufkommen des Lichts.72 1, 6 –8 Mit dem zweiten Schöpfungstag beginnt die Einführung der Ordnungskategorie „Raum“. Sie erfolgt in einer doppelten Unterscheidung. Zunächst wird durch das Einziehen einer Feste (rāqī     a     ʿ mask.) das Wasser der Urflut geteilt und voneinander abgegrenzt, wodurch der raumlose Zustand erstmals Struktur gewinnt (V. 6; der Artikel bei „Wasser“ verweist auf die vorherige Nennung des Wassers in V. 2b, der dortige Artikel identifiziert das Wasser mit der Urflut t   ehōm in V. 2a). Am folgenden dritten Schöpfungstag tritt dann durch das Sammeln des Wassers unter der Feste an einem Ort die Landmasse hervor (V. 9 –10). Der mit Feste wiedergegebene Ausdruck rāqī   a   ʿ hängt mit Verb *rq ʿ „auf etwas stampfen“ (2Sam  22, 43) oder „(ein Metall) dünn hämmern“ (Ex 39,3; Jer 10, 9) zusammen. Entsprechend dürfte hinter rāqī   a   ʿ die Vorstellung einer festen Platte stehen. So vergleicht der spätere und auf Gen 1 zurückblickende Beleg Hi 37, 18 den rāqī   a   ʿ mit einem blanken Spiegel, wie sie in der Antike aus poliertem Metall hergestellt wurden. Nach Ez 1, 22 gleicht der rāqī   a   ʿ einer lichtdurchlässigen Eisfläche (vgl. Ex  24, 10: Bodenplatte aus Lapislazuli). Der rāqī   a   ʿ dient als horizontale Trennlinie (mabdīl  ) zwischen den geteilten Wassern und schirmt den am dritten Tag erschaffenen Lebensraum von den lebensbedrohenden Chaoswassern oberhalb der Feste dauerhaft ab. Zudem werden an ihr am vierten Schöpfungstag Sonne und Mond befestigt (V. 17 ). Das Motiv der horizontalen Abtrennung des himmlischen Ozeans findet sich außer in Gen 1 bislang nur noch in dem babylonischen Marduk-Epos Enuma Eliš, wo die Haut der getöteten Ur-Göttin und Chaosmacht Tiamat wie ein Zelt aus Tierhaut als Schutzdach dient (EnEl IV, 135 –140).73 Dieses Motiv wird in Gen 1 verbunden mit der festen Vgl. Gunkel, 106, auch Steck, Schöpfungsbericht, 175 Anm. 746. Im Alten Testament bezeichnet „Tag“ zunächst die „helle Tageszeit“ und davon ausgehend die Tag/Licht und Nacht/Finsternis umfassende kalendarische Einheit. In der Regel schließt der 24  -Stunden-Tag die anschließende Nachtzeit mit ein (vgl. Gen  19, 33 f; 1Sam  19, 11), sodass der kalendarische Tag mit dem Morgen beginnt. Mit den Bestimmungen zur Feier des Sabbats und anderer Feiertage, die bereits mit dem vorangehenden Abend beginnen (vgl. Ex 12 , 18; Lev 23, 32), ist aber auch der Beginn des kalendarischen Tages am Abend belegt, wie er sich später im Judentum als normativ durchgesetzt hat. Vgl. M. Sæbø, Art. „jôm II–VI“, ThWAT III (1982) 566 –586. 73  Mit der Funktion und Beschreibung der Feste ist grundsätzlich auch die aus Ägypten bekannte Konzeption einer nach oben (  !  ) gewölbten metallischen Schale mit den Himmelswassern 71  72 

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Platte des rāqī   a   ʿ, wie es in dem zeitgenössischen Text Ez  1, 4  –28 sowie in einem neuassyrischen Kommentar zum Enuma Eliš bezeugt ist (KAR 307 ). Dieser Kommentar gehört zu einer Gruppe von Texten, deren Anliegen die Vermittlung der mythischen Tradition mit einer naturkundlich orientierten Weltwahrnehmung ist,74 und weist eine große Nähe zur Himmelskonzeption in Ez auf, die wiederum auf Gen  1 eingewirkt haben dürfte.75 Anders als Ez 1 verzichtet die Priesterschrift jedoch auf eine genauere Schilderung des Aussehens (und der Art der Herstellung) und beschränkt sich stattdessen auf eine Funktionsbeschreibung. Entsprechend macht sie auch keine Angaben über die Art der Befestigung der Himmelsfeste. Die in Ägypten, Mesopotamien und auch im Alten Testament belegte Vorstellung von Bergen als Stützen des Himmels (Ps  90, 2; Hi  26, 11; 2Sam  22, 8) oder von tiergestaltigen Himmelsträgern (Ez  1, 22 –25) hat in Gen  1 keine Entsprechung.76 Überhaupt zeichnet sich der Text insgesamt durch äußerste Sparsamkeit in der Schilderung der Details aus. Im Unterschied zu einer Reihe von Texten aus seiner Umwelt und der biblischen Tradition fächert die Priesterschrift weder den Himmel auf,77 noch thematisiert sie das weiterhin gegebene Bedrohungspotential der geteilten Wasser der Urflut (vgl. Gen  7, 11; 8, 2) oder das, was unter der Erde ist. All dies ist für den vornehmlich am Lebensraum des Menschen ausgerichteten Text uninteressant. Auf den göttlichen Befehl zur Erschaffung der Feste und ihrer Funktionsbestimmung (V. 6) folgt die entsprechende Ausführung (V. 7a): Gott macht die Feste, damit diese fortan innerhalb des Wassers eine Trennlinie zieht. Die Geschehensformel (V. 7b) bestätigt die genaue Korrespondenz zwischen Befehl und Ausführung, wobei sich dies streng genommen nur auf das anordnungsgemäße Scheiden des Wassers durch die Feste beziehen kann.78 Die übliche Billigungsformel fehlt an dieser Stelle, da die Trennung des Wassers und mit ihr die Einrichtung des Raumes erst mit der Erschaffung des Landes vergleichbar. Vgl. E. Hornung, Art. „Himmelsvorstellungen“, LÄ II (1977 ) 1215 –1218. Allerdings macht die Priesterschrift entgegen einer verbreiteten Auslegungstradition keine Angaben zur gewölbten Form der Feste. Die übrigen Belege von rāqī   a   ʿ wie die im Folgenden knapp skizzierten traditionsgeschichtlichen Bezüge von Gen 1 sprechen jedenfalls eher für eine ebene Platte. 74  Text und Übersetzung in A. Livingstone, Court Poetry and Literary Miscellanea, SAA  3, Helsinki 1989, 99 –102; zur Interpretation vgl. Horowitz, Geography, 3 –19. Ferner Halpern, Astronomy; Gertz, Polemik; Koch, Wohnstatt, 156 –168. 195 –202 . 75  Vgl. dazu Koch, a.a.O. 76  Hierin gleicht Gen  1, 6 –8 dem kosmologischen Kommentar KAR 307, der im Gegensatz zum kommentierten Text (vgl. EnEl V, 59; VII, 95) ebenfalls auf derartige Angaben verzichtet, sodass der Eindruck einer freischwebenden festen Platte entsteht. 77  Insbesondere die mesopotamische Literatur kennt eine sehr ausgestaltete Himmelsgeographie. Vgl. Horowitz, Geography. In der Rezeptionsgeschichte des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts und der Visionen im Ezechielbuch (Ez 1, 22 –26; 10, 1) erfährt die Welt oberhalb der rāqī   a   ʿ (vgl. die Platte aus Lapislazuli unter dem thronenden Gott Israels nach Ex  24, 9 –11) eine zunehmende Ausgestaltung und Bevölkerung mit himmlischen Wesen (vgl. auch Ez  1, 22 –26; Ps 19, 2; 150, 1; Dan 12 , 3). Vgl. C. Koch, Art. „Heaven I. Ancient Near East and Hebrew Bible/ Old Testament“, EBR 11 (2015) 542 –547. 78  Anders die LXX. S.o. Anm. 3.

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abgeschlossen ist (vgl. V. 10). Das Schöpfungswerk endet mit der Benennung der Feste als Himmel (V. 8a) und der Tageszählung (V. 8b). In der Benennung der das Wasser (mayim) trennenden Feste (rāqī   a   ʿ) als Himmel (šāmayim) klingt eine Volksetymologie des Wortes šāmayim als „Ort des Wassers“ (Relativpronomen š + mayim) an.79 Wie die Formulierung „Feste des Himmels“ (rāqī   a   ʿ haš-šāmayim) in Gen 1, 14. 15. 17. 20 zeigt, ist mit der Benennung der Feste als Himmel ähnlich wie bei der Benennung des Lichts als Tag und der Finsternis als Nacht keine völlige Identität ausgesagt. Hinter der unaufgeregten Notiz über die Benennung der Feste steht ein Zentralanliegen des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts, das der Transzendenz des Schöpfergottes: Anders als in der babylonischen Kosmologie, nach der der Himmel zumindest materialiter dem Schöpfergott Marduk vorgegeben ist,80 gilt der von unten für den Menschen sichtbare Himmel als ein Schöpfungswerk neben anderen. Er interessiert allein in seiner Funktion als Trennscheide zwischen den Wassern der Urflut und damit als Grundstruktur des Raumes und Schutz des menschlichen Lebensraumes (vgl. Gen 7, 11). Dass der Himmel in anderen Bereichen des Alten Testaments als Wohnung oder Domäne Gottes und der Himmlischen gedacht ist (so u.  a. Jes  40, 22; 66, 1 f; Ps 104, 1–  4; 150, 1; 2Chr 30, 27 ), tritt nicht in den Blick.81 1, 9 –10 Das Hervortreten der Landmassen am dritten Schöpfungstag beschließt die Konstituierung des Raumes. Die Kombination mit der Erschaffung der Pflanzen, dem zweiten Werk dieses Tages (V. 11–13), ist damit zu erklären, dass es um die Erde als Lebensraum geht. Und das ist nun einmal die begrünte Erde (vgl. Gen  2, 5). Erde und Meere werden nicht im eigentlichen Sinne geschaffen, sondern durch die befohlene Konzentration des Wassers unter dem Himmel an einem Ort sichtbar gemacht (V. 9). Die Vorstellung ist nicht ganz stimmig, im Hintergrund steht wohl die in den Flusskulturen Meso­ potamiens und Ägyptens beheimatete Anschauung einer überschwemmten Ebene, in der nach dem Abfließen des Hochwassers das fruchtbare Land wieder auftaucht. Abermals verzichtet die Priesterschrift auf die Details. Dass sie das auch in alttestamentlichen Texten angedeutete, weniger konkret denn symbolisch verstandene „altorientalische“ Weltbild teilt, wonach sich das Meer wie ein Kreis rings um die Landfläche zieht und zugleich auch unter Vgl. J.A. Soggin, Art. „šāmájim“, THAT II (1976) 965 –970, 966. Vgl. F. Hartenstein, JHWH, Erschaffer des Himmels, ZThK 110 (2013) 383 –  4 09, 396  f. 81  Vgl. K. Schmid, Himmelsgott, Weltgott und Schöpfer. „Gott“ und „Himmel“ in der Literatur der Zeit des zweiten Tempels, JBTh 20 (2005) 111–148, bes. 131 ff, der Gen 1, 6 –8 als grundsätzliche Stellungnahme der Priesterschrift liest: „In Gen 1 ist der Himmel mithin nicht Wohnstatt oder Domäne Gottes, wie besonders im religionsgeschichtlichen Vergleich mit der dreifach aufgefächerten Himmelsvorstellung des ‚Enuma eliš  ‘ auffällt. Gott als Schöpfer steht vielmehr grundsätzlich jenseits der Schöpfungswerke Himmel und Erde“ (a.a.O., 133, Hervorhebung im Original). Hiergegen ist jedoch zu bedenken, dass die Priesterschrift in anderen Zusammenhängen anderes vom Himmel zu berichten weiß (vgl. Gen 1, 26; 5, 24; 17, 22) und dass der Schöpfergott Jhwh nach priesterschriftlicher Konzeption im Jerusalemer Heiligtum präsent ist, in dem sich Himmel und Erde berühren und das auf Gottes hintergründigen Wohnort hin transparent ist. Vgl. dazu Koch, Gottes himmlische Wohnstatt, 191–228. 79  80 

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der auf den Säulen der Erde ruhenden Erdoberfläche lagert (vgl. Ps  24, 1 f; 18, 16; 75, 4; Hi 9, 6; 26, 7 ),82 ist wahrscheinlich, wird aber nicht angesprochen. Wie schon bei den vorherigen Schöpfungswerken fällt die Konzentration auf das Allgemeine und das gänzlich Undramatische der Erschaffung der Landmasse und der Meere auf: „Kein Versuch der Phantasie, den Hergang näher zu beschreiben, überall bedächtige Überlegung, die sich scheut, über das Allgemeinste hinauszugehen“83. Gerade bei der Erschaffung der Meere ist dadurch ein Kontrapunkt zu der verbreiteten Vorstellung eines Kampfes des Schöpfergottes gegen die Chaosfluten gesetzt (vgl. Ps 104, 6 f ). Vielleicht erklärt sich so auch die Pluralbildung „Meere“ in V. 10.  Der eigentlich zu erwartende Singular hätte womöglich Assoziationen an den gleichnamigen Meeresgott und Widerpart des Schöpfergottes im Chaoskampf hervorrufen können (vgl. Ps  74, 13; Hi  7, 12; 26, 12). Denkbar ist aber auch, dass die verschiedenen geographischen Größen, die im Alten Testament als „Meer“ be­ zeichnet werden, analog zur botanischen (V. 11 f ) und zoologischen Systematik (V. 20 –23) als Ausformungen der „Sammlung des Wassers“ verstanden werden. Eindeutig ist jedenfalls, dass wie beim Himmel nicht der mythische, sondern der physikalische Aspekt des Meeres im Vordergrund steht. Mit der Benennung des „Trockenen“ und der „Sammlung des Wassers“ als „Erde und Meer“ (V. 10a) ist die mit der Erschaffung des Himmels am zweiten Schöpfungstag begonnene Konstituierung des Raumes abgeschlossen. Entsprechend folgt erst jetzt die nach der Erschaffung der Feste ausgelassene Billigungsformel (V. 10b). Das zweite Werk des Schöpfungstages gilt der Funktionsbestimmung 1, 11–13 der Erde als Lebensraum: Die Erde soll Pflanzen als Lebensgrundlage von Tieren und Menschen hervorbringen (vgl. V. 29 f ). Die Flora fällt nach der Systematik des Schöpfungsberichts wie auch andernorts in der Antike nicht unter die Kategorie des (organischen) Lebens, die nach alttestamentlicher Auffassung durch den „Lebensatem“ (nǣpæš; s.  u. zu V. 20) und das Blut als „Sitz des Lebens“ (vgl. Lev  17, 11. 14) bestimmt ist. Den Pflanzen kommt also keine selbsttätige Vitalität zu, und sie gelten als fest mit der Erde verbunden – auch wenn Pflanzen schon aufgrund ihrer Regenerationskraft in vielfältigen Kontexten ein Symbol der Lebenskraft gewesen sind und des82  Zum dreistufigen Konzept von „Himmel, Erde, Meere“ vgl. auch Ps  69, 35. Vgl. ferner die Abbildung eines Grenzsteins aus dem elamischen Susa (um 1180 v. Chr.), der eine obere, himmlische Sphäre, die Erdoberfläche und die Unterwelt unterscheidet, bei Keel/Schroer, Schöpfung, 106 Abb. 84. Für die Vorstellung des sich um das bewohnbare Land erstreckenden Ozeans kann auf eine spätbabylonische „Weltkarte“ (BM 92687: vgl. Unger, Babylon, Tf. 3; Horowitz, Geography, 20 –  42 und Pl. 6; ferner Pongratz-Leisten, mental map, 274  –276) sowie Herodots (ca. 484  –  424 v. Chr.) Spott über derartige Karten (Hdt. IV  36) verwiesen werden. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass Allgemeinaussagen über „das altorientalische“ wie „das biblische Weltbild“ auf Konstrukten beruhen, in denen sehr disparate Vorstellungsgehalte verschiedener Medien und unterschiedlicher Gattungen aus einer großen zeitlichen wie räumlichen Erstreckung zusammengefasst sind, um die gegenüber der Neuzeit mutmaßlich sehr andersartige Wahrnehmung der Welt zu veranschaulichen. Dies gilt nicht zuletzt für die üblichen zeichnerischen Darstellungen. 83  Wellhausen, Prolegomena, 297.

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wegen wohl auch nicht zur unbelebten Materie gezählt worden wären.84 Dass es beim zweiten Werk des Tages um die Funktionsbestimmung der zuvor erschaffenen Erde geht und weniger um deren selbsttätiges Mitwirken an Gottes Schöpfung, gibt auch die Formulierung des Befehls zu erkennen. Er richtet sich nicht direkt an die Erde, sondern fordert wie bei der Erschaffung der Landtiere im Jussiv: Die Erde lasse Grün grünen (tadšē dǣšǣ [*dš  ʾ]). Die Wendung hat wie die Erwähnung der Pflanzensamen die ständige Wiederkehr des Pflanzenwuchses im Blick. Diese ist schon im Schöpfungsbefehl ein für alle Mal angelegt. Anders als bei den anderen Schöpfungswerken ist der Funktionsbestimmung der Erde also ein eigenes, wenn auch auf den gleichen Tag datiertes Werk gewidmet (vgl. dagegen V. 6 f ). Gemeinsam mit den Formulierungsunterschieden zwischen Befehl und Ausführung (vor allem: „die Erde brachte Grün hervor“ in V. 12a statt „die Erde lasse Grün grünen“ in V. 11a), wird dies ein Hinweis auf die Aufnahme vorgegebenen Traditionsgutes als Grundlage von V. 12 sein. Die im isolierten V. 12 anklingende und sich schon durch bloße Naturbetrachtung nahelegende Vorstellung der gebärenden „Mutter Erde“, die Pflanzen, teilweise auch Tiere und Menschen aus sich hervorsprießen lässt, war dem Alten Orient jedenfalls nicht gänzlich fremd und hat auch andernorts in der biblischen Tradition ihre Spuren hinterlassen. Sie findet sich im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht noch bei der Erschaffung der Landtiere in V. 24 (s.  u.) und darüber hinaus in Hi  1, 21 und Sir  40, 1, wo die Erde jeweils als mythischer Mutterleib vorgestellt ist (vgl. auch Ps  139, 15), aus dem die Menschen geboren werden und in den sie wieder zurückkehren: „Nackt bin ich aus dem Leibe meiner Mutter hervorgegangen und nackt werde ich dorthin zurückkehren“ (Hi  1, 21).85 Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht steht indes eindeutig unter dem Vorzeichen des göttlichen Befehls (V. 11a). Dieser bietet ein schönes Beispiel früher Naturkunde, die bemüht ist, durch Klassifizierungen die Vielfalt des Gegebenen zu ordnen und auf den Begriff zu bringen. Das zunächst genannte „Grün“ (dǣšǣ) bezeichnet die gesamte Pflanzenwelt. Dies ist daran ersichtlich, dass beim „Grün“ Spezifizierungen fehlen und dass der Begriff bei der Zuweisung der einzelnen Pflanzengruppen als Nahrung nicht fällt (vgl. V. 29). Die Pflanzenwelt untergliedert sich in zwei Gruppen, und zwar nichtholzende ( ʿēśæb) und holzende Pflanzen ( ʿēṣ), die zudem als samenbildende (mazrī   a   ʿ zǣra ʿ) und Früchte tragende Gewächse (p erī   ʿōśǣ) voneinander unterschieden werden (V. 11; vgl. 12). Von holzenden (V. 11. 12) und nichtholzenden Pflanzen (V. 12) heißt es wiederum, sie würden sich „nach ihrer Art“ (l e-mīnō ) differenzieren. Die Liste zielt in ihrer Allgemeinheit auf Voll84  Vgl. P. Riede, Noch einmal: Was ist „Leben“ im Alten Testament?, ZAW 119 (2007 ) 416 –  420. Zu Pflanzen und Pflanzensymbolik vgl. U. Neumann-Gorsolke/P. Riede (Hg.), Das Kleid der Erde. Pflanzen in der Lebenswelt des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002 . 85  Zum Mythologem der gebärenden Mutter Erde vgl. Keel/Schroer, Schöpfung, 52 –58 (mit Hinweisen zur Ikonographie).

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ständigkeit und dürfte ähnlich wie bei den Haustieren (V. 24 f ) auch die Kulturpflanzen umfassen. Die Möglichkeit etwaiger Neuzüchtungen wird nicht berührt, sie liegt außerhalb des Interesses des Textes und wohl auch des Erfahrungswissens seiner Autoren. Auf den Befehl folgen die Geschehensformel (V. 11b) und ein knapper, im Wortlaut leicht abweichender Bericht (V. 12a) sowie die Billigungsformel (V. 12b). Die Tageszählung beendet den Schöpfungstag, der mit seinen beiden Werken der Erschaffung der Erde als Lebensraum gegolten hat (V. 13). Der vierte Schöpfungstag ist der Erschaffung der Gestirne gewidmet, die 1, 14  –19 der Kategorie „Zeit“ zugeordnet sind. Umfang und Komplexität des Abschnitts sowie seine Berührungspunkte mit der Hervorrufung des Lichts am ersten Schöpfungstag haben zu einer kontroversen Debatte über die Entstehung und Auslegung des Abschnitts geführt. Auch wenn die Schilderung des vierten Schöpfungstages ein wenig redundant wirkt, so zeichnet sie sich bei genauerer Betrachtung durch einen durchdachten Aufbau aus:86 Der Befehl zur Erschaffung der Gestirne weist diesen die Aufgabe zu, (A) Tag und Nacht zu unterscheiden (*bdl hi.; V. 14a), (B) die Orientierung im Jahreslauf durch den (Fest-)Kalender zu ermöglichen (V. 14b) und (C) die Erde zu beleuchten (V. 15a). Die anschließende Geschehensformel stellt die Entsprechung von Befehl und Ausführung fest (V. 15b), was dann in einem zweiteiligen Bericht entfaltet wird. Dieser präzisiert zunächst, dass mit den Lichtern an der Feste des Himmels Sonne, Mond und Sterne gemeint sind (V. 16),87 wobei Sonne und Mond in sachlicher Aufnahme von V. 14aβ (Unterscheidung von Tag und Nacht) die Herrschaft über Tag und Nacht zugesprochen wird (mæmšālā; V. 16bαβ). Im Anschluss wird berichtet, dass Gott die Gestirne bestimmungsgemäß an der Feste des Himmels befestigt hat (V. 17–18a). Diese Passage nimmt den göttlichen Befehl zum Teil im Wortlaut, jedoch in umgekehrter Reihenfolge auf: (C’) Die Gestirne beleuchten die Erde (vgl. V. 15a), (B’) Sonne und Mond herrschen über Tag und Nacht (16bαβ; vgl. 14aβ), was eine kalendarische Orientierung allererst ermöglicht,88 und (A’) sie scheiden (*bdl hi.) Licht und Finsternis (vgl. V. 14aβ). Der Abschnitt schließt mit der Billigungsformel und der Tageszählung (V. 18b–19). Die auffällig umfangreichen Angaben über die Aufgabe der Gestirne sind daraufhin zu befragen, was sie durch ihren Aufbau herausstellen und was sie bei aller Ausführlichkeit gerade nicht sagen. Dass die Gestirne zwischen Tag und Nacht (V. 14a) bzw. Licht und Finsternis scheiden sollen (*bdl hi.), markiert Anfang und Ende der Funktionsbestimmung. Auf diese Weise wird die unverkennbare Verbindung zur Hervorrufung des Lichts und seiner UnVgl. Steck, Schöpfungsbericht, 95 –118. In den für astronomische Berechnungen (V. 14b) unverzichtbaren Sternen einen „nachklappenden“ Eintrag zu sehen (u.  a. Westermann, 182), besteht kein Grund: Anders als die beiden „großen Lichter“ (V. 16a) haben die Sterne keine herrschende Funktion und sind insofern von Sonne und Mond zu unterscheiden, gleichwohl gehören sie zu den in der Einleitung des Abschnitts genannten „Lichtern an der Feste des Himmels“ (V. 14aα). 88  Vgl. dazu Steck, Schöpfungsbericht, 104 f, 107–110. 86  87 

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terscheidung (*bdl hi.) von der Finsternis sowie der Benennung von Licht und Finsternis als Tag und Nacht am ersten Schöpfungstag (V. 3 –5) betont. Beide Werke gehören zusammen, sind aber auf zwei Tage verteilt. Die damit gegebene zeitliche Nachordnung der Erschaffung der Gestirne nach der Hervorrufung des Lichts und des Pflanzenwuchses wird nur dort stören, wo dem Schöpfungsbericht eine Übereinstimmung mit Einsichten neuzeitlicher Naturwissenschaften abverlangt wird. Im Aufbau des Schöpfungsberichts und der von seinen Autoren vorausgesetzten Kosmologie folgt sie nämlich einer zwingenden Logik:89 Die Befestigung der Lichter an der Feste des Himmels (V. 17a) setzt deren Erschaffung am zweiten Tag voraus. Diese ist wiederum nicht von der „Fertigstellung“ des Raumes am dritten Tag zu trennen. Da der Raum seinerseits als Lebensraum verstanden wird, gehört der Pflanzenbewuchs zwingend zur Ersterschaffung des Raumes hinzu und muss ebenfalls vor der Erschaffung der Gestirne positioniert werden. Der Strukturierungswille der Priesterschrift, wonach die Kategorie der Zeit Anfang, Mitte und Abschluss des Schöpfungsberichts bestimmt, wird ein weiterer Anlass für die Datierung der Erschaffung der Gestirne auf den vierten Tag gewesen sein. Dessen ungeachtet stellt sich die Frage, wie sich nach Auffassung der Priesterschrift die Aussagen über die Hervorrufung des Lichts am ersten und die Erschaffung der Leuchten am vierten Schöpfungstag sachlich zueinander verhalten. Da V. 3 –5 ganz allgemein vom Licht ( ʾōr sg.) im Gegensatz zur Finsternis sprechen, V. 14  –18 hingegen von Lichtern (mā   ʾōr pl.), die auf die Erde ( ʿal hā- ʾāræṣ) leuchten, liegt es nahe, an die Wahrnehmung des diffusen Tageslichts einerseits und den gebündelten Sonnenoder Mondstrahl andererseits zu denken. Schon das Erleben der Dämmerung ruft ja den Eindruck hervor, dass es sich um Unterschiedliches handelt. Gleichwohl hängen für die Priesterschrift ausweislich der sprachlichen Querverbindungen beide Wahrnehmungen des Lichts zusammen, wenn auch die Einzelheiten unklar bleiben. Denkbar ist, dass die Priesterschrift ähnlich wie der etwas ältere Zeitgenosse und Vorsokratiker Anaximander von Milet (um 610/09 –547/46 v. Chr.) an Lichtluken in der Himmelsfeste gedacht hat, durch die das nach der Scheidung von der Finsternis oberhalb des Himmelsozeans befindliche Urlicht (vgl. V. 5 und Ibn Esra zu V. 3) hindurchscheinen kann.90 Allerdings lässt sich die bei diesem astronomischen Modell vorausgesetzte Vorstellung einer sich drehenden Himmelsscheibe, welche den Lauf der Gestirne verursacht, für das Alte Testament nicht überzeugend nachweisen. Zudem beschreiben andere alttestamentliche Texte, wie Jhwh der 89  Eine schöne Parallele für die biblische Schöpfungschronologie bietet der allerdings nur schlecht erhaltene sumerische Text „Vor der Schöpfung“ aus der Ur  III-Zeit (ca. 2100 –2000 v. Chr.): Zunächst herrschte Finsternis, dann wurden Himmel und Erde getrennt. Während der Himmel bereits erleuchtet war, brachte die noch in der Dunkelheit liegende Erde Pflanzen hervor (NBC 11108, Zeile 9 „earth, bringing forth plant life did not glow on its own“. Text und Übersetzung nach Horowitz, Geography, 138 f ). 90  Vgl. Halpern, Astronomy. Zur Kosmologie des Anaximander vgl. C. Rapp, Vorsokratiker, Beck’sche Reihe 539, München 22007, 44  –  46.

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Sonne einen Ort zugewiesen hat, von dem aus sie den Himmel von einem Ende zum anderen durchzieht (Ps  19, 5 –7 ). Das könnte wie die auch in der Ikonographie Judas belegte geflügelte Sonnenscheibe91 oder die (kritische) Erwähnung des Sonnenwagens (2Kön  23, 11 f ) für die im alten Vorderen Orient übliche Vorstellung von Himmelskörpern sprechen. Seien diese nun vorgestellt als selbsttätige Lichtquellen oder als Gebilde, die das diffuse Licht des ersten Schöpfungstages wie ein konvex geschliffener Kristall bündeln oder wie Edelsteine oder Metall spiegeln (vgl. Ez 1, 26 f; Ex 24, 10), es bleibt das Problem, dass sich die Vorstellung von Himmelskörpern, die ihre Bahn ziehen, streng genommen nicht mit der Aussage vereinbaren lässt, sie seien von Gott an die Feste des Himmels gesetzt worden (V. 17 ). Auch wenn sich die zugrunde liegenden astronomischen Vorstellungen nicht eindeutig identifizieren lassen, die geo- und anthropozentrische Perspektive des Textes ist jedenfalls unverkennbar: Die Gestirne sind ganz darauf festgelegt, die Erde zu beleuchten (V. 15. 17 ), den Tageslauf zu strukturieren (V. 14aβ. 16bαβ. 18a) und dem Menschen eine kalendarische Orientierung zu ermöglichen (V. 14b). Letzteres macht den besonderen Standpunkt der priesterschriftlichen Autoren deutlich. Die Einteilung des Kalenders mit seinen hervorgehobenen (kultischen) Festzeiten (mō   ʿēd pl.; vgl. Num  10, 10; 15, 3; 29, 39) und seiner fließend sich erstreckenden Zeit (Tage und Jahre) durch die Gestirne (vgl. Ps  104, 19) gehörte zu den genuin priesterlichen Aufgaben. In dieselbe Richtung weist auch die Verwendung des Ausdrucks mā   ʾōr („Licht“) zur Bezeichnung von Sonne und Mond. Im priesterlichen Kontext wird der Ausdruck sonst nur noch für die Lichter des siebenarmigen Leuchters verwendet (vgl. Ex  25, 6; 27, 20; 35, 8. 14. 28; 39, 37; Lev  24, 2), wodurch der innere Zusammenhang der (zeitlichen) Struktur von Schöpfung und Heiligtum unterstrichen wird.92 Mit Blick auf ihre spezifische Bedeutung für die Einteilung der Zeit werden die Gestirne unter dem Oberbegriff „Zeichen“ ( ʾōt pl.) zusammengefasst.93 Besondere Aufmerksamkeit hat immer wieder gefunden, dass Sonne und Mond nicht beim Namen genannt, sondern umständlich als die „beiden großen Lichter, das größere … und das kleinere“ (V. 16) umschrieben werden. Natürlich wussten die Autoren der Priesterschrift wie jedes dreijährige Kind, dass das große Licht am Tage „Sonne“ und das kleine des Nachts „Mond“ heißt. Haben sie diese Bezeichnungen vermieden, dann lag das sicher auch an deren außerfunktionalen und religiösen Konnotationen: Das hebräische yārē     aḥ bezeichnet gleichermaßen „Mond“ und „Mondgott“94 und šǣmæš „Sonne“95 ist unschwer mit dem im gesamten alten Vorderen Orient verbreiVgl. Keel/Uehlinger, GGG6, 299 Abb. 263b; BRL2, 305 Abb. 78, 28+29. Vgl. A. Ruwe, „Heiligkeitsgesetz“ und „Priesterschrift“. Literaturgeschichtliche und rechtssystematische Untersuchungen zu Leviticus 17, 1–26, 2 , FAT 26, Tübingen 1999, 324  f. 93  Vgl. Westermann, 180  f. Anders zuletzt Seebaß, 74, der „Zeichen“ als erstes Glied einer Aufzählung versteht und dahinter einen Hinweis auf astrologische Omina vermutet. 94  Vgl. B.B. Schmidt, Art. „Moon“, DDD2 (1999) 585 –593. 95  Vgl. E. Lipiński, Art. „Shemesh“, DDD2 (1999) 764  –768 . 91  92 

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teten gleichnamigen Sonnengott zu identifizieren. Insbesondere Texte aus dem Umfeld des Deuteronomismus belegen, dass die stets sichtbaren, d.  h. anwesenden Gestirnsgottheiten die Forderung der ausschließlichen Verehrung Jhwhs bis weit in die nachexilische Zeit auf eine harte Probe gestellt haben (vgl. Dtn 4, 19; 17, 3; 2Kön 23, 5; Jer 8, 2; 19, 13; Ez 8, 16).96 Vor diesem Hintergrund ist es erklärlich, dass ein Schöpfungsbericht, der die Universalität und Souveränität des einen Schöpfergottes so sehr ins Zentrum stellt, sämtliche Anklänge an die Gestirnsgottheiten zu vermeiden sucht. Stattdessen wird die Geschöpflichkeit der Gestirne betont und ihre im Vergleich zur Umwelt eingeschränkte Funktion herausgestellt. Dies wird zusammen mit der Nachordnung der Gestirne nach der Hervorrufung des Lichts am ersten Schöpfungstag und ihrer Bezeichnung als „Leuchten“ darüber hinaus gerne als polemische Degradierung der Astralgottheiten Babylons bewertet. Doch der gänzlich unpolemische Tonfall (vgl. anders die Auseinandersetzung mit der Marduktheologie in Jes  40, 12 –17; 44, 25; 47, 9 –13) spricht gegen diese verbreitete Lesart.97 Hinzu kommt der nur selten beachtete Befund, dass die mutmaßlich in polemischer Abgrenzung formulierten Aussagen von Gen 1, 14  –19 durchweg Analogien in Texten der Umwelt haben: In der Kosmogonie der ägyptischen Esna-Tradition wird der Sonnengott erst nach der Erschaffung des ersten Lichts geboren.98 Die Sterne gelten im Marduk-Epos Enuma Eliš als Geschöpfe des babylonischen Schöpfergottes (EnEl V, 1–  46). Die Kehrseite von Marduks Macht über die Gestirne ist die Unterordnung der durch sie repräsentierten Götter zu „Sternenschafen“ (EnEl VII, 130 f ) und die Reduktion der Gestirne auf ihre kalendarische Funktion. Sonne und Mond werden in ägyptischen und mesopotamischen Texten, unter ihnen der schon erwähnte Kommentar zum Marduk-Epos Enuma Eliš (KAR 307 ), keineswegs despektierlich als „Lampe“ bezeichnet.99 Vor diesem Hintergrund wird man die Lampenmetaphorik in Gen 1, 16 nicht als Polemik gegen die Gestirnsgottheiten, sondern als Aufweis babylonischer Gelehrsamkeit bewerten, die ihren Weg auch in den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht mit seiner Taxonomie aller Schöpfungswerke gefunden hat. Die Bezeichnung der Gestirne als „Lichter“ ist ihrer Subsumierung unter einen Oberbegriff geschuldet. Im Unterschied zum hymnischen Schöpferlob in den Psalmen (vgl. Ps 8, 4; 19, 5; 74, 16; 104, 19; 136, 7–9) handelt es sich um Wissenschaftsprosa. Der Hymnus preist im Anschluss an Gen  1 Jhwh als den Gott, „der Zum ikonographischen Befund vgl. Keel/Uehlinger, GGG6, 327–369. Vgl. Gertz, Polemik. 98  Einleitung und Übersetzung: H. Sternberg-el Hotabi, Die Weltschöpfung in der Esna-Tradition, TUAT III, 1078 –1086. 99  Ein schönes Beispiel ist die Anrufung des Sın, des Mondgottes der nordsyrischen Stadt Haran, durch den assyrischen König Assurbanipal (668 –626 v. Chr.): „Für Sîn, die Leuchte des Himmels [und der Erde]/der bedeckt ist mit der Herrschermütze der Himmelsgöttlichkeit/der bestimmt Tag, Monat und Jahr/der die Schlingen des Fein[des] sehen läßt/der das Gericht vollzieht, die Bestimmung der Göt[ter] entscheidet […]“ (E.G. Perry, Hymnen und Gebete an Sin, Leipzig 1907, 29 Z. 1–5). 96  97 

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große Lichter gemacht hat, … die Sonne (  !  ), den Tag zu regieren, … den Mond (  !  ) und die Sterne, die Nacht zu regieren“ (Ps  136, 7–9), die Wissenschaftsprosa dekliniert dagegen wie bei den anderen Schöpfungswerken ihre Systematik durch.100 Der Akzent liegt auf der theologischen Neubestimmung astronomischer Phänomene und der Vermeidung ungewollter, der Intention des Schöpfungsberichts zuwiderlaufender Konnotationen. Auf die Unterscheidung und Kennzeichnung von Tag und Nacht beschränkt (V. 16. 18), umfasst der Herrschaftsbereich (mæmšālā ) von Sonne und Mond nicht das Schicksal der Menschen.101 Gleichwohl hat die im gesamten Altertum verbreitete numinose Bedeutung der Gestirne auch das Denken der priesterschriftlichen Autoren beeinflusst. Das zeigt gerade die Rede von der Herrschaft der Sonne und des Mondes über Tag und Nacht (V. 16. 18),102 hinter der sich sicher mehr als nur altes Traditionsgut verbirgt. Selbst in ihrer abgeschwächten Form gibt sie die Mächtigkeit der beiden großen Lichter immer noch zu erkennen. Mit dem fünften Schöpfungstag beginnt das Füllen des geschaffenen 1, 20 –23 Raumes mit Lebewesen. Zunächst werden die aus menschlicher Perspektive ferneren Gebiete besiedelt: das Meer und der Bereich zwischen Himmel und Erde (V. 20 –23). Es folgt die Erdoberfläche, die sich die Landtiere und der Mensch teilen (V. 24  –25. 26 –31). Die Erschaffung der Tiere spielt innerhalb der altvorderorientalischen Schöpfungstexte sonst eher eine untergeordnete Rolle.103 Ihre auch im Vergleich mit der Paradieserzählung ausführliche Darstellung ist sicher auch durch die Aussagen zur Herrschaft des Menschen über die Tiere und die Zuweisung der Nahrung an Mensch und Tier veranlasst, die diesen Teil der Schöpfungswerke beschließen. Ungeachtet dieser anthropozentrischen Perspektive bleibt aber festzuhalten, dass die Tiere zunächst „nicht anders als die Menschen (und noch unabhängig von der Frage ihrer Beziehung zu diesen) als Geschöpf Gottes in den Blick genommen sind“104. Das Füllen von Himmel und Erde als „Lebenshaus“ (Erich Zenger) markiert im Ablauf des Schöpfungsberichts einen Einschnitt, der durch die zweifache  figura etymologica „Gewimmel soll wimmeln“ (    yišr   eṣū … šǣræṣ) und „Flugtiere sollen fliegen“ ( ʿōp y  e  ʿōpēp) im göttlichen Befehl fein herausgestellt (V. 20) und durch die Verwendung des Schöpfungsverbs *br  ʾ („schaffen“) im Bericht unterstrichen wird. Das Verb begegnet hier nach dem Mottovers in Gen 1, 1 zum ersten Mal; in V. 27 wird seine Verwendung dann die besondere Bedeutung der Erschaffung des Menschen betonen. Die zweifache  figura etymologica veranschaulicht darüber hinaus die Fülle des Lebendigen, um die So schon Wellhausen, Prolegomena, 296  f. Die altvorderorientalische Astrologie beschäftigte sich zunächst mit den Geschicken der Herrscherhäuser, des Staates oder großer Gruppen. Das Schicksal des Einzelnen tritt erst in der Seleukidenzeit in den Blick. 102  Vgl. dazu nochmals den oben Anm. 99 zitierten Hymnus an den Mondgott Sın. 103  Vgl. Schellenberg, Mensch, 38 f, sowie a.a.O., 314, zu einigen wenigen Ausnahmen. 104  Schellenberg, Mensch, 38 . 100  101 

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es im Folgenden geht. Kennzeichen des Lebendigseins von Tier (V. 20. 21. 24. 30; 9, 10. 12. 15 P) und Mensch (Gen 9, 16 P; vgl. 2, 7. 19) ist der „Lebensatem“ (nǣpæš  ), wenngleich dieser Ausdruck hier nicht als Oberbegriff für das Leben gebraucht wird, sondern in Verbindung mit dem Attribut „lebendig“ (ḥayyā  ) als Sammelbegriff für die „Lebewesen“ der Meere steht. Lebensraum der geflügelten Tiere, zu denen alle fliegenden Tiere wie auch die Fledermaus zählen (vgl. Lev 11, 13 –19), ist der Bereich oberhalb des Erdbodens ( ʿal hā- ʾāræṣ) bis hin zur Feste des Himmels, die diese im Fluge beinahe streifen ( ʿal p enē r    eqī a   ʿ haš-šāmāyim). Damit ist der gesamte Luftraum umschrieben, für den das biblische Hebräisch anders als für die bewegte Luft keinen eigenen Ausdruck hat.105 Im Ausführungsbericht hat die Erwähnung der großen Seeschlangen für einige Aufregung in der Auslegungsgeschichte gesorgt, da hinter dem hebräischen Ausdruck tannīn „Seeschlange“ eine Anspielung auf ein mythisches Seemonster vermutet wurde, welches von der Priesterschrift ironisierend in die Schar der Geschöpfe eingeordnet und dadurch seiner widergöttlichen Macht beraubt worden sei. Unbestreitbar hat das Wort in einigen Texten zum Chaoskampf mythische Bedeutung (vgl. Jes 27, 1; 51, 9; Ps 74, 13; Hi 7, 12). Daneben bedeutet es „Schlange“ (Ex 7, 9. 10. 12 P; Dtn 32, 33) oder „Krokodil“ (Ez  29, 3; 32, 2), wobei die zoologische Bestimmung stets unsicher ist. Dass es sich um die Personifizierung des Chaosdrachens handelt, ist für den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht wegen der Pluralbildung, der Billigungsformel und des anschließenden Segenswortes so gut wie ausgeschlossen. Auch wenn Seeschlangen und Krokodile bis in die Gegenwart hinein als unheimliche und in einem weiteren Sinne mythische Kreaturen gelten, geht es gerade deswegen allein um die Illustration der staunenswerten Fülle des von Gott geschaffenen Lebens. Insofern ist die klassische Übersetzung Luthers „die großen Walfische“ zoologisch und philologisch unzutreffend, sachlich aber durchaus angemessen.106 Auf die Billigungsformel (V. 21b) folgt als neues Element ein Segenswort, dessen Zuspruch auf die Erhaltung der erschaffenen Lebewesen zielt. Insofern Vorgang und Wirkung im Segenswort performativ zusammenfallen, werden die Lebewesen nach ihrer Art durch den Segen mit der Fähigkeit zur Selbsterhaltung begabt. Wie das schöpferische Wort verändert die Sprache des Segens die Welt unmittelbar. Die Formulierung des Segenszuspruchs in der grammatikalischen Form eines „Imperativs“ überrascht unser geläufiges Sprachempfinden, doch handelt es sich nicht um einen kommunikativen Imperativ, der den Angesprochenen zu etwas auffordert. Vielmehr spricht er dem Segensempfänger zu, dasjenige zu werden oder zu erfahren, was der Segen über ihn

Vgl. Jacob, 53. Vgl. dazu einerseits die LXX, die tannīn nicht wie üblich mit δράκων „Drache“ übersetzt, sondern mit κῆτος, was neben „Seeungeheuer“ jede Art von großen Fischen und Meeressäugern bezeichnen kann, und andererseits die mythische Konnotation des Wals in Herman Melvilles Moby-Dick. 105  106 

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ausspricht (vgl. Gen  24, 60; 27, 29aβ).107 Für die Wassertiere (einschließlich der „großen Seeschlangen“!) erfolgt der Segenszuspruch in der auch sonst in der Priesterschrift üblichen dreigliedrigen Form: Fruchtbarkeit – Vermehrung – Ausbreitung (Gen  1, 28; 9, 1). Bei den geflügelten Tieren bleibt die Ausbreitung ungenannt, was an den an V. 21 ersichtlichen Schwierigkeiten liegen mag, ihren Lebensraum zu benennen. Dass den Tieren die Möglichkeit zur Entfaltung der im Segen zugesprochenen Lebensgabe insbesondere durch menschliche Gewalttat genommen wird, tritt erst mit der Sintflut und ihren Folgen in den Blick (vgl. Gen 9, 1–7 ). Der sechste Schöpfungstag umfasst wieder zwei eigenständige Werke, und 1, 24  –25 zwar die Erschaffung der Landtiere (V. 24  –25) und des Menschen (V. 26 –31). Beide Werke sind auf ein und denselben Tag datiert, weil der gemeinsame Lebensraum der Landtiere und des Menschen eine schöpfungsgemäße Klärung des Verhältnisses zwischen seinen Bewohnern verlangt.108 Die Klärung erfolgt explizit durch die Befähigung des Menschen zur Herrschaft über die gesamte Tierwelt (V. 26. 28) und zur Inbesitznahme des Landes (V. 28) sowie durch die Nahrungszuweisung an Mensch und Tier (V. 29 f ). Sie erfolgt implizit durch Unterschiede in der Schilderung der Erschaffung der Landtiere gegenüber derjenigen aller anderen Lebewesen. Anders als beim Menschen oder den Tieren im Meer und in der Luft wird bei den Landtieren nicht das exklusive Schöpfungsverb *br  ʾ („schaffen“) verwendet (V. 21 und dreimal in V. 27 ), sondern das neutrale * ʿśh („machen“) gebraucht (V. 25). Auch erfahren die Landtiere keinen Mehrungssegen und die damit verbundene Befähigung, ihren Lebensraum zu füllen (vgl. dagegen V. 22 und 28). Anlass für diese differenzierte Betrachtung ist die Erfahrung, dass der Mensch in sehr unterschiedlicher Weise mit den Tieren in den einzelnen Lebensräumen um die Ressourcen des Lebens konkurriert:109 Die gesamte Tierwelt ist Gegenstand der Herrschaftszusage, also auch die Lebewesen im Meer und in der Luft. Die Vorgaben zur Nahrung beziehen sich hingegen nur auf solche Lebewesen, die sich wie der Mensch von den Pflanzen der Erde ernähren. Aus diesem Grund werden in V. 30 die Meerestiere ausdrücklich nicht genannt, wohl aber die Vögel, die sich ihre Nahrung auch auf dem Erdboden suchen.110 Meerestiere und Menschen konkurrieren nach Sicht der Priesterschrift nicht um Nahrung. Schließlich wird die Inbesitznahme und Aufteilung des Landes durch Vermehrung nur mit Blick auf das Verhältnis des Menschen zu den Landtieren angesprochen.111 107  Vgl. H.-P. Müller, Segen im Alten Testament. Theologische Implikationen eines halb vergessenen Themas, ZThK 87 (1990) 1–32 , bes. 9  f. 108  Vgl. dazu Neumann-Gorsolke, Herrschen, 161–166. 109  Vgl. Schellenberg, Mensch, 46 –  49 (mit weiterer Literatur). 110  Vgl. ebd., 48 . 111  Die für den Menschen bedrohliche Konkurrenz mit den Tieren um Lebensraum steht auch hinter dem in unterschiedlichen Kontexten belegten Topos einer Übernahme des (entvölkerten) Landes durch Wildtiere (vgl. Lev 26, 22; 2Kön 17, 25; Jer 9, 10).

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Der Mehrungssegen, der stets auch die Fähigkeit zur Selbsterhaltung umfasst, fehlt für die Landtiere demnach aus konzeptionellen Gründen. Gleichwohl ist die Priesterschrift der Ansicht, dass auch die Erhaltung der Landtiere nach ihrer Art in der Schöpfungsordnung garantiert ist. Deshalb greift sie für den göttlichen Befehl zur Erschaffung der Landtiere das traditionelle Motiv der Erde als Hervorbringerin des Lebens auf, wendet es aber anders als einige Seitentexte nicht auf den Menschen an, sondern gebraucht es exklusiv für die Landtiere (V. 24a).112 Wie schon Gottes Befehl zeigt, Noach möge von jeder Art ein männliches und ein weibliches Exemplar mit auf die Arche nehmen (Gen 6, 19 f; 7, 15. 16a), konnten die priesterschriftlichen Autoren mythisches und naturkundliches Wissen um die Fortpflanzung vereinbaren (vgl. auch Ps 139, 13 –15). In Gen 1, 24 argumentiert der Text nicht biologisch, sondern bemüht sich um eine schöpfungstheologische Präzisierung des Verhältnisses des Menschen zu den Landtieren. Ähnlich wie bei den Pflanzen ist es die lebensspendende Kraft der Erde, die auf Gottes Befehl hin den Fortbestand des sich stetig erneuernden Lebens ermöglicht. Aus diesem Grund differenziert schon der Befehl die Landtiere „nach ihrer Art“, wie dies zuvor schon bei Pflanzen der Fall gewesen ist (vgl. V. 11).113 Auf die Geschehensformel (V. 24b) folgt ein knapper Bericht über die Umsetzung des Befehls, dessen Formulierung darauf zielt, Gottes alleiniges Handeln bei der Ersterschaffung der Landtiere zu betonen. Aus diesem Grund ist nicht vom Hervorbringen der Tiere durch die Erde, sondern von Gottes „Machen“ die Rede (V. 25a). Die Landtiere sind unterschieden in das Wild (ḥayyat hā- ʾāræṣ), Nutztiere wie Last- und Herdentiere (behēmā ) und alle Landtiere, die auf dem Boden kriechen (rǣmæś hā- ʾadāmā )  – seien es Reptilien, kleine Säugetiere oder Insekten, seien es vier- oder vielfüßige oder fußlose Tiere (vgl. Lev  11, 2. 42). Die drei Gruppen von Landtieren gliedern sich ihrerseits in Arten. Auch wenn das Wild den Haustieren in der Aufzählung des Ausführungsberichts vorangeht, lässt die Erwähnung des „Viehs nach seinen Arten“ keinen Zweifel daran, dass für die Autoren des Schöpfungsberichts alle Arten von Beginn an in ihrer gegenwärtigen Gestalt vorhanden gewesen sind. Nicht nur die jenseits damaliger Vorstellungskraft liegende Evolutionsbiologie und der kulturgeschichtliche Verlauf der lange zurückliegenden Domestizierung der Wildtiere, sondern auch die schon der damaligen Landwirtschaft vertraute Züchtung neuer Varietäten treten nicht in den Blick, wenn es darum geht, die Souveränität und Universalität des Schöpfergottes herauszustellen. Rückblickend ist gerade für die Erschaffung der Landtiere zu betonen, dass die Priesterschrift die inhaltlichen Spannungen, wie sie vermutlich durch die Aufnahme vorgegebener Traditionen verursacht sind, mitnichten übersehen hat. Vielmehr hat sie die Spannungen  – im Fall der Landtiere Vgl. Seebaß, 77 f (mit Verweis auf Schmidt, Westermann, Steck). Wird die Fähigkeit zur Selbsterhaltung im Segen zugesprochen, muss die Differenzierung nach Art (V. 21) oder Geschlecht (V. 27 ) lediglich im Ausführungsbericht erwähnt werden. 112  113 

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zwischen der Aufforderung an die Erde und der Ausführung durch Gott selbst – geschickt als Ausdrucksmittel für eine vielschichtige, gleichwohl in sich stimmige Konzeption genutzt. Das zweite Werk des sechsten Tages ist die Menschenschöpfung (V. 26 – 1, 26 –31 31). Sie beschließt nicht nur die Erschaffung der Lebewesen, sondern auch die Folge der Schöpfungswerke im engeren Sinne. Diese Positionierung hebt die besondere Bedeutung der Menschenschöpfung innerhalb des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts hervor, zumal dieser die vorhergehenden Werke zuvörderst unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Lebenswelt und ihrer Erfordernisse bedacht hat. Die Schilderung der Erschaffung des Menschen folgt dem Grundschema des Schöpfungsberichts mit seiner Entsprechung von göttlichem Befehl (V. 26) und dessen Ausführung (V. 27 ). Abweichungen im Detail und Erweiterungen des Grundschemas dienen der Verhältnisbestimmung des Menschen gegenüber Gott und gegenüber der übrigen Schöpfung. Die Notwendigkeit einer derartigen Verhältnisbestimmung ergibt sich aus der hervorgehobenen Stellung des Menschen im Schöpfungsganzen. Sie ist gleichermaßen Ausgangs- wie Zielpunkt des Abschnitts zur Menschenschöpfung. Zu den Auffälligkeiten des Abschnitts gehört, dass der göttliche Entschluss zur Menschenschöpfung als pluralischer Kohortativ formuliert ist (V. 26). Offenkundig wird damit die Menschenschöpfung von den übrigen Werken abgehoben, doch ist die genaue Bedeutung der Pluralbildung umstritten. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um einen kommunikativen Plural, d.  h. Gott schließt an dieser Stelle seinen Hofstaat ausdrücklich in sein Tun mit ein. Der gegen diese Erklärung immer wieder vorgebrachte Einwand, die Priesterschrift erwähne den göttlichen Hofstaat sonst nicht, sollte nicht überbewertet werden, deutet die Entrückung Henochs (Gen  5, 24 P) doch an, dass die Priesterschrift mehr über die himmlische Welt weiß, als sie berichtet. Außerhalb der Priesterschrift ist die Vorstellung vom Hofstaat Gottes im Alten Testament jedenfalls weit bezeugt: Gott ist von seinem himmlischen Hofstaat umgeben (Ps 29, 1 f; 89, 6. 8), er berät sich mit den Göttersöhnen als seinem himmlischen Rat (Ps 82, 1; 1Kön 22, 19 ff ) und wurde schon bei den Schöpfungswerken von den Göttersöhnen gelobt (Hi 38, 7 ). Vor allem aber ist auf die Paradieserzählung des weisheitlichen Erzählers hinzuweisen. In Gen  3, 22 begründet Jhwh die Vertreibung der Ureltern aus dem Paradies damit, dass der Mensch „gemäß seines Wissens um Gut und Böse wie einer von uns (  !  ) geworden ist“. An dieser Stelle sind unter „uns“ ganz offensichtlich die Himmlischen zu verstehen, die außer diesem Wissen auch das ewige Leben besitzen (V. 22b). Interessant ist eine starke Tradition in der jüdischen Auslegungsgeschichte, die in V. 26 eine Selbstaufforderung unter Einschluss der Engel erkennt (Ibn Esra). Schon der im 1. Jh. n. Chr. wirkende jüdischhellenistische Philosoph Philo von Alexandria führte in diesem Sinne die sittliche Vortrefflichkeit des Menschen auf Gottes Anteil am Schöpfungswerk des Menschen zurück, die sittlichen Fehler hingegen auf den Anteil der Diener Gottes (Philo opif 24, 72 –76). Zugunsten eines kommunikati-

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ven Plurals lassen sich zudem einige altvorderorientalische Texte anführen, die ebenfalls von einer Beschlussfassung über die Menschenschöpfung im Kreise der Göttlichen erzählen. So heißt es in dem durch ein neubabylonisches Fragment aus dem 1. Jt. v. Chr. belegten Mythos von der Erschaffung des Menschen und des Königs: „Wir wollen eine Figur (sạlmu; vgl. hebr. ṣǣlæm in V. 26 f ) aus Lehm schaffen [ihr die Fronarbeit] auferlegen  … Da kniff (die Göttin) Bēlet-ilī den Lehm für ihn (den Menschen) ab.“114 Es wäre also nicht ohne religionsgeschichtliche Parallelen, wenn Gott in Gen 1, 26 seinen Hofstaat aufforderte, mit ihm zusammen den Menschen zu erschaffen. Im Gegensatz zu den genannten Texten und Auslegungstraditionen, die sich für einen kommunikativen Plural in V. 26 anführen lassen, sind jedoch nach Gen 1, 26 f weder Engel noch andere himmlische Wesen oder Gottheiten an der Erschaffung des Menschen beteiligt. Dies geht eindeutig aus dem Ausführungsbericht hervor. Anders als die Aufforderung gebraucht dieser nicht das allgemeine * ʿśh „machen“, sondern verwendet dreimal *br  ʾ „schaffen“ mit Gott als alleinigem Subjekt. Insofern bleibt die pluralische Aufforderung von V. 26 in ihrem Bedeutungsgehalt eigentümlich in der Schwebe  – vielleicht, um „die Ebenbildlichkeit [nicht] allzu direkt auf Gott“115 zu beziehen. Die Alternativvorschläge zur Erklärung der Pluralbildung vermögen nicht zu überzeugen: 1. Die trinitarische Lesart hat eine lange kirchliche Tradition, geht aber auf eine christlich-dogmatische relecture des Textes zurück. 2 . Die für einen pluralis deliberationis, einen Plural der Selbstberatung (vgl. GK §  124g) angeführten Belege (Gen 11, 7; Jes  6, 8; 2Sam  24, 14) können die Beweislast nicht tragen,116 zumal Selbstberatungen im Alten Testament anders formuliert werden (z.  B. „er sprach in seinem Herzen“; vgl. Gen  17, 17 P u. ö.). 3. Der seit der persischen Hofsprache von den Großen der Erde gerne gebrauchte, die Beherrschten kraft Herrschergewalt einbeziehende (  !  ), mithin ein Forum voraussetzende pluralis majestatis ist im Alten Testament nur in zwei jüngeren Texten belegt (Esr  4, 18; Dan  3, 24). In einer Gottesrede kommt er sonst nicht vor. 4.  Die Herleitung allein aus den Konventionen von Schöpfungsmythen aus dem übrigen alten Vorderen Orient, in denen die Menschenschöpfung zuweilen mit einem Kohortativ des Schöpfergottes oder einer Ankündigung in der Götterversammlung beginnt, überzeugt ebenfalls nicht. Eine Adaption der Stilfigur ohne Berücksichtigung der kommunikativen Struktur unterstellt der Priesterschrift eine ganz ungewohnte Unachtsamkeit. Wird in der Adaption statt einer Unachtsamkeit eine polemische Spitze gegen die mesopotamischen Mythen erkannt, insofern die Menschenschöpfung jetzt als freier Entschluss des einen Gottes erscheint, so hätte dies der Singular auch (und besser) getan (vgl. Marduk in EnEl VI, 1–8).

Gegenstand der Selbstaufforderung ist die Erschaffung des Menschen. Das hebräische ʾādām ist ein Kollektivbegriff und bezeichnet die Gattung 114  Text und Übersetzung bei W.R. Mayer, Ein Mythos von der Erschaffung des Menschen und des Königs, Orientalia NS 56 (1987 ) 55 –68. 115  von Rad, 38 . Ähnlich Ps 8, 5  f. 116  Vgl. dazu Neumann-Gorsolke, Herrschen, 168 f mit Anm.  40, die selbst zu Lösung  4 tendiert.

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„Mensch“. Die davon abhängige Verwendung als Eigenname „Adam“ wird von der Priesterschrift erstmals und ausschließlich beim Übergang von der Menschenschöpfung in die Geschichte der Generationenfolge des Menschen gebraucht (Gen 5, 1a. 3. 4). Die im Folgenden getroffenen Aussagen über die Gottebenbildlichkeit des Menschen, seine geschlechtliche Differenzierung und seine Ermächtigung zur Herrschaft gelten folglich ohne Ausnahme der Gattung „Mensch“ ( ʾādām). Gleichwohl lässt der komplizierte Vorgang der Individuierung am Anfang der Genealogie der Nachkommen Adams (s.  u. zu Gen  5, 1–3) vermuten, dass die Priesterschrift für den Vorgang der Erschaffung des Menschen von einem ersten Menschenpaar ausgegangen ist, von dem alle weiteren Menschen abstammen. Anders lässt sich die Zugehörigkeit aller Individuen zu einer Gattung im genealogischen Denken, welches die Texte der Genesis insgesamt maßgeblich geprägt hat, offenkundig nicht vorstellen. Im Unterschied zur Paradieserzählung wird von dem ersterschaffenen Menschen keine für die Menschheit insgesamt bedeutsame Geschichte erzählt, sondern ausschließlich das Erschaffensein berichtet, und zwar (1.) als Bild Gottes (V. 26a. 27a), dem (2.) die Herrschaft über die Erde und die Tierwelt zugesagt ist (V. 26b. 28) und von dem (3.) als einzigem Lebewesen die geschlechtliche Differenzierung mitgeteilt wird (V. 27b). Alle drei Aussagen markieren den Anspruch der Priesterschrift, etwas Grundsätzliches über den Menschen mitzuteilen:117 (1.)  Die priesterschriftliche Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen (imago Dei ) ist im Alten Testament nahezu singulär.118 Verglichen mit ihrer weitverzweigten Wirkungsgeschichte außerhalb des Alten Testaments und der intensiven theologischen Debatte um ihre Bedeutung ist der philologische und religions- wie traditionsgeschichtliche Befund erstaunlich eindeutig:119 Die Aussage von der Erschaffung des Menschen „als unser Bild (beṣalmēnū ), wie ein uns vergleichbares Bild (ki-dmūtēnū )“ ist ein zweigliedriges 117  Gegen Westermann, 214, der betont, dass es weniger um eine Aussage über den Menschen geht als um den Vorgang der Erschaffung. Schon das Alte Testament habe ausweislich der spärlichen inneralttestamentlichen Rezeptionsgeschichte in den Aussagen von Gen  1, 26 f keine „grundlegende allgemeingültige Aussage über das Wesen des Menschen“ erkannt. Diese Relativierung überzeugt jedoch nicht. „Urgeschichten“ aller Art leben davon, dass sie das Wesen der Dinge bestimmen, indem sie von ihrem Werden erzählen. Insofern werden „Wesensaussage“ und „urgeschichtlicher Vorgang“ nur schwer voneinander zu trennen sein. Auch bemessen sich Anspruch und Geltung der priesterschriftlichen Aussagen zur Gottebenbildlichkeit kaum allein an ihrer inneralttestamentlichen Rezeption. 118  Vgl. noch Gen 5, 1; 9, 6 (beide P) sowie Anklänge in Ps 8, 5  ff. 119  Zur Entlastung des Anmerkungsapparates seien für die kaum noch zu überblickende Literatur zur imago Dei und zum dominium terrae (et animalium) stellvertretend folgende Titel genannt: Groß, Statue; Stipp, Dominium; Neumann-Gorsolke, Herrschen, bes. 136 –315; Janowski, Statue; Waschke, Bedeutung; Schellenberg, Mensch. Vgl. dort jeweils auch zum Folgenden. Zur Auslegungsgeschichte vgl. Westermann, 203 –214 sowie W. Groß, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Gen  1, 26. 27 in der Diskussion des letzten Jahrzehnts, BN  68 (1993) 35 –  48; ders./ G.H. van Kooten/P. Sherman/S.R. Havsteen/G.D. Chyrssides/C.J. van der Kogt/H. Tull/K. Wills/M.C. Carile/N.H. Peterson/R. Burnette-Bletsch, Art. „Image of God“, EBR  12 (2016) 885 –913.

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Vergleichswort. Da die beiden Glieder im Hebräischen unverbunden nebeneinanderstehen, handelt es sich nicht um zwei eigenständige Qualitäten des göttlichen Schaffens.120 Vielmehr dient das zweite Glied des Vergleichsworts (ki-dmūtēnū ) wie in der hier gewählten Übersetzung als Näherbestimmung des ersten Gliedes (b e-ṣalmēnū ). Die Übersetzung setzt ferner voraus, dass es sich bei der Präposition Beth vor ṣǣlæm, dem Nomen des ersten Gliedes, um ein sogenanntes Beth essentiae handelt, welches die Identität der beiden Referenzgrößen, hier „ṣǣlæm“ und „Mensch“, aussagt.121 Das Nomen ṣǣlæm bedeutet ganz allgemein „Statue“, „Statuette“ oder „Stele“, und zwar je nach Kontext vom (Wand-)Relief bis hin zur Vollplastik.122 Wie ist nun die Identität zwischen Mensch und Bild näherhin zu verstehen? Hinsichtlich des Verhältnisses der Darstellung zum Dargestellten steht in der stark stilisierten Bildkunst des alten Vorderen Orients nicht so sehr das „Moment der genauen Reproduktion im Vordergrund“123. Wichtiger ist vielmehr der Aspekt der wirkmächtigen „Repräsentation des Dargestellten“124. Die im Feindesland aufgestellte Statue eines siegreichen Königs garantiert dessen machtvolle Anwesenheit in dem eroberten Gebiet. Die im Tempel aufgestellte Statue eines Beters lässt die dargestellte Person in ewiger Anbetung vor der Gottheit stehen, die ihrerseits in ihrem Bildnis im Tempel gegenwärtig ist. Da sich ṣǣlæm ausweislich der Objektsuffixe („unser“, „sein“; V. 26. 27a) auf den Schöpfergott bezieht, wird der Mensch also als „machtvolle Repräsentanz“125, „repräsentative Darstellung“ oder „Repräsentationsbild“126 Gottes (ṣǣlæm   ʾælōhīm; V. 27a) geschaffen. Das Nomen des zweiten Gliedes, d  emūt, leitet sich von der Wurzel *dmh „ähnlich sein, gleichen“ ab. Das Wort kann 120  So eine auf Irenäus von Lyon (2 . Jh. n. Chr.) zurückgehende, wirkmächtige Auslegungstradition, welche in dem Begriffspaar einerseits die (bleibende) geschöpfliche Ausstattung des Menschen mit Vernunft und Willen (das von der LXX mit εἰκών, lat. imago übersetzte ṣǣlæm) und andererseits die ursprüngliche, durch den Fall (Gen  3) aber verlorene Entsprechung des Menschen zu Gottes Willen (das von der LXX mit ὁμοίωσις, lat. similitudo übersetzte d  emūt) erkannt hat. Zur Übersetzung der LXX vgl. Rösel, Übersetzung, 48 ff, 123 f; Groß, Statue, 35  ff. 121  Vgl. E. Jenni, Die hebräischen Präpositionen. Band 1: Die Präposition Beth, Stuttgart 1992 , 84. In der Auslegungsgeschichte herrscht dagegen die Interpretation als Beth normae vor. Nach dieser exegetischen Tradition, die bereits mit der LXX einsetzt (κατ’ εἰκόνα ἡμετέραν καὶ καθ’ ὁμοίωσιν; vgl. Sir  17, 3; Weis  2 , 23), wäre der Mensch „nach einem Bild“ (= Plan/Urbild/Muster) des oder der Himmlischen geschaffen worden. Im Prinzip setzt dies wiederum voraus, dass vor der Schöpfung des Menschen ein Abbild des oder der Himmlischen als Modell angefertigt worden wäre. Hier könnte man an Göttersöhne/Elohimwesen denken (vgl. Ps 8). Vergleichbare Verwendungen dieses Beth normae sind recht spärlich (Ex 25, 40; 30, 32). Zur Diskussion vgl. auch Neumann-Gorsolke, Herrschen, 187–197. 122  Vgl. Schroer, Israel, 322 –332 . Vgl. Num  33, 52; 2 Kön  11, 18 u. ö. (Statuen und Bildsäulen); Dan  2 , 31–35 (Nebukadnezars Traum vom Standbild aus vier Metallen); 1Sam  6, 5. 11 (Nachbildung von körperlichen Gebrechen und Mäusen); Ez 23, 14 (Ritzzeichnungen); Am 5, 26 (Standarten und Göttersymbole). 123  A.a.O., 324. 124  Ebd. 125  Groß, Statue, 19. 126  Schroer, Israel, 324 mit Hinweis auf H. Wildberger, Art. „ṣælæm“, THAT II (1976 ) 556 –563, hier 558; vgl. auch Janowski, Statue, 190 mit Anm. 28.

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bis hin zur Genauigkeit einer Bauskizze jegliche Form der Nachbildung oder Ähnlichkeit bezeichnen.127 In Verbindung mit der ebenfalls vergleichenden Präposition Kaph bildet d  emūt einen Pleonasmus, der ein Entsprechungsverhältnis zweier Größen ausdrückt: „Wie etwas uns Ähnliches“128. Über die Feststellung der Ähnlichkeit hinausgehend, setzt d  emūt vielleicht auch einen inhaltlichen Akzent. Betont ṣǣlæm den Aspekt der Vergegenwärtigung des Dargestellten, so geht es bei der Verwendung von d  emūt vor allem um den Aspekt des Entsprechungsverhältnisses (vgl. Jes  40, 18).129 Die gelegentlich geäußerte Vermutung, das mit Kaph eingeführte zweite Glied solle die zuvor gemachte Identifizierung von „Statue Gottes“ und „Mensch“ gleich wieder relativieren, lässt sich hingegen schwerlich begründen. Aus alledem ergibt sich, dass nach Gen 1, 26 f der Mensch, männlich und weiblich, als eine lebende Statue Gottes erschaffen worden ist, die ihn in ihrer äußerlichen Gestalt und in ihrem Wesen auf der Erde repräsentiert. Soweit der Wortsinn. Die Bedeutung des Mythologems von der Gottebenbildlichkeit erhellt sich aus ihrem traditionsgeschichtlichen Hintergrund in der Königsideologie des alten Vorderen Orients. Die eindeutigen und ihrer Zahl nach meisten Belege für die Vorstellung, der König sei ein Bild und damit Repräsentant des höchsten Gottes auf Erden, finden sich in Ägypten.130 Sie begegnet dort vor allem in Texten der 18. und 19. Dynastie (ca. 1550 –1190 v. Chr.), ist aber bis in die Spätzeit lebendig geblieben. Mit Blick auf die Abfassungszeit der Priesterschrift ist von besonderem Interesse, dass der über nahezu die gesamte Judenheit im Mutterland und in der Diaspora herrschende Perserkönig Darius I. (549 –  486 v. Chr.) die ägyptische Vorstellung aufgenommen und zur Begründung seines universellen Herrschaftsanspruchs in die achämenidische Reichsideologie integriert hat.131 Doch findet sich die Bezeichnung vereinzelt ab dem 13. Jh. v. Chr. auch in 127  Vgl. 2 Kön  16, 10 (Bauskizze des Altars in Damaskus); Ez  1, 22 . 26; 8, 2; 10, 21; Dan  10, 16 (körperliche und figürliche Ähnlichkeit). 128  Vgl. Janowski, Statue, 194 f, in Anlehnung an E. Jenni, Pleonastische Ausdrücke für Vergleichbarkeit (Ps 55, 14; 58, 5), in: ders., Studien zur Sprachwelt des Alten Testaments 1, Stuttgart 1997, 206 –211. 129  Dies ist zumindest dort der Fall, wo d  emūt mit der Präposition Beth als erstes Glied des Vergleichsworts (vgl. 5, 3) oder für sich allein (vgl. 5, 1) gebraucht wird. Die Austauschbarkeit der Nomen in der Reihenfolge des Vergleichsworts (vgl. 1, 26 mit 5, 3; nicht der Präpositionen Beth und Kaph) sowie die Verwendung nur eines der beiden Nomen (1, 27; 5, 1. 3; 9, 6) sprechen jedoch gegen eine zu starke Abgrenzung der Bedeutung der beiden Nomen im Kontext der Aussagen zur (Gott-)Ebenbildlichkeit. Das Begriffspaar ist noch in Ez  23, 14 f und im aramäischen Text (dmw und ṣlm) einer assyrisch-aramäischen Bilingue des 9.  Jh. v. Chr. belegt (Tell Fecherije. Text und Übersetzung: A. Abou-Assaf, Die Statue des HDYS’Y, König von Guzana, MDOG 113 [1981] 3 –22; W.C. Delsman, TUAT I, 634  –637 ). 130  Ockinga, Gottebenbildlichkeit. 131  Vgl. dazu Rüterswörden, Dominium, 81–130. Will man nicht mit Waschke, Bedeutung, 246 f, an Vorbilder in der Jerusalemer Königsideologie denken (vgl. die Titulatur des Königs als „Sohn Gottes“: Ps  2 , 7; 2 Sam  7, 14; Ps  89, 27 f – die Bezeichnung des Königs als Bild Gottes ist hingegen nicht belegt!), so bietet es sich an, mit Rüterswörden an eine Vermittlung durch die achämenidische Reichsideologie zu denken.

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Mesopotamien, und dann vor allem in neuassyrischen Texten. Unabhängig von allen zeitlichen, regionalen und kulturellen Unterschieden steht die Legitimation der königlichen Herrschaft im Zentrum dieser Texte. Ihr soll die Würde des stellvertretenden Handelns für die Gottheit zugeschrieben werden: „Der vollkommene Gott, Herr der Freude, Herr der Kronen, der die Krone von Oberägypten ergriffen hat, der die beiden Mächtigen in Leben und Wohlsein vereint hat, das Abbild des [Gottes] Re, sein Sprößling, den er eingesetzt hat, dass er die beiden Ufer beherrsche“132; „(Darius), den [der Gott] Atum gezeugt hat, lebendes Abbild des [Gottes] Re, den er (Re) auf seinen (eigenen) Thron gesetzt hat, um zum guten Ende zu führen, was er (Re) auf Erden begonnen hat“133; „[D]er König, der Herr der Länder, die Statue/Bild des [Gottes] Šamaš (ist) er“134. Als sein Bild ist der König vom höchsten Gott zur Herrschaft berufen, die königliche Herrschaft leitet sich aus der ordnenden Macht der Gottheit über das Chaos ab. „Wenn sich der assyrische König dem Volke auf dem Vorhof des Assur-Tempels, angetan mit der Krone des Gottes Assur, zeigte, wurde den Assyrern deutlich, daß hier der ‚Schreckensglanz‘ Assurs mit der Gestalt des Königs verschmolz.“135 Diese Aussagen erinnern unweigerlich an die göttliche Selbstaufforderung in Gen 1, 26 und die dort genannten Folgen, die sich aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen ergeben und sie darin inhaltlich qualifizieren: „Lasst uns Menschen machen als unser Bild, wie ein uns vergleichbares Bild (V. 26a), sodass sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Flugtiere des Himmels und über das Vieh und über das ganze Wild der Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen (V. 26b).“ Die traditionsgeschichtliche Abhängigkeit der priesterschriftlichen Konzeption von den geschilderten Vorstellungen der Gottebenbildlichkeit des Königs und der darin begründeten Herrschaft liegt auf der Hand. Unverkennbar ist zugleich der grundsätzliche Unterschied: Was in der Regel dem König vorbehalten war,136 wird von der Priesterschrift in einen urgeschichtlichen Kontext gestellt und auf alle Menschen ausgeweitet. Gerne wird in diesem Zusammenhang von der Demokratisierung einer monarchischen Vorstellung gesprochen. Trotz der richtigen Beobachtung, dass die Transformierung der Gottebenbildlichkeits132  Aus einer Inschrift des Pharao Thutmoses  III. (1490 –1436 v. Chr.) in Serabit el-Chadim (Übersetzung nach Ockinga, Gottebenbildlichkeit, 109). 133  Aus der ägyptischen Fassung der Inschrift einer Statue des Darius aus dem persischen Susa (Übersetzung: U. Kaplony-Heckel, TUAT I, 610 f ). 134  Aus einem Brief eines Beschwörungspriesters an den (kränkelnden) assyrischen König Asarhaddon (681–669 v.Chr). Text und Übersetzung: Angerstorfer, Ebenbild, 50. 135  S. Maul, Der assyrische König – Hüter der Weltordnung, in: J. Assmann/B. Janowski/M. Welker (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 65 –77, 77. 136  Diese Einschränkung ist mit Blick auf die Gottebenbildlichkeitsaussagen in der ägyptischen Lehre des Merikare (alle Menschen; Übersetzung: H. Brunner, RTAT, 70 –73) und einigen neuassyrischen Texten (einzelne Priester; vgl. Angerstorfer, Ebenbild, 54) zu treffen. Unter den vielen Königen befindet sich auch eine Königin: Die in der 18. Dynastie als Pharao regierende Hatschepsut wird als lebendes Abbild des Re bezeichnet (vgl. Ockinga, Gottebenbildlichkeit, 146 f ).

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aussage das Ende der davidischen Dynastie voraussetzt, ist diese Charakterisierung ein Anachronismus, der die Intention des Textes verfehlt. Für die Priesterschrift lässt sich keine grundsätzliche Ablehnung des Königtums als Herrschaftsform nachweisen (Gen 17, 6; 35, 11). Auch hat die zeitgenössische (attische) Demokratie mitnichten alle Menschen, Frauen wie Männer, an der Herrschaft beteiligt, sondern nur die männlichen Vollbürger, während die Priesterschrift solche Differenzierungen mit Blick auf die Gottebenbildlichkeitsaussage explizit ausschließt. Die Priesterschrift zielt mit ihrer Aussage über die Gottebenbildlichkeit des Menschen also nicht auf die Ablösung der ideologischen Grundlagen der Monarchie durch deren Demokratisierung. Die Transformierung der Vorstellung des Königs als Statue der Gottheit in die Gottebenbildlichkeit des Menschen bedeutet vielmehr die Integration der Königsideologie in die Anthropologie und lässt sich daher angemessen als „‚Royalisierung‘ des Menschenbildes“137 charakterisieren. Dass die Vorstellung des königlichen Menschen als biblische Grundlage für eine theologische Einforderung politischer und bürgerlicher Rechte dienen kann, die jedem Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status zukommen, ist damit selbstredend nicht bestritten.138 Auch ist in der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Einsicht einbegriffen, dass kein Mensch eines „königlichen“ Zwischengliedes im Verhältnis zum Schöpfer bedarf. Zuvörderst geht es aber um die Funktion des Menschen als Mandatar Gottes und die Ausübung seiner Herrschaft über die übrige Natur (V. 26b. 28), die durch seine Gottebenbildlichkeit ermöglicht und zugleich legitimiert wird.139 Sie ist der Kern der Aussagen von der Gottebenbildlichkeit, und nicht ein unreflektierter Anthropomorphismus, der die substantielle Vergleichbarkeit von Gott und Mensch oder die Qualifizierung bestimmter menschlicher Eigenschaften als „göttlich“ behauptet – unbeschadet der auch im Alten Testament breit bezeugten Vorstellung einer gestaltmäßigen Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch.140 (2.) Die als inhaltliche Bestimmung der Gottebenbildlichkeit genannte Befähigung des Menschen zur Herrschaft über die Erde und die Tierwelt (dominium terrae et animalium; V. 26a) erfolgt im Kontext einer fünfgliedrigen Segenszusage (V. 28). Der Auftakt entspricht dem Mehrungssegen an die maritimen Lebewesen (V. 22), unterscheidet sich jedoch durch die etwas umständlich formulierte, dadurch aber betont herausgestellte direkte Anrede Janowski, Statue, 193. Für eine Problemanzeige vgl. U. Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts. Der Wandel der Gottebenbildlichkeitsvorstellung, in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 345 –371; C. Frevel, Gottesbildlichkeit und Menschenwürde. Freiheit, Geschöpflichkeit und Würde des Menschen nach dem Alten Testament, in: A. Wagner (Hg.), Anthropologische Aufbrüche, FRLANT 232 , Göttingen 2009, 255 –274. 139  Vgl. Groß, Statue, 21. 140  Vgl. A. Wagner, Gottes Körper. Zur alttestamentlichen Vorstellung der Menschengestaltigkeit Gottes, Gütersloh 2010; C. Markschies, Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike, München 2016. 137  138 

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Gottes an den Menschen. Sie markiert nach der Vorstellung der Priesterschrift einen wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier. In der Anrede erscheint der Mensch als Gegenüber Gottes. Entsprechend wird im Fortgang der Priesterschrift der Geschehensablauf durch Gottesreden an (herausgehobene) Menschen begleitet (vgl. Noach in Gen 6 –9; Abr[ah]am in Gen 17; Mose in Ex 6 und 25). Entgegen einer langen und wirkmächtigen Auslegungstradition formulieren die „Imperative“ wie bei der Segnung der maritimen Lebewesen und geflügelten Tiere (V. 22) keinen Vermehrungsbefehl,141 sondern eine im Segenswort gegebene Befähigung und Kraft zur Fruchtbarkeit. Die Erfüllung dieser Zusage wird im „Buch der Toledot Adams“ entfaltet (Gen  5, 1), das innerhalb der priesterschriftlichen Darstellung unmittelbar auf den Schöpfungsbericht gefolgt ist. Für Israel sieht die Priesterschrift die Mehrungszusage mit der Volkwerdung in Ägypten als erfüllt an (Ex 1, 7 ). Die Überbevölkerung der Erde und die daraus folgende Bedrohung für die Existenz des Menschen auf der Erde standen den priesterschriftlichen Autoren natürlich noch nicht vor Augen. Sie lebten in einer vergleichsweise menschenleeren Welt, in der reichhaltige Nachkommenschaft in erster Linie militärische Sicherheit und ökonomische Stärke bedeuteten.142 Diese Sicht liegt auch dem Segen in V. 28 zugrunde. In ihr bildet die Mehrungszusage die demographische Voraussetzung für die folgende Zusage der Herrschaft über die Erde und die Tierwelt. Das dominium terrae et animalium wird gerne als Herrschaftsauftrag von den Mehrungszusagen abgetrennt. Doch gibt es hierfür keinen sprachlichen Anhaltspunkt. Die Kette der fünf „Imperative“ wird nicht unterbrochen. Vielmehr sind beide Teile des Segens durch den expliziten Bezug auf die Erde fest miteinander verbunden: Das Stichwort „Erde“ beschließt die für die Priesterschrift übliche Form des Mehrungssegens, es wird durch das zurückweisende Objektsuffix („sie“) des dominium terrae aufgenommen und am Ende der dreigliedrigen Aufzählung der Tiergruppen wiederholt. Die beiden „Imperative“ zur Inbesitznahme und Herrschaft setzen also diejenigen zu Fruchtbarkeit, Vermehrung und Ausbreitung fort. Auch sie beschreiben eine im Segenswort gegebene Befähigung, keinen Befehl. Die mit „in Besitz nehmen“ und mit „herrschen“ übersetzten Verben *kbš und *rdh bezeichnen mit dem Fuß ausgeübte Tätigkeiten, die häufig als Bilder für herrscherliches Gewalt- und Machthandeln dienen:143 betreten, 141  Vgl. oben zu V. 22 . Bereits Ibn Esra (zu Gen 1, 28) merkt an, dass sich das rabbinische Fortpflanzungsgebot nicht auf Gen 1, 28 berufen kann. 142  Vgl. für Juda O. Lipschits, Demographic Changes in Judah between the Seventh and the Fifth Centuries B.C.E., in: ders./J. Blenkinsopp (Hg.), Judah and the Judeans in the New-Babylonian Period, Winona Lake, IN 2003, 323 –376, der in der ausgehenden Eisenzeit von einer Bevölkerungsgröße von 108  0 00 und für die Perserzeit, der Abfassungszeit der Priesterschrift, von 30  0 00 Einwohnern ausgeht (gegenüber gegenwärtig ca. 2 , 7 Millionen Einwohnern im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem). 143  Zur kontroversen Diskussion des Bedeutungsspektrums von *rdh und einer gewalttätigen („herrschen, niedertreten“) oder friedlichen („herrschen, leiten, hüten“) Konnotation vgl. die

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durchschreiten, niedertreten, zertreten und herrschen. Prima facie wird der Mensch befähigt, seiner in V. 26 formulierten Funktionsbestimmung nachzukommen und die Erde zu durchschreiten, die Tiere niederzutreten, mithin sie zu beherrschen. Somit lassen sich zwei (völkerrechtliche) Herrschaftsakte unterscheiden, nämlich die Unterwerfung der Erde als Lebensraum des Menschen und die Herrschaft über die Tiere, die ihm diesen Lebensraum streitig machen.144 Der Mensch soll und kann gegenüber allen Tieren überlegen sein. Doch die „machtpolitische“ Lesart wird durch den unmittelbaren Kontext der Herrschaftsbefähigung relativiert. In V. 29 f folgt eine Speiseordnung, die einen universalen Frieden zwischen Mensch und Tier sowie den Tieren untereinander voraussetzt. Wird nach der Sintflut mit Blick auf eine regulierte Gewalt zwischen den Geschöpfen dem Menschen das Töten von Tieren zum Nahrungserwerb ausdrücklich gestattet (Gen  9, 1–7 ), so setzt die ursprüngliche Ordnung offenkundig ein umfassendes Tötungsverbot voraus. Insofern den Menschen Obst und Pflanzensamen, den Landtieren und den auf der Erde Nahrung suchenden Vögeln das Kraut des Feldes zugewiesen werden, wird sogar dafür Vorsorge getragen, dass die Tiere nicht nur keine Nahrung für den Menschen sind (und auch untereinander nicht), sondern nicht einmal Nahrungskonkurrenten.145 Hinzu kommt, dass sich die Herrschaft auch über die beiden Lebensräume der geschaffenen Welt erstreckt, auf die zumindest der antike Mensch kaum bis gar keinen gestaltenden Zugriff hatte, das Meer und die Luft (V. 28b). In V. 26. 28 tritt die physische Konnotation der genannten Verben also hinter ihre Kennzeichnung universeller königlicher Herrschaft zurück, wobei „Herrschaft“ im Alten Testament wie im alten Vorderen Orient insgesamt ein positiv besetzter Ausdruck ist. Nach dem Selbstverständnis altorientalischer Königsideologie ist die Sicherung des Lebens der Untertanen, des inneren wie äußeren Friedens, mithin die Abwehr des Chaos die vornehmste Aufgabe des Herrschers. Ebenso selbstverständlich ist „Herrschaft“ in der gesamten Antike eine durch (gerechte) Gewalt bewehrte Ausübung von Macht. Entsprechend ist der Mensch beauftragt, für die Wohlfahrt des ihm anvertrauten Herrschaftsbereichs zu sorgen. Es geht – aus der Sicht des Menschen – nicht um Willkürherrschaft, sondern um ein machtvolles Setzen von Grenzen und eine Indienstnahme der Natur durch den Menschen. Als Mandatar des Schöpfergottes ist der Mensch dazu aufgerufen und befähigt, dessen Übersicht bei Schellenberg, Mensch, 49 –59, sowie wichtige Stimmen der Debatte wie Barr, Man; B. Janowski, Herrschaft über die Tiere. Gen 1, 26 –28 und die Semantik von ‫רדה‬, in: ders., Die rettende Gerechtigkeit, Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2 , Neukirchen-Vluyn 1999, 33 –  48; Rüterswörden, Dominium, 81–130; M. Weippert, Mensch und Tier in einer menschenarmen Welt. Zum sog. dominium terrae, in: H.P. Mathys (Hg.), Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zur Würde und Auftrag des Menschen, BThSt 33, Neukirchen-Vluyn 1998, 35 –55; Stipp, Dominium, 113 –148; Neumann-Gorsolke, Herrschen, 10 –17, 207–229. 144  Vgl. Rüterswörden, Dominium, 103, 115; ferner Schellenberg, Mensch, 56  f. Dort auch zum Folgenden. 145  Vgl. Stipp, Fleisch, 169.

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Herrschaftsanspruch auf Erden zu wahren und durchzusetzen.146 In diesem Sinne legitimiert die Passage über die Erschaffung des Menschen die gerechte und durch ihre religiöse Grundlegung begrenzte Herrschaft des Menschen in der Welt. Wie die damit verbundene Verantwortung des Menschen zu verstehen ist, zeigt die Priesterschrift mit der Sintfluterzählung, die stets als Korrektiv der steilen Aussagen in Gen 1, 26 –30 zur Gottebenbildlichkeit des Menschen und zu seiner Herrschaftsbefähigung mitzulesen ist. Gott hat den Menschen die Aufgabe übertragen, auf der Erde für die Einhaltung der gottgegebenen Ordnung zu sorgen. Wie die Verderbnis der Erde durch die Gewalttat alles Fleisches, also des Menschen und der Tiere zeigt, hat der Mensch darin versagt (vgl. S.  244  –250 zu Gen  6, 9 –13). Hierin zeigt sich der Realitätssinn der priesterschriftlichen Autoren, die wie ihre Adressaten unter den Bedingungen „nach der Flut“ leben. Was für die stark idealisierte und stilisierte Gestalt eines Königs als Herrschaftsprogramm denkbar ist, stößt in der Herleitung dessen, wie und was der Mensch als geschichtliches Wesen ist, offenkundig an Grenzen. Aus der idealen Königsherrschaft des Menschen wird seine begrenzte Gewaltherrschaft. Hatte die Gewalttätigkeit alles Fleisches die urzeitliche Ordnung nachhaltig zerrüttet (Gen  6, 12), so zieht der eines Besseren belehrte Schöpfergott nach der Sintflut die Konsequenzen: In einem abermaligen Mehrungssegen wird die Gewalt mit der Freigabe der Tötung von Tieren zum Nahrungserwerb und dem Verbot der Tötung von Menschen in einer Welt reguliert, die dem ursprünglichen Willen ihres Schöpfers nicht mehr entspricht (Gen  9, 1–7 ). Am Beispiel der in allen vormodernen Kulturen heiklen Frage der Tötung von Tieren wird so zwischen der Urzeit und der geschichtlichen Zeit unterschieden. Was in der Urzeit nicht vorgesehen und daher implizit verboten war, wird nach dem Ende der Sintflut und damit zu Beginn der Geschichte geboten oder besser gesagt toleriert. Die Auslegung der Herrschaftszusage schwankt seit gut drei Jahrzehnten zwischen Anklage und Apologie. Ausgangspunkt ist die einflussreiche These, wonach das „Macht euch die Erde untertan!“ als ideologisches Unterfutter den schrankenlosen Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen in den Industriegesellschaften westlicher Prägung maßgeblich befördert habe.147 Sicher hat Gen  1 durch den gleichsam naturkundlichen Grundton und den nüchternen Umgang mit dem Meer, der Erde, den Gestirnen oder anderen Größen, denen in vielen Kulturen eine eigene religiöse Dignität zugesprochen wurde und wird, mit am Anfang der „Entzauberung der Welt“

Vgl. von Rad, 39. Vgl. L. White, Die historischen Ursachen unserer ökologischen Krise, in: M. Lohmann (Hg.), Gefährdete Zukunft. Prognosen angloamerikanischer Wissenschaftler, Hanser-Umweltforschung  5, München 1970, 20 –29; C. Amery, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Hamburg 1972 . Die Diskussion ist aufgearbeitet bei H. Baranzke/H. Lamberty-Zielinski, Lynn White und das dominium terrae (Gen 1, 28b). Ein Beitrag zu einer doppelten Wirkungsgeschichte, BN 76 (1995) 32 –61. 146  147 

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(Max Weber) gestanden.148 Insofern gehört auch Gen 1 zu den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen eines wissenschaftlichen Umgangs des Menschen mit der Natur (einschließlich des Menschen). Doch führt dieses Weltverhältnis nicht zwangsläufig zum selbstzerstörerischen Umgang des Menschen mit der Natur, wie andererseits ein „nicht-entzaubertes“ Weltverhältnis nicht automatisch vor Umweltzerstörungen schützt: Der Mensch hat seit dem Übergang zur Sesshaftigkeit seine natürliche Umwelt nachhaltig verändert und die natürlichen Ressourcen mit erheblichen Auswirkungen ausgebeutet.149 Auch lässt sich eine prominente Rolle des dominium terrae bei der Begründung der Wirtschaftsweise des industriellen Zeitalters samt der dadurch hervorgerufenen Umweltzerstörungen eines bis dahin ungekannten Ausmaßes nicht aufweisen – mit der Einschränkung, dass sich Vorgänge wie die unterstellte Verinnerlichung eines von der Bibel geprägten Weltverhältnisses und seine Transformation in säkulare Kontexte weitgehend der Überprüfbarkeit entziehen. Wie immer es auch um den Einfluss des dominium terrae auf die Wirtschaftsweise des industriellen Zeitalters tatsächlich bestellt gewesen sein mag, angeregt durch die erhobenen Vorwürfe wurde der biblische Text im apologetischen Gegenzug vielfach als Zeuge für die Forderung eines verantwortungsvollen Umgangs mit der Schöpfung neu gelesen. Dies geschah über die etymologische Verbindung des hebräischen *rdh „herrschen“ mit dem akkadischen redû(m), das außer „herrschen“ und „niedertreten“ auch die Bedeutungen „begleiten“, „[mit sich] führen“ und „leiten“ hat und die in der gesamten Antike positiv konnotierte Tätigkeit eines Hirten beschreiben kann. Auf diese Weise seiner brutalen Metaphorik beraubt, zielt der Herrschaftsauftrag auf den Schutz der dem Menschen anvertrauten Schöpfung.150 Freilich wäre dieser Gebrauch von *rdh innerhalb des Alten Testaments singulär und von einem Hirtenamt (unter Einbeziehung von Vögeln und Fischen?) wird zumindest nicht explizit gesprochen. Eher ließe sich für eine positive Wertung des Herrschaftsauftrags auf eine stärkere Betrachtung des Kontextes und des traditionsgeschichtlichen Zusammenhangs mit der Königsideologie des alten Vorderen Orients verweisen, wie sie oben im Anschluss an eine Reihe von einschlägigen Untersuchungen vertreten worden ist: Die Vorstellung des als Statue des Schöpfergottes zur königlichen Herrschaft befähigten und zudem vorsintflutlich auf pflanzliche Nahrung festgelegten Menschen sei mit einer gegen die Schöpfung gerichteten Gewaltherrschaft nicht vereinbar. Gefordert sei nach Gen  1, 26. 28 eine tätige Verantwortung des königlichen Menschen für das Ganze der Schöpfung. Dies 148  Vgl. Wellhausen, Prolegomena, 315: „Mit der Zerstörung der mythischen Anschauungsweise durch die Autonomie der Moral hängt enge zusammen die verständige Naturbetrachtung, deren Anfänge wir im Priesterkodex finden; ihre Voraussetzung ist, daß der Mensch sich selber als Person über und außer die Natur stellt und sie schlechtweg als Sache betrachtet. Man darf vielleicht behaupten, daß ohne diesen Dualismus des Judentums die mechanische Naturwissenschaft nicht vorhanden wäre.“ 149  Die Episode von Gilgamesch und Enkidu im Zedernwald ist ein literarischer Niederschlag des frühen Raubbaus an den Wäldern in der Levante (Gilgm V, 291–302). Vgl. dazu R. Tringham, Man and the Mediterranean Forest. A History of Resource Depletion, London 1971, 41.  Zur Umweltgeschichte des alten Vorderen Orients vgl. die Beiträge in: W. Frey/H.-P. Uerpmann (Hg.), Beiträge zur Umweltgeschichte des Vorderen Orients, Beiträge zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients 8, Wiesbaden 1981, sowie die Anmerkungen bei Keel/Schroer, Schöpfung, 39 –   4 4. 150  Vgl. Barr, Man, 9 –32 , bes. 22 , sowie N. Lohfink, Macht euch die Erde untertan!, in: ders., Studien zum Pentateuch, SBAB  4, Stuttgart 1988, 11–28; Zenger, Bogen, 84  –96. Häufig wird diese Lesart mit Gen 2 , 15 verbunden. Doch geht es dort nicht um das Großprojekt „Bewahrung der Schöpfung“, sondern schlicht um Gartenarbeit. S. dazu unten zu Gen 2 , 15.

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ist sicher nicht falsch und es ist politisch wie ökologisch und ökonomisch wünschenswert, doch gerät dabei schnell aus dem Blick, dass das Naturerleben bis in die Romantik hinein ein anderes war als das in unserer Gegenwart. Tiere wurden, wie dies immer wieder auch in modernen (nach-)industriellen Gesellschaften der Fall ist,151 als Konkurrenten um Lebensraum und Nahrung wahrgenommen (s.  o. zu V. 24 f ), und die biblische Hoffnung auf einen endzeitlichen Tierfrieden bedeutet zunächst einmal, dass dem Menschen von den wilden Tieren keine Gefahr mehr droht (vgl. Hos 2 , 20, wo Jhwhs Verheißung eines Bundes mit den Tieren neben derjenigen steht, zukünftig Bogen, Schwert und Krieg zu zerbrechen). Insofern ist der Einwand nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die genannte Auslegungsrichtung heutige Vorstellungen in den Text hineinliest, damit dieser unter gänzlich anderen Bedingungen als Orientierungshilfe in einer als Krisensituation erfahrenen Gegenwart dienen kann. Auch sollte bei der positiv konnotierten Königsherrschaft immer im Blick bleiben, dass sich diese für die Beherrschten, insbesondere für „befriedete“ Völker (oder in unserem Text: die Tierwelt), mitunter als Gewaltherrschaft dargestellt hat, wie mit Blick auf das antike Israel die einschlägigen Beispiele der pax assyriaca oder pax romana hinreichend belegen. Insofern ist selbst die friedliche Lesart der Herrschaftsmetapher ambivalent. Gleichwohl bleibt trotz aller notwendigen Einschränkungen die Einsicht einer besonderen Verantwortung des als Mandatar des Schöpfergottes zur Herrschaft befähigten Menschen bestehen. Sie klingt auch im priesterschriftlichen Prolog der Sintflutgeschichte an (vgl. Gen 6, 9 –13) und darf daher als textgemäße Lesart gelten. Darüber hinaus lässt sie sich in eine säkulare Sprache übersetzen, ohne gleich zur (politischen) Leerformel zu werden.

(3.)  Der Bericht über die Erschaffung des Menschen in V. 27 umfasst drei Sätze. Sie sind jeweils mit dem exklusiven Schöpfungsverb *br  ʾ „schaffen“ gebildet, wodurch die besondere Bedeutung dieses Schöpfungswerkes noch einmal betont wird. Die ersten beiden Sätze sind chiastisch angeordnet: (A) Da schuf Gott den Menschen (B) als sein Bild//(B’) als Bild Gottes (A’) schuf er ihn. Der Chiasmus stellt die Bestimmung des Menschen zum Bild Gottes als Kernaussage heraus. Ihre grundlegende, „geradezu definitionsmäßige“152 Näherbestimmung erfährt die Gottebenbildlichkeit durch die beiden, diesmal parallel konstruierten Sätze zwei und drei: (B’) als Bild Gottes (A’) schuf er ihn, (B’’) männlich und weiblich (A’’) schuf er sie. Auf diese Weise betont die Priesterschrift, dass sie bei der im Kontext der Erschaffung des Menschen zentralen Gottebenbildlichkeit nicht zwischen männlichen und weiblichen Exemplaren des Menschen unterscheidet.153 Beide sind zum Ebenbild Gottes geschaffen und damit zur Herrschaft befähigt. Zugleich deutet das Fehlen der bei den Tieren üblichen Differenzierung nach Arten 151  Beispiele liefern die Klagen der Fischfangindustrie über ihre natürlichen Konkurrenten wie Delphine, Wale oder Kormorane oder die Diskussion um Wiederansiedlung und Schutz ehedem ausgerotteter Raubtiere wie Wolf und Luchs. 152  K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/1, Zürich 21947, 219. 153  Männlich (zākār) und weiblich (n eqēbā ) sind biologische Begriffe, die entsprechend auch auf die Tiere angewendet werden (vgl. Gen  6, 19; 7, 16 P). Die verbreitete Übersetzung mit „Mann“ und „Frau“ hat dagegen auch das soziale Geschlecht (engl. „gender“) vor Augen, was nicht vorschnell als dominierende Lesart in den Text eingetragen werden sollte.

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an, dass die biologische Unterscheidung von männlichen und weiblichen Exemplaren beim Menschen die einzige nennenswerte Differenzierung darstellt, während eine Differenzierung nach geographisch lokalisierbaren Varietäten in Hautfarbe, Körperbau etc., aber auch kulturell ausgebildete Unterschiede zwischen den Menschen keine Rolle spielen (vgl. Gal 3, 28). Im Hintergrund der Formulierung „männlich und weiblich schuf er sie“ steht sicher die verbreitete Vorstellung eines Urpaares, von dem alle Menschen herkommen (vgl. Gen  5, 1–3. 4 ff ). Doch erschöpft sich die Bedeutung der Aussage nicht in dieser traditionsgeschichtlichen Ableitung. So haben schon die priesterschriftlichen Autoren praktische Konsequenzen aus der Aussage von der Gottebenbildlichkeit gezogen, insofern das mit der Gottebenbildlichkeit begründete Tötungsverbot keine unterschiedliche Bewertung der Tötung eines Mannes oder einer Frau zulässt (vgl. Gen 9, 5 f ). Konvergenzen mit dem alttestamentlichen Gottesbild sind darin zu erkennen, dass Gott mit traditionell weiblich konnotierten Attributen versehen werden kann und sich der Festlegung auf traditionell männlich konnotierte Attribute entzieht (vgl. Dtn  4, 16). Die bleibende Bedeutung des Textes zeigt sich schließlich dort, wo in der (innerbiblischen) Wirkungsgeschichte sein theologisches Niveau mit entsprechenden theologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen weit unterschritten wird. Dies gilt insbesondere für die exegetisch unhaltbare Einengung der Gottesebenbildlichkeit auf den Mann (1Kor 11, 7 „Der Mann soll sich das Haar nicht kunstvoll zurechtmachen, da er Abbild und Abglanz Gottes ist [εἰκὼν καὶ δόξα θεοῦ]; die Frau aber ist Abglanz des Mannes“). Die Schilderung des sechsten Schöpfungstages endet mit der Billigungsformel und der Tageszählung (V. 31). Die am Abend des letzten Werktages der Schöpfungswoche ausgesprochene Billigung gilt freilich dem gesamten Sechstagewerk einschließlich der mit ihm gesetzten Ordnungen. Letztere sind auch der Grund dafür, dass die Billigungsformel nicht unmittelbar auf die Erschaffung des Menschen (und der Tiere) folgt, sondern anders als bei den Lebewesen des Meeres und den geflügelten Tieren erst nach dem Segenswort und der daran anschließenden Nahrungszuweisung. Der Bezug auf das Gesamtwerk erklärt die Variation der Formel durch ihre feierliche Form und die Beifügung des verstärkenden m e   ʾōd „sehr“. Das Motiv des Schöpferlobes ist verbreitet. So preisen im babylonischen Marduk-Epos Enuma Eliš die Götter Marduk mit seinen 50  Namen (EnEl  VI, 99 –VII, 148). Natürlich entfällt diese Möglichkeit für die Priesterschrift, doch greift sie auch nicht das im Alten Testament verbreitete Motiv des Schöpferlobes durch seine Werke auf (vgl. Ps 148). Vielmehr wird auch das Loben ganz der Grundaussage von Gottes alleinigem Schöpfungshandeln eingepasst und in das anerkennende Urteil des Schöpfers über sein Werk zurückverlegt.154 Die Begeisterung („sehr gut“) des Schöpfergottes für seine gesamte Schöpfung bindet diesen dauerhaft an sein Werk. Umso stärker wiegt freilich das im 154 

Westermann, 228.

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ursprünglichen Textzusammenhang der Priesterschrift schnell folgende Urteil des Schöpfergottes über die Verderbtheit der Erde vor der Sintflut (Gen 6, 12) und die Neuformulierung des Herrschaftsauftrages nach der Flut als Schreckensherrschaft des Menschen über die Tiere (Gen 9, 1–7 ). Schöpfungstheologisch gesprochen ist die gegenwärtige Welt eine Welt „nach der Flut“. Sie ist vielleicht die beste aller möglichen Welten, sie ist aber nicht mehr diejenige Welt, der das uneingeschränkte Lob ihres Schöpfers gilt. Der siebte Schöpfungstag steht ganz im Zeichen der Segnung und der 2, 1–3 Heiligung dieses Tages, womit abschließend noch einmal die Kategorie der Zeit angesprochen ist. Die literarkritische Analyse des Abschnitts ist umstritten. Ausgangspunkt der Diskussion ist die zweifache Notiz von der Vollendung des Schöpfungswerks in Gen 2 , 1 und 2 , 2a. Die beiden Notizen sind kaum gleich ursprünglich. Häufig wird in V. 2a eine sekundäre Hand erkannt, die das Verb „vollenden“ aus V. 1 aufnimmt und die Datierung „am siebten Tag“ einträgt. Diese Annahme hat zur Folge, dass die Tageszählung im Schöpfungsbericht und mit ihr die unverkennbare Ausrichtung auf den Sabbat als Nachtrag gelten.155 Freilich ist die Tageszählung neben dem göttlichen Befehl zu Beginn jedes Schöpfungswerkes das einzige durchgehende Strukturierungsmerkmal in Gen  1, 1–2 , 3. Fiele sie als redaktionell weg, verlöre der priesterschriftliche Schöpfungsbericht seinen geschlossenen Gesamtaufbau. Was dagegen die häufig für eine sekundäre Herkunft der Tageszählung angeführte Verteilung von acht Schöpfungswerken auf sechs Tage anbelangt, so spricht die aufgezeigte sachliche Stimmigkeit der Aufteilung der Werke gegen eine literarkritische Auswertung. Für die ursprüngliche Zugehörigkeit von 2 , 2a (und damit V. 2b. 3) lässt sich ferner anführen, dass die Ruhe des Schöpfergottes nach Vollendung seines Werkes ein auch andernorts belegtes Motiv ist.156 Ausschlaggebend für das literarkritische Urteil sind indes Auffälligkeiten in V. 1:157 Das vermeintliche Summarium ist passivisch konstruiert und enthält sich jeglicher Erwähnung Gottes. Dagegen beginnen alle anderen Abschnitte einschließlich des Rahmens mit einem Satz, in dem explizit „Gott“ Subjekt ist. Gerade im Vergleich mit dem Auftakt des Schöpfungsberichts ist Gen  2 , 1 daher als ursprüngliches Summarium oder als Resümee der Schöpfungswerke vor der Etablierung des Sabbats nur schwer denkbar.158 Inhaltliche Schwierigkeiten kommen hinzu: Soll es sich um ein Summarium handeln, dann sind „Himmel und Erde“ wie in Gen 1, 1 als Merismus aufzufassen, was für das gegenüber 1, 1 zusätzliche Element „und ihr ganzes Heer“ Verständnisprobleme bereitet. Die landläufige Erklärung, mit 155  Die klassische These (Werner Carl Ludewig Ziegler, 1794; Johann Philipp Gabler, 1795 ) wurde zuletzt mit Nachdruck vertreten von Levin, Tatbericht. 156  Vgl. EnEl VI, 51–54 sowie das Zitat aus dem „Denkmal memphitischer Theologie“ (s.  o. Anm. 64 f ); ferner Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 158 f; Westermann, 230. 157  Vgl. Zenger, Bogen, 69 –71; Witte, Urgeschichte, 120  f. 158  Dagegen erklärt Bührer, Anfang, 114, die passivische Formulierung damit, dass der Schöpfungskraft der Erde und der Eigenwirksamkeit des Wassers Rechnung getragen werden. Doch würde damit die zentrale Aussage von Gott als dem universalen, transzendenten und souveränen Schöpfergott, wie sie in Gen 1, 1 und auch in der Aufnahme der Vorstellung der gebärenden Erde zu erkennen ist (s.  o. zu Gen  1, 11 f ), auf den Kopf gestellt werden. Nach Grund, Entstehung, 225 f sind beide Verse gleichursprünglich, da sie unterschiedliche Aspekte der Vollendung beschreiben: Gen  2 , 1 nehme die Schöpfungswerke, Gen  2 , 2 hingegen den Schöpfer in den Blick. Die Auffälligkeiten von Gen 2 , 1 werden mit dieser Auskunft jedoch nicht erklärt.

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„Heer“ (ṣābā ) sei entweder die Gesamtheit der Luft, Meere und Erde füllenden Lebewesen oder alle bis dahin aufgeführten Werke gemeint, widerspricht dem sonstigen Sprachgebrauch. Sofern der Ausdruck metaphorisch gemeint ist, bezieht er sich auch im Singular zumeist auf das „Sternenheer“ (vgl. Jes 40, 26 [ebenfalls mit Suffix ohne klaren Bezug]; Jes 45, 12) oder ganz allgemein auf die himmlische Umgebung Gottes (vgl. 1Kön 22 , 19; Neh 9, 6). Demnach zielt der Vers nicht auf eine Zusammenschau der gesamten Schöpfung, sondern trägt Vermisstes nach. Vermutlich konkretisiert er die in Gen 1, 26 erkennbare Vorstellung des himmlischen Hofstaates. Könnte es nach Gen 1, 26 scheinen, als seien die Gott umgebenden Wesen bereits vor der Schöpfung da (so auch Hi 38, 7 ), so stellt Gen 2 , 1 auf knappe Weise sicher, dass diese ebenfalls Geschöpfe Gottes sind, ohne für diese Klarstellung umfassend in den Schöpfungsbericht eingreifen zu müssen. Der Nachtrag liegt auf einer Linie mit dem um die Mitte des 2 .  Jh. v. Chr. entstandenen Jubiläenbuch, das von der Erschaffung der himmlischen Wesen durch Gott am ersten Schöpfungstag zu berichten weiß (vgl. Jub 2, 2 f ).

Da am siebten Tag kein eigentliches Schöpfungswerk erfolgt, fehlt der göttliche Befehl. Stattdessen erklärt Gott seine Arbeit für vollendet (V. 2a; vgl. Ex 40, 33).159 Im unmittelbaren Anschluss an die Billigungsformel, die ihrerseits schon die sehr gute Vollendung aller Schöpfungswerke konstatiert hat (Gen  1, 31), wird so eine deutliche Zäsur zwischen den ersten sechs Tagen und dem siebten Tag der Schöpfungswoche gesetzt (vgl. Ex 20, 11). Daher ist es zumindest missverständlich, wenn das göttliche Ruhen am siebten Tag im Vorgriff auf den Sabbat als das wichtigste und abschließende Schöpfungswerk bezeichnet wird. Dass der Text zu Missverständnissen führen kann, belegt die Textgeschichte. Wichtige Textzeugen lesen in V. 2a „am sechsten Tag“ und stellen auf diese Weise sicher, dass der siebte Tag von jeglicher Arbeit freigehalten wird.160 Eine Ursache hierfür mag gewesen sein, dass das Verb *klh pi. „vollenden“ nicht in jedem Fall eine rein deklarative Bedeutung hat und durchaus auch „eine Arbeit zu Ende bringen“ bedeuten kann (vgl. Ex 5, 13). Der MT wird jedenfalls so zu verstehen sein, dass der nahezu gleichlautende V. 2b  – die Teilverse unterscheiden sich lediglich durch die beiden Verben  – die Erklärung des Abschlusses der Schöpfung (*klh im pi.; V. 2a) mit Gottes Ruhen (*šbt; V. 2b) am siebten Tag gleichsetzt. Gottes Ruhen wird im Fortgang als Gottes Segnen und Heiligen des siebten Tages entfaltet (V. 3a), wie die abermals auf das Ruhen Gottes rekurrierende Begründung deutlich macht (V. 3b). Die abschließende Begründung variiert den auf „seine Arbeit“ bezogenen Relativsatz „die er getan (* ʿśh) hatte“ (V. 2a.b) und greift noch einmal das exklusive Schöpfungsverb *br  ʾ („schaffen“) aus Gen 1, 1 auf. Der Rückbezug auf den ersten Vers des Schöpfungsberichts ist unverkennbar. Zudem markiert das Erreichen der Gottesruhe gemeinsam mit dem schöpferischen Sprechen der vorangehenden Werke den Gegenpol zum „Noch-Nicht“ Gottes in der Vorweltschilderung. Darüber hinaus weist der Schlusspunkt des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts auch auf den 159  160 

Zum deklarativen Charakter des Verbs vgl. Cassuto, I 61 f; Ruppert, 98. S.o. Anm. 21 zur Textkritik.

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Zielpunkt des priesterschriftlichen Gesamtwerks voraus:161 Zu Beginn der auf die Gründung des zweiten Tempels hin formulierten priesterschriftlichen Sinaiperikope wird nämlich das durch die Aussonderung des siebten Tages etablierte 6/7–Tageschema der Schöpfungswoche reziprok aufgenommen. Der sechs Tage redende und am siebten Tag schweigende Gott der Schöpfung (Gen 1, 1–31; 2, 1–3) erweist sich als der nach sechs Tagen des Schweigens am siebten Tag redende Gott der Sinaioffenbarung (Ex 24, 15b– 25, 1). Ebenso geben Gen  1, 31; 2, 2 f die Struktur für die Darstellung der Vollendung des Begegnungszeltes/Tempels in Ex 39 f vor, wobei die Einrichtung des Heiligtums wie die Erschaffung der Welt mit einem Segen abgeschlossen wird (vgl. Gen  1, 31 mit Ex  39, 43; Gen  2, 2a und Ex  40, 33b: *klh „vollenden“; Gen  2, 3 und Ex  39, 43b: *brk „segnen“; Gen  2, 3aβ und Ex 40, 9b: *qdš „heiligen“).162 Auf diese Weise werden Schöpfung und Tempelgründung wie in der Vielzahl der altvorderorientalischen Schöpfungstexte in ein Entsprechungsverhältnis gesetzt: Am Sinai „hat die in der Schöpfung grundgelegte Hinwendung Gottes zur Welt/zum Menschen als Gemeinschaft des Schöpfers mit Israel ihr Ziel erreicht, und umgekehrt hat sich Israel hier das schöpfungstheologische Geheimnis des ‚siebten Tages‘ erschlossen, an dem JHWH den Mose zur Beauftragung mit dem Heiligtumsbau in die Wolke hineinrief.“163 Das Siebener-Schema mit einer besonderen Betonung des siebten Tages ist im alten Vorderen Orient weit verbreitet, begegnet aber sonst nie im Kontext einer Kosmogonie.164 Schon daran ist zu erkennen, dass die Gottesruhe auf die besondere und auf Dauer hin angelegte Bedeutung des siebten Tages zielt. Der siebte Tag soll geheiligt, d.  h. aus dem Ablauf der sechs „Werktage“ der Schöpfung ausgesondert werden. Bereits die priesterliche Bearbeitung des Dekalogs hat hierin eine schöpfungstheologische Verankerung des nachexilischen Wochensabbats erkannt (vgl. Ex 20, 11).165 Gegen eine Verbindung der Ruhe des Schöpfergottes am siebten Tag mit dem Wochensabbat werden verschiedentlich das Fehlen des Terminus „Sabbat“ und der universale Charakter des Schöpfungsberichts angeführt, der mit der Einführung einer Institution Israels an dieser Stelle unvereinbar sei. Doch die Anspielungen auf den Sabbat sind zu deutlich, als dass der Einspruch überzeugen könnte: Das auch andernorts belegte Motiv der Ruhe des Schöpfergottes wird in V. 2 –3 explizit mit der Siebentagewoche verbunden und die Ruhe Gottes auf den siebten Tag terminiert. Ferner wird statt des gebräuchlichen Verbs nū    aḥ „ruhen“ (vgl. Ex 20, 11) das eher ungewöhnliche, dafür an das Wort Sab-

161  Zenger, Bogen, 170 –175; Blum, Studien, 287–332; Janowski, Tempel, 46 –67; Gertz, Tora, 238 –240. 162  Vgl. Jacob, 67; Zenger, Bogen, 171. 163  Vgl. Janowski, Tempel, 66 f (Hervorhebung im Original). 164  Vgl. Grund, Entstehung, 194 f (Belege a.a.O., 32 –34). 165  Zur Geschichte des Sabbats vgl. Grund, Entstehung.

Nachwort zum Schöpfungsbericht der Priesterschrift

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bat (šabbāt) anklingenden Verb *šbt gebraucht.166 Schließlich wird der siebte Tag gesegnet, wodurch seine besondere Bedeutung auf Dauer sichergestellt wird, was wiederum an die Begründung einer Institution denken lässt. Dass der Sabbat nicht explizit genannt ist, erklärt sich dagegen gerade mit der universalen Ausrichtung des Schöpfungsberichts. Diese verbietet eine explizite Bezugnahme auf solche Institutionen, die auf Israel begrenzt sind. Der Sabbat ist ein Privileg Israels, das in der Ordnung der Welt gründet. So ist der Sabbat wie der Tempelbau bereits in der Zeitstruktur der Schöpfungsordnung angelegt. Ihre geschichtliche Konkretion erfahren Tempelgründung und Sabbatordnung jedoch erst am Sinai.167 Mit diesem Ausblick auf den Sinai endet der priesterschriftliche Schöpfungsbericht, auf den ursprünglich das „Register der Zeugungen Adams“ in Gen 5, 1 ff gefolgt ist.

Nachwort zum Schöpfungsbericht der Priesterschrift Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift ist das Ergebnis jahrhundertealten (Priester-)Wissens. Vers für Vers zeigt er seine enge Verbindung mit den kosmologischen Vorstellungen des alten Vorderen Orients, wobei es sich weniger um die Rezeption identifizierbarer Einzeltexte handelt als um die Teilhabe an einem breiten Traditionsstrom. Im Vergleich mit anderen Darstellungen der Erschaffung der Welt zeigt der Schöpfungsbericht der Priesterschrift sehr individuelle Züge, die sich aus den Vorgaben der eigenen Tradition und der historischen Situation seiner Autoren erklären. Entgegen einer beliebten Auslegungstradition ist der priesterschriftliche Schöpfungsbericht hierbei nicht von polemischer Abgrenzung gegenüber seiner Umwelt geprägt.168 Mit Gen 1, 1–2, 3 liegt kein Gegenentwurf zu einem bestimmten Text der mesopotamischen Hochkultur vor, etwa dem vielfach genannten Marduk-Epos Enuma Eliš.169 Vielmehr handelt es sich um einen spezifischen 166  Der Anklang besteht unabhängig davon, ob die beiden Wörter etymologisch miteinander zusammenhängen oder – was der Fall sein dürfte – nicht. 167  In kanonischer Reihenfolge findet sich der erste Beleg für den Sabbat in der Mannawundererzählung von Ex  16 (Ex  16, 23. 25. 26. 29). Die Zugehörigkeit dieses Textes zum Grundbestand der Priesterschrift ist umstritten. So sprechen u.  a. Levin, Jahwist, 352 –355; T. Pola, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und Traditionsgeschichte von Pg, WMANT  70, Neukirchen-Vluyn 1995, 134  –143, das Kapitel der Priesterschrift ab. Vgl. dagegen aber zuletzt im Anschluss an E. Ruprecht, Stellung und Bedeutung der Erzählung vom Mannawunder (Ex  16) im Aufbau der Priesterschrift, ZAW  86 (1974), 269 –307: M. Köckert, Leben in Gottes Gegenwart, FAT  43, 96 f; F. Hartenstein, Der Sabbat als Zeichen und heilige Zeit. Zur Theologie des Ruhetages im Alten Testament, JBTh 18 (2003/2004) 103 –131, 119 f; Grund, Entstehung, 240 –247. Mit Blick auf die Entsprechung von Schöpfung und Sinaioffenbarung ist indes wichtiger, dass die nach dem Schema von sechs und sieben Tagen gestaltete Erzählung in Ex 16 gemeinsam mit Lev 9 einen Rahmen um die priesterschriftlichen Sinaitexte legt (vgl. Grund, Entstehung, 267 f ), weswegen der Sabbat als Institution Israels nicht von der Gottesoffenbarung am Sinai getrennt werden kann. 168  Vgl. Gertz, Polemik. Dort auch mit Einzelnachweisen zum Folgenden. 169  So jetzt wieder Frahm, Creation.

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Genesis 1, 1–2, 3

Beitrag des spätexilischen oder frühnachexilischen Israel in einer auch andernorts geführten Debatte. In dieser bricht sich aus ganz unterschiedlichen Gründen und unter ganz unterschiedlichen Bedingungen eine neue Geisteshaltung Bahn, in der die eigene mythische Tradition und die Anfänge einer als naturkundlich-technisch zu bezeichnenden Weltsicht zu einem Weltbild verbunden werden, das gleichermaßen mythologisch wie naturkundlich „exakt“ ist. Die bekanntesten Vertreter sind sicher die ionischen Naturphilosophen, deren Nähe zu Gen 1 schon früh notiert worden ist.170 Wie die Autoren der Priesterschrift orientieren sich diese an der seinerzeit führenden mesopotamischen Wissenschaft,171 was auch ihre Gemeinsamkeiten erklärt. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Darstellung der Erschaffung der Gestirne, wo uns durch den Zufall der Überlieferung ein neuassyrischer Kommentar zum Enuma Eliš erhalten ist, dessen Kosmologie eine große Nähe gleichermaßen zu den Vorsokratikern wie auch zu Ez  1 und Gen  1 aufweist. Als Beispiel für das Einzeichnen einer neuen Geisteshaltung in die überkommene Tradition sei neben der Taxonomie der Schöpfungswerke an die herausgehobene Verwendung des Schöpfungsverbs *br  ʾ am Anfang und Ende des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts sowie bei der Erschaffung des Menschen erinnert. Wie ausgeführt, enthebt das Verb das göttliche Schöpfungshandeln jeglicher Vorstellbarkeit. Daneben berichtet die Priesterschrift auch ganz traditionell vom „Machen Gottes“ oder vom „Hervorsprossenlassen der Erde“. Die mit dem Schöpfungsverb *br  ʾ eingeführte Abstraktion wird also nicht konsequent durchgehalten, vielmehr ist sie in das Gerüst traditioneller Vorstellungen eingetragen, die mit dem Schöpfungsverb *br  ʾ unter einem neuen Vorzeichen zu stehen kommen. Schließlich kann auch auf die literarische Gestalt von Gen  1, 1–2, 3 verwiesen werden. Wie bei Anaximander von Milet hat die neue Geisteshaltung mit der Wissenschaftsprosa eine neue Ausdrucksform gefunden. Das Werk des Anaximander gilt als das erste griechische Buch in Prosa, und auch die Priesterschrift hat innerhalb des Alten Testaments für ihre Form des Schöpfungsberichts keine klassischen Vorbilder. Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift greift völlig selbstverständlich auf das Wissen der damaligen Naturkunde zurück. Wie die Zeitgenossen in Ionien oder Mesopotamien versucht er, dieses Wissen mit den vorgegebenen mythologischen Vorstellungen zu vermitteln. Der naturkundliche Erkenntnisstand hat sich jedoch ohne jeden Zweifel als zeitgebunden erwiesen und ist durch die moderne, ihrerseits auch zeitgebundene Naturwissenschaft überholt. Diese unhintergehbare Einsicht lässt sich auf den ersten Blick nur schwer mit dem normativen Anspruch der biblischen Texte 170  Vgl. Wellhausen, Prolegomena, 297, zu Gen  1 und Thales von Milet (ca. 640 –562 v. Chr.) und dessen Nachfolger Anaximander von Milet (ca. 610 –546 v. Chr.) und Anaximenes von Milet (ca. 580 –528 v. Chr.). 171  Vgl. für die ionischen Naturphilosophen W. Burkert, Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu Magiern, München 2003, bes. 55 –78.

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in ihrem gegenwärtigen religiösen Gebrauch vereinbaren. So erklärt es sich leicht, dass Vertreter des Kreationismus oder seiner Spielarten wie des Intelligent Design versuchen, die biblische Naturkunde gegen die moderne Geologie und Evolutionsbiologie in Stellung zu bringen.172 Gerade weil sich die Priesterschrift auf den zu ihrer Zeit aktuellen naturkundlichen Erkenntnisstand bezieht und erfolgreich um eine Vermittlung bemüht, widerspricht es jedoch der Intention der Priesterschrift fundamental, wenn ein immer gültiges Offenbarungswissen angeführt wird, um an einem überholten Erkenntnisstand antiker Naturkunde gegen die Einsichten der modernen Naturwissenschaften festhalten zu können. Ebenso wenig lässt sich mit der Priesterschrift rechtfertigen, wenn im Rückgriff auf die biblischen Texte gegen naturwissenschaftliche Erklärungen der Weltentstehung zu Felde gezogen wird und diese wider bessere Einsicht bestritten werden. Andererseits übersehen diejenigen, die mit der Enthüllung der naturkundlichen Irrtümer in Gen  1, 1–2, 3 die biblischen Aussagen zur Welt als Schöpfung Gottes für obsolet erklären, dass es der Priesterschrift primär nicht um Kosmologie geht (dann dürften die Himmel über der Himmelsfeste und die Unterwelt nicht fehlen), sondern um eine Deutung der für den Menschen erfahrbaren Lebenswelt, wofür sie auf die zeitgenössische Naturkunde zurückgreift. In dieser Hinsicht ist der Schöpfungsbericht der Priesterschrift „aufgeklärter“ als viele seiner modernen Kritiker. Zwar kann für die Antike die professionelle Unterscheidung zwischen Welterklärung und Weltdeutung allenfalls in Ansätzen vorausgesetzt werden, doch ist sie der Sache nach bereits vorhanden. Die Priesterschrift fordert kein Opfer des Verstandes und den Verzicht auf eine fortschreitende naturwissenschaftliche Welterklärung und Theoriebildung. Vielmehr führt sie vor, wie eine naturkundlich erfasste Welt mittels der Vorstellung von der Universalität und Transzendenz Gottes gedeutet wird.

172  Zur Einführung in diese Debatte vgl. C. Schwöbel, Sein oder Design – das ist hier die Frage. Christlicher Schöpfungsglaube im Spannungsfeld von Evolutionismus und Kreationismus, in: B. Janowski/F. Schweitzer/C. Schwöbel (Hg.), Schöpfungsglaube vor der Herausforderung des Kreationismus, Theologie, Neukirchen 2010, 120 –171.

II. Genesis 2, 4  –3, 24: Die Paradieserzählung 2, 4a Dies ist die Entstehungsgeschichte1 des Himmels und der Erde, als sie geschaffen wurden. 2, 4b Als 2 Jhwh-Gott3 Erde und Himmel machte   5 – das ganze Gesträuch des Feldes war noch nicht auf der Erde, und das ganze Kraut des Feldes sprosste noch nicht, denn Jhwh-Gott hatte es nicht regnen lassen auf die Erde und ein Mensch war nicht, um den Ackerboden zu bestellen,   6 wobei ein Wasserstrom aus der Erde emporquellte und die ganze Oberfläche des Erdbodens tränkte –,   7 da formte Jhwh-Gott den Menschen aus Staub von dem Ackerboden 4, und er blies Lebensodem in seine Nase, so wurde der Mensch ein lebendiges Wesen. 8  Und Jhwh-Gott pflanzte einen Garten in Eden in der Urzeit im fernen Osten5, und dort setzte er den Menschen hinein, den er geformt hatte.   9 Und Jhwh-Gott ließ sprießen vom Ackerboden jeglichen Baum, verlockend anzuschauen und gut zu essen, und den Baum des Lebens inmitten des Gartens und den Baum der Erkenntnis von gut und schlecht   6. 10 Und ein Strom geht aus von Eden, um den Garten zu tränken, von dort teilt er sich und wird zu vier neuen Flüssen.   11 Der Name des einen lautet Pischon, das ist der, der das ganze Land Ḥawila umfließt, wo das Gold ist.  12 Und das Gold dieses Landes, es ist gut. Dort gibt es Bedolachharz und Schohamstein.   13  Und der Name des zweiten Flusses lautet Giḥon, das ist der, der das ganze Land Kusch umfließt.   14 Und der Name des dritten Flusses lautet Ḥiddekel (Tigris), das ist der, der östlich von Assur verläuft. Und der vierte Fluss, das ist der Perat (Euphrat).

1  Die  LXX liest Αἱτη ἡ βίβλος γενέσεως („Dies ist das Buch der Entstehung“) und hat damit dem ersten Buch der Bibel den in der Wissenschaft gebräuchlichen Namen Genesis gegeben, wobei das griechische Substantiv γένεσις das Entstehen der Welt oder des Menschen bezeichnet, während das hebr. tōl edōt der Vorlage „Familiengeschichte“, „Stammbaum“, „Genealogie“ oder auch „Erzeugnisse“ bedeutet. Die Zufügung ἡ βίβλος stammt aus Gen  5, 1 (sēpær tōl edōt  ) und belegt, dass die LXX in Übereinstimmung mit dem Stand der heutigen Forschung in V. 4a eine Überschrift und keine Unterschrift erkannt hat (s.  u. zur Auslegung). Die Übersetzung „Entstehungsgeschichte“ für tōl edōt wurde mit Blick auf die Anwendung des Ausdrucks auf die gesamte Schöpfung gewählt. 2  Zur temporalen Übersetzung von b e-yōm s. die Auslegung. 3  Elohim/Gott ist grammatikalisch am besten als Apposition zu Jhwh zu verstehen, wobei der Gattungsbegriff wie in Gen 1, 1–2 , 3 wie ein Eigenname gebraucht wird und deshalb keinen Artikel trägt: „Jhwh-Elohim“ oder „Jhwh-Gott“. 4  Vgl. GK §  117 hh. 5  Zur Übersetzung von miq-qǣdæm mit „in der Urzeit im fernen Osten“ vgl. die Auslegung. 6  Zur Übersetzung von ra ʿ „böse/schlecht“ bzw. „das Böse/Schlechte“ vgl. die Auslegung. Die redaktionsgeschichtliche Einordnung von V. 9bβ ist unsicher. S.  u. S. 108.

Die Paradieserzählung

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15  Da nahm Jhwh-Gott den Menschen und er setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn7 bestellt und bewacht.   16 Und Jhwh-Gott gebot dem Menschen folgendes: Du darfst durchaus von allen Bäumen des Gartens essen,   17 aber vom Baum der Erkenntnis von gut und schlecht – von ihm darfst du nicht essen, denn sobald du von ihm isst, musst du unweigerlich sterben. 18  Da sagte Jhwh-Gott: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.  19  Da formte Jhwh-Gott aus dem Ackerboden jegliches Getier des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte (es) dem Menschen, um zu sehen, wie er jedes einzelne 8 benennen würde, und so, wie es der Mensch als lebendes Wesen 9 benennen würde, sollte es heißen.   20 Und der Mensch benannte mit Namen das ganze Vieh und die Vögel des Himmels und alles Getier des Feldes, aber für den Menschen10  fand sich keine Hilfe, die ihm entsprochen hätte.   21 Da ließ Jhwh-Gott einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, dass er einschlief, dann nahm er eine von seinen Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch.   22 Und Jhwh-Gott baute die Rippe, die er von dem Menschen genommen hatte, zu einer Frau. Und er führte sie zu dem Menschen.   23 Da sagte der Mensch: Diese ist endlich Bein von meinem Bein, und Fleisch von meinem Fleisch; diese soll Frau genannt werden, denn vom Mann ist diese genommen.11   24 Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und er wird seiner Frau anhangen und sie werden zu einem

7  Die Femininsuffixe der Verben „bestellen“ und „bewachen“ beziehen sich auf das mask. gan „Garten“, das in Verbindung mit Eden als femininer Ortsname „Garten Eden“ aufgefasst wird. Vgl. HS §  16g; B. Jacobs-Hornig, Art. „gan“, ThWAT II (1977 ) 35 –  41, 39. 8  Das auf die ganze Reihe bezogene Singularsuffix in lō hat distributive Funktion. Vgl. GK §  124s. 9  Die LXX versteht nǣpæš ḥayyā als Apposition zu lō: „ganz wie der Mensch es (lō ) nennt, nämlich (jedes) lebendige Wesen (nǣpæš ḥayyā ), so soll es heißen“ (καὶ πᾶν, ὃ ἐὰν ἐκάλεσεν αὐτὸ Αδαμ ψυχὴν ζῶσαν, τοῦτο ὄνομα αὐτοῦ). Von der Wortstellung liegt das hier gewählte Verständnis von nǣpæš ḥayyā als adverbieller Akkusativ zu hā- ʾādām näher. Möglicherweise handelt es sich um eine in den Text geratene Randglosse. Zur Diskussion vgl. Schellenberg, Mensch, 298 –303; Bührer, Anfang, 222 –224. 10  MT: „für Adam“. In der Paradieserzählung ist das hebr. ’ādām mit Ausnahme von Gen 2 , 20b; 3, 17. 21 (jeweils mit Präp. l e) durchgängig durch den Artikel determiniert und daher eindeutig als Gattungsbezeichnung „Mensch“ und nicht als Eigenname „Adam“ zu verstehen. Die in Gen 2 , 20; 3, 17. 21 nur durch die masoretische Vokalisation angezeigte und in der Paradieserzählung auch nur an diesen drei Stellen ohne Eingriff in den Konsonantentext mögliche Lesung als Eigenname entspricht einer in der LXX und in den Targumim zu beobachtenden Tendenz, den Gattungsbegriff „Mensch“ (’ādām, ἄνθρωπος, ’ænāš  ) durch die Lesung als Eigennamen „Adam“ (vgl. Gen 5, 1–5 [P]) zu individualisieren. Im Hintergrund steht eine „Gesamtschau“ von Gen 1–3. Danach wird in Gen  1, 26 f die Erschaffung der Gattung Mensch berichtet, während die Para­ dieserzählung vom Schicksal des ersten Menschenpaares „Adam und Eva“ berichtet. Die LXX wählt für den Übergang von der Gattung zum Individuum die erste Anrede des Menschen durch Gott (Gen 2 , 16). Gegen diese jüngere Tendenz der Auslegungsgeschichte dürfte der Konsonantentext in Gen  2 , 20; 3, 17. 21 in Übereinstimmung mit den restlichen Belegen für ʿādām in der Paradieserzählung als Gattungsbezeichnung aufzufassen sein. 11  Kongenial ist Luthers Wiedergabe des hebräischen Wortspiels „Frau (’iššā ) – Mann (’īš )“: „Man wird sie Mennin heissen, darumb das sie vom Manne genomen ist.“ Leichter als im Deutschen lässt sich das Wortspiel im Englischen nachahmen: „woman – wife of man“.

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Genesis 2, 4  –3, 24

Fleisch.   25 Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und sie beschämten12 einander nicht. 3, 1  Aber die Schlange war klüger als alles Getier des Feldes, das Jhwh-Gott gemacht hatte, und sie sprach zu der Frau: Sollte13 Gott wirklich gesagt haben, dass ihr von keinem14 der Bäume des Gartens essen dürft?   2  Da sagte die Frau zu der Schlange: Wir dürfen von den Früchten der Bäume des Gartens essen,  3  nur von der Frucht des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Ihr dürft nicht davon essen und sie auch nicht anrühren, dass ihr nicht sterbt!   4 Da sagte die Schlange zu der Frau: Ihr werdet mitnichten sterben!   5 Vielmehr weiß Gott sehr wohl, dass, sobald ihr davon esst, eure Augen aufgehen werden und ihr wie Gott sein werdet, wissend um gut und schlecht.   6 Da sah die Frau, dass der Baum gut war als Speise und er eine Lust war für die Augen und dass der Baum verlockend war, um Einsicht zu erlangen15; da nahm sie von seiner Frucht und aß und sie gab auch ihrem Mann neben ihr und er aß.   7 Da gingen den beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Da flochten sie Laub vom Feigenbaum zusammen und machten für sich Schurze.   8 Als sie das Geräusch von Jhwh-Gott hörten, wie er beim Abendwind im Garten wandelte, da versteckten sich der Mensch und seine Frau vor Jhwh-Gott inmitten der Bäume des Gartens. 9 Da rief Jhwh-Gott den Menschen und er sagte zu ihm: Wo bist du?   10 Da sagte er: Ich habe ein Geräusch von dir gehört im Garten, da fürchtete ich mich, weil ich nackt bin, und versteckte mich.   11 Da sagte er: Wer hat dir eröffnet, dass du nackt bist? Hast du etwa von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe?   12 Da sagte der Mensch: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben, da habe ich gegessen.  13  Da sagte Jhwh-Gott zu der Frau: Was hast du getan? Da sagte die Frau: Die Schlange hat mich verführt, da habe ich gegessen. 14 Da sagte Jhwh-Gott zu der Schlange: Weil du dies getan hast, verflucht bist du fort von allem Vieh und von allem Getier des Feldes; auf deinem Bauch sollst du kriechen und Staub sollst du fressen alle Tage deines Lebens.   15 Und Feindschaft will ich stiften zwischen dir und der Frau und zwischen deiner Nachkommenschaft und ihrer Nachkommenschaft; sie wird dir nach dem Kopf treten, und du wirst ihr nach der Ferse schnappen. 16 Zu16 der Frau sagte er: Ich will grenzenlos17 machen deine Mühsal, vor allem18 während deiner Schwangerschaft; unter Schmerzen sollst du Kinder gebären, und nach deinem Manne soll dein Verlangen sein, er aber soll über dich herrschen! 12  Das Hitpolel von bōš „schämen“ ist gleichermaßen faktitiv wie reziprok. Vgl. J.M. Sasson, w  elō  ’ yitbōšāšû (Gen  2 , 25) and Its Implications, Bib  66 (1985) 418 –  421, 420. Anders A. Grund, „Und sie schämten sich nicht …“ (Genesis  2 , 25), in: M. Bauks u.  a. (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8, 5) (FS B. Janowski), Neukirchen-Vluyn 2008, 115 –122 , 118. 13  Statt ’ap ist ha-’ap zu lesen (vgl. 4 QGenk [DJD XII, 78]). Auch wenn MT als lectio difficilior beibehalten wird, handelt es sich um eine rhetorische Frage. 14  Vgl. GK §  152b. 15  Vgl. Müller, Parallelen, 167 Anm. 2 . 16  Sam, TN, LXX, Pesch und Vulg schließen V. 16 (vgl. V. 17 ) mit einer Kopula an den vorangehenden Strafspruch an. Trotz der guten Bezeugung wird MT als lectio difficilior beizubehalten sein. 17  Betonung „zahlreich“ durch Inf. abs. Vgl. GK §  113n. 18  Vgl. GK §  154 a Anm. 1b.

Die Paradieserzählung

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17 Und zum Menschen19 sagte er: Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört hast und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir geboten hatte, du darfst nicht von ihm essen – verflucht ist der Ackerboden um deinetwillen, unter Mühsal sollst du von ihm essen alle Tage deines Lebens.   18 Und Dornstrauch und Gestrüpp soll er dir sprossen lassen, und du sollst das Kraut des Feldes essen.   19a Im Schweiße deines Angesichts sollst du Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden, denn von ihm bist du genommen,   19b denn Staub bist du und zum Staub sollst du zurückkehren. 20  Da nannte der Mensch den Namen seiner Frau Ḥawwā (Eva), denn sie wurde die Mutter aller Lebenden.   21 Da machte Jhwh-Gott  für den Menschen20 und seine Frau Kleidung aus Fell und er bekleidete sie.   22 Und Jhwh-Gott sagte: Sieh! Der Mensch ist wie einer von uns geworden, dass er gut und schlecht erkennt; jetzt aber, dass er nicht seine Hand ausstreckt und auch noch vom Baum des Lebens nimmt und isst und ewig lebt!   23 Und Jhwh-Gott schickte ihn aus dem Garten Eden, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war.   24 Und er vertrieb den Menschen, und er ließ die Cheruben und die Flamme des zuckenden Schwertes östlich vom Garten Eden wohnen, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen. Analyse: Die Paradieserzählung geht im Wesentlichen auf den weisheitlichen Erzähler (mit kleineren Fortschreibungen in Gen  2 , 5bα. 19b*) zurück. Redaktion: Gen  2 , 4a; Erweiterung des Gottesnamens „Jhwh“ zu Jhwh-Gott (vgl. Gen  2 , 4b u. ö.) sowie Angleichungen an Gen 1, 1–2 , 3 in 2 , 20*[das ganze Vieh und]; 3, 14*[von allem Vieh und]. In das weitere Umfeld der Redaktion gehören vermutlich auch die Paradiesgeographie und die Erweiterung um das Motiv vom Lebensbaum: Gen  2 , 7aα*[Staub]. 9(b*?). 10 –15; 3, 19b. 22 . 23a*[Eden]. 24.

Die Paradieserzählung des weisheitlichen Erzählers, der zweiten Haupt- Kontext stimme in der biblischen Urgeschichte,21 gehört zu den bekanntesten und wirkmächtigsten Texten der Weltliteratur.22 Dass nach dem kaum weniger einflussreichen Schöpfungsbericht der Priesterschrift ein anderer Verfasser zu Wort kommt, zeigt neben der gänzlich unterschiedlichen Erzählweise eine Reihe von sachlichen Unstimmigkeiten zwischen Gen 1, 1–2, 3 und 2, 4  –3, 24. Beide Texte thematisieren jeweils Gottes Schöpfungshandeln, widersprechen sich aber in Gesamtszenerie und Abfolge. Gen 1, 1–2, 3 beschreibt den Ur- und Vorzustand der Welt mit dem Bild einer überschwemmten Ebene, aus der die Erdscheibe auftaucht, auf der die Vegetation zu sprossen beginnt und die nach und nach bevölkert wird, erst durch die Tiere und dann durch den Menschen. So erschafft Gott den Menschen zum Abschluss der Schöpfungswerke, und zwar wie die Tiere von Anfang an als weibliche MT: zu Adam; s.  o. Anm. 10 zu 2 , 20. MT: für Adam; s.  o. Anm. 10 zu 2 , 20. 21  Vgl. hierzu die Einleitung. 22  Für einen Überblick vgl. H.N. Wallace/S.N. Bunta/G.A. Anderson/B. McGinn/G. Nickel/ A. Swindell/L.M. Jefferson/N.H. Peterson/S. Brent, Art. „Adam and Eve, Story of“, EBR  1 (2009) 341–365, sowie C. Böttrich/B. Ego/F. Eißler, Adam und Eva in Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2011. 19  20 

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Genesis 2, 4  –3, 24

und männliche Exemplare einer Gattung. Dagegen gleicht die Welt nach Gen  2, 4  –3, 24 in ihrem Ur- und Vorzustand einer ausgetrockneten Steppe. Erst nachdem der Boden benetzt ist, formt Jhwh-Gott aus der Ackerkrume einen Menschen. Für diesen einen Menschen wird dann ein Garten angelegt und die Tierwelt ins Leben gerufen. Es folgt, deutlich später, die Erschaffung der Frau. Auch lässt sich gegen den ersten Leseeindruck das hebräische b eyōm (wörtlich „am Tag“) im Auftakt von Gen  2, 4b nicht mit dem sechsten Tag des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts, dem Tag der Erschaffung des Menschen (Gen  1, 26 ff; vgl. 5, 1), identifizieren. Die Zeitangabe bezieht sich auf den das Ganze der Schöpfung umschreibenden Merismus „Erde und Himmel“ (vgl. Gen 1, 1). Wie andernorts im Alten Testament (Ex 6, 28; Num  3, 1; Jes  11, 16; Ez  28, 13) und vergleichbar mit mesopotamischen Erzählanfängen (EnEl I, 1) markiert be-yōm hier lediglich einen zeitlichen Anfang, jedoch kein konkretes Datum („Als Jhwh-Gott …).23 Zu den sachlichen Differenzen treten terminologische Abweichungen, etwa in der Bezeichnung Gottes. Die Priesterschrift gebraucht den Gattungsbegriff ʾælōhīm („Gott“ oder „Götterwesen“). In der Paradieserzählung wird dieser mit dem Eigennamen Jhwh zu Jhwh-Gott kombiniert. Die aus den sprachlichen und sachlichen Eigenheiten der beiden Texte resultierenden Spannungen innerhalb des vorliegenden Textzusammenhangs betreffen gerade auch Nebenzüge und wirken insgesamt nicht so, als seien sie von einer Bearbeitung aus Nachlässigkeit oder mit einer bestimmten Intention formuliert worden. Dieser Befund lässt sich kaum anders auswerten, als dass in Gen 1–3 zwei ehedem unabhängig voneinander überlieferte und erst redaktionell miteinander verbundene Texte vorliegen. Gegenüber neueren wie älteren Bestreitungen eines Zweiquellenmodells ist also festzuhalten:24 Gen  1, 1–2, 3 ist keine vorangestellte priesterliche Bearbeitung der Paradieserzählung. Ebenso wenig handelt es sich bei Gen 2, 4  –3, 24 um eine nachpriesterschriftliche Reflexion, die aus einer spätweisheitlichen Perspektive die optimistische Sicht des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts („Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe es war sehr gut.“; Gen 1, 31) korrigiert und erklärt, weshalb die gute Schöpfung so verderbt werden konnte, dass Gott sich genötigt sah, sie der Sintflut auszusetzen und vor den Abgrund des uranfänglichen Chaos zu stellen. Entstehung Die Verbindung des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts mit der Pa-

radieserzählung des weisheitlichen Erzählers erfolgt durch die redaktionelle Toledotformel in Gen 2, 4a, mit der das wichtigste Gliederungsmerkmal der Priesterschrift aufgegriffen und auf den vorliegenden Textzusammenhang übertragen wird. Auf dieselbe Redaktion oder spätere Harmonisierungsbemühungen gehen vermutlich noch einige an den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht erinnernde Formulierungen zurück. Hierzu gehören die 23  24 

Vgl. Westermann, 270. Zur Diskussion vgl. Gertz, Adam, und die dort genannten Opponenten.

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Erweiterung des Tetragramms zu Jhwh-Gott und (vermutlich25) die zweigliedrige Aufzählung um „das ganze Vieh und“ (l e-kål/mik-kål hab-behēmā ū-) in Gen  2, 20; 3, 14. Ob dies wegen des in der priesterschriftlichen Urgeschichte wichtigen Ausdrucks „lebendiges Wesen“ (nǣpæš ḥayyā ) auch für Gen 2, 7b zutrifft, bleibt ungewiss. In Gen 2, 19 scheint der Ausdruck nǣpæš ḥayyā nachgetragen zu sein, doch ist die Absicht hinter dieser Erweiterung unklar, weswegen sie redaktionsgeschichtlich kaum einzuordnen ist. Auch unter Absehung von Gen  2, 4a und den damit zusammenhängenden Bearbeitungsspuren ist die literarische und überlieferungsgeschichtliche Einheitlichkeit der Paradieserzählung wiederholt bestritten worden. Angesichts der Vielzahl der unterschiedlichen Vorschläge zur Schichtung von Gen 2, 4b–3, 24* geraten die literarische Qualität und das kunstvolle Arrangement der Endgestalt leicht in Vergessenheit. Unbeschadet einer Fülle an assoziationsreichen Motiven und einer facettenreichen Entfaltung ihres Anliegens ist die Disposition der Paradieserzählung nämlich wünschenswert klar. Diese orientiert sich am letzten und somit besonders betonten Glied der Schilderung der im Werden begriffenen Welt in Gen  2, 5: Es gab noch keinen Menschen (V. 5bβ), den Ackerboden zu bestellen (V. 5bγ). Nach den Regeln (nicht nur) der althebräischen Erzählkunst ist zu erwarten, dass am Ende genau dieser unwirkliche Zustand aufgehoben sein wird, wozu die Erzählung die begründende Herleitung für die Herkunft des Menschen ( ʾādām) aus dem Ackerboden ( ʾadāmā ) und sein Gewiesensein an den Ackerboden liefert. Und in der Tat stellt Gen  3, 23 fest, dass der inzwischen aus dem Ackerboden erschaffene Mensch auszieht, diesen zu bestellen. Darüber hinaus gibt das letzte Glied der Vorweltschilderung in Gen  2, 5 auch die Binnengliederung der Paradieserzählung vor, insofern es zunächst um die Erschaffung des Menschen (V. 5bβ: 2, 7–25) und dann um die Genese seiner Bestimmung zur Feldarbeit (V. 5bγ: 3, 1–24) geht. Die Ausführungen zur Erschaffung des Menschen und seiner (bäuerlichen) Umwelt im ersten Teil der Paradieserzählung setzen mit der Formung des einen Menschen aus dem Ackerboden ein (Gen  2, 7 ) und führen über mancherlei Umwege zur Hervorbringung der Frau (Gen  2, 21 f ). Erst mit ihr ist der Mensch komplett (vgl. Gen  2, 18). Entsprechend endet der erste Teil der Paradieserzählung mit dem Jubelruf des Menschenmannes ( ʾādām) über diesen erfolgreichen Abschluss der Menschenschöpfung (Gen  2, 23) und einem ätiologischen Ausgriff auf das Verhältnis von Mann und Frau (Gen 2, 24 f ). Der Beginn des zweiten Teils der Paradieserzählung wird durch die betonte und ausführliche Einführung der Schlange markiert (Gen  3, 1). 25  In  2 , 20 ist die Erwähnung des in V. 19 nicht erwähnten Viehs durchaus stimmig (s.   u. zur Auslegung des Verses). Anders verhält es sich mit 3, 14. Die Schlange wird in 3, 1 den Tieren des Feldes zugeordnet. Der Fluch in 3, 14 verstößt sie aus dieser Gemeinschaft. Die an dieser Stelle unsachgemäße und in stilistischer Hinsicht schwierige Erwähnung des Viehs wird daher mit einiger Sicherheit auf eine redaktionelle Hand zurückgehen, die von Gen  1 angeregt ist und der man auch die sich besser in den Kontext einfügende Erwähnung des Viehs in 2 , 20 zuschreiben möchte.

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Ihr Auftreten eröffnet einen Handlungsbogen, der bis zur Verfluchung des Ackers um des Menschen willen reicht. Am Ende stehen die Ankündigung der Rückkehr des Menschen zum Ackerboden nach einem harten und arbeitsreichen Leben (Gen  3, 19) sowie seine umgehende Entlassung aus dem Garten zur Feldarbeit (Gen 3, 23). Mit dieser gegenläufigen Aufnahme der Wesensbestimmung und der stofflichen Herkunft des Menschen aus Gen 2, 5. 7 („um den Ackerboden zu bestellen, von dem er genommen war“) schließt der zweite Teil der Paradieserzählung – Gen 2, 15 erwähnt zwar, dass der Mensch den Garten (  !  ) bestellen und bewachen soll, doch ist diese Notiz nicht das von V. 5 anvisierte Ende, da hier die Korrespondenz von Mensch und Ackerboden gerade nicht angesprochen ist.26 Beide Teile der Paradieserzählung sind durch ein ganzes Geflecht von Querbezügen aufeinander bezogen, unter denen die Motive der Nacktheit des Menschen und der Bäume des Gartens besonders herausragen: Beschließt die unbelastet-ahnungslose Nacktheit des ersten Menschenpaares den ersten Teil der Paradieserzählung (Gen  2, 25), so verkehrt sich dieses Motiv im zweiten Teil in ihr Gegenteil, wenn sich das erste Menschenpaar nach dem Genuss der verbotenen Frucht seiner Nacktheit bewusst wird, sich schämt und fortan der Kleidung bedarf (Gen  3, 7. 21). Zudem kündigt sich in Wortklang und Konsonantenfolge des Stichworts „nackt“ (pl. ʿarummīm von ʿārōm) in Gen 2, 25 die unmittelbar folgende Charakterisierung der Schlange als „klug“ ( ʿārūm) an, wie sie ihrerseits in dem folgenschweren Dialog zwischen Schlange und Frau zum Tragen kommt. Da sich die durch die Klugheit der Schlange provozierte Erkenntnisfähigkeit des Menschen erstmals in dem Wissen um die eigene Nacktheit äußert, klingt in der knappen Charakterisierung der Schlange als „klug“ ( ʿārūm) gleichsam das Folgende an. Ganz ähnlich markiert das Motiv der Bäume des Gartens die Spannungs- und Wendepunkte der Erzählung. Auf die anfängliche Anlage eines Baumgartens (Gen 2, 8 f ) folgen zunächst die grundsätzliche Freigabe der Früchte der Bäume zum Verzehr sowie das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2, 16 f ). Schon die Formulierung dieses Verbots lässt erahnen, dass durch seine Übertretung die entscheidende Wende eintreten wird. Entsprechend ausführlich werden im zweiten Teil der Paradieserzählung die Übertretung des Verbots und ihre Folgen berichtet (Gen 3, 1–24). Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, wird nur mitgeteilt, um von seiner Übertretung zu berichten.27 Diese setzt ihrerseits die Formulierung des Verbots zwingend voraus. Insofern können die beiden Teile der Paradieserzählung – Schöpfung des Menschen und seiner Umwelt in Gen 2 einerseits und die Übertretung des göttlichen Verbots und Vertreibung des Menschen aus dem Garten in Gen  3 andererseits – nur um den Preis einer völligen Neubestimmung ihrer Aussagen entstehungsgeschichtlich voneinander gesondert werden. Prominent ist in dieser Hinsicht die redaktions26  27 

Spieckermann, Ambivalenzen, 52 . Levin, Jahwist, 85  f.

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oder überlieferungsgeschichtliche Unterscheidung einer älteren Erzählung von der Erschaffung des Menschen und einer jüngeren, sich daran anschließenden sündentheologischen Bearbeitung in Gen 2 –  4.28 Zu dieser Bearbeitungsschicht werden neben der Erzählung vom „Sündenfall“ in Gen 3 auch alle Vorverweise auf Gen  3 in Gen  2 gezählt. Begründet wird diese These vor allem mit einer wechselhaften Grundstimmung in der Paradieserzählung. Auf der einen Seite werde die Erschaffung des Menschen ebenso wie seine anfänglichen Kulturleistungen durchweg positiv beschrieben. Auf der anderen Seite verrechne die Paradieserzählung wie die anschließende Episode von Kain, Abel und den Nachkommen Kains den kulturellen Fortschritt mit einer zunehmenden Entfernung von Jhwh-Gott, die ihrerseits in der ersten Sünde des Menschen und der dadurch bedingten Vertreibung aus dem Paradies gründe. Diese Ambivalenz wird als Hinweis auf eine mehrstufige Entstehungsgeschichte bewertet, insofern eine ursprüngliche Anthropogonie von ihrer sündentheologischen Bearbeitung innerhalb der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte unterschieden wird. Dies wird durch die Annahme untermauert, dass die nach den Strafsprüchen in Gen 3, 14  –19 als unpassend empfundene positive Benennung der Frau als Mutter alles Lebenden (Gen 3, 20) ursprünglich unmittelbar auf die Erschaffung der Frau (Gen 2, 22 f ) gefolgt sei, was die dazwischenliegende Erzählung von der Übertretung des göttlichen Verbots und ihren Folgen als Einschub ausweise. Doch im Vorgriff auf die Auslegung ist Folgendes festzuhalten: Das postulierte unmittelbare Nebeneinander der beiden Benennungen der Frau in Gen  2, 23 und 3, 20 stellt schwerlich den ursprünglichen Textverlauf dar und ist kaum passender als die Positionierung von Gen  3, 20 im vorliegenden Textzusammenhang. Das Neben- und Nacheinander der beiden Benennungen der Frau als Frau ( ʾiššā; Gen  2, 23) und als Eva, die Mutter alles Lebenden (ḥawwā; Gen  3, 20), erregt innerhalb desselben Textes nur dann keinen Anstoß, wenn sich dazwischen eine grundlegende Veränderung für die Frau (und den Mann) vollzogen hat. Und genau davon handelt die Erzählung von der Übertretung des göttlichen Verbots und ihren Folgen. In den Strafsprüchen mindert JhwhGott das Dasein der Frau, sodass das Begehren einseitig der Frau zufällt, der Mann über die Frau herrschen soll und die Reproduktion des Lebens mit Schmerzen und Gefahr verbunden ist (Gen  3, 16 f ), was mit der Namensgebung durch den Mann in Gen  3, 20 zur Wirklichkeit wird. Anders als in der postulierten Grundschicht steht die nochmalige Benennung der Frau 28  Vgl. Levin, Jahwist, 82 –102 , im Rückgriff auf entsprechende überlieferungsgeschichtliche Differenzierungen bei P. Humbert, Études sur le récit du paradis et de la chute dans la Genèse, MUN  14, Neuchâtel 1940. Zu der im Detail dann wieder sehr unterschiedlich verlaufenden Rezeption dieses Vorschlags vgl. Kratz, Komposition, 254  –256; für eine spätweisheitliche Prägung der Redaktion vgl. Witte, Urgeschichte, sowie Spieckermann, Ambivalenzen. Eine „antiweisheitlich“ überarbeitete „Early Creation Narrative“ in 2 , 4b–24* erkennt D.M. Carr, The Politics of Textual Subversion. A Diachronic Perspective on the Garden of the Eden Story, JBL 112 (1993) 577–595. Eine tabellarische Übersicht bietet Blum, Gottesunmittelbarkeit, 27.

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im vorliegenden Textzusammenhang also an ihrem passenden Ort.29 Was schließlich die beobachtete Ambivalenz der Paradieserzählung anbelangt, so liefert sie kaum einen hinreichenden Grund für die entstehungsgeschichtliche Unterscheidung zwischen einer positiv gestimmten Anthropogonie und ihrer pessimistisch gestimmten sündentheologischen Bearbeitung. Die isolierte Anthropogonie wäre ohnehin keine selbsttragende Einheit und hätte zudem keine Analogie innerhalb der bekannten Literaturwerke des alten Vorderen Orients, in denen die Erschaffung des Menschen nie als eigenständiges Thema begegnet. Eingedenk des gleichermaßen kunstvollen wie geschlossenen Aufbaus der Paradieserzählung dürfte die geschilderte Ambivalenz, wie in anderen antiken Literaturwerken auch, von vornherein intendiert sein: Die ambivalente Daseinserfahrung des Menschen ist der eigentliche Inhalt der Paradieserzählung und der beanstandete Wechsel der Grundstimmung das urgeschichtliche Mittel, diese Erfahrung begründend herzuleiten. Schwieriger zu entscheiden ist die vieldiskutierte Frage, ob der Baum der Erkenntnis des Guten und des Schlechten und der Baum des Lebens gleichursprünglich sind. Obwohl prominent am Anfang (Gen  2, 9) und Ende der Erzählung (Gen 3, 22. 24) positioniert, spielt der Baum des Lebens im Handlungsablauf der Paradieserzählung nur eine Nebenrolle, sodass die Rezeptionsgeschichte sogar dazu neigt, beide Bäume gleichzusetzen (vgl. Michelangelos Darstellung in der Sixtinischen Kapelle; auch im Koran ist nur von einem Baum die Rede, vgl. Sure 2, 35; 7, 19  f. 22). Symptomatisch ist das Gespräch zwischen der Schlange und der Frau in Gen  3, 1–5: Dem Wortlaut nach wissen beide nur von einem bestimmten Baum in der Mitte des Gartens (Gen  3, 3 „der Baum [hā- ʿēṣ], in der Mitte des Gartens“), wobei es sich nach dem Kontext nur um den Baum der Erkenntnis handeln kann (Gen  3, 5. 7. 11). Zudem gilt das in Gen  2, 9b geschilderte Nebeneinander von Lebensund Erkenntnisbaum in der Mitte des Gartens gemeinhin als syntaktisch wie inhaltlich schwierig. Doch diese Beobachtungen sollten nicht überbewertet werden. Im vorliegenden Textzusammenhang gewinnt die Verführungsszene aufgrund des unterschiedlichen Kenntnisstandes von den Akteuren einerseits und den Lesern und Leserinnen andererseits eine besondere Spannung. Was Gen  2, 9b anbelangt, so lässt die in syntaktischer Hinsicht nicht zu beanstandende Formulierung genügend Raum für beide Bäume.30 Gleichwohl gibt es Indizien dafür, dass der Baum des Lebens eine spätere Zutat zur Paradieserzählung ist: Der Baum des Lebens steht in einem entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit der weithin als Nachtrag beurteilten PaGertz, Adam, 232  f. Vgl. Gese, Lebensbaum, 78 mit Anm. 4, und zuletzt A. Michel, Theologie aus der Peripherie. Die gespaltene Koordination im Biblischen Hebräisch, BZAW  257, Berlin 1997, 1–22: Der Lokativ b e-tōk hag-gān „inmitten des Gartens“ bezieht sich auf beide Bäume und steht regelkonform zwischen den koordinierten Objekten (hier: die beiden Bäume), und zwar nach dem hinsichtlich der Wortlänge kürzeren von beiden. 29  30 

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radiesgeographie in Gen  2, 10 –15 und der davon nicht zu trennenden Vertreibungsnotiz in Gen  3, 24. Dieser Vers ist vermutlich eine nachträgliche Verschärfung der Entlassungsnotiz in Gen  3, 23 (s.  u. zu Gen  2, 9 –17 und 3, 22 –24). Sodann hat das mit dem Baum des Lebens zusammenhängende Motiv der Sterblichkeit des Menschen zu einer recht offensichtlichen Erweiterung in Gen  2, 7 geführt, wo das Wörtchen „Staub“ ( ʿāpār) den klaren Aufbau des Verses ein wenig in Unordnung bringt (s.  u. zu Gen  2, 7; 3, 19). Vergleichbares lässt sich für den Rückverweis auf das Wörtchen Staub aus Gen  2, 7 in Gen  3, 19b beobachten. Auffällig ist ferner, dass der Baum der Erkenntnis nur bei der Einführung der beiden Bäume in der Mitte des Gartens und bei der Formulierung des göttlichen Gebots explizit als solcher bezeichnet wird (Gen  2, 9b. 17 ), während sich alle anderen Referenzen auf diesen Baum darauf beschränken, ihn als den einen Baum zu bezeichnen, der sich von allen anderen Bäumen des Gartens unterscheidet. Dies gilt auch für den Rückverweis auf das Verbot in Gen  3, 11 („der Baum, von dem ich dir befohlen habe“). Letzteres könnte dafür sprechen, dass auch in Gen  2, 17 ursprünglich schlicht vom Baum in der Mitte des Gartens die Rede gewesen ist, dessen Geheimnis erst von der Schlange in Gen 3, 5 gelüftet worden ist. Die Änderung wäre erfolgt, weil durch die Hinzufügung des Lebensbaumes die Verhältnisse uneindeutig geworden sind.31 Ganz auf dieser Linie liegt eine noch spätere Harmonisierung im Samaritanus, der in Gen  3, 3 bei der ersten Erwähnung des Baumes im Gespräch zwischen Schlange und Frau das „der Baum in der Mitte des Gartens“ zu „dieser Baum in der Mitte des Gartens“ ergänzt und so den Eindruck erweckt, als würde die Frau auf den Baum zeigen und so für die ganze Szene die gewünschte Eindeutigkeit herstellen. Schließlich ist in Rechnung zu stellen, dass die beiden Bäume einen gemeinsamen traditionsgeschichtlichen Ursprung haben, und zwar die im gesamten alten Vorderen Orient verbreitete Vorstellung vom Weltenbaum.32 Diese wurde in der Konzeption vom Baum der Erkenntnis und vom Baum des Lebens in jeweils recht unterschiedlicher Weise aufgenommen. Eine Verdoppelung des Baummotivs und seine damit verbundene zweifache Neuformulierung in einem Zuge ist jedoch recht unwahrscheinlich. Die Erwähnung des Lebensbaums, die im vorliegenden Textzusammenhang unbeschadet einiger inhaltlicher Leerstellen durchaus stimmig ist, gehört demnach mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einer Gen  2, 9(b*?). 10 –15; 3, 19b. 22. 24 sowie das Wort „Staub“ in 2, 7 umfassenden Bearbeitung. Eventuell hat diese Bearbeitung den verbotenen Baum in Gen  2, 17 explizit als Baum der Erkenntnis von gut und schlecht identifiziert, um ihn eindeutig vom Baum des Lebens zu unterscheiden. Diese beinahe midraschartige Kommentierung fragt nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Urstandes und trägt so eine vertiefte Reflexion über die Sterblichkeit des Menschen in die Paradieserzählung ein. Zugleich korreliert sie symbolisch-geographisch das „Para31  32 

Vgl. Gese, Lebensbaum, 77 f, und Witte, Urgeschichte, 81. Vgl. Pfeiffer, Baum II, 4  –7.

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dies“ mit dem Jerusalemer Tempel und verschränkt so die mythische Urzeit mit der gegenwärtigen Erfahrungswelt der ursprünglichen Adressaten (s.  u. zu Gen 2, 10 –14; 3, 24). Schließlich sind die begründende Notiz „denn Jhwh-Gott hatte es noch nicht regnen lassen auf die Erde“ (Gen  2, 5bα) und die Identifizierung des Gartens als Garten Eden in der ursprünglichen Schlussnotiz (Gen  3, 23) nachgetragen. Die rationalisierende Erklärung der Verhältnisse der Welt im Werden unterbricht die syntaktische Struktur der drei Nominalsätze in Gen  2, 5 und nennt das Subjekt Jhwh-Gott schon vor dem Beginn der eigentlichen Handlung. Eine genaue Zuordnung dieses Nachtrags bleibt schwierig. Die Identifizierung des Gartens als Garten Eden hängt mit der Paradiesgeographie (vgl. Gen  2, 10. 15) zusammen, ursprünglich war nur von einem Garten in Eden (Gen  2, 8) oder schlicht vom Garten die Rede (Gen 2, 16 u. ö.). Gattung Die Paradieserzählung gehört zu den in allen Literaturen des alten Vorderen

Orients belegten Mythen vom Uranfang. Diese Mythen sind „traditionelle Erzählungen von einem Ursprungsgeschehen, das gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung erschließt“33. Grundlegend für das Verständnis derartiger Mythen vom Uranfang ist die Einsicht, dass sie von ihrem Ausgang, der gegenwärtigen Wirklichkeitserfahrung, her zu lesen sind: „Indem sie erzähl[en], wie alles wurde, tu[n] sie kund, wie alles ist.“34 In diesem Anliegen handelt es sich mitnichten um naive Historiographie, sondern um die erzählende Ausgestaltung der im gesamten alten Vorderen Orient verbreiteten Grundüberzeugung, wonach alles Gegenwärtige sein Wesen am Anfang erhalten hat. Entsprechend ist die Paradieserzählung an den vorfindlichen Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens und ihrer urgeschichtlichen Fundierung interessiert. Es geht ihr nicht um den in der dogmatischen Tradition breit diskutierten Urstand des Menschen vor dem Fall oder um eine (vorwissenschaftliche) Erklärung des Werdens der Spezies Mensch. Vielmehr sucht sie durch die Erzählung von den Anfängen eine Antwort auf die existentiellen Fragen und Nöte (nicht nur) ihrer Gegenwart zu geben: Warum ist das Wesen des Menschen gleichermaßen durch Mängel und Fähigkeiten bestimmt? Warum müssen wir arbeiten, leiden und sterben? Warum sind wir zum Guten wie zum Schlechten befähigt? Warum erfahren wir uns gleichermaßen als selbständig und als unselbständig handelnde Personen? 33  Hartenstein, Beobachtungen, 280, im Anschluss an W. Burkert, Literarische Texte und funktionaler Mythos: Zu Ištar und Atrahasis, in: J. Assmann/W. Burkert/F. Stolz, Funktionen und Leistungen des Mythos. Drei altorientalische Beispiele, OBO 48, Fribourg/Göttingen 1982 , 63 – 82 , 63; F. Stolz, Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos, in: H.H. Schmid (Hg.), Mythos und Rationalität, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 5, Gütersloh 1988, 82  ff. Vgl. ferner ders., Paradiese, ZfR 1 (1993) 5 –24. 34  L. Perlitt, Die Urgeschichte im Werk Gottfried Benns, in: R. Albertz u.  a. (Hg.), Werden und Wirken des Alten Testaments (FS C. Westermann), Göttingen 1980, 9 –37, 10.

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Wie viele andere Mythen vom Uranfang greift die Paradieserzählung bei der Beantwortung dieser Fragen auf das Erzählmuster zurück, welches die Entstehung der jetzigen Welt als Transformation eines „Vorher“ beschreibt.35 So unterscheidet sie zwischen einer irrealen pflanzen-, wasser- und menschenlosen Vorzeit, einer kaum weniger irrealen Zwischenzeit im Garten und der eigenen Gegenwart jenseits von Eden, in der die in die eigene Verantwortung entlassenen Menschen seit jeher den Acker bestellen. Mit dieser Auskunft ist der irreale Zustand der Welt am Anfang aufgehoben und die Zeit seliger Unmündigkeit des Menschen im Garten beendet. Die Leser sind wie der aus dem Paradies vertriebene Mensch in der Realität angekommen. Allerdings steht diese unter dem Vorzeichen, dass der Ackerboden verflucht ist, d.  h. dass die Arbeit, wenn überhaupt, nur unter Mühen zum Erfolg führt. Ebenso bedeutet die Geburt Mühsal und Gefahr für die Frau. Unverkennbar läuft also die Transformation des irrealen „Vorher“ in das erlebte „Jetzt“ auf eine Daseinsminderung hinaus, wie sich gerade an den „paradiesischen“ Verhältnissen im Garten aufzeigen lässt, in denen Arbeit noch nicht durch Mühe und das Zusammenleben noch nicht durch Über- und Unterordnung bestimmt sind. Dass die Gegenwart als Daseinsminderung gegenüber dem verlorenen Paradies beschrieben wird, ist in der erzählend-chronologischen Struktur des Mythos die angemessene Form, die Grundstimmung einer als ambivalent empfundenen Lebenswirklichkeit aus den Anfängen herzuleiten. Im vorliegenden Textzusammenhang wird die Paradieserzählung durch die 2, 4a sogenannte Toledotformel eingeleitet. Die nach dem hebräischen Ausdruck für „Familiengeschichte“, „Stammbaum“ oder „Genealogie“ (tōl edōt von *yld „gebären“) benannte Formel „Dies sind die Toledot/Zeugungen des N.N.“36 markiert ausweislich ihrer übrigen Belege den Beginn eines neuen Abschnitts,37 wobei sie stets summarisch an den vorangehenden Text anknüpft.38 Dies geschieht in Gen 2, 4a durch das nomen rectum der Toledotformel („der Himmel und der Erde“) und die davon abhängige temporale Näherbestimmung („als sie geschaffen wurden“). Beide Wendungen greifen unverkennbar den Inhalt von Gen  1, 1–2, 3 auf und lehnen sich in der Formulierung eng an Gen 1, 1 an. Bemerkenswert ist die unmittelbare Abfolge der temporalen Näherbestimmung in 2, 4a und des Auftakts von V. 4b, der ebenfalls einen zeitlichen Aspekt hat und abermals die Erschaffung von „Erde und Himmel“ anspricht. Im Kontext der nachholenden Vergegenwärtigung des bereits in Gen 1 berichteten Geschehens wird dies so zu verstehen sein, dass der vorliegende Textzusammenhang von 2, 4 einen Übergang von der Weltschöpfung zur Paradieserzählung gestaltet. Die Wiederholung der ZeitangaVgl. Stolz, Paradiese. Die Übersetzung von tōl edōt mit „Zeugungen“ folgt Buber/Rosenzweig. 37  Vgl. Gen  5, 1; 6, 9; 10, 1; 11, 10. 27; 25, 12 . 19; 36, 1. 9; 37, 2 (außerhalb der Genesis: Num  3, 1; Ruth 4, 18; 1Chr 1, 29) sowie oben S. 31 Anm. 22 zur Textabgrenzung von Gen 1, 1–2 , 3. 38  Vgl. bereits Wellhausen, Prolegomena, 330. 35  36 

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ben setzt eine Fermate im Geschehensablauf und kennzeichnet dadurch das Folgende als Explikation des zuvor grundsätzlich schon berichteten Schöpfungsgeschehens. In diesem Sinne stellt auch die Formulierung „als sie geschaffen wurden“ deutlich heraus, dass die folgenden Ausführungen über das Werden des Menschen, der Tiere und Pflanzen ebenfalls noch zu der zuvor geschilderten Erschaffung der Welt gehören. Damit ermöglicht V. 4a ein komplementäres Textverständnis des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts und der Paradieserzählung des weisheitlichen Erzählers. Die oben genannten und auch dem antiken Publikum sicher nicht verborgen gebliebenen Unstimmigkeiten innerhalb des vorliegenden Textzusammenhangs von Gen 1–3 erscheinen so als jeweils unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe Geschehen, dessen wichtigster Teil, die Erschaffung des Menschen, jetzt gesondert und detailliert in den Blick genommen wird. Diese Lesart wird auch dadurch unterstützt, dass die Toledotformel in Anlehnung an die Gliederung der ehedem selbständigen Priesterschrift den vorangehenden Schöpfungsbericht als Prolog von der mit „Adam und Eva“ beginnenden Menschheitsgeschichte absetzt (vgl. Gen 2, 4a und 5, 1). Voraussetzung dieses komplementären Textverständnisses, das für ein neuzeitliches Empfinden auf den ersten Blick harmonisierend wirken mag, ist die Überzeugung, dass beide Texte, der mehr kosmologisch ausgerichtete Schöpfungsbericht und die mehr anthropologisch ausgerichtete Paradieserzählung, ungeachtet ihrer Differenzen vom Handeln ein und desselben Schöpfergottes berichten. Eine Reihe von Gründen spricht für die alte These, wonach Gen 2 , 4a und Gen 2 , 4b auf unterschiedliche Hände zurückgehen.39 Von den sprachlich-terminologischen Differenzen der inhaltlich nahezu identischen Halbverse zur Erschaffung des Himmels und der Erde fällt besonders die fehlende Determination dieser beiden Größen in V. 4b im Unterschied zu V. 4a auf. Ließe sich ihre umgekehrte Reihenfolge noch als chiastische Aufnahme von V. 4a („der Himmel und die Erde“) in V. 4b („Erde und Himmel“) erklären und könnte man den Wechsel von der passivischen Konstruktion in V. 4a („als sie geschaffen wurden“) zur aktivischen („Gott machte“) in V. 4b, die unterschiedlichen Schöpfungsverben *br  ʾ („schaffen“) in V. 4a und * ʿśh („machen/ tun“) in V. 4b noch als stilistische Variation bewerten,40 so ist dies für die fehlende Determination von Erde und Himmel in V. 4b schlicht ausgeschlossen.41 Sodann steht die als Überschrift zu verstehende Toledotformel – unbeschadet der Sinnhaftigkeit des vorliegenden Textzusammenhangs – in inhaltlicher und funktionaler Konkurrenz zu der sehr komplexen Überschrift der Paradieserzählung in V. 4b–7.42 Gen 2 , 4a und 39  Vgl. statt vieler Witte, Urgeschichte, 55 f; Pfeiffer, Baum I, 495. Für die literarische Einheitlichkeit von 2 , 4 haben sich im Anschluss an T. Stordalen, Genesis 2 , 4, zuletzt und mit Nachdruck Otto, Paradieserzählung, 185 –188, und Arneth, Adam, 131 f, ausgesprochen. 40  Vgl. Wenham, 46; Stordalen, Genesis 2 , 4, 174 f; Otto, Paradieserzählung, 187. 41  Vgl. Witte, Urgeschichte, 55 f; Pfeiffer, Baum I, 495 mit Anm.  34: Der indeterminierte Gebrauch von „Erde und Himmel“ in Ps 148, 13 ist kein Gegenargument, da es sich um keinen Beleg für den Wechsel von der determinierten zur indeterminierten Rede innerhalb einer syntaktischen Einheit handelt. Anders: Stordalen, Genesis 2 , 4, 175; Otto, Paradieserzählung, 187. 42  Die Toledotformeln in Gen 5, 1 und Num 3, 1 sind kein Beleg dafür, dass V. 4 a ein originärer Bestandteil von V. 4b–7 gewesen ist (so Stordalen, Genesis  2 , 4, 171 ff; Tengström, Toledot, 54 f;

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2 , 4b gehen folglich mit der in diesen Dingen möglichen Gewissheit nicht auf denselben Verfasser zurück. Die daraus folgende redaktionsgeschichtliche Bewertung von Gen 2 , 4  –7 liegt auf der Hand: Schon wegen der fehlenden Determination von „Erde und Himmel“ lässt sich Gen 2 , 4b–7 nicht als Fortschreibung zu 2 , 4a bewerten. Dagegen ist es gut möglich, dass ein von Gen  1 herkommender Redaktor die dort übliche Determination der beiden Größen (vgl. Gen  1, 1. 15. 17. 20. 26. 28. 30; 2 , 1) für seine Formulierung von V. 4a beibehalten hat. Gen  2 , 4a ist demnach entstehungsgeschichtlich von V. 4b zu sondern, geht aber anders als die übrigen Toledotformeln in der Genesis nicht auf die Priesterschrift zurück.43 Dementsprechend handelt es sich um ein rein redaktionelles Gebilde, das den ursprünglichen Auftakt der Paradieserzählung in Gen 2 , 4b zum Übergang vom ersten Schöpfungsbericht zur Erzählung vom Ergehen des ersten Menschenpaares und ihrer Nachkommen umgestaltet. Redaktionsgeschichtlich gesprochen verdankt sich Gen  2 , 4a demnach der Verbindung des priesterschriftlichen Textbestandes in der Urgeschichte und der mit Gen  2 , 4b einsetzenden Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers.

Für den Nachsatz „als sie geschaffen wurden“ bleibt zu erwägen, ob er neben der geschilderten zeitlichen Abzweckung auch noch die in der Toledotformel unweigerlich anklingende Vorstellung, wonach Himmel und Erde erzeugende Kräfte haben, relativieren will und daher betont, dass diese nicht selbstwirksam sind, sondern sich der in ihnen wirkenden Kraft des Schöpfers verdanken.44 Der ursprüngliche Anfang der Paradieserzählung erstreckt sich über drei- 2, 4b–7 einhalb Verse. Syntaktisch ist diese auffällig lange Einleitung wohl so zu verstehen, dass der für sich genommen unvollständige Temporalsatz „Als Jhwh-Gott Erde und Himmel machte“ (V. 4b) erst durch die mit V. 7 einsetzende Handlung „da formte Jhwh-Gott  …“ fortgesetzt und vervollständigt wird. Die auf V. 4b folgenden Umstandssätze in V. 5 und V. 6 schildern hingegen die Verhältnisse, die während der durch V. 4b terminierten und in V. 7 geschilderten Handlung, also vor und während der Erschaffung des Menschen geherrscht haben. In der deutschen Übersetzung kann diese Konstruktion durch eine Parenthese wiedergegeben werden.45 Aufbau und Otto, Paradieserzählung, 187 ). Die für die literarische Einheitlichkeit von Gen  2 , 4 angeführte Gemeinsamkeit der drei Belege besteht darin, dass auf die Toledotformel jeweils eine mit b e-yōm („am Tag“) eingeleitete Wendung folgt. Doch gerade an diesem Punkt unterscheidet sich 2 , 4 von Gen 5, 1 und Num 3, 1 in charakteristischer Weise. In 2 , 4 ist der Zusammenhang nämlich unterbrochen, und zwar durch die von der Toledotformel abhängige temporale Näherbestimmung, die ihrerseits in Konkurrenz zu V. 4b steht. 43  S. oben S. 31 Anm. 22 zur Textabgrenzung von Gen 1, 1–2 , 3. 44  Vgl. K. Koch, Die Toledot-Formeln als Strukturprinzip des Buches Genesis, in: S. Beyerle u.  a. (Hg.), Recht und Ethos im Alten Testament – Gestalt und Wirkung (FS H. Seebaß), Neukirchen-Vluyn 1999, 183 –191, 185. 45  Vgl. W. Groß, Studien zum althebräischen Satz I. Die Pendenskonstruktion im biblischen Hebräisch, ATSAT 27, St. Ottilien 1987, 49 –55. Andere bezeichnen V. 4b im Anschluss an Dohmen, Schöpfung, 37 ff, als eine überschriftartige Exposition, von der die Vorweltschilderung in V. 5 f und der Handlungseinsatz in V. 7 abzuheben sind. V. 4b sei ein temporaler Nebensatz, des-

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Formulierung des Auftaktes erinnern deutlich an die Anfänge mesopotamischer Schöpfungsmythen. Häufig wird auf den bereits zitierten Anfang des babylonischen Marduk-Epos Enuma Eliš hingewiesen (s.  o. S.  39), der sich wegen seiner Abfolge von Temporalsatz, Schilderung der Nebenumstände und Einleitung der Handlung sowie wegen des kunstvollen Ineinanders von negativen und positiven Zustandsangaben als Parallele geradezu aufdrängt. Gleichwohl ist zu betonen, dass sich für den Anfang der ohnehin durch zahlreiche Motive mit den Literaturen des alten Vorderen Orients verbundenen Paradieserzählung keine bestimmte Vorlage identifizieren lässt. Ein Beispiel unter vielen ist der gerade auch im Hinblick auf den Beginn der Handlung in V. 7 interessante Anfang eines akkadischen Mythos, der anlässlich der Wiederherstellung baufälliger Tempel rezitiert wurde: „Als Anu (der Himmelsgott) den Himmel, Ea (der Süßwassergott) den Apsû (den Süßwasserozean), seinen Wohnsitz, baute, da kniff sich Ea im Apsû Lehm ab, schuf Kulla (den Ziegelgott), um [die Tempel] zu erneuern …“46. Wie in diesem Text ist die wörtlich mit „Am Tag, als Jhwh-Gott …“ zu übersetzende Zeitangabe in V. 4b als temporale Konjunktion zu verstehen. Damit erübrigt sich die wiederholt gestellte Frage nach einer genauen Identifikation des in der hebräischen Formulierung genannten Tages oder einer präzisen Bestimmung der zeitlichen Abfolge von Welt- und Menschenschöpfung. Aus dem anschließenden, das Ganze der Schöpfung umschreibenden Merismus „Erde und Himmel“ (vgl. Gen  1, 1) geht jedenfalls hervor, dass es wie im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht um die uranfängliche Erschaffung der Welt geht. Eine verbreitete harmonisierende Lesart, wonach es nach der Weltschöpfung in Gen  2, 4a jetzt um die Menschenschöpfung am sechsten Tag der Schöpfungswoche aus Gen 1, 1–2, 3 geht, entspricht damit kaum der ursprünglichen Intention des Verses – auch wenn sich die Darstellung von Anbeginn an auf die Erschaffung des Menschen und die Herleitung seiner an den Acker gewiesenen bäuerlichen Lebensweise konzentriert. Anders als die Priesterschrift in Gen 1, 1–2, 3 thematisiert der weisheitliche Erzähler die in einem weiteren Sinne kosmologischen Fragen nicht einmal am Rande. Entsprechend setzt in V. 7 die Erzählhandlung ohne Vorlauf mit der Erschaffung des Menschen ein. Vielleicht erklärt das Desinteresse an kosmologischen Fragen auch, warum V. 4b gegenüber der im mesopotamischen sen Hauptsatz („da geschah Folgendes“) unterdrückt ist (sog. Aposiopese; vgl. GK §  167a). Diese grundsätzlich mögliche Erklärung ist unnötig kompliziert und hat gegen sich, dass die Aposiopese im Regelfall bei Bedingungssätzen vorkommt. Richtig erkannt ist, dass V. 4b von V. 5 –7 vorausge­ setzt wird, was im Übrigen gegen die immer wieder geäußerte Vermutung spricht, bei V. 4b handele es sich um den redaktionellen Übergang vom priesterschriftlichen Schöpfungsbericht zur Paradieserzählung (s.  u.  a. Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 196 f; Westermann, 269; Levin, Jahwist, 86, 89). Ein Erzählanfang mit der vorliegenden Gestalt von V. 5 ist kaum möglich. Die Auskunft, der Erzählanfang in V. 5 sei eventuell „verstümmelt worden“ (Levin), vermag angesichts der syntaktisch nicht zu beanstandenden und traditionsgeschichtlich gut ableitbaren Textgestalt von Gen 2 , 4b–7 nicht zu überzeugen. 46  Zur Übersetzung vgl. Horowitz, Geography, 149  f.

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Bereich dominierenden und auch im Alten Testament häufiger belegten Reihenfolge „Himmel und Erde“ (vgl. Gen  1, 1; 2, 4a) an erster Stelle die Erde nennt, sodass von den beiden Gliedern des Merismus der Lebensraum des Menschen betont vorangestellt wird (vgl. Ps 148, 13). Die Gottesbezeichnung „Jhwh-Gott“ oder „Jhwh-Elohim“ in V. 4b ist V. 4b auffällig.47 Grammatikalisch ist ʾælōhīm („Gott“ oder „Götterwesen“) am besten als Apposition zu Jhwh zu verstehen, wobei der Gattungsbegriff „Gott“ wie in Gen  1, 1–2, 3 als Eigenname gebraucht wird und deshalb keinen Artikel trägt. Diese Formulierung findet sich im Pentateuch nur in der Paradieserzählung, wo sie mit der dramaturgisch begründeten Ausnahme des Dialogs zwischen der Frau und der Schlange (s.  u. zu Gen 3, 1) durchgängig gebraucht wird, sowie in dem textkritisch unsicheren Vers Ex  9, 30 (MT). Außerhalb des Pentateuchs kommt sie noch einmal in einem erzählenden Abschnitt vor ( Jon  4, 6). Die übrigen Belege beschränken sich auf Gebete und auf bekenntnishafte Aussagen.48 Schon die Konzentration der ohnehin seltenen Wendung innerhalb des Pentateuchs auf die Paradieserzählung verlangt eine Erklärung: Die Erzählung von Kain und Abel und die nicht zur Priesterschrift gehörenden Passagen der Fluterzählung sind mit Gen  2, 4  –3, 24 eng verbunden, verwenden jedoch durchgängig den Gottesnamen Jhwh, weshalb die Kombination „Jhwh-Gott“ in der Paradieserzählung kaum ursprünglich ist. Da sich für Gen  2, 4  –3, 24 keine Vorstufe rekonstruieren lässt, die wie die Priesterschrift ausschließlich den Gattungsbegriff „Gott“ gebraucht,49 wird das redaktionelle „Jhwh-Gott“ in die Nachgeschichte der Paradieserzählung gehören. In diesem Fall liegt es nahe, an eine spätere Angleichung an den Schöpfungsbericht der Priesterschrift zu denken. Mittels der redaktionellen Bildung Jhwh-Gott identifizierte die Redaktion den Gott des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts mit demjenigen der Paradieserzählung. Die Septuaginta hat dieses Anliegen auf ihre Weise aufgegriffen. Sie übersetzt die Gottesbezeichnung Jhwh-Elohim mit κύριος ὁ θεός („Herr, der Gott“) und gibt in der restlichen Urgeschichte mit dieser Wendung den Gottesnamen auch an den Stellen wieder, wo er ohne die Apposition ʾælōhīm gebraucht wird. Andererseits verwendet sie in der Paradiesgeschichte dort, wo exklusiv vom Schöpfungshandeln Jhwhs die Rede ist (Gen  2, 4. 5. 7. 9. 19. 21; 3, 22), in Angleichung an den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht 47  Zur Diskussion vgl. Witte, Urgeschichte, 57–61 und 232 –237, dort auch zu den inschriftlichen Belegen für die Kombination „Gottesname + Gattungsbegriff“, darunter „der Gott Jahu“ in den aramäischen Papyri der jüdischen Militärkolonie auf der Nilinsel Elephantine aus dem 5. Jh. v. Chr. Dieser Typ Gottesbezeichnung ist in Kontexten beheimatet, in denen es um die Identifikation eines bestimmten Gottes unter mehreren Göttern geht. Das ist für den weisheitlichen Erzähler der Paradieserzählung kaum ein Problem. Irritationen konnten sich allenfalls aus der redaktionellen Zusammenschau mit dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht und seinem eigennamenartigen Gebrauch des Gattungsbegriffs „Gott“ oder durch die Pluralformulierung im Zusatz Gen 3, 24 („wie einer von uns“) ergeben. 48  Vgl. 2 Sam 7, 25; Ps 72 , 18; 84, 12; 1Chr 17, 16 f; 28, 20; 29, 1; 2 Chr 1, 9; 6, 41. 42; 26, 18 . 49  Anders Levin, Jahwist, 82  f.

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ὁ θεός („Gott“) statt der zu erwartenden Übersetzung κύριος ὁ θεός.50 Der naheliegende und von der Septuaginta auf ihre Weise vorweggenommene Einwand, dass sich die Redaktion bei einer Angleichung der Gottesbezeichnung schwerlich auf die Paradieserzählung beschränkt hätte,51 verfängt dagegen nur auf den ersten Blick. Der Redaktion dürfte es vornehmlich um die bekenntnisartige Identifikation des unbenamten Schöpfergottes aus Gen  1, 1–2, 3 mit Jhwh gegangen sein.52 Dieses Anliegen entspricht dem sonstigen Gebrauch der Wendung, die in Gebeten und Bekenntnissen Jhwhs universale Macht herausstellt. In eine ähnliche Richtung weist auch der einzige Beleg im Pentateuch außerhalb der Paradieserzählung. In Ex  9, 30 (MT) soll das „Jhwh-Gott“ im Munde Moses den Ägyptern Jhwhs Gottheit deutlich machen. Die Mehrzahl der Belege gibt zudem einen Bezug zum Jerusalemer Tempelkult zu erkennen, für den noch weitere ähnliche Verbindungen bezeugt sind (vgl.    ʾēl   ʾælōhīm yhwh in Jos 22, 22; Ps 50, 1; yhwh [ ʾēl  ] ʿælyōn in Gen 14, 22; Ps 7, 18; 47, 3; 97, 9). Steht dieser Gebrauch im Hintergrund der Ergänzung von Jhwh zu Jhwh-Elohim, dann liegt das ganz auf der Linie der ebenfalls nachgetragenen Paradiesgeographie in Gen 2, 10 –14, die eine Verbindung zwischen dem Garten Eden und dem Tempel in Jerusalem herzustellen sucht. Die Beschreibung der Welt vor und während der Erschaffung des MenV. 5 schen beginnt in V. 5 mit einer Reihe von „Noch-Nicht-Aussagen“ über das Gesträuch des Feldes, das Kraut des Feldes und den Menschen. Die beiden Aussagen über das Fehlen des Pflanzenwuchses sind durch den parallelen Aufbau der Zustandssätze und den begründenden Hinweis auf den noch fehlenden Regen eng aufeinander bezogen. Hierbei fällt auf, dass sich die Beschreibung der noch pflanzenlosen Erde nicht an der im Folgenden geschilderten Anlage eines (Baum-)Gartens (vgl. V. 8 f ) orientiert, sondern bereits auf die nachparadiesische Existenz des Ackerbauern blickt. So bleibt die Entstehung der genannten Pflanzen im Kontext der Anlage des Gartens unerwähnt, während das Fehlen der Bäume in der Vorweltschilderung nicht eigens angesprochen wird. Stattdessen taucht das an zweiter Stelle genannte „Kraut des Feldes“ ( ʿēśiæb haś-śādǣ) erstmals in den Strafsprüchen in Gen  3, 18 auf, und zwar als nachparadiesische Nahrung des Menschen. Mit dem „Kraut des Feldes“ sind also die Nutzpflanzen gemeint, die der im folgenden Satz als fehlend angesprochenen menschlichen Pflege bedürfen (V. 5bγ). Zudem bezeichnet Feld (śādǣ) das freie Gelände in Unterscheidung zum umfriedeten Garten, wie er im Fortgang der Erzählung für den MenRösel, Übersetzung, 58. Eine Ausnahme ist Gen 2 , 22 . Hier liest die LXX κύριος ὁ θεός. Vgl. schon Budde, Urgeschichte, 234. 52  Die Einsicht, dass sich die auffällige Gottesbezeichnung aus dem Zusammenhang von Schöpfungsbericht und Paradieserzählung erklärt, ist älter als die Quellenscheidung in Gen 1–3. So erklärt etwa Johannes Clericus (Genesis sive mosis prophetae, Amsterdam 1693, 16), das erstmals in Gen  2 , 4 gebrauchte Tetragramm werde „per appositionem“ (Hervorhebung im Original) mit dem Wort Gott verbunden, damit der Leser die Identität des Schöpfergottes mit dem von den Israeliten verehrten Gott erkenne. 50  51 

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schen eingerichtet wird (vgl. V. 8). Der in seiner botanischen Zuordnung unklare Ausdruck „Gesträuch des Feldes“ (śī    aḥ haś-śādǣ) wird dagegen im Fortgang der Paradieserzählung nicht wieder aufgenommen. Die übrigen Belege für „Gesträuch“ (śī      aḥ; Gen 21, 15; Hi 30, 4. 7 ) lassen an Steppenbewuchs denken. Mit Blick auf den parallelen Aufbau der beiden Aussagen in V. 5 liegt es nahe, das Fehlen von „Gesträuch des Feldes“ ebenfalls mit dem Strafspruch in Gen  3, 18 in Verbindung zu bringen und als Oberbegriff auf die dort genannten „Dornen und Disteln“ auf dem bestellten Ackerboden zu beziehen.53 Konstatiert die Schilderung des „Noch-Nicht“ somit das Fehlen der unerwünschten und der gewünschten Vegetation des Ackers, so klingt gleich zu Beginn der Paradieserzählung die Ambivalenz menschlicher Existenzerfahrung an: Der von Jhwh-Gott geschickte Regen bringt auf dem Acker, den der Mensch für seinen Lebensunterhalt bestellen soll, sowohl Lebensförderliches als auch -hinderliches hervor. Diese grundlegende Menschheitserfahrung aus ihrem Werden zu erklären, ist das Ziel der Paradieserzählung, nicht das Ausmalen paradiesischer Lebensumstände. Dies gilt auch für das im letzten Glied des Verses angezeigte „Noch-Nicht“ des Menschen. Zwar wird die Menschenschöpfung in mehreren Schritten bis zur Vervollständigung durch die Erschaffung der Frau ausführlich geschildert, doch auch hier liegt das Interesse ganz auf dem Zustandekommen gegenwärtiger Existenzbedingungen. Entsprechend blickt das abschließende „um den Ackerboden zu bestellen“ (V. 5bγ) auf das Leben des Menschen außerhalb des Paradieses voraus. Das Gegenüber dieser „Noch-Nicht-Aussage“ ist die Feststellung am Ende der Paradieserzählung, der zufolge der aus dem Ackerboden ( ʾadāmā ) erschaffene Mensch ( ʾādām) auszieht, diesen zu bestellen (Gen  3, 23). Damit bestätigt sich auch im Detail die bereits angesprochene hermeneutische Grundeinsicht für das Verständnis mythischer Erzählungen vom Uranfang: Diese sind an den vorfindlichen Grundgegebenheiten menschlichen Lebens und deren urgeschichtlicher Entstehung interessiert, weniger am Zustand des Zuvor. Der Urzustand wird nur als eine Problem- oder Ausgangskonstellation geschildert, deren Auflösung am Ende der Erzählung steht und die den eigentlichen Zielpunkt und Bezug auf die Realität darstellt. Zum Zuvor gehört neben der Vorwelt des „Noch-Nicht“ auch das von der Übertretung des göttlichen Gebotes noch ungetrübte Leben im Paradies, das einen Ort und Zwischenzustand beschreibt, in dem charakteristische Merkmale der Realität vorläufig in ihr Gegenteil verkehrt sind. Auch dieser Erzählzug, dem zufolge sich aufgrund der Übertretung des göttlichen Gebots die Lebensbedingungen grundlegend ändern, wird bereits in der Formulierung von V. 5 f eröffnet. Das Fehlen von gewünschten und unerwünschten Pflanzen sowie der Kultivierung des Ackers durch den Menschen bezieht sich nicht allein auf den nachparadiesischen Nahrungserwerb. Es bildet auch einen Kontrast zu der auf dieses „Noch-Nicht“ folgenden Darstellung mensch53 

Vgl. Steck, Paradieserzählung, 26 f mit Anm. 38 und 39.

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licher Lebenssicherung im Paradies – ein von Jhwh-Gott angelegter Garten (V. 8) statt menschlicher Feldarbeit, eine beständig strömende Quelle (V. 6; vgl. V. 10 –14) statt der Unsicherheit des Regens.54 Mit der Feststellung „und ein Mensch war nicht, den Ackerboden zu bestellen“ deutet sich an, dass nach Auffassung des weisheitlichen Erzählers die Bestimmung des Menschen in der Arbeit liegt. Diese Aussage wird in den Strafsprüchen aufgenommen und um den Aspekt der Mühe und des unsicheren Ertrags der Arbeit ergänzt (3, 17 f ). War dem Menschen schon für das Paradies aufgetragen, den Garten zu bestellen und zu bewachen (2, 15), so bedeutet der Auszug aus dem Paradies in die Realität für den Menschen die Arbeit auf dem Acker (3, 23). Wie selbstverständlich diese Vorstellung ist, zeigt das Schöpferlob des Psalmisten, für den das Arbeiten des Menschen geradezu ein Charakteristikum der wohlgeordneten Welt ist: „Du bestellst Finsternis und es wird Nacht. In ihr regen sich alle Tiere des Waldes. Die Junglöwen brüllen nach Raub, sie fordern von Gott ihre Speise. Geht die Sonne auf, ziehen sie sich zurück und lagern sich in ihren Verstecken. Der Mensch geht aus an sein Werk, an seine Arbeit bis zum Abend“ (Ps  104,  20 –23). Wie die Nacht den wilden und gefährlichen Tieren gehört, so der Tag dem Menschen und seiner Arbeit. Beide haben ihren Platz in der wohlgeordneten Schöpfung, doch im Unterschied zu den Tieren erfährt der Mensch seine Bestimmung nicht über die Zuteilung eines Lebensraumes, sondern durch die ihm mit der Arbeit gestellte Lebensaufgabe.55 Die Erzähler der Schöpfungsmythen Mesopotamiens hätten das nicht besser formulieren können. Auch sie berichten, dass der Mensch zur Arbeit geschaffen worden ist – wenn auch mit deutlich anderer Akzentsetzung. Ein Blick auf die erste Tafel des altbabylonischen Atram­ḫasis-Epos mag dies verdeutlichen.56 Die Vorweltschilderung des aus dem frühen 2.  Jt. v. Chr. stammenden Textes setzt mit einem der bemerkenswertesten Sätze der Literaturgeschichte ein: „Als die Götter Mensch waren“ (Atr  I, 1). Wie die Fortsetzung zeigt, besteht der irreale Zustand des Menschseins der Götter in ihrer Verpflichtung zur Arbeit in einer menschenlosen Vorzeit. Die Götter „trugen die Mühsal, schleppten den Tragkorb“. Um die Beschwernis wenigstens für die großen Götter zu lindern, wird eine Gruppe niederer Götter zum Kanalbau und damit wohl auch zur Arbeit in der Landwirtschaft gezwungen. Dies geht nur geraume Zeit gut, die bedrückten Götter reagieren mit Streik und Aufruhr, worauf auf Beschluss der Götterversammlung der Gott der Weisheit Enki und die Muttergöttin die Menschen schaffen, damit diese für die Götter arbeiten. Wie in der Paradieserzählung entfaltet das babylonische Epos mit der Vgl. Steck, Paradieserzählung, 28. Vgl. H. Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, FRLANT  148, Göttingen 1989, 38  f. 56  Übersetzung und knappe Einführung: W. von Soden, Der altbabylonische AtramchasisMythos, TUAT  III, 612 –645. Eine Übersetzung der spätbabylonischen Fassung mit einem synoptischen Vergleich bietet K. Hecker, Atra-ḫasıs, TUAT.NF VIII, 132 –143. Zur Interpretation im Kontext der biblischen Urgeschichte vgl. Albertz, Kulturarbeit. 54  55 

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Vorweltschilderung eine Problemkonstellation, deren Auflösung am Ende des Mythos steht und die den eigentlichen Zielpunkt und Bezug auf die Realität darstellt. Der Mensch wird allein aus dem einen Grund geschaffen, den Göttern die Arbeit abzunehmen und sich um die materielle Versorgung der Götter (und ihrer Tempel) zu kümmern. An diesem letzten Punkt unterscheidet sich die Paradieserzählung allerdings recht deutlich von ihren altvorderorientalischen Parallelen. Nach ihrer Auffassung hat der Mensch nicht für Jhwh oder anstelle Jhwhs zu arbeiten. Der Mensch arbeitet in der für ihn geschaffenen Welt. Er arbeitet für seinen Lebensunterhalt (vgl. Gen 3, 17 f ). Diese Grundeinsicht des weisheitlichen Erzählers hat auch sozialethische und mentalitätsgeschichtliche Folgen. Insofern Entfremdungserfahrungen und wirtschaftliche Not nicht allein im Verhältnis der Götter zu den Menschen wurzeln, sind sie auch klar als Folgen ökonomischer Ursachen beschreibbar, was wiederum sozialpolitisches Handeln ermöglicht. Nach den Negativaussagen in V. 5 enthält V. 6 eine positive Beschreibung V. 6 eines unaufhörlich aufsteigenden Wasserschwalls ( ʾēd   ). Wegen dieses Wechsels wird V. 6 häufig als sekundär bewertet.57 Das Neben- und Ineinander von „Noch-Nicht-Aussagen“ und positiven Beschreibungen der Vorwelt ist jedoch nicht ungewöhnlich, wie der Anfang des Enuma Eliš (EnEl I, 1–9) belegt. Zudem verbietet sich die Streichung von V. 6 und damit der für die Formung des Menschen aus dem Ackerboden notwendigen Feuchtigkeit schon aus sachlogischen Gründen. Die genaue Bedeutung des hier mit „Wasserstrom“ wiedergegebenen Ausdrucks ʾēd ist unklar. Für den einzigen weiteren alttestamentlichen Beleg in Hi 36, 27 lässt der Zusammenhang an eine „Wolke“ (vgl. die entsprechende Übersetzung von Gen 2, 6 in den Targumim mit ʿanān) oder „Nebel“ denken, was sich in prominenten Übersetzungen von Gen  2, 6 als „Nebel“ (Luther 1545), „Dunst“ (Elberfelder) oder „Feuchtigkeit“ (Einheitsübersetzung) niederschlägt und auch die mittelalterlichen jüdischen Kommentare geprägt hat. Doch diese Übersetzungen passen nicht zu der Auskunft von V. 6, wonach der ʾēd von einer sonst trockenen Erde aufsteigt (vgl. 1Kön  18, 44), zumal das verwendete Verb „emporquellen“ (* ʿlh) im Zusammenhang mit Wasser andernorts für einen Brunnen (Num 21, 17 ) oder das Meer ( Jer 47, 2; Ez  26, 3) gebraucht wird und das gewählte Imperfekt ein kontinuierliches Geschehen beschreibt (GK §  107b). Der Kontext und die Syntax lassen also an unaufhörlich aufsteigendes Wasser denken. Vermutlich geben deswegen die LXX und die Vulgata den Ausdruck mit „Quelle“ (πηγή; fons) wieder. So könnte auch der Verfasser der nachgetragenen Paradiesgeographie in V. 10 – 14 den Text verstanden haben. Seine Vorstellung eines aus dem Garten hervorgehenden Flusses lässt sich jedenfalls gut mit diesem Verständnis von Gen  2, 6 vereinbaren und es ist denkbar, dass er mit seinem Einschub auch das seltene Wort ʾēd durch den gebräuchlichen Ausdruck nāhār „Fluss“ (V. 10) 57 

Vgl. Westermann, 273; Levin, Jahwist, 92; Pfeiffer, Baum I, 490.

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erläutert hat. In eine ähnliche Richtung weist eventuell auch die sehr umstrittene Etymologie des hebräischen Ausdrucks.58 Diskutiert werden ein Zusammenhang mit dem sumerisch-akkadischen IìD/id „Fluss[gott]“ oder, was aus philologischen Gründen wahrscheinlicher ist, mit dem akkadischen edû „Wasserflut, Wasserschwall“, das seinerseits mit dem sumerischen a.dé.a in Verbindung gebracht wird. Mit dem akkadischen edû ist auch die zur Szenerie der Paradieserzählung passende Vorstellung von Wassermassen verbunden, die wie das Fruchtbarkeit bringende Frühjahrshochwasser von Euphrat und Tigris aus dem unterirdischen Ozean hervorbrechen. Mit Blick auf die im folgenden Vers geschilderte Menschenschöpfung ist schließlich zu erwägen, ob sich in der Verwendung des seltenen und in den mesopotamischen Raum weisenden Wortes ʾēd eine ferne Erinnerung an sumerische und akkadische Schöpfungsmythen erhalten hat. In ihnen obliegen Errichtung und Pflege künstlicher Bewässerungssysteme so lange den niederen Göttern, bis zu ihrer Entlastung aus dem fruchtbaren Lehm des unterirdischen Süßwasserozeans Apsû der Mensch geformt wird. V. 7a führt den durch die Vorweltschilderung unterbrochenen TempoV. 7 ralsatz aus V. 4b fort und setzt mit dem eigentlichen Schöpfungsgeschehen ein: Jhwh-Gott formt aus der losen Ackerkrume den ersten Menschen und haucht ihm den Lebensatem ein. Auf den ersten Blick wirkt die Beschreibung der Menschenschöpfung nahezu lakonisch und aus sich selbst heraus verständlich: Der Ackerboden ( ʾadāmā ) und der aus ihm geformte und von Jhwh-Gott belebte Mensch ( ʾādām) gehören wesensmäßig zusammen, der Mensch ist ein „Erdenkloß“ (Luther). Für seine ersten Leser rief der Vers zugleich den Reichtum der Bilder und Texte zur Erschaffung des Menschen und seiner Welt hervor, wie sie die biblische Darstellung mit den anderen Kulturen des alten Vorderen Orients teilte, wenngleich die Paradieserzählung eine sehr individuelle Ausgestaltung der sie prägenden Traditionen formuliert hat. Spätere haben in einem veränderten geistesgeschichtlichen Umfeld den Vers im Horizont der Aussagen von Gen 1 zur Gottebenbildlichkeit gelesen und auf diese Weise seine weitere Rezeption maßgeblich beeinflusst. Daher bietet es sich an, die Darstellung Wort für Wort durchzugehen, um die wichtigsten Traditionen und die für die spätere Rezeption des Textes maßgeblichen Weichenstellungen in frühen Fortschreibungen des Textes und antiken Übersetzungen wenigstens knapp zu skizzieren. Im alten Vorderen Orient wurde auf verschiedene Art von der Schöpfung des Menschen und seiner Welt erzählt. Die beiden Grundtypen sind die vornehmlich in der sumerischen Tradition belegte Schöpfung als emersio und die Schöpfung als  formatio. Bei der erstgenannten entsprießen die Menschen der Erde wie Pflanzen (vgl. oben zu Gen 1, 11–13) und werden in einer zweiten Phase der Zivilisation zugeführt. Schöpfung als  formatio schildert hingegen das gestalterische Handeln einer Gottheit, wie dies auch in der Paradies58  Vgl. D.T. Tsumura, The Earth and the Waters in Genesis 1 and 2 , JSOT.S 83, Sheffield 1989, 94  –113, 159 –161.

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erzählung der Fall ist. Das in V. 7 für das göttliche Schaffen gewählte Verb „formen“ (*yṣr) bezeichnet ein handwerkliches oder künstlerisches Gestalten aus Ton (ḥōmær) oder ähnlichem Material, wobei in erster Linie an die Arbeit des Töpfers gedacht ist (vgl. Jes 29, 16; Jer 18, 1–12; Jes 64, 7 ). Eine anschauliche Parallele liefert ein Relief aus einem Tempel des Pharao Amenhotep III. (1391–1353 v. Chr.) im ägyptischen Luxor, auf dem der Schöpfergott Chnum den nachmaligen Pharao und seine personifizierte Lebenskraft (Ka) auf einer Töpferscheibe bildet.59 In Gen 2, 7 liegt das Augenmerk allerdings weniger auf dem handwerklichen Vorgang als auf der Materialangabe, wonach der Mensch aus „Staub vom Ackerboden“ ( ʿāpār min hā- ʾadāmā ) geformt sei – weder Staub noch Ackerboden sind das genuine Material des Töpfers. Das mit „Staub“ übersetzte Wort ʿāpār hat die Grundbedeutung „lose Erde“, doch dient es in der alttestamentlichen Literatur wiederholt als Bild für die Niedrigkeit und Vergänglichkeit des Menschen. Für unsere Stelle wird diese Bedeutung durch den auf Gen  2,7 zurückweisenden Strafspruch in Gen 3, 19 bestätigt: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden ( ʾadāmā ), denn von ihm bist du genommen, denn Staub ( ʿāpār) bist du und zum Staub ( ʿāpār) sollst du zurückkehren“ (vgl. Ps  103, 14; 104, 29; Hi  4, 19; 10, 9; Pred  3, 20; 12, 7 ). Die Rede von der Rückkehr des Menschen zu Staub dürfte konkreter Anschauung entsprechen, da im antiken Israel die Toten zumeist in mehrfach nutzbaren Grabkammern oder -höhlen bestattet wurden und der Zerfall des Leichnams zu Staub bei Neubelegungen der Grabstätte unverkennbar war. Nach dem vorliegenden Textbestand von Gen 2, 7 ist also neben seiner Kreatürlichkeit die Vergänglichkeit das erste Wesensmerkmal des Menschen. Sie ist nicht erst die Folge der Übertretung des göttlichen Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, sondern ist in der Substanz des Menschen angelegt, mithin schöpfungsgemäß. Dass der Mensch von vornherein als sterblich gedacht ist, nimmt einen Gesichtspunkt der Paradieserzählung auf, dürfte ursprünglich aber nicht prominent herausgestellt worden sein. Vielmehr verdanken sich das Wort Staub in V. 7 und die damit korrespondierende Feststellung, dass der Mensch Staub sei und zum Staub zurückkehre (3, 19), wie der Baum des Lebens (2, 9; 3, 22. 24) einer ersten Kommentierung der Paradieserzählung. Durch diese werden die Gewichtungen in der Paradieserzählung verschoben, insofern in der Beschreibung der ambivalenten Daseinserfahrung des Menschen der Ton von vornherein auf dem die Vergänglichkeit symbolisierenden ʿāpār liegt, während die „fruchtbare[…] Potenz der ʾadāmā“60 fast schon an den Rand gedrängt wird und die Erzählung viel von ihrer Dynamik verliert. In 2 , 7 ist ʿāpār „Staub“ sprachlich und inhaltlich auffällig: Der Ausdruck ist am ehesten als ein Akkusativ zu verstehen, der den Stoff nennt, aus dem etwas verfertigt ist (vgl. GK §  117hh), und der in V. 7 durch min hā- ʾadāmā „vom Ackerboden“ näher erläutert wird. Der Mensch ist aus Staub geformt, und zwar vom Ackerboden. Die 59  60 

Vgl. Keel, Bildsymbolik, 227 mit Abb. 334. Spieckermann, Ambivalenzen, 60.

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Wendung ʿāpār min hā- ʾadāmā „Staub vom Ackerboden“ ist ungebräuchlich; sachlich vergleichbar und breit belegt ist dagegen die Konstruktusverbindung ʿāpār hā- ʾāræṣ „Staub der Erde“. Die auffällige Verbindung von ʿāpār mit hā- ʾadāmā in V. 7 erklärt sich allein aus der Intention, das wesensmäßige Gebundensein des (vergänglichen) Menschen an den Ackerboden auszudrücken. Gerade dann ist aber nicht zu erklären, warum der enge klangliche und sachliche Zusammenhang von ʾādām „Mensch“ und ʾadāmā „Ackerboden“ (vgl. bereits V. 5) durch ʿāpār unterbrochen wird. Inhaltlich fällt auf, dass entgegen der Erzähllogik die stoffliche Parallelität zu den Tieren aufgegeben ist, von denen es in 2 , 19 heißt, Jhwh-Gott habe sie aus dem Ackerboden geformt (*yṣr + min hā- ʾadāmā wie V. 7*). Die zusätzliche Stoffangabe bei der Formung des Menschen, die im Schöpfungsgeschehen von Gen 2 völlig folgenlos bleibt, wird erst im Strafspruch an den Menschen in 3, 17b–19 wieder aufgegriffen (V. 19b). Der fragliche Teilvers ist jedoch eine Dublette zu 3, 19aβγ, die anders als der Grundbestand der Paradieserzählung mit der pointierten Aussage „denn Staub bist du“ den Tod selbst zum Gegenstand der Reflexion macht (vgl. Hi  10, 9: „Bedenke doch, dass du mich wie Ton gemacht hast und dass du mich zu Staub zurückkehren lässt!“). Gewiss, auch 3, 19aβγ spricht von der Sterblichkeit des Menschen, doch ist diese nicht das eigentliche Thema des Strafspruchs oder gar selbst die zugemessene Strafe. Die als Strafe auferlegte Daseinsminderung besteht vielmehr darin, dass der Lebensunterhalt bis zum (schöpfungsgemäßen) Tode dem Ackerboden abgerungen werden muss, von dem der Mensch genommen ist und den zu bestellen er bestimmt ist. Sehr wahrscheinlich handelt es sich daher bei dem Wort ʿāpār „Staub“ und bei 3, 19b um einen Nachtrag.61 Womöglich wurde dieser durch den die Schlange treffenden Fluch angeregt, der dieser Staub als Nahrung zuweist und sie zugleich in die Nähe von Tod und Unheil rückt (3, 14).

Nach der ursprünglichen Fassung der Paradieserzählung formt Jhwh den Menschen ( ʾādām) aus dem Ackerboden ( ʾadāmā ), damit er diesen bearbeiten kann (V. 5; vgl. 3, 23). Hinsichtlich der Substanz unterscheidet sich der Mensch nicht von den Tieren (V. 19), doch ist er seiner Bestimmung nach in besonderer Weise an den Ackerboden gewiesen. Die Begriffe ʾādām und ʾadāmā leiten sich eventuell von einer Wurzel * ʾdm „rot sein“ ab (Ges18), was mit dem rötlich-braunen Farbton der menschlichen Haut und des Ackerbodens, der eisenhaltigen terra rossa, zusammenhängen könnte. Wichtiger als die etymologische Herleitung ist freilich die in der Antike verbreitete Ansicht, wonach der Name und das Wesen der bezeichneten Sache ineinanderfließen und sich im Gleichklang eine innere Wesensübereinkunft ausdrückt.62 In diesem Sinne erschließt das Wortspiel von ʾādām und ʾadāmā das Wesen des Menschen und seine schöpfungsgemäße Verbundenheit mit dem Ackerboden 61  Vgl. u.   a. Pfeiffer, Baum I, 491  f. Anders zuletzt Bührer, Anfang, 208  f. Er schließt aus der durch seine schlichte Existenz belegten Tatsache, dass der vorliegende Text sprachlich „möglich“ ist, auf dessen Ursprünglichkeit. Das wiederholt gebrauchte Argument ist problematisch, da „möglich“ und „ursprünglich“ auf unterschiedlicher kategorialer Ebene liegen. Anders formuliert: Auch Redaktoren/Glossatoren konnten Hebräisch und haben mithin „mögliche“ Texte produziert. 62  Vgl. I.L. Seeligmann, Voraussetzungen der Midraschexegese, in: Congress Volume Copenhagen 1953, VT.S 1, Leiden 1953, 150 –181, 157  ff.

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(vgl. 2, 5b; 3, 19a. 23). Das Wort ʾādām wird durch den Gebrauch des Artikels determiniert. Somit handelt es sich nicht um den vom weisheitlichen Erzähler erstmals im genealogischen Kontext gebrauchten Eigennamen „Adam“ (Gen 4, 25; vgl. 5, 1 P),63 sondern um die Bezeichnung der zunächst durch ein einziges Exemplar vertretenen Gattung „Mensch“. Dieser Sprachgebrauch wird auch dann beibehalten, wenn nach der Erschaffung der Frau vom Mann im Gegenüber zur Frau die Rede ist (vgl. hā- ʾādām w  e- ʾištō „der Mensch und seine Frau“ in 2, 25; 3, 8; hā- ʾādām in 2, 23; 3, 9 u. ö.). Mithin erübrigen sich bereits in der rabbinischen Exegese auftauchende Mutmaßungen über eine sexuelle Indifferenz des ersten Menschen.64 Der erste Mensch ist männlich gedacht – unbeschadet der Tatsache, dass er sich erst im Gegenüber zur Frau als Mann wahrnimmt (vgl. Gen  2, 23) und sich wie auch die Frau erst nach dem Essen vom Baum seiner Sexualität bewusst wird (vgl. Gen 3, 7 ). Die Erschaffung des Menschen aus Erdmaterialien ist ein im alten Vorderen Orient weit verbreitetes Motiv. So wird in mesopotamischen Mythen vielfach berichtet, dass die Schöpfergottheiten den Ton oder Lehm aus der Tiefe des Apsû (sumerisch: Abzu), des unterirdischen Süßwasserozeans und Sitz des Gottes Ea (sumerisch: Enki), „abgekniffen“ hätten. Das so gewonnene Material hat selbst keine eigene kreative Potenz, gleichwohl hat seine Herkunft eine unverkennbare mythische Konnotation, wie sie im biblischen Text unbeschadet gemeinsamer Motive nicht mitschwingt. Gen  2, 6 deutet lediglich die Befeuchtung des Ackerbodens durch einen unaufhörlich aufsteigenden Wasserschwall ( ʾēd   ) an. Vollends mit der Erweiterung um das Wort „Staub“ ist die Aussage von Gen 2, 7 über die materiale Herkunft des Menschen von einer „geradezu banalen Unsakralität“65. Freilich ist auch diese Facette nicht ohne Analogie. Prominent ist die Schilderung der Erschaffung des Wildmenschen Enkidu aus dem im gesamten alten Vorderen Orient bekannten Gilgamesch-Epos66: „(Die Muttergöttin) Aruru wusch sich ihre Hände, kniff Ton ab und warf ihn in die Steppe. In der Steppe erschuf sie Enkidu, den Helden, den Sprössling der Stille, den Brocken des (kraftstrotzenden Gottes) Ninurta. Dicht behaart ist er an seinem ganzen Leibe, versehen mit Locken wie eine Frau. Seiner Haarmähne Locken sprießen so üppig hervor wie (die Getreide[-Göttin]) Nissaba selbst. Nicht sind ihm die Menschen und das Kulturland bekannt. Mit einem Gewande bekleidet wie S.o. Anm. 10 zu 2 , 20. Anders P. Trible, Gott und Sexualität, Gütersloher Taschenbücher Siebenstern 539, Gütersloh 1993, 98 –101. Zur Kritik vgl. S. Lanser, Feminist Criticism in the Garden: Inferring Genesis 2 –3, Semeia 41 (1988) 67–84, 71–74; D.J.A. Clines, What Does Eve Do to Help? And Other Irredeemably Androcentric Orientations in Gen 1–3, in: ders., (Hg.), What Does Eve Do to Help? And Other Readerly Questions to the Old Testament, JSOT.S 94, Sheffield 1990, 25 –  48. Zur androgynen Deutung von Gen (1, 27 und) 2 , 7 im hellenistischen und rabbinischen Judentum vgl. R. Zimmermann, Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis, WUNT II/122 , Tübingen 2001, 215 –219. 65  H.-P. Müller, Mythische Elemente in der jahwistischen Schöpfungserzählung, ZThK  69 (1972) 259 –289, 272 . 66  Vgl. dazu Maul, Gilgamesch-Epos, ferner Sallaberger. 63  64 

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(der sich in den Herden- und Raubtieren der Steppe offenbarende Gott) Schakkan, frisst mit Gazellen er Gras. Mit Herdentieren drängt er sich an der Wasserstelle, mit wilden Tieren labt er sich am Wasser“ (Gilgm I, 101–112)67. Der aus dem Ackerboden geformte Mensch wird durch das Einhauchen des Lebensatems (nišmat ḥayyīm) belebt. Die nächsten Analogien zu diesem zweiten Akt der Erschaffung des Menschen finden sich in ägyptischen Quellen: Zum Bildrepertoire der Darstellung der (göttlichen) Zeugung und Geburt des Pharaos gehört, dass dem Neugeborenen oder seiner Mutter von einer Gottheit, zumeist Hathor, das Zeichen für Leben „Anch“ vor die Nase gehalten wird. Wie in dem bereits erwähnten Relief aus dem Tempel des Amenhotep III. ist das Motiv noch in römischer Zeit mit der Formung des Menschen aus Ton verbunden. In mesopotamischen Schöpfungstexten ist das Motiv der Belebung des von Götterhand geschaffenen Gebildes weniger prominent, wenngleich auch hier vom Menschen als einer von der Schöpfergottheit „beatmeten Gestalt“ (šikitta napšu; EnEl  VI, 129) die Rede ist. Eine wichtige Rolle spielt das Motiv jedoch im Kontext der Herstellung von Götterbildern. Im Ritual der Mundöffnung werden die Kultbilder nach ihrer künstlerischen Gestaltung aus Holz, Stein, Metall und Edelsteinen durch die wilde Steppe an den Fluss und von dort in den Gottesgarten gebracht. Hier findet vor seiner Überführung in das Heiligtum im Kreis der Götter die Mundöffnung statt, worauf die figürliche Darstellung der Gottheit atmen und kommunizieren kann, mithin zum belebten Repräsentanten der Gottheit wird. Der Ablauf des Rituals, zu dem sich im alten Vorderen Orient zahlreiche Entsprechungen nachweisen lassen, erinnert von ferne an den Aufriss von Gen 2 –3. Dies hat in jüngerer Zeit zu Überlegungen geführt, die Paradieserzählung problematisiere im Rückgriff auf das mesopotamische Ritual die Aussage von der Gottebenbildlichkeit in Gen  1, 26 –28. Die Paradieserzählung berichte gleichsam von der Mundöffnung des in Gen 1, 26 – 28 genannten Bildes, das jedoch nach seiner Vollendung im Gottesgarten einer Gefährtin bedürfe und dessen Weg aus dem Gottesgarten nicht in den Tempel, sondern hinaus zur Arbeit auf den Acker führe.68 Doch die Abweichungen sind zu groß, als dass Gen 2 –3 als bewusste Kritik an Gen  1 im Modus der Verfremdung einer mesopotamischen Blaupause gelten kann, zumal diese Interpretation Verfassern und ursprünglichen Adressaten der 67  Das Gilgamesch-Epos enthält keinen Bericht über die Menschenschöpfung im engeren Sinne. Doch in die Figur des Enkidu sind traditionelle Schöpfungsmythen und Überlieferungen vom Urmenschen aufgenommen worden. So findet die Erschaffung Enkidus in einer Welt statt, die schon seit langem von Menschen bewohnt ist, und zugleich „vollzieht sich im Zeitraffer die Menschwerdung des Menschen noch einmal“ (F. Hartenstein, „Und weit war seine Einsicht“ [Gilgamesh I, 202]: Menschwerdung im Gilgameshepos und in der Paradieserzählung Genesis 2 –3*, in: M. Geiger [Hg.], Essen und Trinken in der Bibel [FS R. Kessler], Gütersloh 2009, 101–115, 106; Hervorhebung im Original). 68  Schüle, Prolog, 161–165. Zur Kritik vgl. W. Bührer, Der Baum in der Mitte des Gartens – Prägende Traditionen hinter der biblischen Paradieserzählung, Magisterarbeit Heidelberg 2008, 78 –82; ders., Anfang, 343 –346.

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Paradieserzählung kaum mögliche Einblicke in das nur den unmittelbar Beteiligten vertraute Ritual unterstellt und in Gen  2 wenigstens der problematisierte Begriff „Bild Gottes“ (ṣǣlæm   ʾælōhīm) zu erwarten wäre. Ohnehin ist eine auf die (unsichere) Rezeption eines bestimmten Textes bezogene Erklärung der biblischen Rede vom Einhauchen des Lebensatems unnötig kompliziert. Der Atem ist neben dem Herzschlag das sinnfälligste Kennzeichen des Lebens (vgl. 1Kön  17, 17 ). Insofern dürfte die biblische Rede wie auch das mesopotamische Ritual oder die ägyptische Belebung durch das Lebenszeichen auf der gemeinsamen Anschauung beruhen, dass eine Manipulation an Mund oder Nase einen unbelebten Gegenstand ins Leben rufen kann (vgl. 2Kön 4, 34 f; Ez 37, 9 f; Ps 104, 29 f ). Im innigen Moment der Beatmung des Menschen drückt sich die besondere Verbindung des Menschen mit Gott aus – nicht mehr und nicht weniger. Der Lebensodem (nišmat ḥayyīm) ist kein Privileg des Menschen (Gen  7, 22; vgl. Ps  150, 6; Pred  3, 19 –21). Da aber für die Tiere keine Beatmung durch Jhwh-Gott berichtet wird, ist in Gen  2, 7 immer wieder ein leiser Anklang an die in der Antike verbreitete Vorstellung gehört worden, wonach sich im Menschen Irdisches und Göttliches verbinden, was seine besondere Stellung zwischen Gott und Welt beschreibt: Von Prometheus wird berichtet, dass er den aus Erde und Wasser geformten Menschen durch einen von den Göttern entwendeten Feuerfunken ins Menschsein gebracht hat (Apollodor  1, 45; vgl. Plato Prot. 320c–322d), dass er den Menschen selbst mit Lebensgeist versehen hat (Ov.met. I, 363 ff ) oder dass Athene sein Werk durch das Einhauchen des Lebensatems beseelt hat (Luc. Prom. 3). Nach der orphischen Anthropogonie hat Zeus den Menschen aus Rauch und Asche des getöteten Dionysos und seiner gerichteten Mörder, den Titanen, gebildet (Orph. frg. 220). In einigen mesopotamischen Texten geht der Erschaffung des Menschen die Tötung eines Gottes voraus. Der Mensch wird entweder aus dem Blut und Gebein des getöteten Gottes geformt (EnEl VI, 5 f ), oder dessen Blut wird dem Lehm beigemischt, aus dem der Mensch geformt wird (Atr I, 189 ff [II, 68 ff]). Außer der besonderen Stellung des Menschen lassen sich so auch dessen Wesensmerkmale mit seiner materiellen Substanz erklären. Der geschlachtete Gott gehört zu einer Gruppe von Aufrührern, was das menschliche Geschick in eine tragische Schuldverstrickung hineinnimmt (EnEl VI, 21 ff ), oder es handelt sich um eine Gottheit, der mit der Planungsfähigkeit eine Eigenschaft zugeschrieben wird, die den Menschen auszeichnet und die er unbedingt benötigt (Atr I, 233 f [II, 115 f   ]). Im Vergleich zu den genannten griechischen und mesopotamischen Texten ist die Paradieserzählung bemerkenswert zurückhaltend. Die Schuld­ verstrickung wie die Einsichts- und Kulturfähigkeit des Menschen werden einzig mit der Übertretung des göttlichen Verbots durch das erste Menschenpaar verbunden. Auch erhält der Mensch durch die Beatmung keinen Anteil an einer göttlichen Seele oder einem göttlichen Funken. Es wird in Gen 2, 7a nicht einmal explizit gesagt, dass es sich um Gottes Lebensodem handelt, der dem Menschen eingehaucht wird (so erst Ps  104, 30; Hi  27, 3). V. 7b liegt

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ganz auf dieser Linie. Die Beatmung durch Jhwh-Gott macht aus dem leblosen Körper ein lebendiges Wesen (nǣpæš ḥayyā; Luther 1545: „eine lebendige Seele“), ihm wird keine nǣpæš beigegeben. Dementsprechend preist das Schöpferlob Gottes lebendigmachenden Atem und setzt zugleich das Entziehen des menschlichen Atems mit dem Sterben gleich: „Verbirgst du dein Antlitz, erschrecken sie, nimmst du ihren Atem weg, sterben sie und werden wieder zu Staub. Sendest du deinen Atem, werden sie erschaffen, und du erneuerst das Antlitz der Erde“ (Ps  104, 29 –30). Aus der Unterscheidung zwischen dem leblosen Körper und dem lebenden Menschen ergibt sich also kein dichotomisches Menschenbild, das strikt zwischen dem Leib und der Seele im Sinne des belebenden Elements trennt. Vielmehr wird der Mensch wie im gesamten Alten Testament als psychosomatische Einheit begriffen, was gerade ausweislich der biblischen Urgeschichte eine differenzierte Wahrnehmung der körperlich-vegetativen, der noetischen und voluntativen sowie der emotionalen Aspekte des Personseins einschließt. Entsprechend kann das hebräische nǣpæš, dessen konkrete Grundbedeutung „Kehle“ und „Hals“ lautet, je nach Kontext jeden einzelnen dieser Aspekte umgreifen. In V. 7b geht es in der Verbindung mit ḥayyā „lebendig“ um die Vitalität.69 Auch wenn der hier mit „lebendiges Wesen“ wiedergegebene Ausdruck nǣpæš ḥayyā in der priesterschriftlichen Urgeschichte eine prominente Rolle spielt und die Konstruktion von V. 7b von Ferne an die Ausführungsformel in Gen 1 erinnert („und es geschah so“; vgl. 1, 7. 9. 11. 15. 24. 30), so sind die Gemeinsamkeiten doch zu gering, um hier eindeutig einen um den sprachlichen Ausgleich mit Gen 1 bemühten Redaktor zu identifizieren. Ob redaktionell oder nicht, der Ausdruck ist gut gewählt, da er andernorts nur für Tiere gebraucht wird (vgl. noch Lev  11, 10. 46; Ez  47, 9) und somit nochmals mit wünschenswerter Deutlichkeit unterstreicht, dass Gen  2, 7 die Erschaffung des Menschen als Naturwesen beschreibt.70 Auch wenn das Bedürfnis nach Vergemeinschaftung in der menschlichen Natur angelegt ist (vgl. Gen 2, 18), so spricht die Paradieserzählung an dieser Stelle noch nicht vom Menschen als Sozial- und Kulturwesen. Als Analogie lässt sich auf das obige Zitat aus dem Gilgamesch-Epos verweisen, wonach sich die Menschwerdung Enkidus nach dem eigentlichen Schöpfungsakt (aus Lehm und ohne göttliche Beigaben) durch den Fortgang der Ereignisse in mehreren Stufen vollzieht. Dass sich mit Gen 2 , 7 in der Auslegungsgeschichte bis in die Gegenwart hinein immer wieder die Vorstellung einer unsterblichen Seele verbunden hat, hängt auch mit der Übersetzung ins Griechische durch die LXX zusammen.71 Diese hat ein platonisierendes Verständnis von Gen 2 , 7 befördert, auch wenn sich dies nicht zwingend aus ihrer Übersetzung von nǣpæš ḥayyā „lebendiges Wesen“ mit ψυχὴ ζῶσα „lebendige Seele“ ergibt: Nach Platon geht die präexistente und unsterbliche ψυχή während Vgl. H. Seebaß, Art. „næpæš “, ThWAT V (1986) 531–555. Vgl. Pfeiffer, Baum II, 3. 71  Vgl. M. Rösel, Die Geburt der Seele in der Übersetzung, in: A. Wagner (Hg.), Anthropologische Aufbrüche, FRLANT 232 , Göttingen 2009, 151–170. 69  70 

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des irdischen Lebens eines Menschen mit dessen vergänglichem Leib eine zeitlich begrenzte Verbindung ein, die sich im Tod wieder auflöst. Der hellenistisch-jüdische Philosoph und Exeget Philo von Alexandria (ca. 20/10 v. Chr. bis 45 n. Chr.) hat diese Konzeption und das damit verbundene dichotomische Menschenbild in seine Auslegung von Gen 2 , 7 eingetragen, indem er das Einhauchen des Lebensatems auf die unsichtbare Seele bezog, die eine unmittelbare Gabe Gottes sei und den unsterblichen Bestandteil des Menschen ausmache (Philo opif. 135). Von Origenes (185 –254 n. Chr.) geprägte Theologen haben den Text ähnlich ausgelegt. Gott habe Adam und Eva als Seelen erschaffen und erst bei ihrer Vertreibung mit einem irdischen Leib, den Fellkleidern (Gen  3, 21), versehen. Die von der LXX gewählte Übersetzung von næpæš mit ψυχή und die vom griechischen Wortlaut von Gen 1, 20 f (Und Gott sprach: Die Wasser lassen hervorgehen Kriechtiere mit lebenden Seelen … und Gott machte die großen Fische und jede Seele der lebenden Kriechtiere) her mögliche Vorstellung, dass Gott die Seelen in besonderer Weise geschaffen hat, sind für eine derartige Lesart durchaus offen. Doch muss dies nicht das Verständnis der Übersetzer der LXX gewesen sein. Das im Deutschen mit Seele und im Lateinischen mit anima wiedergegebene ψυχή hat im homerischen Sprachgebrauch ein ähnliches Bedeutungsspektrum wie das hebräische næpæš. Eine intensive Homer-Rezeption in hellenistischer Zeit lässt vermuten, dass sich die LXX-Übersetzer auch an diesem, ihnen und ihren Zeitgenossen vertrauten Sprachgebrauch orientiert haben. In diese Richtung weist auch die wenig ambitionierte Übersetzung des hebräischen n ešāmā „Atem“ mit dem durch keine besondere Bedeutung ausgezeichneten πνοή „Atem“ oder „Wind“. Insofern ist es sehr unsicher, ob die LXX-Übersetzer Gen  2 , 7 (exklusiv) im Sinne der platonischen Vorstellung von der ψυχή verstanden wissen wollten, die zwar gerne mit der klassisch-griechischen Sicht identifiziert wird, gleichwohl eher einen Sonderweg darstellt.

Der Abschnitt handelt von der Einrichtung, Ausstattung und Lokalisierung 2, 8 –17 des Gartens, der dem Menschen als Lebensgrundlage und Lebensraum dienen soll. V. 8 gibt eine zusammenfassende Vorwegnahme des Folgenden. Der erste Teil der Vorschau, die Anlage des Gartens, wird in V. 9 entfaltet, der zweite Teil, die Lokalisierung des Gartens, in V. 10 –14 und der dritte Teil, die Existenzbedingungen des Menschen im Garten, in V. 15 –17. Unbeschadet des klaren Aufbaus gibt es Hinweise auf ein mehrstufiges literarisches Wachstum. Die kleine Paradiesgeographie in V. 10 –14 gilt weithin aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen als redaktioneller Einschub. Die Folge von Partizipialsätzen unterbricht den Erzählfluss durch eine statische Zustandsbeschreibung. Auch wird zumindest mit der Nennung von Tigris und Euphrat der urgeschichtliche Kontext aufgegeben und der in mythischer Ferne (miq-qǣdæm) im Wonneland ( ʿēdæn) angesiedelte Garten in die historische Welt hineingeholt – nur um diese gleich wieder zu verlassen. V. 15 bindet den Nachtrag durch die redaktionelle Wiederaufnahme der Aussage von V. 8 ein, dass Jhwh-Gott den Menschen in den Garten gesetzt habe. Das gegenüber V. 8 überschießende Moment der Wächterfunktion des Menschen aus V. 15 steht wiederum im Zusammenhang mit dem Nachtrag in Gen 3, 24, wonach diese Aufgabe nach der Vertreibung des Menschen aus dem Garten den Cheruben zukommt. Ein viel diskutiertes Problem ist sodann die Er-

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wähnung des Baums des Lebens in V. 9b. Wie erwähnt (s.  o. zur Entstehung), ist seine Zugehörigkeit zum Grundbestand der Paradieserzählung sehr umstritten. Häufig wird der Baum des Lebens in V. 9b als redaktionell gestrichen, sodass hier ursprünglich nur der Baum der Erkenntnis von gut und schlecht eingeführt worden wäre. Doch an der Konstruktion in V. 9b ist in syntaktischer Hinsicht nichts auszusetzen. Sofern der Baum des Lebens als redaktionell anzusehen ist, bleibt daher zu erwägen, ob V. 9b nicht insgesamt nachgetragen ist. In diesem Fall besteht freilich das Problem, dass der für den Fortgang der Erzählung zentrale Baum der Erkenntnis vor seiner ersten Erwähnung in einer wörtlichen Rede in V. 17 nicht explizit eingeführt werden würde. Dieser Eindruck wird aber dadurch relativiert, dass der Hinweis von Jhwh-Gott auf den Baum der Erkenntnis durch V. 9* nicht sonderlich gut vorbereitet ist, da dem Menschen das identifizierende „in der Mitte des Gartens“ (so erst Gen  3, 3) nicht mitgeteilt wird. Auch ist es ein gängiges Stilmittel, wichtige Gegenstände oder Sachverhalte durch eine wörtliche Rede einzuführen. Sollte in Gen  2, 17 ursprünglich vom Baum in der Mitte des Gartens die Rede gewesen sein, wäre an der Einführung dieses einen besonderen Baumes in der Formulierung des Verbots ohnehin nichts auszusetzen.72 Eine eindeutige Entscheidung zwischen den beiden Alternativen, wonach V. 9b insgesamt oder nur zum Teil redaktionell ist, lässt sich indes kaum fällen. Jhwh-Gott übernimmt es selbst, für die Ernährung des Menschen zu sorV. 8 –9. 15 gen, und legt einen Garten an. Es handelt sich um einen Baumgarten, wie dies vor allem für babylonische Gartenanlagen typisch war, wo im Schatten der großen Dattelpalmen kleinere Fruchtbäume und darunter weitere, niedrigere Nutz- wie Zierpflanzen gediehen. Es hat den Anschein, als sei das Land um den Garten herum fruchtbar, aber noch unbearbeitet (vgl. Gen  3, 23). V. 9a betont die Vielfalt und die ästhetische wie kulinarische Vortrefflichkeit der Bäume. Ez 31, 8 erwähnt in vergleichbarem Kontext Zedern, Zypressen und Platanen, jedoch keine Obstbäume. Wie V. 9b ergänzt, stehen in der Mitte des Gartens zwei besondere Bäume, der Baum des Lebens (s.  u. zu Gen 3, 22) und der Baum der Erkenntnis von gut und schlecht (s.  u. zu Gen 2, 17). Der auf den modernen Betrachter idyllisch wirkende Erzählzug von der Einrichtung eines schönen Gartens speist sich aus Vorstellungen, wie sie sich im alten Vorderen Orient mit Palast- und Tempelgärten verbunden haben.73 Sofern es sich nicht um Nutzgärten handelte, waren Gärten ein Privileg hochgestellter Persönlichkeiten. Ikonographische Quellen aus Mesopotamien zeigen mit Mauern umgebene Anlagen mit schattenspendenden S.o. bei Anm. 31. Für einen Überblick vgl. M. Carroll-Spillecke (Hg.), Der Garten von der Antike bis zum Mittelalter, Kulturgeschichte der Antiken Welt 57, Mainz 1992; K. Gleason (Hg.), A Cultural History of Gardens in Antiquity, London u.  a. 2013. Ferner mit Blick auf Gen 2 –3: Stordalen, Echoes, 81–183; D. Jericke, Königsgarten und Gottes Garten. Aspekte der Königsideologie in Genesis  2 und 3, in: C. Maier u.  a. (Hg.), Exegese vor Ort (FS P. Welten), Leipzig 2001, 161–176. 72  73 

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Bäumen, künstlicher Bewässerung und Ruheplätzen für die königlichen Gartenbesitzer und ihr Gefolge. Literarische Quellen dokumentieren den Stolz neuassyrischer Könige, die sich selbst als Gärtner präsentieren. Diese Selbstbeschreibung klingt noch in der Königstravestie des hellenistischen Koheletbuchs an, das König Salomo sagen lässt: „Ich legte mir Gärten und Parks an und pflanzte darin allerlei Fruchtbäume. Ich machte mir Wasserteiche, um den sprossenden Baumwald daraus zu tränken“ (Pred  2, 5 f ). Darüber hinaus erwähnt das Alte Testament für die ausgehende Königszeit einen Palastgarten der judäischen Könige (vgl. 2Kön 21, 18. 26) im südlichen Teil des Kidrontals an der Ostseite Jerusalems (vgl. 2Kön  25, 4; Neh  3, 15), der noch in der Perserzeit als eine wertvolle Prestigeanlage gepflegt wurde (vgl. Neh 2, 8). Archäologisch ist im südlich von Jerusalem gelegenen Ramat Rahel eine aus der späten Königszeit stammende und bis in die Perserzeit benutzte Palastanlage nachgewiesen, die auch ein möglicherweise 16  0 00 m2 großes Gartenareal mit einer aufwendig gestalteten künstlichen Bewässerung umfasst hat.74 Sodann gibt es Hinweise auf einen Tempelgarten in Jerusalem (vgl. Ps  52, 10; 92, 13 f; Jes  60, 13). Das Hohelied, das neben der Paradieserzählung die meisten alttestamentlichen Belege für gan „Garten“ bietet und in dem die angesprochene Geliebte mit einem Garten verglichen wird (vgl. Hhld  4, 12 –5, 1), zeigt, dass Gärten über Erholung und Repräsentation hinaus als Ort vielgestaltigen Genusses galten. Vor allem aber sollten nach Auskunft zahlreicher mesopotamischer Texte die Palast- und Tempelgärten mit ihren aus allen Ecken des jeweiligen Herrschaftsbereichs zusammengebrachten Tieren und Pflanzen die Ordnung der Schöpfung widerspiegeln. Der König präsentiert sich dabei als Landmann, der für Fauna und Flora sorgt. In der Paradieserzählung ist dieser Zug der Königsideologie des alten Vorderen Orients auf den Urmenschen übertragen, insofern ihm die Aufgabe zukommt, den Garten zu bewachen (V. 15). Das erinnert ein wenig an den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht, in dem Aussagen über die Gottebenbildlichkeit des Königs und seine damit verbundene Herrschaft über die Erde und die Tierwelt aus der Königsideologie in die allgemeine Anthropologie überführt werden (s.  o. S.  65 –70 zu Gen  1, 26 f ). Allerdings wird dem Menschen dieses Privileg in der Paradieserzählung mit der Vertreibung aus dem Paradies in die Realität ihrer Verfasser und Leser wieder entzogen. Schon deshalb eignet sich V. 15 nur sehr bedingt als schöpfungstheologische Grundlegung einer besonderen Verantwortung des Menschen für die Schöpfung. Vermutlich wäre der in der jüngeren Auslegungsgeschichte von V. 15 wiederholt formulierte Gedanke, der Mensch sei zur Bewahrung der Schöpfung aufgerufen, den Verfassern der Paradieserzählung ohnehin nicht verständlich gewesen oder gar als Hybris erschienen. Festzuhalten bleibt, dass nach V. 15 auch die paradiesische Existenz des Menschen mit Ar74  O. Lipschits/Y. Gadot/B. Arubas/M. Oeming (Hg.), What Are the Stones Whispering? Ramat Rahel: 3000 Years of Forgotten History, Winona Lake, IN 2017, 63 –94, 108 –111.

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beit verbunden war, wenngleich noch ohne die Erfahrung der vergeblichen Mühe (vgl. Gen 3, 17–19). Mythisches Urbild und gedankliches Gegenstück der Palast- und Tempelgärten sind die Göttergärten, zu denen auch der Garten in Eden mit seinen exklusiven, köstlich anzusehenden Bäumen und schmackhaften Früchten (Gen 2, 9), den Tieren des Feldes und Vögeln des Himmels (Gen 2, 19), seiner steten Bewässerung (Gen  2, 6. 10 –14) und seiner Umfriedung samt Wachen (3, 24; vgl. 2, 15) gehört. Entsprechend wird die Bezeichnung „Eden“ in der prophetischen Überlieferung mit „Garten Jhwhs“ ( Jes 51, 3; vgl. Gen 13, 10) oder „Garten Gottes“ (Ez 28, 13; 31, 9) gleichgesetzt. Und auch der Ausgang der Paradieserzählung macht unmissverständlich klar, dass der von Cheruben bewachte und für Menschen fortan unzugängliche Garten ein Privileg Gottes ist. Innerhalb der alttestamentlichen Überlieferung weist das Orakel gegen den König von Tyros in Ez 28, 11–19 die größten motivischen und strukturellen Gemeinsamkeiten mit der Darstellung des Aufenthalts des Menschen im Gottesgarten in Gen  2 –3 auf. Das Orakel gegen den König von Tyrus greift für seine Gerichtsankündigung auf Motive eines Mythos vom königlichen Urmenschen zurück (V. 11–19), der nach seiner Erschaffung (V. 13. 15) in den Garten Eden auf den heiligen Berg (V. 13) versetzt wurde und dort lebte (V. 14). Der Urmensch zeichnete sich durch Schönheit und Weisheit (V. 4  f. 7. 12) sowie  – implizit  – durch Unsterblichkeit (V. 10) aus. Als „Siegelabdruck und Abbild voll Weisheit und vollkommener Schönheit“ (V. 12) hat der Urmensch göttliche Züge, doch fällt er wegen seiner Hybris in Ungnade. Weil er nicht nur gottähnlich, sondern wirklich Gott sein wollte, wird er aus der Nähe Gottes verbannt und aus dem Gottesgarten auf die Erde hinabgeschleudert (V. 16 f ), womit er zugleich alle Vorzüge verliert, derer er durch die Nähe zu Gott teilhaftig war: Weisheit, Schönheit und Unsterblichkeit (V. 17 ). Auch wird ein Cherub erwähnt, dem ähnlich wie in Gen  3, 24 (hier im Plural) eine Wächterfunktion zukommt (V. 14. 16). Unbeschadet der Übereinstimmungen sind die Unterschiede gegenüber Gen 2 –3 nicht zu verkennen: Der Eden-Stoff ist in Ez  28 nicht Teil eines Weltschöpfungsmythos; die Weisheit des Urmenschen wird nicht durch Übertretung eines Gebots erworben, sondern ist durch Gottesnähe gegeben und geht durch Unrecht verloren; Ez berichtet nur von einem, dafür ungleich aktiveren Cherub. Der Hybris des Königs von Tyrus steht die Naivität des ersten Menschenpaares gegenüber. Diese und andere sprachliche wie inhaltliche Differenzen sprechen gegen eine literarische Abhängigkeit zwischen Ez  28, 11–19 und Gen 2 –3. Vermutlich nehmen beide Texte Motive eines bekannten Mythos auf, den sie in verschiedener Weise rezipieren.75

Nach Gen 2, 8 liegt der Garten „in Eden“ (b e- ʿēdæn; vgl. V. 10 und Gen 4, 16), woraus sich im Fortgang der Traditionsbildung der Ortsname „Garten Eden“ (gan ʿēdæn; vgl. Gen  2, 15; 3, 23 f ) herausgebildet hat. Sonst spricht die Paradieserzählung lediglich vom Garten (vgl. 2, 9. 10. 16; 3, 1. 2. 3. 8[2x]. 10). Die Gebietsbezeichnung Eden wird gerne mit dem aramäischen Kleinkönigtum Bit-Adini am mittleren Euphrat (bēt ʿǣdæn in Am  1, 5; ʿǣdæn in 2Kön  19, 12; 75 

Vgl. M. Saur, Der Tyroszyklus des Ezechielbuches, BZAW 386, Berlin 2008, 317–322 .

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Jes  37, 12; Ez  27, 23) in Verbindung gebracht. Hierfür werden auch die Angabe „in Eden, im Osten“ (b e- ʿēdæn miq-qǣdæm) in V. 8 sowie die Flüsse Tigris und Euphrat aus der nachgetragenen Paradiesgeographie in V. 10 –14 angeführt, wobei sich die übrigen dort erwähnten Fluss- und Landschaftsnamen allerdings nicht im nördlichen Syrien lokalisieren lassen (s.  u. zu V. 10 –14). Philologisch ist die Verbindung von Eden mit der gleichnamigen Gegend am oberen Euphrat möglich, doch sollte der mythisch-symbolische Charakter der Lokalisierung des Gottesgartens nicht übersehen werden, wie er in der prophetischen Überlieferung zum Ausdruck kommt. Gegen eine ungebrochene Übertragung von Gen  2, 8 in realgeographische Verhältnisse spricht ferner, dass der für eine Identifizierung notwendige Bezugspunkt für die zumeist mit „im Osten“ (vgl. LXX) wiedergegebene Angabe miq-qǣdæm fehlt. Die Aussage ist mithin denkbar vage, zumal miq-qǣdæm auch einen temporalen Aspekt hat (vgl. Jes 45, 21; 46, 10; Mi 5, 1; Hab 1, 12; Ps 74, 2. 12; 77, 6. 12; 143, 5), wie er in zahlreichen antiken Übersetzungen und Paraphrasen des Verses zum Ausdruck kommt.76 Die Schwierigkeiten der antiken Übersetzungen, sich auf einen der beiden Aspekte festzulegen, zeigen, wie fließend die Grenzen zwischen Raum- und Zeitbegriffen im biblischen Hebräisch sind. Es liegt daher nahe, dass der Garten in Eden nach Auffassung von V. 8 gleichermaßen in lokaler wie temporaler Hinsicht in mythischer Ferne liegt, eben „in der Vorzeit, im fernen Osten“ (vgl. Hi 1, 3). Dass sich die Lokalisierungen eines Ortes in der realen und zugleich in der mythischen Geographie nicht grundsätzlich ausschließen, sondern der jeweilige Ortsname kontextabhängig in unterschiedlichen Referenzsystemen genannt sein kann, lässt sich für die altvorderorientalischen Paradiesvorstellungen am Beispiel der Insel Dilmum zeigen. Diese ist mit dem heutigen Bahrein im Persischen Golf zu identifizieren, einer Region, zu der die Staaten Mesopotamiens schon sehr früh Handelsbeziehungen unterhielten. Neben dieser realgeographischen Verwendung bezeichnet das süßwasserreiche Dilmum aber auch einen mythischen Ort. Dilmum ist ein zeitlich und räumlich fernes Land jenseits des Meeres, mit dem sich sumerische Schöpfungsmythen verbinden, die diese Insel als Ort des Weltanfangs zeichnen,77 in dem nach der sumerischen Flutgeschichte der unsterblich gewordene Flutheld Ziusudra lebt.78

Wichtiger als die Namensähnlichkeit von Eden mit Bit-Adini ist für das Verständnis ohnehin der Bedeutungsgehalt des Namens, mit dem sich ausweislich der übrigen Ableitungen von der gemeinwestsemitischen Wurzel * ʿdn Üppigkeit und Wohlleben verbinden (Schmuck: 2Sam  1, 24; gutes Essen und Wohlleben: Gen 49, 20; Jer 51, 34; Klgl 4, 5; Neh 9, 25; sexuelle Lust: 76  So die Targumim (explizit TJ, TO ist ähnlich offen formuliert wie MT), die jüdischen Rezensionen der LXX (Aquila, Symmachus und Theodotion), Pesch, Vulg sowie der Midrasch BerR. Vgl. Stordalen, Echoes, 261–270. 77  Vgl. die Mythen von Enki, Ninsikila und Nincḫursaĝa, deutsche Übersetzung mit kurzer Einleitung von H.Ph. Römer, Enki, Ninsikila und Nichursaga, TUAT III, 363 –386. 78  Deutsche Übersetzung mit kurzer Einleitung von H.Ph. Römer, Die Flutgeschichte, TUAT III, 448 –  458.

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Gen  18, 12; geistliche Freude: Ps  36, 9; väterliche Freude: Spr  29, 17 )79 und der für die ersten Rezipienten des Textes kaum zu überhören war: Eden ist das Land der Wonne. Die dem nahekommende Bezeichnung als Paradies geht auf die LXX zurück. Das als Äquivalent für das hebräische gan „Garten“ gewählte griechische παράδεισος (lateinisch paradisus) ist wie das hebräische pardēs „Garten“ (nur Hhld  4, 13; Pred  2, 5 [parallel zu gan „Garten“]; Neh  2, 8) ein persisches Lehnwort (avestisch paridaēza „Umwallung, das Umzäunte“) und bezeichnet ursprünglich einen umfriedeten Park. Im Sprachgebrauch der griechischen Koine benennt das Wort den geschützten Obstgarten. Diese Bedeutung hat παράδεισος auch in der Übersetzung von V. 8, wobei diese Übersetzung für das etwas unspezifische hebräische gan durch die Schilderung des Baumgartens in V. 9 angeregt sein dürfte. Zum Inbegriff für den Idealzustand der Schöpfung und eschatologischen Sehnsuchtsort wird das Wort Paradies erst durch die Übertragung von gan ʿēdæn „Garten Eden“ in Gen 3, 23 f, wo die LXX den Ortsnamen Eden angemessen mit τρυφή „Luxus, Genuss, Wonne“ wiedergibt und vom „Garten der Wonne“ (παράδεισος τῆς τρυφῆς) spricht. Auch wenn die paradiesischen Zustände in der späteren Rezeptionsgeschichte im Judentum, Christentum und Islam kräftig ausgemalt worden sind, so ist die Bezeichnung des Garten Eden als Paradies durchaus sachgemäß. Allein schon die Daseinsminderung, wie sie mit der Vertreibung aus dem Garten hinein in die Realität menschlichen Lebens einhergeht, qualifiziert den Garten als Gegenwelt, die sich durch eine ungebrochene und selige Gottesnähe auszeichnet, als verlorenen Ort des heilvollen Ursprungs, eben als Paradies. Letzteres spricht auch eindeutig gegen die in der Forschung zuweilen aufgestellte Vermutung, die nüchterne Schilderung in Gen 2, 8 polemisiere gegen kanaanäische Gartenund Fruchtbarkeitskulte. Die nachgetragene Paradiesgeographie nimmt das Thema „Bewässerung“ V. 10 –14 aus V. 6 auf. Vermutlich soll sie auch den schwierigen Ausdruck ʾēd erklären. Der nach V. 6 aufsteigende Wasserschwall, der aus der Tiefe aufsteigt und den ganzen Erdboden tränkt, wird als mächtiger Quellfluss interpretiert (vgl. Ps  78, 16), der in Eden entspringt, den Garten bewässert (*šqh hi. wie V. 6) und sich von dort aus, gemeint ist wohl jenseits des Gartens, in vier Flüsse teilt. Diese werden mit einer auch im Akkadischen bekannten Metapher als rāšīm „Häupter“ bezeichnet, womit Flüsse im Bereich ihrer Quellen gemeint sind. Es geht also nicht um die Aufteilung des Flusses wie bei der Bildung eines Deltas. Vielmehr wird ein Strom zum Anfang von vier neuen Flüssen. Die dahinterstehende Vorstellung lässt sich durch eine assyrische Elfenbeineinlage aus der Mitte des 2. Jt. v. Chr. illustrieren, die einen Berggott mit einem Gefäß in den Händen zeigt, aus dem vier Ströme in vier Richtungen herausfließen.80 Sie gehört zu einer Vielzahl von Darstellungen aus dem alten Vorderen Orient, die das Ausfließen des kosmischen Wassers 79  80 

Vgl. HALAT3, 748  f. Vgl. Keel, Bildsymbolik, 104 mit Abb. 153a.

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in vier Ströme zeigen, die in einigen Fällen auch einen realgeographischen Bezug aufweisen. Die Zahl „Vier“ drückt dabei wie in der Bibel Vollständigkeit aus (vgl. Jes  11, 12 „vier Ecken der Welt“; Jer  49, 36 „vier Enden des Himmels“; Jer  49, 36; Ez  37, 9; Sach  6, 5 „vier himmlische Winde“)81 – was sich bis in unsere heutige Einteilung in vier Himmelsrichtungen erhalten hat. Der Aspekt der geographischen Vollständigkeit und die Tatsache, dass die beiden letztgenannten Flüsse Tigris (ḥiddǣqæl  ) und Euphrat leicht zu identifizieren sind, zielen auf die konzeptionelle Aussage, dass die Flüsse der Welt ihren Ursprung in dem Strom haben, der das Paradies bewässert.82 Davon abgesehen, bereiten die Identifizierung der beiden anderen Flüsse und das Verständnis des geographisch-kosmologischen Konzepts seit jeher große Probleme.83 Es wirkt fast so, als ob auch die Verfasser von Gen 2, 10 – 14 zum Teil unbekanntes Terrain betreten, da die geographischen Beschreibungen doch sehr unterschiedlich ausfallen. Mit 19 Belegen ist der Euphrat eine wohlbekannte Größe im Alten Testament, sodass hier die Nennung des Namens genügt. Zu dem noch in Dan 10, 4 erwähnten Tigris (ḥiddǣqæl  ) wird lediglich angemerkt, dass dieser östlich von Assur verläuft. Für die am rechten (westlichen) Ufer des Tigris gelegene Stadt Assur entspricht die Angabe den geographischen Gegebenheiten. Allerdings ist in den übrigen 136 alttestamentlichen Belegen für Assur sonst nicht explizit die Stadt gemeint (im Alten Testament wird immer Ninive als Hauptstadt des neuassyrischen Reiches genannt), sondern stets das assyrische Reich. Da sich die anderen Ortsangaben in Gen  2, 10 –14 auf Länder beziehen, wird auch im Falle Assurs eher die politische Größe oder  – wahrscheinlicher  – das beiderseits des Tigris gelegene Land gemeint sein. Von Israel aus gesehen befindet sich der Tigris im Osten der assyrischen Westgrenze, sodass Assyrien hier als Mesopotamien, das Land zwischen Euphrat (vgl. Jes  7, 20) und Tigris beschrieben wird. Insofern ist die geographische Vorstellung halbwegs stimmig. Weitaus ausführlicher sind die Angaben zu den beiden anderen Flüssen, dem Pischon (V. 11–12) und dem Giḥon (V. 13), geraten. Der Pischon wird im Alten Testament nur hier genannt. Die LXX transkribiert den Namen. Es hat daher den Anschein, als sei ihr anders als bei den Ortsnamen in V. 12 –14 keine Identifizierung möglich gewesen. Wenn überhaupt, so lässt sich die mit dem Flussnamen verbundene geographische Vorstellung aus der Auskunft ermitteln, dass der Pischon das mit wertvollen Bodenschätzen gesegnete Land Ḥawila umflossen hat. Da Ḥawila einen Artikel trägt, wird das Wort appellativ gebraucht sein und ganz allgemein „Sandland“ (vgl. ḥōl „Sand“) bedeuten. Als Ortsname begegnet Ḥawila noch zweimal im Alten Testament, und zwar in der Wendung „von Ḥawila bis nach Schur“. Diese

Vgl. Gunkel, 8. Vgl. Westermann, 294. 83  Zu den Ortsnamen vgl. auch die entsprechenden Einträge in odb (D. Jericke). 81  82 

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Formulierung beschreibt das Siedlungsgebiet der Ismaeliter (Gen 25, 18) und der Amalekiter (1Sam 15, 7 ). Beide Völker werden damit als nomadisierende Gruppen charakterisiert, die südlich des palästinischen Kulturlandes zu Hause sind. Da Schur im Bereich der stark befestigten Ostgrenze Ägyptens im östlichen Nildelta zu lokalisieren ist (Gen 25, 18; 1Sam 15, 7 ), dürfte dieses Gebiet im Osten der ägyptischen Grenze liegen, mithin die sandbedeckten Regionen im westlichen Teil der arabischen Halbinsel und des gegenüberliegenden Küstenstrichs am Roten Meer umfassen. Hierzu passt auch die Erwähnung des Eponyms Ḥawila in der Völkertafel, der einmal als Sohn des Kusch und Enkel Hams (Gen  10, 7 ) und einmal als Sohn des Joktan und Enkel Sems (Gen  10, 29) bezeichnet wird. Die doppelte Vaterschaft ist auffällig und spricht für unterschiedliche Verfasser mit leicht voneinander abweichenden geographischen Konzeptionen, wonach Ḥawila östlich oder westlich des Roten Meeres zu lokalisieren ist. Diese Uneindeutigkeit in der Überlieferung verdankt sich vielleicht dem Umstand, dass der Südwesten der arabischen Halbinsel und die ostafrikanischen Gebiete westlich des Roten Meeres bis in die Gegenwart hinein ökonomisch wie politisch eng zusammenhängen. Auch die Angaben über den großen Reichtum des Landes fügen sich bei aller Unsicherheit in dieses Bild: Man ist versucht, die Angabe über das „gute Gold“ im Lande Ḥawila mit dem Goldland Ophir zu verbinden. Das Gold aus Ophir wird im Alten Testament wiederholt als besonders wertvoll gerühmt, und in der Völkertafel erscheint Ophir als Sohn Joktans und Bruder Ḥawilas (Gen  10, 29). Die Lokalisierung von Ophir ist freilich nicht sicherer als diejenige des sagenhaften El Dorados in Südamerika. Immerhin wird berichtet, dass das Ophirgold auf dem Seeweg über den Golf von Aqaba importiert wurde (1Kön  22, 49), was wiederum auf die Region des Roten Meeres (Nubien oder die südwestliche Küste der arabischen Halbinsel?) verweisen würde. Neben dem guten Gold erwähnt V. 11 noch Bedolachharz und Schohamstein. Der Ausdruck b edōlaḥ ist nur noch in Num  11, 7 belegt. Er wird im Anschluss an antike Übersetzungen gerne mit Bdellium in Verbindung gebracht, dem gelblichen, nach dem Aushärten goldbraunen Harz eines im südlichen Arabien und Somaliland beheimateten Balsambaumes (Commiphora opobalsamum), das als Räucherwerk diente. Die mineralogische Bestimmung des šōham-Steins (vgl. Ex 25, 7; 28, 9. 20; 35, 9. 27; 39, 6. 13; Ez  28, 13; Hi  28, 16; 1Chr  29, 2) ist unsicher. Die sprachliche Nähe zu dem akkadischen sāmtu „rot“, das auch einen Karneol bezeichnen kann, könnte für diesen korallenroten Edelstein sprechen. Seine Fundorte liegen in Ägypten zwischen Nil und Rotem Meer, im östlichen Bereich der arabischen Halbinsel und auf dem Sinai sowie im Hindukusch und im iranischen Hochland.84 Die Angaben über die Kostbarkeiten des Landes sprechen somit zu84  Die Unterscheidung des ōham-Steins vom gleichfarbigen ’ōdæm-Stein (Ex  28, 17; 39, 10; Ez  28, 13; vgl. *’dm „rot sein“) ist schwierig. Vielleicht handelt es sich bei dem ’ōdæm um einen Rubin, einen roten Korund, einen Spinell oder mit den antiken Übersetzungen um einen Sarder, eine rötlich-braune Unterart des Karneols. Die  LXX umschreibt šōham-Stein in Gen  2 , 12 mit

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mindest nicht dagegen, das Land Ḥawila mit den übrigen Belegen im Alten Testament im Südwesten der arabischen Halbinsel und den benachbarten Regionen zu suchen. Für das Verständnis der geographischen Konzeption von Gen  2, 10 –14 dürfte entscheidend sein, dass östlich und südlich des so umschriebenen Gebietes in der Wahrnehmung des antiken Israel nur (ein) Wasser ist. Der Fluss Pischon, der das Land Ḥawila umfließt, mag daher realgeographisch mit den Meeren zu identifizieren sein, welche die arabische Halbinsel (Persischer Golf, Indischer Ozean und Rotes Meer) umgeben, er ist aber zugleich das Wasser am südöstlichen Ende der Welt. Dass die Bedeutung von „(Urzeit-)Strömen“ und „(kosmischem) Meer“ ineinander übergehen, ist auch sonst belegt (vgl. Hab 3, 8 –10) und hat überdies eine bemerkenswerte Parallele in einer spätbabylonischen Weltkarte.85 Sie zeigt die Welt aus der Vogelperspektive, mit Babylon als Zentrum und den vier Weltgegenden, die von einem Wasser umgeben werden, das wie der Persische Golf mit einer Kombination von „Fluss“ und „(salzige) See“ als ídmarratu „der bittere Fluss“ bezeichnet wird.86 Mit einem erweiterten geographischen Horizont ändert sich natürlich das Verständnis der „Paradiesgeographie“. So haben schon einige Targumim (TJ und TN zu V. 11) das Land Ḥawila mit Indien identifiziert, was wiederum zur Identifizierung des Pischon mit dem Ganges durch den im 1. Jh. n. Chr. wirkenden römisch-jüdischen Historiker Flavius Josephus passt, während zum Beispiel Ephraem der Syrer im 4. Jh. n. Chr. an die Donau gedacht hat. Der Name des zweiten Flusses, Giḥon, bezeichnet im Alten Testament sonst eine im Kidrontal östlich von Jerusalem gelegene Quelle (1Kön  1, 33. 38. 45; 2Chr 32, 20; 33, 14), die heutige Marienquelle. Die LXX unterscheidet hier. Den Flussnamen gibt sie mit Γηων, den Namen der Jerusalemer Stadtquelle mit Γιων wieder. Das in Gen 2, 13 gewählte Γηων begegnet andernorts als Wiedergabe von šīḥōr, einem östlichen Nilarm, der auch pars pro toto für den Nil stehen kann (vgl. Jer  2, 18; Sir  24, 27 ). Sollte hinter Γηων die Identifizierung des Giḥon mit dem Nil durch die LXX stehen, so passt dies gut zu ihrer Wiedergabe des in Gen 2, 13 ebenfalls genannten Landes Kūš mit Αἰϑιοπίας. Diese wiederum stimmt mit dem alttestamentlichen Sprachgebrauch überein, in der Kusch durchweg das südlich des ersten Nil-Katarakts gelegene Nubien und seine Bewohner bezeichnet. Aus der Perspektive der Verfasser der Paradiesgeographie dürfte Kusch am südlichsten Ende der Welt gelegen haben (vgl. Ez 29, 10; Est 1, 1; 8, 9). Ähnlich urteilt auch Herodot, der Kusch/ Äthiopien am „Südmeer“ und am Ende der Welt verortet (Hdt. III  17, 25). ὁ λίϑος ὁ πράσινος „hellgrüner Stein“, was zu ihrer Übersetzung mit σμαράγδος „Smaragd“ (Ex  28, 9; 35, 27; 36, 13) oder βηρύλλιον „Beryll“ (Ex  28, 20; 36, 20) passt und ungefähr mit der nicht ganz stimmigen Beschreibung des Brustschilds des Hohepriesters bei Josephus im Anschluss an Ex  28, 17–20; 39, 10 –13 übereinstimmt. Allerdings bietet die LXX an anderen Stellen als Übersetzung σαρδίον „Sarder“ (Ex 25, 7; 35, 9) und ὄνυξ „Onyx“ (Hi 28, 16). 85  Vgl. Unger, Babylon, Tf. 3; Horowitz, Geography, 20 –  42; ferner Pongratz-Leisten, mental map, 274  –276. 86  Vgl. Stordalen, Echoes, 279.

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Einer der wenigen strittigen Belege für Kusch findet sich ausgerechnet im näheren Kontext der Paradieserzählung. In der Völkertafel begegnet Kusch als Vater von Nimrod, dem Erbauer der Städte Mesopotamiens (Gen 10, 8). Hieraus ist wiederholt gefolgert worden, dass mit Kusch in Gen  2, 13 das Siedlungsgebiet der Kassiten im Zagrosgebirge nördlich von Elam gemeint ist.87 Doch die „kassitische“ Lesart von Gen 10, 8 wird zu Recht angezweifelt (s.  u. S.  314  –317 zu Gen  10, 6. 8 –12) und scheidet als Interpretationsschlüssel für die Paradiesgeographie aus. Spricht die Verbindung mit Kusch für eine Identifizierung des Giḥon mit dem Nil oder – wahrscheinlicher – mit einem seiner bis in das 19. Jh. hinein weitgehend unerforschten Quellflüsse, so bleibt die Frage, weshalb die Verfasser nicht die gängige Bezeichnung für den Nil (    y  e   ʾōr) benutzt haben. Die nächstliegende Erklärung ist, dass der Name der Jerusalemer Stadtquelle anklingen sollte. Durch die aus heutiger Perspektive gewagte Parallelisierung der Giḥon-Quelle mit dem Nil (vgl. aber Sir  24, 27 ) und ihre Aufwertung zum Strom werden die Gottesstadt (und ihr Tempel) mit dem Paradies verbunden und die mythische Urzeit mit der gegenwärtigen Erfahrungswelt verschränkt. Die Giḥon-Quelle wird so zu dem Strom, der die Gottesstadt erfreut (Ps  46, 5; vgl. Ps  36, 9) und von dem späte prophetische Texte erwarten, dass er sich vom Tempel aus nach Osten ergießt, zu einem gewaltigen Wasser ausbreitet und selbst das Tote Meer zu Süßwasser umwandelt (Ez  17, 1–12; vgl. Joel  4, 18; Sach  14, 8). Die Beschreibung Edens als Quellort der vier Weltenströme charakterisiert den Garten als Fruchtbarkeit bringenden Mittelpunkt der Welt, durch die Erwähnung des Giḥon wird die Paradiesvorstellung auf Jerusalem und seinen Tempel bezogen.88 Diese symbolisch-geographische Verschränkung von Paradies und Tempel(berg) ist bis in die islamische Zeit nachweisbar.89 Die üblicherweise vorgebrachten geographischen Einwände übersehen den symbolisch-literarischen Charakter der Paradiesgeographie (sowie verwandter Texte und bildlicher Darstellungen) und führen sich vielleicht auch nicht den enormen Erkenntnisgewinn vor Augen, den die Vermessung der Welt im 18.  und 19.  Jh. gebracht hat: Alexander der Große hielt den Indus für den Oberlauf des Nil (Arr.an. VI, 1, 3), und der im 2. Jh. n. Chr. wirkende griechische Geograph Pausanias referiert die Meinung, dass der Euphrat im Sumpfland versickert und in Äthiopien als Nil wieder hervorkommt (Paus. II, 5, 3). Immer wieder wird wegen der Nennung von Tigris und Euphrat eine Lokalisierung Edens in Mesopotamien und angrenzenden Regionen versucht.90 Grundlage ist die Lokalisierung des Gartens „im Osten“ (V. 8; vgl. aber oben zu miq-qæ-dæm), das mesopotamische Kolorit der Paradieserzählung und die Anordnung von Tigris und EuVgl. Dietrich, Paradies, 313  f. Vgl. Görg, Paradies, 31 f; Witte, Urgeschichte, 266 –269. 89  Vgl. O. Livne-Kafri, Jerusalem in Early Islam: The Eschatological Aspect, Arabica 53 (2006 ) 382 –  4 03. 90  Vgl. Hölscher, Erdkarten, 35 –   4 4; Dietrich, Paradies. 87  88 

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phrat. Sie geht von Ost nach West und könnte vermuten lassen, dass die beiden zuvor genannten Flüsse weiter im Osten gelegen sein müssten, zum Beispiel im Iran oder in Indien. Es ist aber auch denkbar, dass zunächst der unbekannte und am weitesten entfernte Pischon genannt wird und dass dem nach Jerusalem weisenden Giḥon in V. 13a eine zentrale Stellung eingeräumt werden sollte.91 Problematisch ist vor allem, dass alle in der Diskussion vorgebrachten „ostmesopotamischen“ Lösungen gezwungen sind, für die im Alten Testament gut belegten Ortsnamen Kusch und Ḥawila (und auch Giḥon) eine Lokalisierung vorzuschlagen, die mit den übrigen Belegen für diese Namen im Alten Testament nicht vereinbar ist, und zwar ohne dass eine philologisch eindeutige Identifizierung des sonst nicht belegten Pischon erreicht würde. Zuweilen wird gemutmaßt, die Verfasser der Paradiesgeographie hätten die Namen Kusch und Ḥawila (und auch Giḥon) aus Unkenntnis der einheimischen Namen gebraucht und zugleich neu lokalisiert. Diese offenkundige Verlegenheitsauskunft kann die „ostmesopotamische“ Lösung nicht retten.

V. 15 greift als redaktionelle Klammer das Gartenthema wieder auf. Ur- V. 16 –17 sprünglich dürfte V. 16 f unmittelbar auf V. 9a (oder V. 9b*) gefolgt sein. Nach der Einrichtung des Gartens geht es nun um die Bedingungen menschlicher Existenz im Garten. Jhwh-Gott gewährt dem von ihm geschaffenen Menschen das Privileg, in seinem Garten zu leben und sich von den Bäumen des Gartens, „lieblich anzusehen und gut zu essen“ (V. 9a), zu ernähren (Gen  2, 16; 3, 2). Lediglich die Früchte des Baumes der Erkenntnis (Gen  2, 17 ) in der Mitte des Gartens (Gen  3, 3) sind dem Menschen mit einem unzweideutigen Verbot verwehrt (Gen  2, 17; 3, 3). Diese Gegenüberstellung ist ganz im Hinblick auf das Verbot und seine Übertretung durch das erste Menschenpaar sowie den dadurch bestimmten Fortgang der Erzählung formuliert. Angesichts der großzügigen Freigabe aller Früchte wiegt es umso schwerer, dass die Menschen ausgerechnet die eine vorenthaltene Frucht essen,92 zumal das Verbot mit der Androhung des Todes versehen ist. Der Baum der Erkenntnis von gut und schlecht wird im Alten Testament nur in der Paradieserzählung erwähnt, und zwar in Gen 2, 9b. 17. Sonst wird er in der Paradieserzählung schlicht als der Baum in der Mitte des Gartens bezeichnet. Da die Funktion und Identifikation des Baumes überall dort eindeutig ist, wo er nicht in Konkurrenz zum Baum des Lebens tritt, bleibt zu erwägen, dass er in Gen  2, 9b zusammen mit dem Baum des Lebens sekundär eingetragen und in V. 17 erst nachträglich als Baum der Erkenntnis kenntlich gemacht wurde.93 In der übrigen Literatur des alten Vorderen Orients fehlen bislang Belege für einen Baum der Erkenntnis von gut und schlecht. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund des Motivs eines besonderen Baums in der Mitte des Gartens lässt sich indes durch die Eden-Texte des Ezechielbuches er-

Görg, Paradies, 25  f. von Rad, 56. 93  Vgl. Gese, Lebensbaum, 77 f; Witte, Urgeschichte, 81 und o. S. 89 zur Literarkritik. 91  92 

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hellen.94 Nach Ez  31, 1–9 beneiden „alle Bäume in Eden, im Gottesgarten“ einen besonderen Baum, dessen Wurzeln bis in die Urquelle (t   ehōm; vgl. Gen  1, 2) reichen und dessen Krone bis in die Wolken ragt. Dieser Baum, in dessen Schutz sich die Vögel des Himmels, die Tiere des Feldes und die großen Völker bergen, ist der in der mythologischen Überlieferung vieler Kulturen belegte Weltenbaum. In altvorderorientalischen Texten wird der Weltenbaum zuweilen als Baum aus Edelsteinen dargestellt, was wiederum an den zweiten Eden-Text im Ezechielbuch in Ez  28, 11–19 erinnert, der den Gottesgarten als Edelsteingarten schildert (vgl. Ez  28, 13. 14. 16). Zu den engsten Parallelen zählt eine Passage im Gilgamesch-Epos, in der Gilgamesch auf seiner Reise in die jenseitige Welt einen Garten mit märchenhaften Edelsteinbäumen erreicht, deren Beschreibung ihrerseits eine deutliche Nähe zur Charakterisierung der Früchte des Baumes in der Paradieserzählung aufweist: „Ein Karneol-Baum trägt da seine Frucht, er hängt voller Trauben, gar lieblich anzusehen, ein Lapislazuli-Baum trägt Blätter da, Frucht trägt er, dass es eine Lust ist, ihn zu betrachten.“ (Gilgm IX, 173 –176; vgl. Gen 3, 6). Die Tradition vom Weltenbaum scheint demnach zum festen Bestandteil der Eden-Texte gehört zu haben, was eine entsprechende Deutung für den Baum der Erkenntnis von gut und schlecht (Gen 2, 17 ) in der Mitte des Gartens (Gen  3, 3) wahrscheinlich macht. Hierzu fügen sich auch das Motiv der plötzlich auftauchenden Schlange (Gen 3, 1), die nach einem Teil der Gilgamesch-Tradition in den Wurzeln des Weltenbaums wohnt, sowie die Vorstellung vom Garten als Lebensraum der Vögel des Himmels und aller Wildtiere (Gen 2, 19 f*; vgl. Ez 17, 23; 31, 6; Dan 4, 7–9). Dass der Griff nach den Früchten des Weltenbaums den Menschen erstmals zur Erkenntnis von gut und schlecht befähigt, ist hingegen eine ganz eigenständige Ausdeutung der Tradition vom Weltenbaum durch den weisheitlichen Verfasser der Paradieserzählung. In der Literatur des alten Vorderen Orients ist sonst lediglich belegt, dass das (gewaltsame) Berühren des Weltenbaumes (vgl. Gen 3, 3) zur königlichen Herrschaft oder zum Verlust derselben führen kann.95 Die Verbindung mit dem Königtum ist deswegen von Interesse, weil die „Weisheit des Boten Gottes, zu erkennen alles, was auf Erden ist“ (2Sam  14, 20), und „zu hören, was das Gute und das Schlechte ist“ (2Sam  14, 17 ), auch nach alttestamentlicher Auffassung in erster Linie ein Privileg der Könige ist (vgl. 1Kön 3, 9). Worin besteht aber die „Erkenntnis von gut und schlecht“ (had-da ʿat ṭōb wā-rā   ʿ)? In der Auslegungsgeschichte wurden vor allem eine sexuelle96 und –

Vgl. Müller, Parallelen; Pfeiffer, Baum II, 4  –7. Nachweise bei Pfeiffer, Baum II, 9  f. 96  So zuletzt D.U. Rottzoll, „ … ihr werdet sein wie Gott, indem ihr ‚Gut und Böse‘ kennt“, ZAW  120 (1990) 385 –391; Müller, Parallelen, 168 –174 (als einen von mehreren Aspekten der Erkenntnis und mit Hinweis auf die erotische Konnotation der Beschreibung des Baumes der Erkenntnis und seiner Früchte in Gen 2 , 9; 3, 6). 94  95 

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noch häufiger – eine moralische97 Deutung vertreten. Die sexuelle Deutung kann sich auf die Entdeckung von Nacktheit und Scham in der Feigenblattszene berufen, die deutlich an die Prozesse der Adoleszenz erinnert (vgl. Gen  3, 7 ). Zudem wird das Verb *yd   ʿ „erkennen“ im unmittelbaren Kontext auch für den Geschlechtsverkehr des ersten Menschenpaares gebraucht (vgl. zu Gen  4, 1). Für die moralische Deutung lässt sich das offenkundig schlechte Gewissen des Menschenpaares angesichts der durch die Übertretung eines Gebots gewonnenen Erkenntnisfähigkeit anführen (Gen 3, 8 –13). Beide Aspekte sind mit Sicherheit auch im Blick, doch erschöpft sich die Erkenntnis von gut und schlecht weder im sexuellen noch im moralischen Wissen. Das Gegensatzpaar „gut und schlecht“ ist aber auch nicht als Merismus im Sinne von „Allwissenheit“ zu verstehen.98 Ausweislich der übrigen alttestamentlichen Belege (Dtn 1, 39 f; 2Sam 19, 36; 1Kön 3, 9; Jes 7, 15 f; vgl. 1QSa  1, 10 f = DSS I, 112 f ) geht es bei beim Erkennen und Unterscheiden von „gut und schlecht“ um die alle Lebensbereiche einschließende Fähigkeit, eigenverantwortlich zwischen dem Lebensförderlichen und Lebensabträglichen zu unterscheiden und entsprechend zu handeln.99 Der idiomatische Ausdruck bezeichnet die „Urteilsfähigkeit des mündigen Menschen“100, wie sie Kinder noch nicht haben (Dtn 1, 39 f; Jes 7, 15 f; Hebr 5, 14) und wie sie im Alter zu verloren gehen droht (2Sam 19, 36; vgl. Pred 4, 13; Hi 32, 9). Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, wird mit der Androhung des Todes bewehrt. Die Formulierung lässt keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Verbots aufkommen. Durch die Stilfigur der  figura etymologica, die den Inf. abs. der Wurzel mūt „sterben“ mit einer finiten Form desselben Verbs verbindet (mōt tāmūt), wird das Unabänderliche der angedrohten Strafe unterstrichen. Wie aber ist die Todesdrohung zu verstehen? Die Frage wird dadurch provoziert, dass der Mensch und seine Frau nach der Entdeckung der Übertretung nicht sterben, sondern in das Leben außerhalb des Gartens entlassen werden (Gen 3, 23). Die traditionelle, schon im Frühjudentum und im Neuen Testament (vgl. die LXX-Rezension des Symmachus zu V. 17: „sterblich“ θνητὸς; ferner Weish 2, 23; Röm 5, 12 –21; 8, 18 –22) greifbare und im Protestantismus bis in das 19. Jh. vorherrschende Auslegung hat die Todesdrohung daher als Androhung der Sterblichkeit des unsterblich geschaffenen Menschen verstanden. Jhwh-Gott hätte in diesem Fall weder geblufft, noch seine Androhung zurückgenommen. Hingegen hätte die Schlange mit ihrer Bestreitung der Todesfolge die Frau damit hinters Licht geführt, dass sie einfach nicht die ganze Wahrheit gesagt hätte (Gen  3, 4): Wie zugesichert, ist der Mensch nach dem Verzehr der verbotenen Frucht nicht 97  So Budde, Urgeschichte, 69 f; ders., Paradiesgeschichte, 41 f, 53 –55 (in Auseinandersetzung mit der von Wellhausen begründeten „wissenspragmatischen“ Lesart). 98  So von Rad, 57. 99  Vgl. Wellhausen, Prolegomena, 299 –301; Westermann, 328 –343 (mit Hinweisen zur Auslegungsgeschichte); Albertz, „Ihr werdet sein wie Gott“, 14  –16. 100  Blum, Gottesunmittelbarkeit, 21.

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gestorben, hat gleichwohl seine Unsterblichkeit verloren. Für diese Lesart lässt sich neben der erwarteten Übereinstimmung des göttlichen Wortes mit der göttlichen Tat anführen, dass b e-yōm „an dem Tag“ wie in Gen  2, 4b die Bedeutung einer temporalen Konjunktion haben kann und nicht einen bestimmten Zeitpunkt benennt. Zudem enden die Strafworte mit einem expliziten Hinweis auf die Sterblichkeit des Menschen (Gen  3, 19).101 Gegen diese Lesart spricht jedoch, dass die Strafsprüche den Tod nicht als Folge der Gebotsübertretung charakterisieren. Vielmehr begründen diese den Tod mit der physischen Konstitution des Menschen: Aus Ackerboden (Gen  3, 19a) und Staub (Gen 3, 19b; redaktionell) geformt, ist der Mensch von vornherein wie die Tiere als sterbliches Wesen erschaffen worden (vgl. Gen  2, 7 ). Entsprechend wird die Reproduktion des Lebens und damit die Kehrseite der Realität des natürlichen Todes schon vor der Übertretung des Gebotes und ihrer Entdeckung angesprochen (vgl. Gen  2, 24 f ). Schließlich spricht die Formulierung der Todesdrohung in Gen  2, 17 eher für eine Todessanktion im zeitnahen (b e-yōm) Zusammenhang mit der Übertretung des Verbots bzw. ihrer Entdeckung als für die Androhung der Sterblichkeit.102 Vergleichbar ist Gottes in einem Traum geäußerte Drohung an Abimelech, er und seine Leute würden zu Tode kommen (mōt tāmūt), sollte er Sarah nicht an Abraham zurückgeben (Gen  20, 6 –7 ), woraufhin Abimelch gehorcht und sich und seine Leute vor dem Tode bewahrt. Anders ergeht es dem unter Hausarrest gesetzten Schimi. Salomo bedroht diesen mit dem Tod (mōt tāmūt), sobald (be-yōm) er das ihm zugewiesene Gebiet verlasse (1Kön 2, 37. 42), wie es dann auch geschieht (1Kön 2, 46). Entsprechend kann die Formulierung mōt tāmūt auch zur Proklamation eines Todesurteils verwendet werden (1Sam  14, 44; 22, 16; Jer 26, 8), während Todesrechtssätze mit der unpersönlich formulierten Variante in der 3. Pers. pass. die Todesstrafe für besonders schwere Verbrechen und Tabuverletzungen fordern (vgl. Ex  21, 12. 15. 17: „Derjenige, der …, muss unbedingt des Todes sterben [mōt yūmat]“). Anders als es die Gewissheit und Unbedingtheit heischende Formulierung in Gen  2, 17 erwarten lässt, wird die Todesstrafe jedoch nicht exekutiert. Stattdessen reagiert Jhwh-Elohim auf die Übertretung des Gebots mit einer Verminderung der Bedingungen menschlicher Existenz (vgl. Gen  3, 16 –19). Im Kontrast zur angedrohten Todesstrafe erscheint die verfügte Daseinsminderung als Gnadenakt,103 wenngleich die ganze Existenz des Menschen fortan unter dem Schatten der Todesverfallenheit zu stehen kommt (vgl. Gen 3, 19). Der „kreatürliche Tod“104 wird unter dem Eindruck der Übertretung des göttlichen Gebots zu einem bedrohlichen und ängstigenden Geschehen, das 101  So zuletzt Blum, Gottesunmittelbarkeit, 22 –24. Zur Gegenposition vgl. K. Schmid, Loss of Immortality?, in: ders./C. Riedweg (Hg.), Beyond Eden, FAT II/34, Tübingen 2008, 58 –78. 102  Wie sich eine generelle Begrenzung der Lebenszeit im Hebräischen ausdrücken lässt, zeigt Gen 6, 3. Anders Blum, Gottesunmittelbarkeit, 23. 103  Gunkel, 10. 104  W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York 52018, 490 –  491.

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im gesamten Leben des Menschen gegenwärtig ist. In diesem Sinne ist der Tod der Sünde Sold (Röm 6, 23).105 Mit der mutmaßlich redaktionellen Einfügung des Baumes des Lebens (Gen 2, 9; 3, 22. 24) verschieben sich die Akzente: Die Vertreibung des Menschen aus dem Garten Eden verwehrt dem schöpfungsgemäß sterblichen Menschen hinfort den Zugang zum Baum des Lebens und damit zur gottgleichen Unsterblichkeit; mit dem Übertreten des Gebots hat der Mensch die Möglichkeit zum ewigen Leben verspielt (s.  u. zu Gen 3, 22. 24). Unmerklich nimmt mit dem Verbot, vom Baum der Erkenntnis von gut 2, 18 –25 und schlecht zu essen, die Spannung zu. Der Mensch ist grundsätzlich zur Erkenntnis von gut und schlecht fähig, doch vorerst bleibt ihm diese verwehrt. Stattdessen tritt das Wissen des Schöpfergottes um das, was für den Menschen gut ist, in den Vordergrund. Sein Urteil, dass das Alleinsein des Menschen „nicht gut“ sei (V. 18), führt zur Erschaffung zunächst der Tiere (V. 19 –20) und schließlich der Frau (V. 21–23). Erst mit ihr ist die Menschenschöpfung abgeschlossen (V. 24  –25). Die fürsorgliche Feststellung von Jhwh-Gott „es ist nicht gut“ zeitigt für den Menschen zum Guten gereichende Konsequenzen. Auf den ersten Blick wirkt die Szene wie das positive Gegenstück zu dem unmittelbar zuvor erlassenen Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und zum menschlichen Wissen um gut und schlecht, dessen erste freie Entscheidung in einem Brudermord gipfelt (Gen 4, 6 –8).106 Doch der weisheitliche Erzähler zeichnet ein differenzierteres Bild, insofern der Mensch bei der Entscheidung über ein angemessenes Gegenüber explizit eingebunden ist (V. 20b. 23) und die Beschreibung der menschlichen Existenz von vornherein auch ambivalente Züge aufweist (V. 25). So wunderbar der Garten auch ausgestattet ist, so lässt sich doch das Al- V. 18 leinsein des Menschen nach dem Urteil des Schöpfergottes nicht als „gut“ qualifizieren. Der Mensch ist ein auf Geselligkeit hin angelegtes Wesen. Deshalb bedarf er seinesgleichen als Gegenüber. Weder im paradiesischen Miteinander mit Jhwh-Gott, noch – wie sich erweisen wird – in der Gemeinschaft mit den Tieren vermag der Mensch auf Dauer die Einsamkeit und in dieser sich selbst zu ertragen. Durch die Ankündigung, Jhwh-Gott wolle dem Menschen „eine Hilfe“ ( ʿēzær) beigesellen, wird das Alleinsein mit Hilflosigkeit gleichgesetzt,107 wie dies in den Sentenzen des Qohelet alltagsrealistisch ausgeführt wird: „Zwei haben es besser als einer allein, denn sie haben einen guten Lohn für ihre Mühe. Wenn sie fallen, kann der eine seinem Gefährten aufhelfen. Doch wehe dem, der allein ist und fällt, und keiner ist da, der ihm aufhelfen kann. Auch ist zweien warm, wenn sie beieinander liegen. Doch einer allein, wie kann ihm warm werden? Und wenn einer den überwältigt, der allein ist, so halten die zwei jenem stand.“ (Pred 4, 9 –12a). In der Auslegungsgeschichte ist die Ankündigung einer Hilfe immer wieder auf den GesichtsDie Ausführungen bei Gertz, Adam, 230 f mit Anm. 42 sind entsprechend zu korrigieren. Dies hat vor allem Steck, Paradieserzählung, 80 betont. 107  von Rad, 57. Dort auch der Hinweis auf Qohelet. 105  106 

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punkt der sexuellen Ergänzung bei der Zeugung von Kindern (Augustin)108 oder der Mithilfe bei der (Feld- und Garten-)Arbeit reduziert worden. Doch ist ein solches, die Unterordnung der Frau als Gehilfin des Mannes implizierendes Verständnis vom Ergebnis (s.  u. zu Gen  2, 23. 24) und vom Wortlaut her ausgeschlossen. Der Ausdruck ʿēzær bezeichnet im Alten Testament die zumeist in der (militärischen) Not gewährte Hilfe, wobei diese in der Mehrzahl der Belege durch Gott selbst erfolgt (vgl. nur Dtn  33, 29; Ps  121, 1 f; 146, 5). Auch die anschließende Erläuterung, die Hilfe für den Menschen solle „ihm entsprechen“ (ke-nægdō; von einem präpositionalen Nomen nǣgæd „Gegenüber, Gegenstück, Gesicht, Vorderseite“), spricht gegen ein asymmetrisches Verhältnis zwischen dem Menschen und der gesuchten Hilfe. Im vorliegenden Kontext beinhaltet die Wendung gleichermaßen den Aspekt der Verschiedenheit wie auch der Vervollständigung und stellt so heraus, dass die Hilfe als ebenbürtiges Gegenüber dem Alleinsein des Menschen ein Ende setzt.109 Der Mensch und seine Hilfe sollen sich auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten. Mit Blick auf die Auslegungsgeschichte wird man dies als Einspruch gegen eine „schöpfungsgemäße“ Unterordnung der Frau lesen dürfen (vgl. dazu nur 1Kor 11, 7–12); nicht ausgeschlossen ist, dass das erläuternde ke-nægdō ursprünglich auch eine im Ausdruck ʿēzær anklingende Überlegenheit der Hilfe nivellieren sollte.110 V. 19 –20 Die Suche nach einer Abhilfe gegen das Alleinsein des Menschen führt erst über Umwege zur Erschaffung der Frau. Dass Jhwh-Gott nach der Methode von Versuch und Irrtum handelt, ist ein schöner Erzählzug, der die erzählerische Freude und das dramaturgische Vermögen des weisheitlichen Erzählers belegt. Überdies gibt er die Gelegenheit, die wichtige Frage des Verhältnisses des Menschen zu den Tieren zu beantworten und diejenige nach dem Wesen und der Bestimmung eines angemessenen Gegenübers für den Menschen zu präzisieren. Gott schafft zuerst die Tiere, genauer die Landtiere und Vögel. Die Fische bleiben unerwähnt, weil sie in der Perspektive des antiken Israel von vornherein nicht als Gefährten des Menschen in Betracht kommen. Ebenso fehlen die Kriechtiere, weil es sie zu diesem Zeitpunkt der Erzählung noch nicht gibt (vgl. 3, 14). Die Tiere werden wie der Mensch aus dem Ackerboden ( ʾadāmā ) geformt (*yṣr  ; vgl. Gen 2, 7 ). Dass anders als beim Menschen ihre Belebung nicht explizit angesprochen wird, zeigt kein Unterscheidungsmerkmal im Sinne einer an sich unstrittigen (s.  u.) Hierarchisierung der Geschöpfe an, sondern ist der Sparsamkeit des Erzählens geschuldet. Wie bei der Aufzählung der geschaffenen Tiere wird nur erzählt, was mit Blick auf den Menschen für den Fortgang der Erzählung von Belang ist. Und das ist die Formung der Tiere aus dem Ackerboden: Selbst wenn Jhwh-Gott auf der Suche nach einem Gegenüber für den Menschen zunächst auf das bei dessen Erschaffung bewährte Verfahren zurückgreift, so ist von Anfang an A. Augustinus, De Genesi ad litteram libri duodecim, CSEL 28/1, 273 f, 276 –278. Vgl. (statt vieler) von Rad, 66; Steck, Paradieserzählung, 91. 110  Vgl. Schellenberg, Mensch, 193. 108  109 

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weder an einen zweiten Adam als Gegenüber gedacht, noch garantiert der gleiche Urstoff, dass die Tiere ein geeignetes Gegenüber sind. Das biologische Material macht die Tiere zu Mitgeschöpfen des Menschen, nicht mehr und nicht weniger (vgl. auch Pred  3, 18 –21). Ein gleichwertiges Gegenüber bedarf der Anerkennung durch den Menschen. Aus diesem Grund bringt Jhwh-Gott die Tiere zum Menschen und überlässt diesem deren Benennung (V. 19a) und damit auch eine etwaige Identifizierung als Gegenüber (V. 20a). Im Hinblick auf die Tiere versagt der Mensch die Anerkennung als Gegenüber. Herausgestellt wird vielmehr die Benennung der Tiere durch den Menschen und der darin ausgedrückte Aspekt der Teilhabe des Menschen an der göttlichen Herrschaftsausübung (vgl. Ps  147,4; Jes  40, 26).111 Ihr kommt im Kontext der Schöpfungsgeschichte eine besondere Bedeutung zu, da es nicht nur um die Namensfindung für einzelne Individuen geht, sondern um die dauerhafte und von Jhwh-Gott bestätigte Benennung von Gattungen und Arten (V. 19b). Die darin angesprochene Klassifizierung, Aneignung und Bemächtigung der Schöpfung durch den Menschen zeigt sich sehr schön in einer kleinen, vermutlich durch einen Nachtrag verursachten Unregelmäßigkeit des Textes. Während anfangs nur von der Erschaffung aller Lebewesen des Feldes (ḥayyat haś-śādǣ) und aller Vögel des Himmels die Rede ist (V. 19a), werden diese nach der Benennung durch den Menschen unterteilt in das Vieh, die Vögel und die Tiere des Feldes (V. 20a). Diese Reihung orientiert sich an der Perspektive des Menschen, wobei wegen der vermutlich nachträglich eingefügten Erwähnung des Viehs neben allen anderen Lebewesen des Feldes mit letzteren nur noch wildlebende Landtiere gemeint sein dürften. Auf die Benennung folgt die begründungslose Feststellung, dass sich keine Hilfe für den Menschen fand. Auch wenn die Tiere mit der Absicht aus dem Ackerboden geformt worden sind, dem Menschen ein Gegenüber zu geben, so wird die Erschaffung der Tiere durch dieses Urteil keineswegs als misslungener Schöpfungsakt eines in dieser Hinsicht etwas hilflos agierenden Gottes charakterisiert.112 Vielmehr ist das Urteil über die Benennung der Mitgeschöpfe und ihre darin vollzogene Bestimmung ein Ausdruck für eine von Jhwh-Gott gewährte „allererste Autonomie des Menschen“113. Bleibt die geforderte Anerkennung als Gegenüber den Tieren versagt, so erfolgt sie bei der ebenfalls von Gott geschaffenen und dem Menschen zugeführten Frau als gleichermaßen spontaner wie überschwänglicher Jubel (V. 23). Eine gegenläufige Entsprechung bietet das Geschick des aus Lehm geschaffenen Enkidu aus dem Gilgamesch-Epos. Dieser lebte einst mit den wilden Tieren zusammen, als ob er selbst ein Tier der Steppe wäre. Durch den Beischlaf mit der Dirne Šamkat in die menschliche Gemeinschaft aufgenommen, wird er den Tieren fremd, sodass diese von ihm weichen und die Gemeinschaft aufkündigen (Gilgm I, 195 –198; vgl. u. zu Gen 3, 7 ). Vgl. Schellenberg, Mensch, 197–199 mit Anm. 68. So Schüle, 68. Vgl. auch (weniger pointiert) Gunkel, 12 . 113  Westermann, 311. 111  112 

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Mit der Erschaffung der Frau kommt nicht nur die Suche nach einem passenden Gegenüber, sondern auch die Menschenschöpfung insgesamt an ihr Ziel. Gott lässt den Menschen in einen Tiefschlaf (tardēmā ) fallen, entnimmt ihm eine Rippe (ṣēlā   ʿ), verschließt die Wunde mit Fleisch (V. 21) und baut (*bnh) aus der Rippe nach Analogie eines Kunsthandwerkers eine Frau, die er wie zuvor die Tiere dem Menschen zuführt (V. 22). Der mit tardēmā bezeichnete Schlaf beschreibt einen narkotischen Zustand, der die Wahrnehmung einschränkt (vgl. 1Sam  26, 12). Wichtiger als der operativ-medizinische Aspekt ist indes, dass der Ausdruck in der Regel mit einem wunderbaren Eingreifen Gottes verbunden ist, das den menschlichen Akteuren einschließlich der Leser verborgen bleiben soll (vgl. Gen  15, 12; Jes  29, 10; Hi 4, 13; 33, 15). Entsprechend wirkt die Darstellung nur auf den ersten Blick realistisch.114 Das zeigt auch die Auslegungsgeschichte, die viele Details wie die Belebung der Frau oder die Herkunft des für die Wunde des Mannes und die Ausstattung der Frau benötigten Fleisches vermisst und entsprechend in den Text hineinliest. Dem Erzähler war an derartigen Fragen kaum gelegen, eine traditionelle Schöpfungsvorstellung liegt mit der Erschaffung der Frau aus der Rippe ohnehin nicht vor. Die exponierte Stellung dieses Motivs innerhalb der biblischen Überlieferung zeigt sich auch an der Wortwahl. Der im Anschluss an die alten Übersetzungen mit „Rippe“ übersetzte Ausdruck ṣēlā   ʿ wird in der Regel im Sinne von „Seite“ verwendet oder bezeichnet Baumaterialien, wie die beim Bau des Tempels verwendeten Bretter aus Zedernholz (ṣal  ʿōt   ʾarāzīm; 1Kön  6, 15 f; vgl. 1Kön  7, 3). Hingegen dient das akkadische ṣēlu(m) auch als anatomischer Begriff für die Rippen bei Mensch und Tier. Das breit belegte Verb *bnh „bauen“ begegnet im Alten Testament lediglich einmal in einem schöpfungstheologischen Kontext, bezieht sich hier aber in Entsprechung zum übrigen Sprachgebrauch auf die Errichtung der himmlischen Obergemächer (Am 9, 6). Abermals lässt sich auf das Akkadische verweisen, in dem banû(m) „schaffen, bauen“ ein typischer Schöpfungsterminus ist. Der terminologische Befund ist als Indiz für eine traditions- und motivgeschichtliche Verbindung zu mesopotamischen Liebesliedern ausgedeutet worden, in denen der Dichter die Geliebte mit einer Statuette aus feinstem Material vergleicht. Die besondere Lebendigkeit der besungenen Statuetten könne zudem erklären, warum Gen 2, 21–22 nicht eigens von der Belebung der Frau spricht.115 Doch ist eine derartige Herleitung problematisch und unnötig, da benennbare Vermittlungsschritte fehlen und sich die Besonderheiten von Gen  2, 21–23 gerade nicht mit dem Hinweis auf die Liebeslieder erklären lassen: Die Lieder spielen auf eine Belebung der Statuette an. Vor allem aber besingen sie nicht, dass dem Dichter das Steck, Paradieserzählung, 82 . C. Uehlinger, Eva als „lebendiges Kunstwerk“. Traditionsgeschichtliches zu Gen  2 , 21– 22(23. 24) und 3, 20, BN  43 (1988) 90 –99; ders., Nicht nur Knochenfrau. Zu einem wenig beachteten Aspekt der zweiten Schöpfungserzählung, BiKi  53 (1998) 31–34, zur Kritik vgl. auch Bührer, Anfang, 228  ff. 114  115 

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Material für die Statuette entnommen worden ist. Dieses im Ganzen der bekannten Schöpfungstexte des alten Vorderen Orients analogielose Detail erklärt sich vielmehr allein aus dem Kontext. Es ist aus der „jauchzende[n] Bewillkommung, [dem] Hohelied Adams“116 herausgesponnen worden, mit dem der Mensch die Frau als sein Bein und Fleisch, mithin als passendes Gegenüber identifiziert (V. 23).117 Hinter dem ersten Satz des Jubelrufs, der schon durch seine rhythmische Form als Höhe- und Abschlusspunkt der Menschenschöpfung gekennzeichnet ist, steht die sogenannte Verwandtschaftsformel, mit der „gegenüber einem Unbekannten die Verwandtschaft beteuert und anerkannt oder gegenüber einem Bekannten unterstrichen wurde“118 (V. 23a; vgl. Gen  29, 14 ʿaṣmī ū-b eśārī   ʾāttā „mein Bein und Fleisch bist du“; ferner 2Sam 5, 1; 19, 13. 14; 1Chr 11, 1). Diese Formel ist leicht abgewandelt. Das einleitende „Diese ist endlich“ betont die Unterscheidung von den zuvor erschaffenen und dem Menschen vorgeführten Tieren. Durch die Verdoppelung von „Bein“ und „Fleisch“ und die Hinzufügung der Präposition „von“ ( ʿǣṣæm mē- ʿaṣāmay ū-bāśār mib-beṣārī „Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“) wird die physische Herkunft der Frau aus dem Menschen und die Zusammengehörigkeit beider herausgestellt.119 In der anschließenden Namensätiologie (V. 23b) folgt aus der freudigen Feststellung der physischen Entsprechung die intuitive Anerkennung der „Frau“ ( ʾiššā ) als Gegenüber und die damit verbundene Einsicht in die Veränderung vom geschlechtsneutralen Gattungsbegriff „Mensch“ ( ʾādām) zum „Mann“ ( ʾīš  ).120 Der „Mensch“ ( ʾādām) nimmt sein Gegenüber als „Frau“ ( ʾiššā ) wahr und damit sich selbst als „Mann“ ( ʾīš ). War die Benennung der Tiere ein Akt der Machtausübung, so wird dieser Aspekt bei der freudigen Begrüßung der Frau als einer Gleichen durch das Wortspiel ʾiššā  – ʾīš sowie das unpersönliche „man wird sie nennen“ (anders 3, 20) weitgehend außer Kraft gesetzt.121 Kurzum: Die Tiere sind Mitgeschöpfe, gelten aber nicht als dem Menschen ebenbürtig. Ihre Geselligkeit reicht nicht aus, um das Alleinsein des Menschen zu beenden. Hierzu bedarf es eines tiefen und intimen, auf Gleichrangigkeit beruhenden und auf Gegenseitigkeit hin ausgerichteten Verhältnisses, wie es der weisheitliche Erzähler in der Beziehung zwischen Mann und Frau angelegt findet. Auf den Jubelruf des Mannes folgt eine ätiologische Erläuterung des Er- V. 24  –25 zählers (V. 24). Eingeleitet durch das für derartige Sätze typische „darum“ ( ʿal kēn), erklärt diese die Bedeutung der Erschaffung der Frau aus dem Menschen. Entsprechend ist hier verallgemeinernd von „einem Mann“, J.G. Herder, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, Band II, IV. Teil III, 47 (1827 ). Vgl. u.  a. Steck, Paradieserzählung, 83; Blum, Gottesunmittelbarkeit, 12 . 118  W. Reiser, Die Verwandtschaftsformel in Gen 2 , 23, ThZ 16 (1960) 1–  4, 3. 119  Levin, Jahwist, 85. 120  Spieckermann, Ambivalenzen, 54. 121  Die Ähnlichkeit der beiden hebräischen Begriffe ist rein klanglich und beruht, anders als der weisheitliche Erzähler dies andeutet, nicht auf etymologischer Verwandtschaft. Für den in der Namensgebung ausgedrückten Entsprechungsgedanken ist dies jedoch völlig irrelevant. 116  117 

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„Vater und Mutter“ und „seiner Frau“ die Rede. Derartige Kommentare, die die Ebene der Erzählung verlassen, zielen auf die Lebenswelt des Erzählers und seiner ersten Leser. In V. 24 fällt jedoch auf, dass die geschilderten Verhältnisse gerade nicht mit den sozialen Gegebenheiten des antiken Israel übereinstimmen:122 Die Verbindung von Mann und Frau ist im antiken Israel patrilokal, patrilinear und patriarchalisch organisiert. Anders als in V. 24 beschrieben, verlässt die Frau die eigene Familie und heiratet in die Familie des Mannes hinein (vgl. Gen  24), wo sie als Fremde im Kreis der Frauen zunächst eine vergleichsweise schwache Stellung einnimmt, die sie erst mit der Geburt eines (ersten) Sohnes stärken kann. Wie lässt sich somit die kontrafaktische Aussage in V. 24 erklären? Diskutiert werden zwei, sich nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließende Alternativen. Die erste betont den Umstand, dass V. 24 die Erzählung nicht fortsetzt, sondern eine auf die Gegenwart zielende Abschweifung innerhalb der Handlung darstellt. So verstanden, zielt die Erklärung auf den „staunenswerten Tatbestand, daß es in einer traditionalen Gesellschaft, in der Verwandtschaft die schlechthin grundlegende Kategorie für die Identität und Solidaritätsbindung der Individuen darstellt, eine andere Beziehung gibt, deren Intensität sogar die der engsten Blutsverwandtschaft, nämlich der von Eltern und Kindern, übertrifft: die Beziehung von Mann und Frau.“123 Wird bei dieser auf die Gegenwart des Erzählers bezogenen Auslegung der kontrafaktische Aspekt stärker betont, so kann die elementare Kraft der Liebe (vgl. Hhld  8, 6) im Gegensatz zu den bestehenden Institutionen herausgestellt oder sogar ein leichter Vorbehalt gegenüber den gegebenen Machtverhältnissen innerhalb einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft herausgehört werden. Die zweite Alternative erkennt in der Beschreibung der Beziehung von Mann und Frau einen „pointiert konstruierten Gegenentwurf zur allenthalben etablierten patriarchalen Ordnung“124. Diese Lesart kann sich auf den Fortgang der Erzählung stützen, in der die gegenwärtigen Verhältnisse in der Beziehung zwischen Gott und Mensch, Mensch und Tier und zwischen Mann und Frau als Minderung einer ursprünglich ungetrübten Gemeinschaft aufgrund der Übertretung des Gebots erklärt werden. In diesem Sinne zeichnet V. 24 das Gegenbild zu dem Strafspruch über die Frau und der dort erstmals etablierten Herrschaft des Mannes über die Frau (vgl. Gen 3, 16). So verstanden hat die Paradieserzählung durchaus kritisches Potential. Als ursprungsmythische Erzählung der gegebenen Lebenswirklichkeit stellt sie deren Bedingungen nicht grundsätzlich in Frage. Für den Ackerbau und seine Mühen oder die Schmerzen bei der Geburt wäre dies ohnehin nicht sinnvoll. Und auch für die 122  Die ältere Annahme, wonach sich in Gen 2 , 24 Spuren einer vergangenen matriarchalischen Kulturstufe finden lassen (H. Jahnow, Die Frau im Alten Testament [1914], in: Feministische Hermeneutik und Erstes Testament. Analysen und Interpretationen, Stuttgart u.  a. 1994, 30 –  47, 31 f; Holzinger, 30), hat sich nicht bewährt und wird in der gegenwärtigen Debatte auch nicht mehr vertreten. 123  Blum, Gottesunmittelbarkeit, 19 (Hervorhebung im Original). 124  Spieckermann, Ambivalenzen, 54.

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nach antiker Auffassung kaum weniger natürlichen Herrschaftsverhältnisse zwischen Mann und Frau dürfte eine grundsätzliche Bestreitung jenseits der Denkmöglichkeiten des weisheitlichen Erzählers gelegen haben. Gleichwohl zeigt die Paradieserzählung, dass die Erfahrung einer patriarchalischen Unterordnung der Frau nicht zu den Schöpfungsintentionen gehört. Aus diesem Grund wird die vorfindliche und nicht grundsätzlich hinterfragte patriarchalische Struktur als Folge einer Daseinsminderung beschrieben. Der auf die Gegenwart des Erzählers bezogene ätiologische Aspekt von V. 24 ist dann ähnlich wie in der erstgenannten Alternative als bleibender Zuspruch zu verstehen, dass die Liebe zwischen Mann und Frau die gegebene Herrschaftsordnung zu überwinden vermag (vgl. Hhld 3, 4; 8, 2). Insofern lebt der Mensch nicht mehr im Paradies; was aber „dort galt, ist nicht einfach nur verschwunden, es ist nach wie vor als Möglichkeit vorhanden, überdeckt freilich und gebrochen durch Anderes, Negatives“125. Unabhängig davon, ob man einer der beiden Alternativen oder ihrer Kombination zuneigt, geht es also um eine Ursprungs­erzählung (Ätiologie) der Liebe und nicht der Institution Ehe (so aber schon Tob  8, 6 f ), für die im antiken Israel wie in den meisten anderen Gesellschaften ohnehin familiäre, soziale oder wirtschaftliche Gesichtspunkte maßgeblich sind. Der ätiologische Zwischenruf endet mit der Ankündigung, dass Mann und Frau zu „einem Fleisch“ werden. Diese Aussage hat fraglos eine sexuelle Konnotation (vgl. auch den euphemistischen Gebrauch von bāśār „Fleisch“ in Lev  15, 2  f. 7. 19; Ez  16, 26 sowie *dbq „anhangen“ in Gen  34, 3), sollte jedoch nicht darauf beschränkt werden. Als Resultat des Verlassens von Vater und Mutter drückt sie vielmehr „geistliche Einheit, allumfassendste persönliche Gemeinschaft“126 (vgl. auch *dbq in Ruth 1, 14; Spr 18, 24) und damit das Ende des als „nicht gut“ bewerteten Alleinseins (V. 18) aus. V. 25 wechselt wieder auf die Ebene der Erzählung und nimmt das Thema der ungestörten Gemeinschaft zwischen „dem Menschen und seiner Frau“ auf. Zugleich leitet der Vers zur folgenden Szene über, insofern in der Charakterisierung des ersten Menschenpaares als „nackt“ ( ʿarummīm von ʿārōm), diejenige der Schlange als „klug “ ( ʿārūm) anlautet (vgl. 3, 1) und ein im Fortgang wichtiges Leitmotiv eingeführt wird (3, 7. 21). Aus diesem Grund ist V. 25 weniger als paradiesischer Urstand zu lesen, denn als ein auch ambivalent wahrgenommenes irreales Noch-Nicht, das mit der Übertretung des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, in die jetzige Wirklichkeit überführt wird.127 Durch das betont vorangestellte „sie beide“ (š enēhæm) und die abschließende Feststellung, dass sich der „Mensch und seine Frau“ nicht 125  F. Crüsemann, „… er aber soll dein Herr sein“ Genesis  3, 16. Die Frau in der patriarchalischen Welt des Alten Testaments, in: ders./H. Thyen, Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau, Gelnhausen 1978, 13 –106, 56. 126  Westermann, 318 (im Anschluss an F. Delitzsch). Vgl. auch Steck, Paradieserzählung, 85. 127  So mit der Mehrzahl der Literatur. Vgl. Westermann, 319; Seebaß, 119. Die Ambivalenz der Schilderung betonen Schmid, Unteilbarkeit und Spieckermann, Ambivalenzen.

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gegenseitig beschämten (w  e-lō yitbōšāšū ), obwohl sie nackt waren, wird die „vollkommen heile Gemeinschaft“128 herausgestellt. Die Ambivalenz selbst dieses Zustandes drückt sich in der Nacktheit aus. Mit Blick auf eine im Frühjudentum einsetzende und später im Christentum vorherrschende Auslegungstradition, wonach die Paradieserzählung in V. 25 einen Urstand sexueller Unschuld zeichne und die Sinnlichkeit im weiteren Verlauf als Folge und Ausdruck der Sünde in die Welt komme, ist zunächst festzuhalten, dass die Begriffe „nackt“ ( ʿārōm) und „(be)schämen“ (bōš; hitpol.) keine primär sexuelle Bedeutung haben. Vielmehr geht es vornehmlich um den sozialen Status und seine Bewertung. Scham ist Ausdruck eines negativen (Selbst-)Verhältnisses. Entsprechend ist Nacktheit im gesamten alten Vorderen Orient negativ konnotiert, und zwar als Zeichen der Minderung, Niedrigkeit und Statuslosigkeit, während die Kleidung einen Status herstellt und Beziehungen zwischen Menschen ordnet.129 So können Kriegsgefangene auf bildlichen Darstellungen im Gegensatz zu den Siegern unbekleidet dargestellt werden (vgl. Dtn 28, 48), wobei die Rangunterschiede auf Seiten der Sieger durch unterschiedliche Kleider und Grade der Bedeckung ausgedrückt werden.130 Die Bekleidung von Armen ist ethisch gefordert ( Jes 58, 7; Ez 18, 7. 16). Entsprechend ist ihre Entkleidung ein Frevel, kommt doch der Verlust der Kleidung demjenigen von Würde und Personalität gleich (Hi 24, 7–10; Ez 16, 39). Neugeborene wie Tote sind nackt, ihr sozialer Status ist noch oder wieder unbestimmt (Pred  5, 14; vgl. Hi  1, 12). Entsprechend ist die Bekleidung der ihrer Nacktheit bewusst gewordenen Menschen ein Akt der Zuwendung, in der Jhwh-Gott den Menschen den außerhalb des Gartens notwendigen sozialen Status gewährt (Gen  3, 21). V. 25 zeichnet also einen statuslosen Menschen fernab jeglicher Differenzierung. Die Besonderheit dieses „Urstandes“ liegt darin, dass sich das erste Menschenpaar deswegen nicht gegenseitig bloßSteck, Paradieserzählung, 85. Vgl. U. Winter, Art. „Nacktheit, nackt“, NBL  II (1995) 886 –888; Hartenstein, Beobachtungen. Die häufig gemachte Feststellung, dass in Gen 2 , 25 im Gegensatz zu den übrigen 19 Belegen von ʿārōm/ ʿērōm die Nacktheit positiv bewertet wird, ist ungenau. Sie wird von dem ersten Menschenpaar in ihrer Bedeutung lediglich noch nicht erkannt und hat deswegen keine Konsequenzen. Da ʿārōm/ ʿērōm sonst nie erotisch konnotiert ist, sollte dies auch nicht vorschnell und einseitig bei Gen 2 , 25 geschehen, zumal auch die Wurzel *bōš „in keiner Weise an sexueller Scham orientiert ist“ (H. Seebaß, Art. „bôš  “, ThWAT I [1973] 568 –580, 571). Dass es in V. 24 wie in V. 25 nicht um die Frage sexueller Aktivität des Menschenpaares im Garten geht, zeigt K. Schmid, Die menschliche Sexualität als nachparadiesische Errungenschaft. Gen 2f als Adoleszenzmythos der Species Mensch, JBTh  33 (2018), 3 –12 . Anders I. Fischer, Ungestörte, egalitär gelebte Geschlechtlichkeit. Rekurs auf Konrad Schmids These „No sex in paradise“, JBTh 33 (2018), 13 –22 . Sie verkennt, dass V. 24 und V. 25 auf unterschiedlichen kommunikativen Ebenen liegen und nimmt beide Verse zusammen als Beleg für eine im „Paradies“ nicht nur angelegte, sondern bereits gelebte Sexualität, die sie im Unterschied zu den realen Lebensbedingungen der intendierten Leser als eine egalitäre Geschlechtlichkeit verstanden wissen will. Diese Engführung auf die Frage der Sexualität übersieht, dass auch die Gegenwelt des Paradieses durch Ambivalenzen gezeichnet ist, und trägt die herkömmliche Unterscheidung einer „unschuldigen“ Sexualität vor und einer von der Sünde verderbten Sexualität nach dem „Fall“ im neuen Gewand vor. 130  Vgl. Hartenstein, Beobachtungen, 289 f mit Abb. 5. 128  129 

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stellt (w  e-lō yitbōšāšū ), weil es noch nicht darum weiß. Somit besteht die Kehrseite der ungestörten, heilen Gemeinschaft darin, dass sich der Mensch und seine Frau ihrer selbst noch nicht voll bewusst sind. Das Ambivalente dieser Existenz im Status „träumender Unschuld“131 tritt erst mit dem Erlangen der Erkenntnis ins Bewusstsein, weshalb die erste Tat des wissenden Menschen die Anfertigung von Kleidung darstellt (Gen 3, 7 ). Mit Nacktheit und (fehlender) Scham verhält es sich somit ähnlich wie mit der von vornherein zum Menschen gehörenden Sterblichkeit. Wie diese gewinnen die mit der Frage nach dem Status verbundenen Aspekte des menschlichen Zusammenlebens erst durch ihre bewusste Wahrnehmung eine prägende Bedeutung für das menschliche Dasein und können allein so ihre negative Bedeutung realisieren. Traditionell wird der Abschnitt als Erzählung vom Sündenfall bezeichnet, 3, 1–6 die beschreibt, weshalb mit dem ersten Menschenpaar der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde, wie er dadurch zunehmend von Gott und seinem Ursprung getrennt und der Macht der Sünde ausgeliefert wurde. In dieser jahrhundertealten Auslegungstradition steht die Lesart, dass „Adams Fall“ in „Evas Schuld“ gründe, wodurch eine soziale Unterordnung der Frau theologisch legitimiert wurde. Darüber hinaus wurde die vermeintliche Erzählung vom Sündenfall immer wieder als Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Bösen gelesen. In welchem Maße die Auslegungsgeschichte die Wahrnehmung des Textes bestimmt und diesen gleichsam überschrieben hat, belegen die Begriffe und Motive, die sich wie selbstverständlich mit Gen  3 verbinden, dort aber keine Erwähnung finden. Dies gilt für den berühmten Apfel, für Begriffe wie „Sünde“ und „Schuld“, das Motiv der „Verführung Adams“ oder den im frühjüdisch-apokalyptischen vierten Esra-Buch im 1.  Jh. n. Chr. angestimmten cantus firmus „Ach, Adam was hast du getan!“ (4Esr  7, 118; vgl. Röm  5, 12).132 Auch fällt im Vergleich mit der vornehmlich an der Sündenlehre interessierten Auslegungsgeschichte auf (hierzu s.  u. S.  173 f das Nachwort zum Verständnis der Sünde in Gen 2 –  4), wie sehr sich in Gen 3 der weisheitliche Erzähler und die Akteure der Erzählung mit einer Bewertung der Vorgänge zurückhalten. Wie bei kaum einem anderen biblischen Text ist es daher angebracht, die traditionelle Lesart, die vermittelt durch die kirchliche Auslegung die außerkirchliche Rezeption bis in die Gegenwart hinein prägt, bei seiner Erklärung zunächst einmal so weit wie möglich außen vor zu lassen. Die Schlange wird im expliziten Rückblick auf Gen 2, 19 als eines der von V. 1a Jhwh-Gott geschaffenen Tiere eingeführt. Im weiteren Verlauf bietet die Paradieserzählung eine Ätiologie der besonderen, alltäglich zu beobachtenden Lebensweise von Schlangen (vgl. 3, 14 f ). Die Schlange ist also als Vorfahr – das Hebräische nāḥāš ist ein maskuliner Ausdruck – aller Schlangen gedacht. Damit erübrigt sich die in der Auslegungsgeschichte vielfach vertretene An131  132 

Spieckermann, Ambivalenzen, 54 (im Anschluss an eine Formulierung Paul Tillichs). Vgl. Schmid, Unteilbarkeit, 35.

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sicht, es handele sich um eine widergöttliche Macht oder Personifizierung des Bösen (vgl. Weish  2, 23 –25; ApkMos  7, 2; Offb  12, 9; 20, 2). Warum die Schlange das Menschenpaar zum Genuss der verbotenen Frucht verleiten möchte, wird nicht gesagt. Die Frage der Motivation spielt keine Rolle und sollte auch nicht in die Erzählung hineingelesen werden, etwa indem eine Rivalität zwischen der Schlange und der Frau erkannt wird, weil der Mann die Schlange als Gegenüber verschmäht habe.133 Die Erzählung bietet keine Ätiologie des Bösen in der Welt.134 Die Schlange tritt nur auf, um den Übergang des Menschen von der paradiesischen Existenz in die Realität erzählerisch zu motivieren.135 Bei alldem ist die Schlange für den weisheitlichen Erzähler und seine Zeit kein unbeschriebenes Blatt. Schlangen kommen in der Bildkunst und den Literaturen des alten Vorderen Orients viele Bedeutungen zu. Sie symbolisieren Weisheit, Macht, Leben, Tod oder Regeneration und treten in der Mythologie in sehr unterschiedlichen Konstellationen auf.136 Gerade wegen dieser Vielfalt sollte sich die Erklärung auf das beschränken, was im Text auch anklingt. Anderes mag mitschwingen, eignet sich gleichwohl nicht zum Schlüssel für das Verständnis der Szene, wie dies immer wieder für die im Gilgamesch-Epos erwähnte Schlange behauptet wird, die dem badenden Helden das Lebenskraut entwendet, es frisst und sich daraufhin als Merkmal ewiger Jugend häutet (Gilgm XI, 303 –307 ). Auch wenn dem weisheitlichen Erzähler eine Vertrautheit mit dem Gilgamesch-Stoff, vermutlich sogar Textkenntnis unterstellt werden darf (s.  u. zu Gen  6, 5 –9, 17 ), entzieht es sich jeder methodischen Kontrolle, wenn Einzelzüge des biblischen Textes aus Motiven erklärt werden, die dieser selbst nicht erwähnt: Der (sekundäre) Baum des Lebens spielt im Dialog zwischen Schlange und Frau keine Rolle, der Mensch und seine Frau sind nicht wie Gilgamesch auf der Suche nach Unsterblichkeit, und vom Verzehr der Frucht des Baumes der Erkenntnis (oder des Lebens) durch die Schlange verlautet nichts. Vor allem bleibt das klassische Motiv, wonach die Schlange das „Lebenskraut“ wittert, es verzehrt und sich als Zeichen ihrer „Unsterblichkeit“ häutet, unerwähnt. Ließe sich für das Schlangenmotiv aus dem Gilgamesch-Epos noch ein Einfluss auf die (nachträgliche) Erwähnung des Lebensbaumes und des Themas der verspielten Unsterblichkeit erwägen (s.  u. zu 3, 22), so sind andere religionsgeschichtliche Herleitungen der Schlange wie eine Verbindung mit dem Chaoskampfdrachen (vgl. Hi  26, 13; Jes  27, 1) oder der „ehernen Schlange“ (Num  21, 8 f ) kaum zu plausibilisieren. Wo die Individualität der Texte übersehen wird, steht der religionsgeschichtliche Vergleich auf kaum festerem Grund als die ehrwürdige mariologisch-christologische Interpretation, die den Fluch in 3, 14  –15 als Protevangelium verstanden hat (s.  u. zu Gen 3, 15).

Schlangen werden kulturübergreifend vielfach als klug beschrieben oder in weisheitlichen Kontexten erwähnt (sprichwörtlich in Mt  10, 16). Die Verbindung mit heiligen Bäumen ist in der Ikonographie des antiken Israel gut So Spieckermann, Ambivalenzen, 56. Für den Forschungskonsens vgl. Zimmerli, 163 f; von Rad, 62; Westermann, 325. 135  Vgl. von Rad, 61 f; Westermann, 321–326. 136  Vgl. H. Frey-Anthes, Art. „Schlange“, WiBiLex (2008). 133  134 

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belegt.137 Unter den Tieren des Gartens scheint daher die Schlange wie geschaffen zu sein für einen Auftritt, in dem es um den Baum in der Mitte des Gartens und das durch den Genuss seiner Früchte herbeigeführte Erkenntnisvermögen geht. Wie die Paradieserzählung die Klugheit der Schlange bewertet, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Gegen die verbreitete Übersetzung des Adjektivs ʿārūm mit „listig“ wird häufig vorgebracht, dass sie der Schlange etwas Verschlagenes gebe, was weder durch den Kontext noch durch die Konkordanz gedeckt ist.138 Auch lässt sich fragen, wie dann der Komparativ zu verstehen ist, wonach die anderen Tiere weniger „listig“ sind. Allerdings ist der Konkordanzbefund nicht eindeutig. Grundsätzlich wird das als ʿārūm bezeichnete intellektuelle Vermögen positiv gewertet (vgl. Spr 12, 16. 23; 13, 16; 14, 8. 15. 18), doch wissen die alttestamentlichen Texte um den Missbrauch der Klugheit zum Bösen und die Gefahren insbesondere der „klugen Rede“ (vgl. Hi 5, 12 f; 15, 5). Zudem zeichnet sich die nachfolgende Rede der Schlange durch eine besondere Raffinesse aus, der die Frau und der neben ihr stehende Mann (V. 6) nichts entgegensetzen können und mit der sie die beiden nach Auffassung der Frau zum Griff nach der verbotenen Frucht verführt hat (*nš ʾ „täuschen“ in 3, 13). Entsprechend hart gerät die Strafe für die Schlange und ihre Nachkommen (3, 14  –15). Da jedoch nichts über ein Ziel verlautet, das die Schlange mit einer List zu erreichen trachtet, bietet sich als Übersetzung für ʿārūm das neutralere „klug“ an. Im Hinblick auf die Folgen ihrer Rede ist es dann eher eine List der Vernunft, die sich der Klugheit der Schlange bedient, um den Menschen aus seiner Unmündigkeit herauszuführen. So übernimmt die sprechende Schlange den Part des klugen Tieres im Märchen (vgl. Num  22, wo sich die sprechende Eselin ebenfalls als einsichtiger als der Mensch erweist) und bringt die Handlung damit um den entscheidenden Schritt voran. Die Schlange eröffnet das Gespräch behutsam mit einer harmlos klingen- V. 1b–6 den Frage, die Interesse, aber keine Absicht verrät: „Sollte Gott wirklich gesagt haben, dass ihr von keinem der Bäume des Gartens essen dürft?“ Völlig richtig erkennt sie, dass das an den Menschen erlassene Verbot (2, 17 ) nach der Erschaffung der Frau für beide gilt. Von der situationsbedingten Pluralbildung abgesehen, greift die Schlange mit ihrer Frage den ersten Teil der göttlichen Ansprache an den Menschen wörtlich auf (Gen 2, 16b), stellt ihn aber der Sache nach durch die Verbindung von Erlaubnis und Verbot auf den Kopf. So wird aus der nahezu ausnahmslosen Freigabe aller Bäume (2, 16 f ) eine völlig überzogene Forderung (3, 1b), weshalb sich die Frau zur Richtigstellung genötigt fühlt. Damit wird die Frau in ein Gespräch hineingezogen, in dem sie von vornherein die schlechteren Karten hat, weil sie in der Defensive ist und weil sie für ein Verbot eintreten soll, das ohne Begründung erlassen worden ist. Die Antwort der Frau spiegelt diese Verlegenheit wider (V. 2 –3). Zunächst stellt sie klar, dass die Früchte der Bäume des 137  138 

Hartenstein, Beobachtungen, 283  f. So für viele Schmid, Unteilbarkeit, 34.

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Gartens grundsätzlich zur Nahrung freigegeben sind. Lediglich „der Baum in der Mitte des Gartens“ (hā- ʿēṣ ʾašær be-tōk hag-gān) sei von dieser Freigabe ausgenommen, es sei sogar verboten, ihn zu berühren, um die Menschen vor einem versehentlichen Tode zu bewahren. So verändert die Frau in ihrer argumentativen Not den Wortlaut des Verbots. Sie erklärt den Baum zum Tabu (vgl. Ex  19, 12) und die Androhung der Todesstrafe als Warnung vor den tödlichen Folgen des Tabubruchs. Die Schlange verneint die drohende Gefahr, wobei bewusst offen bleibt, ob sie sich mit ihrer Aussage lediglich auf das zuletzt genannte Berühren des Baumes bezieht (V. 4). In diesem Fall würde die Schlange schlicht die Wahrheit sagen, da von einem derartigen Verbot bislang nicht die Rede gewesen ist. Sollte sie sich indes auch auf das Essen beziehen, so hätte sie mit Blick auf das Verbot die Unwahrheit gesagt, im Fortgang der Erzählung jedoch Recht bekommen. Dass die Schlange die Todesdrohung so schnell als nichtig abtun kann, hängt jedenfalls auch damit zusammen, dass sie auf die eigentümliche Paraphrase des göttlichen Verbots durch die Frau reagiert. Mit der gezielt platzierten, gleichwohl nur andeutenden Bemerkung, dass Gott dies alles wisse, untergräbt die Schlange das Vertrauen der Frau, um sie dann über die wahre Bedeutung des Baumes aufzuklären (V. 5). In lockerer Anlehnung an das auch im Alten Testament belegte Motiv vom Raub der den Menschen vorenthaltenen Weisheit (vgl. Hi 15, 7 f ) unterstellt sie Gott, den Menschen dieses Wissen aus Missgunst verheimlicht zu haben. Der Vorwurf bleibt unkommentiert im Raum stehen und wird durch den Fortgang der Erzählung eher bestätigt als widerlegt. Der Erzähler distanziert sich nicht, tatsächlich gibt er der Schlange Recht: Der Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis führt nicht zum Tode, stattdessen gehen den Menschen wie angekündigt die Augen auf und sie vermögen zwischen dem Lebensförderlichen und Lebensabträglichen zu unterscheiden und entsprechend zu handeln (vgl. 3, 7 ).139 Auf das Erkenntnisversprechen folgt eine stumme Szene, die schildert, wie sich durch die Rede der Schlange der Blick der Frau auf den Baum geändert hat (V. 6a).140 Der Baum ist wie alle anderen Bäume des Gartens eine Augenweide (vgl. 2, 9a), vor allem aber ist er begehrenswert, weil er Erkenntnis erlangen lässt. Deshalb nimmt die Frau zunächst für sich eine Frucht und gibt dann dem Mann von dem Baum zu essen (V. 6b). Beiläufig wird auf diese Weise die anthropologische Grundeinsicht in den Erzählfluss eingebunden, dass Menschen nicht nur soziale (2, 18), sondern auch Erkenntnis suchende Wesen sind.141 Wie aber sind das Erkenntnisversprechen und die Reaktion der Frau zu bewerten? Nach einer wirkmächtigen Auslegungstradition weckt die Schlange in der Frau den hybriden Wunsch, wie Gott zu sein. Dass die Frau und mit ihr der Mann diesem Wunsch nachgegeben haben, sei der Fall des Menschen in eine von Gott gelöste Autonomie der Erkenntnisvorgänge, wie sie seither dem Menschen Vgl. bereits Gunkel, 17. Vgl. Bührer, Anfang, 242  f. 141  Mit Schüle, 75. 139  140 

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zu eigen ist.142 Gegen diese Sicht ist in jüngerer Zeit mit guten Argumenten Einspruch erhoben worden.143 Vom „Öffnen der Augen“ wird im Alten Testament stets neutral oder positiv gesprochen, sei es in wörtlicher (vgl. 2Kön 4, 35; 19, 16; Hi 27, 19; Spr 20, 13) oder in übertragener Bedeutung, wonach es um eine tiefere Einsicht und richtige Einschätzung der Situation geht (vgl. Gen  21, 19; Num  22, 31; 2Kön  6, 17. 20). Ebenso haben das Erkennen von gut und schlecht (s.  o. zu 2, 17 ) wie auch das Bemühen, klug zu werden (*śkl hi.; V. 6144; vgl. Jes 44, 18; Jer 9, 23; 23, 5), einen durchweg positiven Klang. Allenfalls ließe sich aus den Ausdrücken des Begehrens der negative Aspekt der Verführbarkeit heraushören (vgl. ta ʾawā in Num  11, 4; Ps 78, 29 –31 sowie *ḥmd im Begehrverbot des Dekalogs in Ex 20, 17 sowie in Jes 1, 29; Spr 12, 12). Doch ist selbst dies nicht eindeutig (vgl. Ps  10, 17; 21, 3 sowie Gen 2, 9; Spr 21, 20; Hhld 2, 3). Entscheidend ist indes, ob die Ansage „ihr werdet sein wie Gott“ (ke- ʾælōhīm) das sonst positiv konnotierte Erkenntnisversprechen im Sinne der Hybris-Deutung ins Negative wendet. Dies ist eindeutig zu verneinen, wie schon daraus hervorgeht, dass diese Aussage in V. 6 nicht wiederholt wird. Die Frau greift nicht zum Baum, weil sie an Gottes Stelle treten will. Sie strebt nach Einsicht, was im Alten Testament grundsätzlich positiv bewertet wird (vgl. 1Kön 3, 5 –14). Ebenso lockt die Schlange nicht mit dem Versprechen der Vergöttlichung, sondern mit der Teilhabe an einem Wissen, wie es bislang Gott vorbehalten ist (vgl. auch Gen  3, 22). Diese Charakterisierung der Erkenntnis von gut und schlecht erinnert an die ganz unverfängliche Aussage, König David gleiche mit seiner Fähigkeit, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden, einem Engel Gottes (vgl. 2Sam  14, 17. 20; 19, 28; auch 2Sam  16, 23 zum Rat des Ahitophel; vgl. auch Gilgm I, 207 ). Dass die genannten Belege vom „Sein wie ein Engel Gottes“ und nicht wie in Gen  3, 5 vom „Sein wie Gott“ sprechen, bedeutet keinen grundsätzlichen Unterschied. Zum einen ist auch der Vergleich „wie Gott“ dem Alten Testament nicht unbekannt (vgl. Ex 4, 16; 7, 1; auch Ps 8, 6), zum anderen gebrauchen diese Vergleiche stets den Gattungsbegriff ʾælōhīm („Gott“ oder „Götterwesen“) und nie den Eigennamen Gottes. Darin gleichen sie dem Dialog zwischen der Schlange und der Frau, wo auf Ebene der Handelnden (Gen 3, 1b. 3. 5; vgl. 3, 22), nicht jedoch des Erzählers (Gen 3, 1a) mit Bedacht stets von ʾælōhīm und nicht von Jhwh (bzw. redaktionell von Jhwh-Elohim) die Rede ist.145 Nach alldem macht auch die Ansage „ihr werdet sein wie Gott, wissend um gut und schlecht“ aus dem Griff nach dem Baum der Erkenntnis keinen „Sündenfall“. Gleichwohl wird man sich unbeschadet der großen Wertschätzung der Weisheit in der alttestamentlichen 142  Zu dieser Reformulierung der klassischen Auslegung als „Sündenfallerzählung“ vgl. Steck, Paradieserzählung, 34 f mit Anm. 43, 64, 104, 106; von Rad, 63. 143  Vgl. dazu und zum Folgenden Albertz, „Ihr werdet sein wie Gott“. Ferner Barr, Garden, 13; Schmid, Unteilbarkeit; Blum, Gottesunmittelbarkeit, 21; Schüle, 75, aber auch schon Gunkel, 34. 144  Zur Übersetzung vgl. K. Koenen, Art. „śkl  “, ThWAT VII (1993) 781–795, 787. 145  Vgl. Witte, Urgeschichte, 57.

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Literatur vor modernen Eintragungen hüten müssen:146 Die Paradieserzählung entwirft mit ihrer Schilderung des Lebens im Garten in Gen  2 sicher keine realistische Alternative zur vorfindlichen Welt, in der das Urteilsvermögen ein gleichermaßen notwendiges wie hochgeschätztes Vermögen des mündigen Menschen ist. Sie bietet aber auch keine Ätiologie für die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant). Es zeichnet den Realismus der Paradieserzählung aus, dass sie die Ambivalenzen des Erkenntnisvermögens klar benennt. Die erkenntniskritischen Einsichten der späteren Weisheit sind der Paradieserzählung sicher noch fremd (vgl. Hi  28; Qohelet), doch präsentiert sie die Minderungen menschlichen Daseins als Strafe für den untersagten Erkenntnisgewinn (Gen  3, 15 –19). Die ambivalenten Existenzbedingungen bilden ähnlich wie die Büchse der Pandora im griechischen Prometheus-Mythos die Kehrseite menschlicher Vernunftfähigkeit.147 So zeigt sich in der engen Verflechtung menschlicher Tragik mit der höchsten Fähigkeit des Menschen ein Problembewusstsein, wie es im Fortgang der Erzählung weiter entfaltet wird. Der erste erzählte Anwendungsfall einer freien menschlichen Entscheidung führt zum Brudermord (Gen  4, 7 f ). Hierauf folgt die explizite Feststellung zu Beginn und Abschluss der Fluterzählung, wonach die „Gebilde der Gedanken des Herzens“  – nach alttestamentlicher Auffassung handelt es sich um das menschliche Erkenntnisorgan  – schlecht sind (Gen  6, 5; 8, 21). Mit dieser Feststellung wird das menschliche Erkenntnisvermögen („Herz“) nicht selbst abqualifiziert, wohl aber der selbstverantwortete Umgang des Menschen mit diesem Vermögen („Gebilde der Gedanken“).148 Dem weisheitlichen Erzähler stellt sich die Ambivalenz menschlichen Daseins und Vernunftgebrauchs als Folge einer selbstverantworteten Gebotsübertretung dar, dem durch die Aufklärung geprägten Leser hingegen als notwendige Begleiterscheinung des selbsttätigen Gebrauchs der Vernunft. Wie von der Schlange angekündigt, werden dem Menschenpaar die Augen 3, 7–8 geöffnet. Die daraus folgende Erkenntnis der eigenen Nacktheit wird zuweilen als böses Erwachen des Menschen aus seinen hochtrabenden Erwartungen an die angestrebte Erkenntnis bewertet. Statt des erhofften „Wissens wie Gott“ sehe sich der Mensch nur so, wie er ist, nämlich nackt.149 Auch hat man aus der Notiz über die Anfertigung der Schurze aus Feigenblättern eine feine Ironie herausgehört, insofern Jhwh-Gott dem Menschen bei der An146  Mit Blum, Gottesunmittelbarkeit, 22 . Für einen Überblick zu neuzeitlichen Auslegungen von Gen 2 ,4 –3,24 und der philosophischen Bewertung des Sündenfalls als „glücklichste und größte Begebenheit“ (Friedrich Schiller) vgl. C.  Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen 1989, 102 –159, ferner Kübel, Metamorphosen, 3 –22 . 147  Vgl. Aischylos, Der gefesselte Prometheus, übertragen v. C. Philips, Leipzig 1913, Z. 443  f. 148  Vgl. A. Schellenberg, Erkenntnis als Problem. Qohelet und die alttestamentliche Diskussion um das menschliche Erkennen, OBO 188, Freiburg/Göttingen 2002 , 246. 149  Vgl. Gunkel, 17 f; Steck, Paradieserzählung, 95; Witte, Urgeschichte, 162; Seebaß, 121.

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fertigung richtiger Kleidung habe helfen müssen (vgl. 3, 21).150 Doch schon wegen der großen Bedeutung von Statusfragen in antiken Gesellschaften, wie sie sich mit dem Thema Nacktheit und Bekleidung verbinden, sollte der Erkenntnisgewinn des ersten Menschenpaares nicht unterbestimmt werden. Wenn der Mensch und seine Frau erkennen, dass sie nackt sind, und sich deswegen bekleiden, dann wissen sie nach den kulturellen Vorgaben der Paradieserzählung sehr wohl, zwischen Gutem und Schlechten, zwischen lebensförderlicher Scham und lebenshinderlicher Schamlosigkeit zu unterscheiden und angemessen zu handeln.151 Angesichts der Frage, welche Alternative zu einem Schurz aus Feigenblättern sich auf die Schnelle sonst geboten hätte, lässt sich dem ersten Menschenpaar durchaus eine pragmatische Findigkeit bescheinigen. Auch wird bei einer abschätzigen Bewertung der erlangten Erkenntnis nicht hinreichend bedacht, dass der weisheitliche Erzähler am Beispiel der Nacktheit das Erlangen des Erkenntnisvermögens als Schritt aus der kindlichen Naivität in die Welt des sich seiner selbst bewussten Erwachsenen darstellt: Die Formulierung von V. 7 greift über die Rede der Schlange hinweg auf 2, 25 zurück. Zum zweiten und letzten Mal ist ausdrücklich von „ihnen beiden“ (š enēhæm) die Rede.152 Der Griff nach der verbotenen Frucht und seine Folgen sind die letzte Tat und das letzte Erleben in ungebrochener Einheit. Im weiteren Verlauf werden die beiden immer mehr zu Individuen, die für sich selbst handeln. Die Erkenntnis der Nacktheit führt dazu, dass sie „für sich Schurze“ machen. War die Nacktheit für das unwissende Menschenpaar noch kein Anlass, sich gegenseitig zu beschämen, so zielt diese erste Tat des Menschen darauf, sich dem Blick des Anderen zu entziehen, um ihm nicht schutzlos ausgesetzt zu sein. Erst recht trauen sich die ihrer selbst bewusst gewordenen Menschen nicht mehr, Jhwh-Gott unter die Augen zu treten, und verstecken sich deshalb vor ihm (V. 8). Was auf den ersten Blick wie eine gemeinsame Handlung wirkt, ist allenfalls ein gleichzeitiger Entschluss. Die Auskunft des Menschen, er habe Gott gehört, er habe sich wegen seiner Nacktheit gefürchtet, vor Gott zu treten, worauf er sich versteckt habe (V. 10), deutet an, dass sich jeder für sich allein verborgen hat. Vollzogen ist die Trennung schließlich mit der Schuldzuweisung des Menschen an die Frau (V. 12). Hier geht es um mehr als nur um die Weigerung, für die gemeinsame Tat auch gemeinsam die Verantwortung zu übernehmen. Die Abweisung der Schuld ist in deutlicher Distanzierung zu dem Jubelruf in 2, 23 formuliert. Jetzt erst nimmt der Mensch die Frau als eigenständiges Gegenüber wahr und wird sich darin auch seiner selbst bewusst („die Frau, die du mir gegeben hast“). Aus dem „Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“ ist die Frau geworden, die Jhwh-Gott dem Menschen gegeben hat und die endlich einen eigenen Namen erhält (V. 20). So ambivalent diese Erfahrung sein mag, auch der Inhalt der erlangVgl. Albertz, „Ihr werdet sein wie Gott“, 20. Vgl. Westermann, 342 mit Hinweis auf Julius Wellhausen und Hermann Gunkel. 152  Vgl. Hartenstein, Beobachtungen, 288  f. Dort auch zum Folgenden. 150  151 

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ten Erkenntnis spricht nicht dagegen, dass der Mensch mit der Übertretung des Gebots tatsächlich erlangt, was das Wesen des mündigen Menschen ausmacht, nämlich zwischen dem zu unterscheiden, was dem Leben förderlich ist, und dem, was dem Leben nicht förderlich ist. Wird das Erwachen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit am Beispiel der Nacktheit und der Entdeckung der Scham vorgeführt, dann erscheint die „geistige Phylogenese der Menschen nach Analogie der Ontogenese“153. Das hier durchscheinende Adoleszenzmotiv ist kulturübergreifend verbreitet, konkret könnte es durch die Episode von Enkidu und Šamkat im Gilgamesch-Epos angeregt sein (Gilgm I, 178 –202): Der aus Lehm geschaffene Wildmensch Enkidu lebt zusammen mit den Tieren in vormenschlich-tierischer Unkenntnis (Gilgm I, 101–112; vgl. o. zu Gen  2, 7 ). Die Prostituierte Šamkat soll ihn in die Stadt Uruk, das Sinnbild der Zivilisation, bringen. Sie schläft sechs Tage und sieben Nächte mit Enkidu, wodurch sein Verstand erwacht. So vermag er Šamkat zuzuhören, die ihn mit den entscheidenden Kulturtechniken vertraut macht. Enkidu lernt, sich zu kleiden, wie ein Mensch zu essen und sich zu parfümieren, was Šamkat mit den Worten kommentiert, er sei „weise (  ?  ), wie ein Gott“ (Gilgm I, 207; vgl. I, 202) geworden. Gemeinsame Elemente sind die zweistufige Anthropogonie, die Verbindung des Erwachens der Sexualität mit der Erlangung der Erkenntnis, die Bekleidung als Zeichen von Zivilisierung sowie die Wertschätzung der Erkenntnis als gottgleich. Auch die herausgehobene Rolle der Frau beim Übergang vom Vormenschlichen zum Menschen könnte durch das mesopotamische Vorbild angeregt sein. Allerdings verbindet der biblische Text den Erkenntnisgewinn unbeschadet der erkannten Nacktheit und der sexuellen Konnotationen, wie sie die Gartenszene (vgl. Hhld  2, 13; 4, 12. 16; 5, 1; 6, 2) und das hebräische Wort für „erkennen“ *yd   ʿ (vgl. u. zu 4, 1) hervorrufen mögen, nicht mit einem Beischlaf oder gar der sexuellen Verführung des Mannes durch die Frau. Zwar wird zuweilen eine aphrodisische Wirkung der verbotenen Frucht vermutet (vgl. Gen 30, 14), doch ist das schon deswegen reine Spekulation, weil der Baum botanisch nicht näher bestimmt wird. Natürlich hat die Identifizierung der Frucht die Auslegung über die Jahrhunderte hinweg beschäftigt.154 Der berühmte Apfel ist relativ spät in die Auslegungsgeschichte geraten; wegen der in V. 7 genannten Feigenblätter wurde zunächst ganz überwiegend an die Feige gedacht. Die Nacherzählung des Jubiläenbuches, wonach die Frau unmittelbar nach dem Verzehr der Frucht einen Schurz aus Feigenblättern anfertigt und erst danach dem Mann die Frucht zum Essen reicht ( Jub 3, 21 f ), mag dies befördert haben. Sofern die frühjüdische Exegese sich zu dieser Frage äußert, bestimmt sie die Frucht jedenfalls als Feige (ApkMos 15 –30). Die Rabbinen und das griechische Christentum, für das sich interessante Querverweise zu neutestamentlichen Erwähnungen des Feigenbaumes ergaben (vgl. Mk  11, 13 f ), sind ihr gefolgt. Daneben werden in (Statt vieler) Blum, Gottesunmittelbarkeit, 22 . Vgl. H.-G. Leder, ARBOR SCIENTIAE. Die Tradition vom paradiesischen Apfelbaum, ZNW 52 (1961) 156 –189. 153  154 

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der jüdischen Auslegungstradition noch der Etrog (BerR XV, 7 ) – die in kulinarischer Hinsicht langweilige Zitrusfrucht spielt im Rahmen des Sukkotfestes eine wichtige Rolle – und der Weinstock genannt. Der in der Kunstgeschichte und Literatur vorherrschende Apfel ist in der lateinischen Christenheit beheimatet. Er ist erstmals in einer Nachdichtung des biblischen Textes, dem Heptateuchos des gallischen Dichters Cyprianus Gallicus (gest. 425 n. Chr.) nachweisbar. Immer wieder genannte ältere Belege in der frühchristlichen Ikonographie sind dagegen nicht eindeutig. Wahrscheinlich ist die Identifizierung mit einem Apfel von antiker Mythologie beeinflusst, wo der Apfel der Hesperiden im Kontext von Paradiesvorstellungen begegnet. Häufig wird auf ein lateinisches Wortspiel von mālum (Apfel) und malum (Übel) als Erklärung für die Entstehung dieser Tradition verwiesen. Da sich entsprechende Anspielungen bei den lateinischen Theologen des 4. bis 7. Jh. nicht finden, ist das aber sehr unsicher. Vermutlich handelt es sich bei dem Wortspiel um eine nachträgliche Erklärung aus der Feder eines späteren Gelehrten.

Gegenüber all dem, was die kirchliche wie außerkirchliche Auslegung bis hin zur zeitgenössischen Werbung in den Text hineingelesen haben und hineinlesen, ist schließlich zu betonen, dass „im Alten Testament nicht die Scham, schon gar nicht die Sexualität, sondern die Schamlosigkeit als Sünde verstanden wird“.155 So spricht nichts für „eine geschlechtliche Sünde“ und „Tat der Nacht“.156 Letzteres ist im Übrigen schon deswegen wenig wahrscheinlich, weil die Frau die Schönheit der Frucht sehen kann. So wird es sich bei dem „Wind des Tages“ (rū     aḥ hay-yōm) um die kühle Abendbrise handeln, die in den Ländern des Mittelmeeres nach der Hitze des Tages aufkommt und Menschen wie Götter erfreut (vgl. LXX δειλινόν „gegen Abend“; anders Hhld  2, 17; 4, 6). Abermals erinnert die Szenerie an die Vorstellung vom Garten als Wohnort der Götter, in dem sich jetzt der Gottkönig am Abend ergeht. Das hebräische qōl ist hier wie in V. 10 nicht die Stimme, sondern das Geräusch der Schritte Jhwh-Gottes im Garten (vgl. 2Sam 5, 24). Das Erscheinen Jhwh-Gottes und die verängstigte Reaktion des Men- 3, 9 –19 schenpaares bilden den erzählerischen Übergang zum Verhör und den Strafsprüchen. Der Abschnitt ist konzentrisch aufgebaut.157 In umgekehrter Reihenfolge zu ihrem Auftritt in der vorangegangenen Szene befragt JhwhGott zunächst den Menschen (V. 9 –12; vgl. V. 7b) und dann die Frau (V. 13; vgl. V. 2). Die Schlange wird am Ende des Verhörs erwähnt, aber nicht befragt (V. 13b; vgl. V. 1). Hierauf folgen in abermals umgekehrter Reihenfolge die Verfluchung der Schlange (V. 14  –15) sowie die Strafsprüche gegen die Frau (V. 16) und den Menschen (V. 17–19). Die Fluch- und Strafsprüche nehmen die in der Befragung angesprochenen Sachverhalte auf und sind zudem Albertz, „Ihr werdet sein wie Gott“, 20. So statt vieler Gunkel, 18  f. Vgl. auch H. Schmidt, Die Erzählung von Paradies und Sündenfall, SGV 154, Tübingen 1931, 22 . Die moderne, durch die psychoanalytische Bibelauslegung beförderte und popularisierte Assoziation hat einige wenige altkirchliche und mittelalterliche Vorläufer. Vgl. K. Flasch, Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos, München 2004, 80 –85. 157  Vgl. Gunkel, 20; Holzinger, 33; Witte, Urgeschichte, 162  f. 155  156 

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gegenseitig aufeinander bezogen. Jede der beteiligten Parteien erfährt eine Einzelstrafe, die eine individuelle Daseinsminderung beinhaltet, und eine nachhaltige Störung der bisherigen Gemeinschaft, insofern die Angesprochenen fortan in einem durch Feindschaft (V. 15), Herrschaft und Unterordnung (V. 16b) sowie Fluch (V. 17b) geprägten Schuld- und Strafverhältnis stehen.158 Der Abschnitt wird zumeist mit den Begriffen „Verhör und Strafe“ charakterisiert. Da es um die Aufklärung einer Übertretung und deren Folgen geht, ist diese rechtlich geprägte Terminologie angebracht, doch sollte zumindest das „Verhör“ nicht zu sehr in juristische Kategorien gepresst werden. Es erinnert eher an eine elterliche Befragung ertappter Kinder: „Wo bist du?“ (V. 9); „Wer hat dir das erzählt? Hast du etwa von dem Baum gegessen?“ (V. 11); „Was hast du getan?“ (V. 13); „Wo ist Abel, dein Bruder?“ (Gen 4, 9). Solche Fragen passen gut zu der vorherigen Schilderung der Menschenschöpfung als Erwachsenwerden.159 V. 9 –13 Die Antwort des Menschen auf die Frage, wo er sei (V. 9), legt offen, in welche Schwierigkeiten er durch die neu erworbene Erkenntnis geraten ist (V. 10). Die provisorische Bekleidung mag helfen, sich dem Blick des anderen aussetzen zu können, der Begegnung mit der Gottheit genügt sie nicht. Insofern ist es durchaus angemessen, seine Blöße vor Jhwh-Gott zu verbergen (vgl. Ex  20, 26). Freilich ist diese Einsicht der Übertretung des göttlichen Gebots geschuldet, weshalb das angemessene Verhalten zugleich das schlechte Gewissen offenbart, das sich erstmals in der Begegnung mit Jhwh-Gott als nachlaufende Erkenntnis über die eigene Tat regt. Auf diese angesprochen (V. 11), gibt der Mensch die Übertretung des Verbots zu, wälzt aber zuvor die Verantwortung auf die Frau ab (V. 12). Mündiges Handeln verlangt auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Dies ist im Alten Testament ebenso unbestritten wie die bittere Erfahrung, dass zwischen dieser Forderung und der Realität häufig eine große Lücke klafft. Die Frage Jhwh-Gottes hätte durchaus die Möglichkeit eröffnet, für die Tat einzustehen. Doch der Mensch und mit ihm eine über Jahrhunderte hinweg männlich dominierte Auslegungsgeschichte (vgl. Sir 25, 24: „Von einer Frau nahm die Sünde ihren Anfang, ihretwegen müssen wir alle sterben“; ferner ApkMos  14, 2 –3; VitAd  44; Philo QG I, 43; 1Tim  2, 8 –15) zeigt lieber von sich auf die Frau, „die du mir beigesellt hast“. In dieser letzten Äußerung deutet sich zudem der Versuch an, zur eigenen Entlastung Jhwh-Gott die anfängliche Schuld zuzuweisen.160 Dies wird nur vage und in einer Nebenbemerkung vorgebracht, gleichwohl markiert der in Umkehrung zum Jubelruf in 2, 23 formulierte Vorwurf der Anstiftung nicht nur die Distanzierung gegenüber der Frau, sondern auch gegenüber dem Schöpfergott. Dieses Spiel wiederholt sich bei der Befragung der Frau (V. 13). Es kann offen bleiben, ob sich die Frage „Was hast du getan?“ auf den ganzen Vorgang bezieht oder – Witte, Urgeschichte, 163. Gunkel, 18 f; Schüle, 77. 160  Gunkel, 19  f. 158  159 

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weniger wahrscheinlich – auf die vorherige Ausflucht des Mannes, die Frau habe ihm die verbotene Frucht gereicht. Jedenfalls identifiziert die Frau in ihrer Antwort das Essen der verbotenen Frucht als Vergehen. Auch die Frau bestreitet den Tathergang nicht, gibt aber der Schlange die Schuld, die sie verführt habe (hiššī   ʾanī ). Das Verb *nš  ʾ „verführen, täuschen“ wird nie im erotisch-sexuellen Sinne gebraucht, womit sich immer wieder vorgebrachte Spekulationen über eine sexuelle Verführung der Frau durch die Schlange erledigen. Mit dem Versuch der Frau, sich wie zuvor der Mann der eigenen Verantwortung zu entziehen, endet die kleine Charakterstudie. Die Schlange wird nicht befragt, wie auch die Frage nach der Herkunft des Bösen nicht gestellt wird. Der Erzähler ist nur an dem Mann und seiner Frau interessiert. Ihnen galt das Gebot. Ihre durch die Übertretung des Gebots hervorgerufene Menschwerdung ist das Thema der Paradieserzählung. Mit den Fluch- und Strafsprüchen erreicht die Paradieserzählung ihren V. 14  –19 ätiologischen Zielpunkt. Dies spiegelt die ambivalente Lebenswirklichkeit des weisheitlichen Erzählers und seiner damaligen wie heutigen Leserschaft wider.161 Leben und Weiterleben bereiten dem Menschen Freude und Mühsal. Kinder werden unter Schmerzen geboren. Das Verhältnis von Mann und Frau ist gleichermaßen von gegenseitiger Zuneigung und einseitiger Machtverteilung bestimmt. Die Kultivierung des Erdbodens sichert die Lebensgrundlagen des Menschen, doch verlangt sie ihm harte und oftmals vergebliche Arbeit ab. Diese alltägliche Erfahrung, deren Überwindung der Verheißung eines neuen Himmels und einer neueren Erde vorbehalten bleibt (vgl. Jes  65, 17. 23)162, erscheint in der Paradieserzählung als Resultat einer Daseinsminderung, in der die grundlegenden Bedingungen menschlichen Lebens unter dem Vorzeichen von Strafe und Fluch neu bestimmt werden. Dennoch ist die Welt jenseits des Gartens kein bloßes Jammertal, da die positive Kehrseite des von Strafe und Fluch betroffenen Lebens stets mitzulesen ist. Gewährt Jhwh-Gott dem mündig gewordenen Menschen weiterhin die Möglichkeit des Lebens und der Weitergabe des Lebens, anstatt ihn wie angedroht mit dem Tode zu bestrafen (vgl. Gen 2, 17 ), so liegt selbst mit Blick auf die Daseinsminderung der Akzent auf der göttlichen Gnade. Hierzu stimmt, dass nicht alle an der Übertretung beteiligten Parteien, sondern lediglich die Schlange als Anstifterin förmlich verflucht werden. Doch ist auch gegenüber einer zu hoffnungsfrohen Lesart die Balance zu wahren: Der Mensch ( ʾādām) ist durch die Verfluchung des Ackerbodens ( ʾadāmā ) um des Menschen willen (V. 17b) unwiderruflich mit in die Sphäre des Fluches hineingenommen.163 Da der Mensch vom Ackerboden genommen ist und zu ihm zurückkehrt (vgl. Gen 2, 7; 3, 19aβ), ließe sich darüber hinaus sogar fraVgl. bereits Gunkel, 20. Vgl. dazu O.H. Steck, Der neue Himmel und die neue Erde. Beobachtungen zur Rezeption von Gen 1–3 in Jes 65, 15b–25, in: T. van Ruiten/I. Vervenne (Hg.), Studies in the Book of Isaiah (FS W.A.M. Beuken), BEThL 132 , Leuven 1997, 349 –365. 163  Vgl. Spieckermann, Ambivalenzen, 57  f. 161  162 

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gen, ob damit nicht auch der ʾādām (und mit ihm wiederum die Frau, die vom ʾādām genommen ist und wie dieser auch zur ʾadāmā zurückkehrt) verflucht ist.164 Gegen diese Lesart spricht aber, dass Kain in Gen  4, 11 in deutlicher Anspielung auf den Strafspruch gegen den Mann explizit verflucht wird. Offenkundig ist hier an eine Steigerung gedacht, die von einer Fluchsphäre für alle Menschen ausgeht und davon noch einmal die direkte Verfluchung angesichts eines individuellen Vergehens unterscheidet. Der Fluch trifft die Schlange ohne vorherige Befragung. Dass im Alten V. 14  –15 Testament nur hier und in Gen 4, 11 (Kain) der Fluch als ein in direkter Anrede formuliertes Gotteswort erfolgt, unterstreicht das Gewicht dieser urgeschichtlichen Szene. Die Schlange wird aus der Gemeinschaft der Lebewesen des Feldes (und des Viehs) ausgestoßen. In einer mythologischen Erzählung sollte es nicht verwundern, wenn ein Tier für seine Tat haftbar gemacht wird; diese Vorstellung ist aber auch in Rechtstexten belegt (vgl. Ex  21, 28). Die Strafe besteht in der besonderen Fortbewegung und Lebensweise von Schlangen. Beides galt offenkundig als erklärungsbedürftig (vgl. Spr  30, 19) und – dies belegen entsprechende Flüche, die Vertragsbruch mit dem Essen von Staub und Trinken von Eselsurin bestraft sehen wollen165 – als besonders demütigend (vgl. Mi 7, 17; Jes 65, 25). Wörtlich genommen folgt aus der Herleitung der besonderen Lebensweise von Schlangen, dass sich die Schlange im Paradies zuvor anders bewegt und genährt hat,166 doch liegen derartige Überlegungen außerhalb des Interesses der Erzählung.167 Dass Schlangen realiter keinen Staub fressen, war womöglich auch dem weisheitlichen Erzähler bekannt. Doch unabhängig davon, ob die Aussage metaphorisch oder naturkundlich gemeint ist, weist sie auf eine Verbindung von Schlangen mit Tod und Unheil hin, wie sie auch in der Aussage von der ewigen Feindschaft zwischen den Schlangen und der Nachkommenschaft der Frau angesprochen ist. Vermutlich hat sich auch deswegen ein späterer Ergänzer von der Erwähnung des Staubes ( ʿāpār) zu seiner Bemerkung in Gen 2, 7; 3, 19 anregen lassen, dass der Mensch aus Staub geschaffen ist (s.  o. zu Gen  2, 7). Dadurch hat er den Hauptton der Paradieserzählung auf die durch die Übertretung des Verbots verspielte Unsterblichkeit des Menschen verlagert (vgl. Gen  3, 22. 24). Es bot sich daher an, das Fressen des Staubes als spiegelnde Strafe für die Verführung der Frau zu verstehen und das Werden des Menschen zu Staub als Folge der Übertretung herauszustellen. Die altkirchliche und die rabbinische Exegese sind dem Ergänzer darin gefolgt (BerR XX, 5). Zusätzlich zu ihrer besonderen Lebensweise verfügt Jhwh-Gott eine abgründige und fortwährende Feindschaft ( ʾēbā; vgl. noch Num 35, 21 f; Ez 25, 15; 35, 5) zwischen Arneth, Adam, 103. Vgl. W. Schottroff, Der altisraelitsche Fluchspruch, WMANT  30, Neukirchen-Vluyn 1969, 152 f; Seebaß, 125. 166  So Luther, WA 42 , 114. In der Kunstgeschichte stellt die Darstellung der Verführungsszene durch Hugo van der Goes (um 1470), die eine Schlange mit menschlichem Gesicht und Beinen zeigt, eine Ausnahme dar. 167  Gunkel, 20; Westermann, 353. 164  165 

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der Frau und der Schlange sowie zwischen beider Nachkommenschaft (V. 15). Auch diese Aussage ist einer bäuerlichen Lebenswirklichkeit entnommen. Insbesondere unter vormodernen Bedingungen geht im Vorderen Orient von Schlangen immer wieder eine plötzliche und unerwartete Gefährdung aus (vgl. Gen 49, 17; Am 5, 19; Ps 58, 5; 140, 4; Spr 23, 32; Pred 10, 8), was eine entsprechende Haltung gegenüber Schlangen hervorgerufen haben wird (vgl. Lk  10, 19). Im hebräischen Wortlaut wird die gegenseitige Aggression durch die zweimalige Verwendung des Verbs *šūp „jemanden attackieren“ ausgedrückt. So zielen die Frau und ihre Nachkommenschaft auf den Kopf der Schlange und den ihrer Nachkommen, die wiederum nach der Ferse der Menschen schnappen. Diese Erfahrung wird in der Strafrede ins Grundsätzliche gesteigert und zum ersten Fallbeispiel einer gestörten Gemeinschaft unter den Geschöpfen. Ob man diese Aussage im Sinne eines Schlusses vom Kleineren zum Größeren so verstehen darf, dass mit der Verfluchung der Schlange das Verhältnis zwischen Mensch und Tier elementar und auf Dauer gestört ist,168 lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Gegen diese Lesart spricht, dass die Schlange unmittelbar zuvor aus dem Kreis der Tiere verstoßen worden ist. Für eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses des Menschen zu den Tieren lässt sich aber die Szenerie bei der Benennung der Tiere durch den Menschen anführen. Sie erinnert an einen ursprünglichen Tierfrieden (Gen  2, 19 f ), der insbesondere unter den Bedingungen einer antik-bäuerlichen Lebenswirklichkeit in einem scharfen Kontrast zur Realität steht. Insofern wird mit der Verfluchung der Schlange ein irrealer Zustand aufgehoben. Die Lebenswirklichkeit wird auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, das durch Konkurrenz und gegenseitige Bedrohung bestimmt ist, als Strafe und Daseinsminderung gedeutet. In der priesterschriftlichen Urgeschichte entspricht diesem Gedanken der Kontrast von ursprünglicher Schöpfungsordnung und den durch die Sintflut gesetzten Bedingungen der Wirklichkeit (vgl. Gen 1, 28 f mit Gen 9, 2 f ). In der kirchlichen Auslegungsgeschichte spielt Gen 3, 15 eine wichtige Rolle als erstes Aufscheinen des Evangeliums (Protevangelium). Bereits die frühjüdische Exegese hat ein eschatologisches Verständnis des Verses herausgebildet. So bezeugen die Targumim eine ältere Tradition, nach der die angekündigte Feindschaft in einer Serie von Konflikten zwischen der Schlange und der von der Frau abstammenden Menschheit besteht, deren Befriedung in der messianischen Endzeit erwartet wird. Die Schlange ist hier als Tier gedacht, das schließlich von den Toragetreuen besiegt wird (vgl. TJ zu Gen  3,15).169 Vor dem Hintergrund der im 1. Jh. n. Chr. weit verbreiteten Identifizierung der Schlange mit dem Satan (vgl. Weish 2 , 23 –25; ApkMos 7, 2; Offb 12, 9; 20, 2) ließ sich der eschatologisch verstandene Vers auch als Ankündigung eines endzeitlichen Sieges über den Satan lesen (vgl. Röm 16, 20). Irenäus von Lyon (gest. um 200 n. Chr.) hat diese Linie konsequent christologisch ausgedeutet und zæ-ra ʿ („Nachkommen, Same“) auf den von einer Frau (Maria) geborenen Christus bezogen, desSteck, Paradieserzählung, 99 f; Schellenberg, Mensch, 202  f. Vgl. J. Dochhorn, Paulus und die polyglotte Schriftgelehrsamkeit seiner Zeit, ZNW  98 (2007 ) 189 –212 , bes. 205 –208. 168  169 

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sen endzeitlicher Sieg über den Satan unmittelbar nach dem Fall angekündigt wird (Iren.haer. III 23, 7; IV 40, 3; V 21, 1). Diese Deutung, die in der katholischen wie der evangelischen Auslegungsgeschichte breit rezipiert worden ist und tiefe Spuren in der Kunst und Lieddichtung (vgl. EG  39, 5) hinterlassen hat, trifft jedoch kaum den ursprünglich intendierten Sinn von Gen  3, 15. Die ätiologische Ausrichtung der Paradieserzählung im Allgemeinen und der Flüche im Besonderen wie auch die Charakterisierung der Frau als „Mutter aller Lebendigen“ in V. 20 schließen ein individuelles Verständnis von zæ-ra ʿ aus. Der Begriff ist hier wie in der Mehrzahl der alttestamentlichen Belege kollektiv gebraucht. Entsprechend ist mit der Schlange und ihrem Samen die Gattung der Schlangen gemeint. Da eindeutig an die Fortpflanzung eines Tieres gedacht ist, kann keine überzeitliche böse Macht gemeint sein, wobei ohnehin unklar bliebe, wie sich Schlange/Satan und Nachkommen der Schlange/Satan zueinander verhalten. Formgeschichtlich betrachtet, ist eine Verheißung innerhalb eines Fluchspruchs mit ätiologischer Ausrichtung nur schwer vorstellbar.170

V. 16 Die Übersetzung des an die Frau gerichteten Strafspruchs hat schon der

LXX Schwierigkeiten bereitet. Sie übersetzt das Hapaxlegomenon hērōn „Schwangerschaft“ mit στεναγμός „Seufzen“: „Ich will zahlreich machen deine Mühsal und dein Seufzen.“ Diese Übersetzung könnte durch die Aneinanderreihung von ʿiṣṣābōn „Mühsal“ und hērōn veranlasst sein, da unabhängig vom individuellen Ergehen eine Vielzahl von Schwangerschaften in der Antike kaum als Strafe bezeichnet worden wäre.171 Vielleicht erinnert der Auftakt des Strafspruchs auch deshalb eher an eine Mehrungsverheißung (vgl. harbā   ʾarbǣ „ich will zahlreich machen“ noch in Gen 16, 10; 22, 17 ) als an das Fluchwort gegen die Schlange und den Strafspruch gegen den Mann.172 Sollte es sich bei w  e-hērōnēk „und deine Schwangerschaft“ nicht um eine irrtümlich in den Text geratene Randglosse handeln,173 wird man hērōn wie in der hier gewählten Übersetzung als Explikation zum vorangehenden ʿiṣṣābōn zu verstehen haben.174 Der Frau wird viel Mühsal angekündigt ( ʿiṣṣābōn wie in V. 17!), wobei sie vor allem während der Schwangerschaft von Nöten und Beschwernissen geplagt sein wird (V. 16aβ; vgl. Gen 25, 22; 1Sam 4, 19 f ), und sie wird unter Schmerzen gebären (V. 16aγ). Wörtlich ist lediglich von der Geburt von „Söhnen“ (bānīm) die Rede. In einer patrilinear denkenden Sprachwelt kann das auch die Töchter einschließen (vgl. Gen 21, 7; 30, 1; 31, 17; Dtn 4, 10; anders Jer  29, 6), was angesichts des beschriebenen Sachverhalts auch hier anzunehmen ist. Die Schmerzen der Frau unter der Geburt (nach Hi 39, 1. 3 auch für Hirschkuh und Steinbock, nach Hi 26, 5 sogar für die Bewohner der Westermann, 354  f. Vgl. Gunkel, 21. 172  Vgl. dazu und zu den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten auch D. Diekmann-von Bürnau, „Viel vervielfachen werde ich deine Mühsal  – und deine Schwangerschaft. Mit Mühe wirst du Kinder gebären.“ Die Ambivalenz des Gebärens nach Gen  3, 16, in: ders./D. ErbeleKüster (Hg.), „Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen“. Beiträge zur Geburt im Alten Testament, BThSt 75, Neukirchen-Vluyn 2006, 11–38. 173  Levin, Jahwist, 88 . 174  GK §  154 a Anm. 1b. 170  171 

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Meere) und ihre herausgeschriene Angst werden im Alten Testament vielfach erwähnt und dienen wiederholt als Metapher für das göttliche Gericht (vgl. Jes 21, 3; 26, 17; Jer 4, 31; 6, 24; Ps 48, 7 ). Die Ambivalenz menschlichen Lebens zwischen Freude und Leid tritt im sozialen und historischen Kontext des weisheitlichen Erzählers wohl nirgendwo sonst so deutlich zu Tage. Ein eindrückliches Beispiel bieten Geburt und Namensgebung Benjamins. Von seiner unter der Geburt sterbenden Mutter Rahel Ben-Oni „Kind meines Unheils“ genannt (zu ʾāwæn vgl. Ps 90, 10), wird er von seinem Vater trotz des erlittenen Verlusts in Ben-Jamin „geliebter Sohn“ (wörtl. Sohn des Südens bzw. Sohn der rechten Seite) umbenannt (Gen 35, 16 –18). Der zweite Teil des Strafspruchs zielt auf das Gemeinschaftsverhältnis der Frau, die hier vorrangig von ihrer Rolle als Mutter (V. 16a) und Frau des Mannes (V. 16b) her gedacht ist. Wie im ersten Teil ist zu berücksichtigen, dass es sich um die Ätiologie einer widersprüchlichen Daseinserfahrung handelt. Ebenso wenig wie die Strafe in einer Vielzahl von Schwangerschaften besteht, ist das Verlangen (t   ešūqā ) der Frau grundsätzlich negativ qualifiziert. Vielmehr wird nun mit Blick auf die Frau all das aufgenommen, was im Rahmen der Menschenschöpfung über das enge Verhältnis von Mann und Frau gesagt worden ist (vgl. Gen  2, 24). Dies ist gegen einen breiten Strom der Auslegungsgeschichte zu betonen, der angefangen mit dem (nachgetragenen) Zitat des Verses in Gen 4, 7 nur zu gerne auf Gen 3, 16 zurückgegriffen hat, um das Klischee von der (sittlichen) Schwachheit der Frau fest- und fortzuschreiben. Dass „das Weib einen stärkeren Geschlechtstrieb habe, als der Mann“, womit ihre Rolle als „seine Verführerin“ zusammenhänge,175 ist weder Voraussetzung noch Intention des Textes, sondern schlicht Unfug. Der Ausdruck t   ešūqā ist außer in Gen  3, 16 (und dem Zitat in Gen  4, 7) nur noch in Hhld  7, 11 gleichsam als Aufhebung des Strafspruchs belegt, dort jedoch auf das Verlangen des Mannes bezogen: „Ich bin bei meinem Geliebten, und nach mir steht sein Verlangen (t   ešūqā ).“ Wird diese Passage mit in die Auslegung einbezogen, dann geht es um Intimität und Zuneigung, einschließlich der erotischen Liebe.176 Dieses Thema wurde in der Paradieserzählung bereits angesprochen, wenn auch unter Ausklammerung der gesellschaftlichen Realität (s.  o. zu Gen  2, 24 f ). Das ändert sich mit dem Strafspruch, der die Frau unter die Herrschaft des Mannes stellt. Das Bedeutungsspektrum von *mšl „herrschen“ umfasst jegliche Form von Autorität und ist insofern weder rein negativ noch rein positiv konnotiert. Herrschaft kann unangemessen und ungerecht sein ( Jes  3, 4; 3, 12 [Herrschaft von Frauen!]; Spr  28, 15), es kann sich um bloße Machtausübung handeln (Dtn  15, 6), und sie kann als „gerechte Herrschaft“ (Gen 45, 8; 2Sam 23, 3 f ) die Fürsorge und den Schutz der anvertrauten Personen umfassen. Letzteres dürfte auch in V. 16 intendiert sein. Gleichwohl bedeutet die einseitige Verteilung des Verlangens auf die Statt vieler Gunkel, 22 . Vgl. Schüle, Prolog, 196. Anders u.  a. Seebaß, 126, der die Stelle von Gen  4, 7 her liest und von einem sozialen Verlangen spricht. 175  176 

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Frau und der Herrschaft auf den Mann doch die endgültige Negation der ungetrübten Gemeinschaft zugunsten einer patriarchalisch strukturierten Ordnung.177 Fraglos werden auf diese Weise vorfindliche Strukturen legitimiert und stabilisiert. Immerhin ist festzuhalten, dass der weisheitliche Erzähler die in seiner Gesellschaft selbstverständliche Vorherrschaft des Mannes als Daseinsminderung darstellt und damit ähnlich bewertet wie die Disteln und Dornen auf dem Feld. Sie ist demnach weit weniger „schöpfungsgemäß“ als die Intensität der Beziehung zwischen Mann und Frau, von der es am Ende der Menschenschöpfung heißt, sie vermöge zuweilen die Bedingungen der gesellschaftlichen Realität zu überwinden (Gen 2, 24). Das betont an das Ende der Reihe gestellte Wort über den Mann ist so V. 17–19 umfangreich wie die beiden vorherigen Worte zusammen. Wurde die Verfluchung der Schlange lediglich mit einem knappen Rückgriff auf die Entschuldigung der Frau begründet („weil du das gemacht hast“) und bei der Frau auf jegliche Begründung verzichtet, so werden beim Mann dessen Geständnis aus der vorangehenden Verhörszene (vgl. V. 17aα mit V. 12) und das göttliche Verbot wörtlich zitiert (vgl. V. 17aβ mit V. 11b und Gen 2, 17). Neben der Begründung ist auch die Formulierung der Strafe wesentlich umfangreicher und deutlicher auf den Vorkontext bezogen. Im Zentrum des Spruchs steht der Ackerboden ( ʾadāmā ), der um des Menschen willen verflucht wird (V. 17b), von dem dieser sich mit Mühsal nähren wird (V. 18. 19aα) und zu dem er am Ende seiner Tage zurückkehrt (V. 19aβ). Das Stichwort ʾadāmā weist zurück auf die Exposition der Paradieserzählung (Gen 2, 5) und die Aussage zur Herkunft des Menschen aus dem Ackerboden (Gen  2, 7*). Auch das als Nahrung vorgesehene „Kraut des Feldes“ ( ʿēśæb haś-śādǣ ; V. 18b; Gen  2, 5aβ) wurde schon in der Vorweltschilderung genannt, während sich die Existenz der ungewollten „Dornen und Disteln“ (V. 18a) in dem dort als Oberbegriff gewählten Ausdruck „Gesträuch des Feldes“ (śī    aḥ haś-śādǣ ; Gen  2, 5aα) angedeutet hat. Redaktionell wurde dieser umfangreiche Rekurs auf den Anfang der Paradieserzählung durch die abschließende Feststellung ausgebaut, dass der Mensch Staub sei (V. 19b; ʿāpār „Staub“ in Gen  2, 7). Umfang, Begründung und Position des gegen den Mann gerichteten Strafspruches stellen diesen als Hauptverantwortlichen heraus, der im Unterschied zur Frau bei seiner Schuld behaftet wird.178 Zugleich ist aber auch festzuhalten, dass die als Strafe verfügte Daseinsminderung des Mannes weit weniger spezifisch ist, als dies bei der Frau der Fall ist. Der mit einem Fluch belegte Ackerboden wird den Menschen im Unterschied zu seiner sorgenfreien Existenz im Garten (vgl. Gen  2, 8. 9a) nur mit Mühe nähren. Dies entspricht der alltäglichen Lebenserfahrung insbesondere in Palästina, wo unter weit weniger günstigen Bedingungen Landwirtschaft betrieben wurde als in den Bewässerungswirtschaften Ägyptens und Mesopotamiens. Freilich lässt sich diese Erfahrung nicht auf den Mann begrenzen, da auch Frauen und Kinder bei der 177  178 

Vgl. Spieckermann, Ambivalenzen, 59. Vgl. Seebaß, 127, 129.

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Arbeit auf dem Feld geholfen haben. Ebenso trifft auch Frauen das Schicksal, dass sie am Ende eines mühevollen Lebens zur Erde zurückkehren (zum Motiv vgl. Gilgm  X, 68 f, wonach Enkidu wieder zu Lehm wurde). Auch wenn die Erzählung Mann und Frau auf ihre primäre Rollenzuschreibung festlegt,179 so ist wie bei der Exposition in 2, 5 –7 nicht zu übersehen, dass der Strafspruch gegen den Mann die Frau zumindest auch mit im Blick hat. Der Strafspruch endet mit dem (in V. 19b redaktionell ausgebauten) Hinweis auf die Sterblichkeit des Menschen. Diese ist mit der physischen Konstitution des Menschen gegeben, sie ist nicht Folge des Genusses vom verbotenen Baum oder Strafe für die Übertretung des göttlichen Gebots.180 Die in Gen 2, 17 angedrohte Todesstrafe wird also nicht vollstreckt, an ihre Stelle treten die angekündigten Daseinsminderungen. Diese sind formalrechtlich betrachtet die Rechtsfolgen, die zwangsläufig eintreten müssen, wo ein schuldhaftes Vergehen vorliegt, und sie sind zugleich ein Ausweis göttlicher Gnade gegenüber seinem Geschöpf. Somit erweist sich Gen 2, 17 im Rückblick als „eine Warnung, so nachdrücklich wie sie nur sein kann, was Gott aber nicht hindert, sodann Gnade für Recht ergehen zu lassen“181. Dessen ungeachtet ist aber nicht zu verkennen, dass der Hinweis auf die Sterblichkeit allein schon durch seine Schlussposition den Strafsprüchen insgesamt einen (noch) düstereren Ton gibt. Allein der Tod begrenzt die Mühsal des Menschen (V. 19a). Er bestimmt die menschliche Existenz als Sein zum Tode. Mit seinem Griff nach der verbotenen Frucht hat der Mensch neben seiner Kulturfähigkeit und seiner Einsicht in die grundlegenden Bedingungen des Soziallebens auch diese bittere Erkenntnis erlangt. Der Schlussabschnitt ist nicht aus einem Guss. Erste Indizien für diese 3, 20. 21.23 Annahme sind das Nebeneinander von Entlassungs- und Vertreibungsnotiz (V. 23. 24) und die für einen Erzählschluss sehr ungewöhnliche Ansammlung alter und neuer Motive. Diejenigen Verse, die das bislang nur angedeutete Motiv des Lebensbaumes dominant in den Schlussakkord eintragen und dadurch den Duktus der Paradieserzählung merklich verschieben, sind mit einiger Wahrscheinlichkeit redaktionell (V. 22. 24).182 Der weisheitliche Erzähler scheint sich dagegen darauf beschränkt zu haben, die Hauptstränge seiner Erzählung aufzunehmen und zu Ende zu führen. Im Einzelnen handelt es sich um die endgültige Benennung der Frau, die trotz aller Mühsal von Schwangerschaft und Geburt alles Leben weitergibt (V. 20), die Fürsorge Jhwh-Gottes, der es nicht bei den provisorischen Schurzen aus Blättern belässt, sondern die Menschen mit Kleidung ausstattet (V. 21), sowie die Entlassung des Menschen zur Feldarbeit (V. 23). Allerdings wird die Benennung Vgl. Bührer, Anfang, 252 mit Anm. 368. Vgl. statt vieler Steck, Paradieserzählung, 97 f, 102 . 181  E. Aurelius, „Du bist der Mann“. Zum Charakter biblischer Texte, BTSP  23, Göttingen 2004, 54. 182  Vgl. (statt vieler) Budde, Paradiesgeschichte, 78 –85; Gese, Lebensbaum, 78 f; Gertz, Adam, 228  f. Für die in jüngerer Zeit mehrfach vertretene Gegenposition vgl. Blum, Gottesunmittelbarkeit, 19 –21; Bührer, Anfang, 256 –261. 179  180 

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Genesis 2, 4  –3, 24

der Frau immer wieder als unpassende Reaktion des Mannes auf die vorangehenden Strafsprüche bezeichnet und als sekundär beurteilt.183 Diese Charakterisierung übersieht jedoch die überleitende Funktion des Verses (vgl. Gen 4, 1) und wird zudem der Situation des Textes nicht gerecht, in der eine entsprechende Reaktion auf die Strafsprüche beinahe notwendig erfolgen muss. Die Ätiologie der Lebenswirklichkeit bliebe auf halbem Wege stehen, würde der Weg aus dem Garten in die zuvor genannten Daseinsbereiche des Kinderkriegens und der Feldarbeit nicht wenigstens angedeutet. Sehr schön hat Jean Calvin dieses Gefälle des Textes beschrieben: „Als Adam hörte, daß Gott ihm das Leben noch beließ, da faßte er neuen Mut und fühlte sich wie neu geschaffen. Deshalb gab er seinem Weibe den Namen einer Lebensspenderin“184. Die bei Calvin feinsinnig ausgedeutete Frage der Etymologie des nur hier und in Gen 4, 1 belegten Namens Ḥawwā „Eva“ ist nur schwer zu beantworten.185 Der hebräische Text („Mutter aller Lebenden ḥyy“) leitet den Namen jedenfalls von der Wurzel *ḥyh „leben“ ab. Die  LXX hat den Namen entsprechend in Ζωή „Leben“ geändert, um das etymologische Wortspiel (μήτηρ πάντων τῶν ζώντων) zu erhalten, während sie in Gen  4, 1 mit Ευα transkribiert hat. Das Perfekt in V. 20b ist deklaratorisch, setzt also weder die in Gen  4, 1 geschilderte noch eine andere erste Geburt voraus.186 Der Mensch bezieht sein Wissen noch nicht aus eigener Anschauung. Vielmehr entnimmt er es den Strafsprüchen Gottes, deren positive Kehrseite, die Hoffnung auf Leben, dem Ausblick auf den Tod entgegenstellt ist. Denkbar ist, dass der weisheitliche Erzähler hier auf die Tradition einer Urmutter zurückgreift (vgl. Sir 40, 1), doch hat dieses Motiv im Kontext der Paradieserzählung jede konkrete Anschauung verloren. Mit der Bekleidung des Menschenpaares durch Jhwh-Gott kommt das wichtige Leitmotiv der Nacktheit und Bekleidung zum Abschluss (V. 21). Zugleich ist die Bekleidung ein Akt der bleibenden Zuwendung des Schöpfergottes, der die notdürftige Bedeckung durch Schurze aus Feigenblättern ersetzt und dem Menschen mit einer angemessenen Bekleidung seine Würde verleiht (vgl. zu Gen  2, 25).187 Die Frage der Herkunft der „Fellkleider“ wird nicht erörtert. Elegant ist der Vorschlag des Targums, wonach sie aus der Haut der Schlange angefertigt wurden (TJ zu Gen  3, 21). Bekleidet und mit der Erkenntnis von gut und schlecht ausgestattet, wird der Mensch entlassen, um seiner Bestimmung nachzukommen und den Ackerboden zu bestellen (V. 23). Mit dieser gegenläufigen Wiederaufnahme der Wesensbestimmung und stofflichen Herkunft des Menschen beschließt der weisheitliche Erzähler seine Paradieserzählung. 183  Wellhausen, Composition, 10, der Gen  3, 20 f als Einschub bewertet. Die erkannte Spannung dient auch als Argument für die eingangs diskutierte These, dass die Strafsprüche und mit ihnen die gesamte Erzählung von der Übertretung des göttlichen Verbots und seinen Folgen nachgetragen ist. 184  Calvin, 63. 185  A.S. Kapelrud, Art. „ḥawwāh“, ThWAT II (1977 ) 794  –798, 795 –797. 186  Seebaß, 130. 187  Jacob, 124; Hartenstein, Beobachtungen, 277.

Die Paradieserzählung

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Obwohl die Entlassungsnotiz in V. 23 konstatiert, dass der in den an- 3, 22. 24 fänglichen Noch-Nicht-Sätzen beschriebene irreale Zustand in die Realität transformiert worden und die Erzählung damit an ihr Ende gekommen ist, schildert V. 24 abermals den Auszug des Menschen aus dem Garten Eden. Unbeschadet der deutlich verschärften Formulierung (*grš „vertreiben“ statt *šlḥ „entlassen“) handelt es sich um eine auffällige Doppelung.188 Das Verhältnis der beiden Verse wird gerne als Steigerung verstanden: „Gott, nachdem er den Menschen aus dem Garten  fortgeschickt, d.  h. fortgehen geheissen, treibt ihn, den zögernden oder doch draussen vor der Pforte stehen bleibenden,  fort.“189 Alternativ wird in V. 24 die „Realisierung der Vertreibung von 3, 23“190 erkannt. Beide Lesarten sind durch den Wortlaut nicht gedeckt und bedenken nicht hinreichend, dass das gegenüber V. 23 neue Element im Schutz des Lebensbaumes besteht, was V. 24 wiederum untrennbar mit V. 22 und der Einführung des Baumes in Gen  2, 9 verbindet. Die Vertreibung des Menschen aus dem Garten verwehrt dem von seiner schöpfungsgemäßen Konstitution her sterblichen Menschen den Zugang zum Baum des Lebens (V. 24), damit zur gottgleichen Erkenntnisfähigkeit (V. 22a) nicht auch noch die Unsterblichkeit kommt und der Unterschied zwischen Gott und Mensch gänzlich aufgehoben wird (V. 22a). Von den beiden göttlichen Privilegien, der Weisheit und der Unsterblichkeit, erlangt der Mensch danach lediglich eines, und zwar auf Kosten des anderen. Dieses Motiv findet sich wie das Mythologem der verspielten Unsterblichkeit auch andernorts in den Literaturen des alten Vorderen Orients. Zu nennen sind die Schlange im Gilgamesch-Epos, die dem badenden Helden das Lebenskraut stiehlt und sich darauf zum Zeichen ihrer ewigen Jugend häutet (Gilgm XI, 303 –307 ), und der babylonische Adapa-Mythos, dessen Held Adapa durch die Weisheit in die Nähe der Götter gerückt wird und unwissentlich „Lebensspeise“ und „Lebenswasser“ ausschlägt.191 Auch wenn die Konstellation in beiden Fällen anders gelagert ist als in der Paradieserzählung, kann der weisheitliche Erzähler oder ein späterer Bearbeiter von solchen Texten angeregt worden sein. Für einen Bearbeiter spricht, dass dieses gewichtige Thema in der Erzählung selbst nur en passant erwähnt wird und zugleich durch seine Schlussposition ein außerordentliches Gewicht erhält: Die Erwähnung der Sterblichkeit des Menschen, seine Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen und so Leben zu erhalten, sind wie die Frage der Erkenntnisfähigkeit des Menschen nicht auf das Motiv vom Lebensbaum bezogen oder gar darauf angewiesen. Dementgegen wird das Motiv vom Baum des Lebens durch die zweifache Erwähnung 188  Anders Willi, Schlußsequenzen, 431. Die von ihm beigebrachten Beispiele belegen lediglich, dass beide Begriffe in ein und demselben Text vorkommen können. Das ist unstrittig. 189  Dillmann, 83 (Hervorhebung im Original). 190  Bührer, Anfang, 258 . 191  Deutsche Übersetzung mit kurzer Einleitung von K. Hecker, Adapa und der Südwind, TUAT Ergänzungslieferung, 51–55. Für einen Vergleich mit Gen  3 vgl. H.-P. Müller, Drei Deutungen des Todes: Genesis 3, der Mythos von Adapa und die Sage von Gilgamesch, JBTh 6 (1991) 117–134.

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Genesis 2, 4  –3, 24

am Schluss der Paradieserzählung prominent hervorgehoben, wodurch sich deren Aussage deutlich verschiebt. Aus einer Ätiologie der Lebenswirklichkeit wird ein Mythos von der verweigerten Unsterblichkeit  – ein Thema, das in der Exposition nicht genannt ist, weshalb es kaum verwundert, dass es erst jenseits des von Gen  2, 4b–6 und Gen  3, 23 abgesteckten Rahmens entfaltet werden kann. Weitere Beobachtungen bekräftigen den Eindruck, dass das Motiv vom Baum des Lebens nachgetragen ist. Anders als in der älteren Forschung vermutet, erlaubt die Syntax von Gen  2 , 9 jedoch keine Aussage darüber, ob der Baum des Lebens ursprünglich ist oder nicht. Schwerer wiegt die Beobachtung, dass dem Wortlaut nach Frau und Schlange nur von einem einzigen Baum in der Mitte des Gartens wissen (Gen 3, 3), und zwar vom Baum der Erkenntnis (Gen 3, 5. 7. 11). Das Urteil hängt an der abwägenden Beurteilung aller Beobachtungen zu den drei Belegen des Baums des Lebens in der Paradieserzählung: (1.) In der Paradieserzählung bezeichnet hā- ʾādām den Mann und zugleich die Gattung Mensch, jedoch nicht das erste Menschenpaar. Sofern der Mann und seine Frau gemeint sind, wird dies explizit gesagt. Hingegen bezieht sich die Aussage über die Erkenntnisfähigkeit des hā- ʾādām in Gen 3, 22a auf V. 7 zurück und ist im Unterschied zum sonstigen Sprachgebrauch in der Paradieserzählung kollektiv für das erste Menschenpaar gebraucht. (2 .) Umgekehrt wird man gegen eine Ausscheidung von Gen  3, 22 nicht anführen können, dass das Suffix der 3. Pers. sg. in der Entlassungsnotiz (wayšall eḥēhū „da schickte [Jhwh-Gott] ihn“) in V. 23 auf V. 22 angewiesen ist und ein unmittelbarer Anschluss an V. 21b (wayyalbīšēm „und er bekleidete sie“) syntaktisch unmöglich ist.192 Derartige Fernbezüge von Suffixen bei gleichbleibendem Subjekt sind belegt. Der Bezug von wayšall eḥēhū auf hā- ʾādām in V. 21a ist klar. Die Wahl des Singularsuffixes gründet in dem Rückbezug auf Gen 2 , 5, wo von der Bestimmung des hā- ʾādām zur Arbeit auf dem Ackerboden die Rede ist.193 Eine explizite Erwähnung des hā- ʾādām in V. 23 hätte andererseits sehr wohl zu der Frage führen können, ob die Frau den Garten nicht habe verlassen müssen. (3.) Die Gottesrede in der 1. Pers. pl. in Gen  3, 22a ist innerhalb der Paradieserzählung singulär (vgl. Gen  1, 26; 11, 7 ), wenn auch durch die Vergleichsaussage im Munde von Jhwh-Gott bedingt. (4.) Gen 3, 22b fällt durch seine elliptische Formulierung auf, die eigentlich einen Anschluss mit einem Kohortativ oder einem Konsekutivsatz erwarten lassen würde. In der vorliegenden Gestalt wirkt V. 22b so, als sei der Vers nachträglich auf einen bereits vorliegenden V. 23 hin formuliert worden.194 (5.) Die Cheruben und das zuckende Flammenschwert in Gen 3, 24 haben in der Paradieserzählung allein darin einen Haftpunkt, dass ihre Wächterfunktion nach der redaktionellen Einbindung der Paradiesgeographie in Gen 2 , 15 zuvor vom Menschen wahrgenommen worden ist.195 (6.) Der enge Zusammenhang mit dem redaktionellen Abschnitt in 2 , (9b?). 10 –14. 15 zeigt sich darüber hinaus in einer gemeinsamen Orientierung an den Gegebenheiten des Jerusalemer Tempels (s.i.f.).196

So Bührer, Anfang, 256  f. Witte, Urgeschichte, 83. 194  Dohmen, Schöpfung, 148 –151. Vgl. auch die gefälligere, durch Gen 3, 22 angeregte Formulierung in Gen 11, 6. 195  Vgl. Witte, Urgeschichte, 84. 196  Gese, Lebensbaum, 82; Witte, Urgeschichte, 263 –275; Pfeiffer, Baum II, 14. 192  193 

Die Paradieserzählung

151

Wie schon mit ihren auf Jerusalem zulaufenden Angaben in der Paradiesgeographie (vgl. zu Gen  2, 10 –14) stellt die Bearbeitung einen engen Zusammenhang zwischen dem „Garten Eden“ und dem Jerusalemer Tempel her. In Gen 3, 24 wird diese Verbindung und die damit gegebene Verschränkung von mythischer Urzeit und gegenwärtiger Erfahrungswelt durch die Lokalisierung des Zugangs zum Garten und seiner Wächter evoziert: Die Vorstellung eines abgeschlossenen, rings umgrenzten heiligen Raumes, der nur nach Osten geöffnet ist, erklärt sich unschwer mit der Orientierung an der Architektur des Jerusalemer Tempels (1Kön  7, 39; Ez  47, 1). Darüber hinaus ist der von Cheruben geschützte (Lebens-)Baum auch für die Ikonographie des Jerusalemer Tempels belegt (1Kön  6, 29. 32. 35; vgl. Ez 41, 17–20. 25).197 Inhaltlich knüpft die Bearbeitung an die Androhung der Todesstrafe in Gen  2, 17 an, die sie als Androhung der Sterblichkeit bzw. des Entzugs der Unsterblichkeit versteht. Damit entschärft sie eine in der Auslegungsgeschichte immer wieder als problematisch empfundene Inkonsequenz des göttlichen Handelns. Zugleich provoziert das Resultat dieser Bearbeitung neue Rückfragen, wie die midraschartigen Paraphrasen der Paradieserzählung derjenigen belegen, die an der Ursprünglichkeit des Motivs vom Lebensbaum festhalten. Dies zeigt sich vor allem bei der durchaus naheliegenden Frage, ob denn die Menschen im Garten vom Baum des Lebens gegessen hätten und welche Folgen dies gehabt haben mochte. Der Wortlaut des Verbots in Gen 2, 17 lässt schließlich keinen Zweifel daran, dass der Baum des Lebens zu den Bäumen gehört, deren Früchte nach Gen 2, 16 zum Verzehr freigegeben wurden: Die naheliegende Erklärung, dass der Mensch immer wieder vom Baum des Lebens kosten musste, um seine Unsterblichkeit zu bewahren, scheitert an Gen  3, 22 und der Traditionsgeschichte: Das Essen vom Baum des Lebens führt unmittelbar zur Unsterblichkeit (vgl. Gilgm XI, 285 –286). Ist es also der blanke Zufall gewesen, dass der Mensch noch rechtzeitig aus dem Garten vertrieben werden konnte? Hat der Mensch in seiner Naivität die Bedeutung dieses Baumes nicht erkannt oder die beiden Bäume nicht zu unterscheiden vermocht?198 Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass sich der Verfasser von 3, 22. 24 für solche Fragen nicht interessiert hat.199 Freilich spricht auch diese Auskunft eher gegen als für die Annahme, dass das Motiv vom Baum des Lebens von vornherein fest in der Paradieserzählung verankert gewesen ist.

197  Hierin folgt der Jerusalemer Tempel dem Bildprogramm des alten Vorderen Orients (Keel, Bildsymbolik, 124  Abb.  189, 125  Abb.  191, 126  Abb.  190, 132  Abb.  202). Die Vorstellung des Tempels als Repräsentation des Paradieses hat sich bis in die Ausstattung des Felsendoms durchgehalten. Vgl. M. Küchler, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt, OLB 4, 2 , Göttingen 2007, 249 –251. 198  Schmid, Unteilbarkeit, 31  f. 199  Seebaß, 132 .

III. Genesis 4, 1–26: Die Nachkommen des ersten Menschenpaares 4, 1 Der Mensch aber erkannte Eva, seine Frau. Und sie wurde schwanger und gebar den Kain und sagte: Ich habe einen Mann erworben mit Jhwh.   2 Und sie fuhr fort zu gebären, seinen Bruder, den Abel. Und Abel wurde ein Kleinviehhirt und Kain wurde ein Ackerbauer.   3  Nach geraumer Zeit  1 brachte Kain von den Früchten des Ackerbodens Jhwh eine Gabe.   4  Und Abel, auch er brachte von den Erstgeborenen seines Kleinviehs, und zwar von ihren 2 Fettstücken. Da blickte Jhwh auf Abel und auf seine Gabe.   5 Aber auf Kain und auf seine Gabe blickte er nicht. Da wurde Kain sehr zornig und sein Gesicht senkte sich.   6  Da sprach Jhwh zu Kain: Warum bist du zornig und warum ist dein Gesicht gesenkt?   7 Ist es nicht so, wenn du es gut sein lässt, dann (bedeutet es) Erheben (des Angesichts); wenn du es nicht gut sein lässt, dann ist zur Tür hin die Sünde ein Lagernder, und nach dir ist sein Verlangen, du aber sollst über ihn herrschen?  3   8  Und Kain redete zu Abel, seinem Bruder …4 Und als sie auf

dem Feld waren, da erhob sich Kain über Abel, seinen Bruder, und tötete ihn.   9 Und

Zu way  ehī miq-qēṣ yāmīm vgl. 1Kön 17, 7. Die Pluralform des MT wird von Sam gestützt. Zur orthographischen Variante vgl. Joüon/ Muraoka §  94h. 3  LXX übersetzt οὐκ ἐὰν ὀρθῶς προσενέγκῃς ὀρθῶς δὲ μὴ διέλῃς ἥμαρτες („Ist es nicht so, dass, wenn du richtig dargebracht, aber nicht richtig zerteilt hast, du gesündigt hast?“). M. Rösel hat gezeigt, dass die Übersetzung für jedes Wort des hebräischen Textes eine Entsprechung bietet, die Wahl der griechischen Äquivalente und die Übertragung der grammatischen Formen aber zu erkennen geben, „daß sich der Übersetzer den mutmaßlichen Sinn des Verses aus dem Kontext erschlossen hat“ (Rösel, Übersetzung, 105). Die philologischen Probleme des Verses lassen sich kaum auf textkritischem Wege oder durch freie Konjekturen lösen. 4  LXX, Sam sowie viele ältere wie neuere Übersetzungen vermissen hier die direkte Rede, zumal *’mr „sagen“ in der Regel nicht absolut gebraucht wird (vgl. aber Ex  19, 25 [literarkritische Naht]; Jon 2 , 11; 2Chr 1, 2; etwas anders liegt der Fall in Gen 22 , 7 und 2 Sam 21, 2 f, da hier auf das absolut gebrauchte *’mr ein zweites *’mr als Einleitung einer wörtlichen Rede folgt). Entsprechend wird häufig mit leichten Variationen nach LXX ergänzt: „Lass uns auf das Feld gehen“ (Διέλθωμεν εἰς τὸ πεδίον). Vgl. Dillmann, 94 f und Hendel, Text, 129. Einige Handschriften deuten durch ein Pisqa nach ’āḥīw „seinem Bruder“ eine Textlücke an. Der Ausfall ließe sich als Homoioteleuton erklären. MT wird durch ein Qumranfragment (4QGenb, Frgm. 3i [DJD XII, 36 ]) sowie TO gestützt und ist die schwierigere Lesart, die vermutlich zu Glättungen, sprich zur Ergänzung durch eine inhaltlich recht belanglose Rede geführt hat. TJ und TN nutzen die Leerstelle, um einen längeren Dialog zwischen den Brüdern einzufügen, in dem Abel seinen Bruder über die Gründe für Gottes Reaktion belehrt. Ansprechend ist eine Konjektur Gunkels. Er schlägt vor, statt wayyōmær „und er sagte“ wayyǣmær „begann Streit“ zu lesen (Gunkel, 44). Allerdings wird *mrh sonst mit be oder ʿim konstruiert. Möglich wäre mit Gunkel auch wayyēmar „und er wurde erbittert gegen ihn“ (vgl. Dan  8, 7 mrr im hitpalp.). Mitunter wird wayyišmōr „und er achtete auf (Abel)“ konjiziert, wodurch sich durch die Wurzel šmr „achten/hüten“ ein „gewagtes Wortspiel“ (Holzinger, 48) mit V. 9 (h a-šōmēr ’āḥī „der Hüter meines Bruders?“) ergäbe. Leider fehlen Textzeugen. So wird mit Jacob, 140 u.  a. am MT festzuhalten sein. Das Verständnis des Verses bleibt allerdings unklar. Jacob bezieht den Halbvers auf die Gottesrede und übersetzt „Und Kaijn sagte es seinem Bruder Hebel“. Warum wird nicht gesagt, auch wäre die Formulierung ungewöhnlich. Letzteres spricht 1 

2 

Die Nachkommen des ersten Menschenpaares

153

Jhwh sagte zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Und er sagte: Ich weiß nicht, bin ich der Hüter meines Bruders?   10 Und er sagte: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden.   11 Und nun: Verflucht bist du fort vom Ackerboden, der seinen Rachen aufgetan hat, um das Blut deines Bruders aus deiner Hand aufzunehmen.   12 Wenn du den Acker bestellst, wird er dir seine Kraft nicht mehr geben 5. Unstet und flüchtig  6 wirst du sein auf der Erde!   13 Da sagte Kain zu Jhwh: Meine Schuld ist zu groß, um sie zu tragen.   14 Siehe, du vertreibst mich heute fort vom Ackerboden, und deinem Angesicht bin ich entzogen, und ich werde unstet und flüchtig sein auf der Erde, und jeder, der mich antrifft, wird mich töten.   15 Da sagte Jhwh zu ihm: So nicht   7! Wer auch immer Kain tötet; er (es)8 wird siebenfach gerächt. Und Jhwh setzte Kain ein Zeichen, damit ihn nicht jeder, der ihn antrifft, erschlägt. 16  Da zog Kain weg von Jhwhs Angesicht und ließ sich im Lande Nod, östlich von Eden, nieder. 17  Und Kain erkannte seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar den Henoch. Und er wurde der Erbauer einer Stadt und er benannte die Stadt nach dem Namen seines Sohnes Henoch.   18  Und dem Henoch wurde Irad geboren und Irad zeugte Mehujaël, und Mehujaël   9 zeugte Metuschaël, und Metuschaël zeugte Lamech.   19 Und Lamech nahm sich zwei Frauen. Der Name der einen war Ada und der Name der zweiten Zilla.   20 Da gebar Ada den Jabal. Er ist der Vater derer, die im Zelt und bei der Herde wohnen10.   21 Der Name seines Bruders war Jubal. Er ist der Vater all derer, die Leier und Flöte handhaben. 22 Und Zilla, auch sie gebar, nämlich den Tubal-Kain,

auch gegen den Vorschlag von P.T. Reis, What Cain Said: A Note on Genesis  4. 8*, JSOT  27 (2002) 107–113. Sie übersetzt a.a.O., 107: „And Cain spoke against Abel, his brother.“ 5  Zur ungewöhnlichen Verbindung des Jussivs tōsēp mit lō vgl. GK §  109d+h. 6  LXX στένων καὶ τρέμων „seufzend und zitternd“ ahmt den Stabreim des Ausdrucks nā    ʿ wānād nach. 7  Mit der LXX (samt den Rezensionen von Symmachus und Theodotion), Pesch, Vulg, die lō kēn statt des lākēn „deshalb“ in MT und Sam lesen. 8  Subj. zu *nqm q. pass. „gerächt werden“ ist entweder Kain oder (unpersönlich) die Tat. Vgl. Skinner, 110; Procksch, 49. Dagegen gehen die meisten deutschsprachigen Kommentare davon aus, dass anders als in Gen 4, 24; Ex 21, 21 der Täter Subjekt zu *nqm q. pass. ist und übersetzen „er (der Täter), wird siebenfach Rache erfahren/erleiden“. Abgesehen vom ganz anderen Gebrauch von *nqm q. pass. in Gen  4, 24 scheitert diese Übersetzung schon an den logischen Schwierigkeiten, in diesem Fall die „siebenfache“ Rache zu erklären. So ist es problemlos möglich, Kain oder die Tat zu rächen, indem sieben Personen aus der Sippe des Täters getötet werden (vgl. Gen  4, 24). Eine siebenfache Tötung des Täters ist nur unter Zuhilfenahme weiterer Annahmen zur individuell erfahrenen Kollektivrache möglich, wonach etwa der Täter durch die Tötung naher Verwandter selbst getötet wird. Davon verlautet im Text (und im übrigen Alten Testament) nichts. Über den nicht angezeigten Subjektswechsel in einer mündlichen Rede sollte man sich angesichts des verknappten Ausdrucks im gesamten Kapitel nicht wundern. 9  MT liest M eḥiyyā  ’ēl. Dass der Name in einem Vers in zwei Schreibweisen vorliegt, ist mit Sam und LXX kaum ursprünglich. 10  Zum transitiven Gebrauch von *yšb „wohnen“ vgl. GK §  117bb. Die semantisch inkongruente Koordination von „wohnen“, „Zelt“ und „Herde“ ist vermutlich im Sinne der rhetorischen Figur des Zeugma aufzulösen, wonach sich ein Verb auf zwei Nomina bezieht, obgleich es seinem Sinn nach lediglich zu einem von beiden passt. Vgl. Ps 34, 16. Der Sache nach ist die Passage eindeutig.

154

Genesis 4, 1–26

einen Metallschleifer für jeden, der Kupfer oder Eisen schmiedet.11 Und die Schwester des Tubal-Kain war Na’ama.   23 Da sagte Lamech zu seinen Frauen: Ada und Zilla, hört meine Stimme! Frauen Lamechs, vernehmt mein Wort! Wahrlich, einen Mann tötete ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Strieme! 24 Wahrlich, siebenfach wird Kain gerächt, Lamech aber siebenundsiebzigfach! 25 Und Adam erkannte seine Frau nochmals und sie gebar einen Sohn und nannte seinen Namen Set. Denn: Gott hat mir einen anderen Nachkommen gegeben anstelle Abels, weil Kain ihn getötet hat.   26  Und auch Set wurde ein Sohn geboren. Und er nannte seinen Namen Enosch. Damals begann man,12 den Namen Jhwhs anzurufen. Analyse: Gen  4, 1–26a gehen mit Fortschreibungen in Gen  4, 6 –8a. 17*[Henoch], deren redaktionsgeschichtliche Einordnung unsicher ist, auf den weisheitlichen Erzähler zurück. Redaktion: Gen 4, 26b(  ?  ).

Kontext/ Der weisheitliche Erzähler präsentiert das Ergehen der Nachkommen des Aufbau ersten Menschenpaares und der nachfolgenden Generationen bis zur Flut

im Rahmen einer Genealogie seiner Söhne. In diese sind neben knappen kulturgeschichtlichen Notizen (Gen  4, 20 –22. 26b) mit der Erzählung von Kain und Abel (Gen  4, 2 –16) und dem Lamechlied (Gen  4, 23 –24) ein erzählendes und ein poetisches Element eingewoben.

Entstehung Häufig gilt die Erzählung von Kains Brudermord und zuweilen auch das

Lamechlied als (mehrstufiger) redaktioneller Einschub in eine ältere Kainitengenealogie (Gen  4, 1. 17–22[23 –24]).13 Für diese Annahme lassen sich neben den Unterschieden in der Form auch inhaltliche Auffälligkeiten innerhalb des Kapitels anführen. So überrascht es im urgeschichtlichen Kontext, dass der erste Nachkomme des ersten Menschenpaares (V. 1) in eine bereits bevölkerte Welt hineingeboren wird, stellt sich doch unweigerlich die Frage, woher Kains Frau kommt (V. 17 ), wer Kains Mord an Abel in 11  Der Text von V. 22 aβ ist wohl in Unordnung geraten. Die LXX glättet und liest „und der war Hämmerer, einer der Bronze und Eisen schmiedete“. Schwierig ist kål ḥōrēš „jeder, der schmiedet“. Eine Übersetzung als direktes Objekt („ein Schleifer jedes Handwerkers“) scheidet aus. Ansprechend ist der Vorschlag von Seebaß, 165  f. Er trennt die Verbindung kål ḥōrēš und liest kl als defektives kelī „Werkzeug“: „einen Schärfer von Gerätschaften, einen Handwerker an Bronze und Eisen.“ Die hier gebotene Übersetzung fasst kål ḥōrēš als indirektes Objekt zu *lṭš „schleifen“ auf, während das direkte Objekt ungenannt bleibt. 12  Vgl. GK §  144k. Die Targumim verstehen *ḥll ho. im Sinne von „entweihen“ (vgl. *ḥll pi.) und erkennen in der Notiz den Anfang des Götzendienstes. Schon Ibn Esra merkt hierzu an, dass in diesem Fall ḥullal šēm Yhwh zu erwarten wäre. LXX liest οὗτος ἤλπισεν „dieser hoffte“. S.u. zur Auslegung. 13  Nach Andeutungen bei Wellhausen, Composition, 8 –14, ist dies seit Budde, Urgeschichte, 183 –209; Stade, Kainszeichen, 254  –283, bei allen Unterschieden im Detail und in den redaktionsgeschichtlichen Zuordnungen die vielfach wiederholte Mehrheitsmeinung. Zur Diskussion vgl. Witte, Urgeschichte, 151–155, 166 –169; Gertz, Adam, 221 f, 234 f mit Anm. 58.

Die Nachkommen des ersten Menschenpaares

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einer noch menschenleeren Welt rächen soll (V. 14) und für wen Kains Sohn Henoch eine Stadt erbaut (V. 17 ). Sodann wird Kain nach der Erzählung mit einer unsteten und flüchtigen Lebensweise gestraft (V. 12), während die Genealogie an erster Stelle die kulturstiftenden Leistungen Kains und seiner Nachkommen die Gründung einer Stadt anführt (V. 17 ).14 Von dem Brudermord scheinen zudem nur noch die Setitengenealogie am Ende des Kapitels (Gen 4, 25 –26; vgl. V. 25) und eventuell noch das Lamechlied (Gen 4, 24) etwas zu wissen. Aufgrund dieser Spannungen wird die Brudermorderzählung häufig von der Kainitengenealogie entstehungsgeschichtlich abgehoben und diese wiederum von derjenigen der Setiten. Teils werden hier ehedem selbständige Traditionen erkannt.15 Teils gilt die Setitengenealogie als redaktioneller Nachtrag, sei es zur Einbindung der Erzählung von Kain und Abel in eine ältere Genealogie der Kainiten,16 sei es als Übergang zur priesterschriftlichen Genealogie in Gen 5.17 Für die letztgenannte Einordnung der Setitengenealogie wird angeführt, dass sie im vorliegenden Textzusammenhang als Überleitung zum „Buch der Toledot Adams“ in Gen  5 (P) fungiert. Hier wird Set ebenfalls erwähnt, allerdings als Erstgeborener Adams. Für sich genommen besagt dies jedoch noch nichts über eine redaktionelle Herkunft der Setitengenealogie, sondern stellt nur das Geschick der Redaktion bei der Verbindung der vorgegebenen Texte heraus. Die abermalige Erwähnung von Set (vgl. Gen  4, 25 und 5, 3) und Enosch (vgl. Gen  4, 26 und 5, 6) spricht jedenfalls eher für zwei Varianten ein und derselben Genealogie als für eine rein redaktionelle Überleitung.18

Wie lassen sich die sachlichen Spannungen und formalen Eigenheiten des Kapitels in ein stimmiges Bild der Entstehungsgeschichte des Textes einzeichnen? Es bietet sich an, bei der Analyse nicht mit den vorgegebenen Traditionen einzusetzen, sondern mit dem wesentlich besser zu greifenden Textstratum des weisheitlichen Erzählers. Für dessen Erzählung gilt, dass jeder einzelne Teil in Gen  4, 1–26 in den Gesamtzusammenhang eingestellt ist und sich aus diesem auch nicht entfernen lässt. Grundlegend für den Aufbau des Kapitels ist die Opposition von Kainiten und Setiten im Vorfeld der Flut: Die Linie der Nachkommen des Brudermörders Kains führt zu ­einer stetigen Zunahme an Gewalt und bricht mit Lamech und seinen Söhnen ab (Gen  4, 17–24). Dagegen steht am Ende der Abstammungslinie 14  Wellhausen, Composition, 8: „Der Widerspruch ist fundamental und betrifft die ganze Anschauung, v. 16 ss. hat v. 1–15 nicht zur Voraussetzung.“ 15  von Rad, 82 f; Westermann, 458  f. 16  Vgl. Wellhausen, Composition, 14; Budde, Urgeschichte, 159; Gunkel, 54 f; Dietrich, Bruder, 161 (redaktionell sind die Anspielungen auf die Brudermorderzählung in V. 25*, sodass der Grundbestand lautete: „Und Adam erkannte seine Frau  … und sie gebar einen Sohn und sie nannte ihn Set, denn Gott hat mir einen … Nachkommen gegeben“). 17  Vgl. Noth, Überlieferungsgeschichte, 12 Anm. 26; Witte, Urgeschichte, 62 –65. 18  So erstmals P. Buttmann, Mythologus oder gesammelte Abhandlungen über die Sagen des Alterthums 1, Berlin 1828, 171.

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Genesis 4, 1–26

des nachgeborenen Set der Flutheld Noach (s.  u. zu Gen  5, 28 –29*) und mit ihm das Überleben der Menschheit. Die Opposition von Kainiten und Setiten leitet also zur Sintflut über, womit sich auch die vielfach notierten Unterschiede der Genealogien wie auch die nochmalige Erwähnung der Geburt eines Kindes des ersten Menschenpaares erklären. Um den Kontrast beider Linien herauszustellen, kann zum Auftakt jeweils nur der Eigenname des Vaters stehen (Kain in V. 17; Adam in V. 25) und nicht mehr wie in der gemeinsamen Vorgeschichte die Gattungsbezeichnung Mensch (hā- ʾādām in V. 1). Auch ist „der Mensch“ mit der Zeugung Kains nicht mehr der einzige Mann, sodass die Individuierung des Menschen und damit der Übergang zum Gebrauch des Eigennamens schon in Gen 4, 1 angelegt ist.19 Dass der Name der Frau in V. 25 anders als in V. 1 nicht erwähnt wird, verdankt sich ebenfalls der Parallelbildung zu V. 17. Die unterschiedliche Stimmung in der Begründung des Namens vom selbstbewussten „ich habe erworben mit Jhwh“ (V. 1b) zum bescheidenen „Gott hat gegeben“ (V. 25b) ist dagegen dem Erzählfortschritt geschuldet. Nach dem Brudermord bleibt nur noch die demütige Bezeichnung des drittgeborenen Sohnes als Geschenk Gottes. Wird dabei anders als in V. 1b statt des Gottesnamens die Bezeichnung ʾælōhīm „Gott“ gebraucht, so erklärt sich dies im vorliegenden Textzusammenhang hinreichend mit der folgenden Notiz, wonach die Anrufung des Jhwh-Namens erst eine Generation später einsetzt (V. 26).20 Die genannten Variationen lassen sich demnach leicht als kontextbedingt herleiten. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte ist ohnehin eine gemeinsame Besonderheit der Brudermorderzählung sowie der Kainiten- und der Setitengenealogie viel stärker zu gewichten: Nur die drei Geburtsnotizen in Gen 4, 1. 17. 25 beschreiben den sexuellen Umgang in einer Genealogie mit dem Verb *yd  ʿ „erkennen“. Offenkundig dient der vom Üblichen abweichende Sprachgebrauch dazu, diese ersten Zeugungen der Menschheitsgeschichte besonders herauszustellen. Hierzu wurde mit Bedacht das Leitwort *yd  ʿ „erkennen“ der Paradieserzählung aufgegriffen (vgl. Gen 2, [9]. 17; 3, 5. 7. [22]). Die genealogischen Auftaktnotizen in Gen 4, 1. 17. 25 und die damit verbundenen Abschnitte sind demnach mit Blick auf die Paradieserzählung und die Aufteilung der vorsintflutlichen Menschheit formuliert worden.21 Somit fällt es schwer, Gen 4, 1. 17 und Gen 4, 25 in ihrer vorfindlichen Gestalt voneinander und von der Paradieserzählung zu trennen und jeweils als Beginn einer originären Genealogie anzusprechen. Hierzu fügt sich der Befund zur Erzählung von Kain und Abel. Die Brudermorderzählung ist nicht einfach in die Genealogie eingehängt worden, sondern wird durch den üblicherweise zur 19  Damit entfällt auch das wiederholt vorgetragene Argument, die Verwendung des Eigennamens Adam in Gen 4, 25 sei durch Gen 5, 1. 3. 4. 5 (P) angeregt. 20  Sollte V. 26b auf eine spätere Überarbeitung zurückgehen (s. u.), dann geht auf diese eventuell auch ʾælōhīm „Gott“ anstelle des Gottesnamens (vgl. V. 1) in V. 25b zurück. Es ist jedenfalls ausgeschlossen, dass der Verfasser von V. 26b in V. 25b den Gottesnamen gebraucht oder – sollte es sich bei V. 26b um einen Nachtrag handeln – stehen gelassen hätte. 21  Weiterführend Arneth, Adam, 160  f.

Die Nachkommen des ersten Menschenpaares

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Genealogie gerechneten V. 1 f eingeleitet. Die Brudermorderzählung lässt sich folglich nicht von V. 1 f trennen, zugleich wird sie von dem mit V. 1 f zusammenhängenden Auftakt der Setitengenealogie (vgl. V. 25) vorausgesetzt. Dies allein spricht schon gegen ihre literarkritische Herauslösung aus dem Werk des weisheitlichen Erzählers. Desgleichen zeigen strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den Verhör- und Strafszenen (s.  u. zu Gen 4, 9 –15), dass der Zusammenhang mit der Paradieserzählung des weisheitlichen Erzählers „kein bloß redaktioneller, sondern ein konzeptioneller“22 ist. Gen  4, 1–26 geht folglich auf den weisheitlichen Erzähler und Verfasser der Paradieserzählung zurück, lediglich Gen  4, 6 –8a und eventuell 4, 26b sind sekundär (s.  u.). Natürlich ist damit weder für die Brudermorderzählung noch für die Genealogien, die kulturgeschichtlichen Notizen oder das Lamechlied die Aufnahme von älterem, zum Teil auch schriftlich vorliegendem Traditionsgut durch den weisheitlichen Erzähler ausgeschlossen. Mit Blick auf die genannten inhaltlichen Spannungen, die formalen Unterschiede, die Schwierigkeiten der Namensgebung Kains (s.  u. zu V. 1), die weite Verbreitung des Motivs von den feindlichen Brüdern23 und die priesterschriftliche Parallelversion beider Genealogien in Gen  5, in der die Brudermorderzählung nicht vorkommt, ist diese Annahme sogar sehr wahrscheinlich. Festzuhalten bleibt aber, dass dieses Traditionsgut vom weisheitlichen Erzähler so tiefgreifend überformt worden ist, dass die Rekonstruktion eines älteren Erzählfadens in der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte unmöglich ist. Der Erzählzusammenhang geht auf den weisheitlichen Erzähler zurück. Er ist der Verfasser des Kapitels im Kontext von Paradieserzählung und Flutgeschichte. Mit der Annahme älteren Traditionsgutes ist die viel diskutierte Frage nach einem stammesgeschichtlichen Hintergrund dieses Materials verbunden. Ist Kain ursprünglich das Eponym des im Süden Palästinas beheimateten Stammes der Keniter gewesen, dessen nomadisierende Lebensweise sich aus der Perspektive der Bewohner des Kulturlandes als Fluchexistenz darstellt und der zudem ein bestimmtes Stammeszeichen trägt?24 Für diese Annahme spricht, dass Kain außer in Gen  4 stets ein Stammesname ist (vgl. Ri  4, 11; 5, 24; Num  24, 21 f ). Auch weist die Genealogie der Nachfahren Kains prima facie überwiegend ins nomadisierende Milieu. Das liegt für die Zeltbewohner auf der Hand (Gen 4, 20), gilt nach verbreiteter Ansicht aber auch für die „fahrenden Stände“ der Flöten- und Leierspieler (Gen 4, 21) und Metallhandwerker (Gen  4, 22).25 Schwierig bleibt, dass die erste Stadtgründung ebenfalls mit Seebaß, 161. Für einen Überblick vgl. J.N. Bremmer, Brothers and Fracticide in the Ancient Mediterranean: Israel, Greece and Rome, in: G.P. Luttikhuizen (Hg.), Eve’s Children. The biblical stories retold and interpreted in Jewish and Christian traditions, Themes in Biblical Narrative V, Leiden/ Boston 2003, 77–92 . 24  Grundlegend für die stammesgeschichtliche Deutung ist Stade, Kainszeichen. Vgl. in jüngerer Zeit Dietrich, Bruder sowie Day, Creation, 51–60. Zur Debatte, ob die Brudermorderzählung „stammesgeschichtlich“ oder „individuell-urgeschichtlich“ zu verstehen ist, vgl. mit Option für die letztgenannte Alternative Westermann, 385 –388. 25  S.u. zu 4,20 –22 . 22  23 

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Kain in Verbindung gebracht wird (Gen 4, 17 ). Auch ist ganz ungewiss, wer auf diese Weise von den Kenitern erzählt haben sollte. Die Keniter werden ihre spezifische Lebensweise jedenfalls kaum auf eine Verfluchung zurückgeführt haben oder sie auch nur als „unstet und flüchtig, fernab von Jhwh“ bezeichnet haben. Selbst aus alttestamentlicher Perspektive wäre diese Ätiologie auffällig, erscheinen die Keniter in der Exoduserzählung doch als Jhwhverehrer und Hüter des Gottesberges (vgl. Num  10, 29 mit Ri  4, 11. 17; 5, 24 und Ex  18; ferner 1Sam  15, 6). Zudem haben die alttestamentlichen Autoren das eigene nomadische Erbe immer betont und wertgeschätzt. Schließlich sind gerade die stammesgeschichtlich-ätiologischen Elemente in der vorliegenden Fassung der Erzählung von Kain und Abel deutlich mit Blick auf die Paradieserzählung und damit im Kontext einer urgeschichtlichen Perspektive formuliert worden, in der es um die Anfänge der Menschheit geht und in der Kain der Prototyp des zu Hass und Gewalttat neigenden Menschen ist. So hat die Annahme eines stammesgeschichtlichen Hintergrundes für Einzelzüge der Erzählung und der Genealogie einige Wahrscheinlichkeit für sich, doch ist die Transformierung dieses Materials so tiefgreifend ausgefallen, dass eine genaue traditionsgeschichtliche Zuordnung oder gar Abgrenzung des Wortbestands kaum mehr möglich ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Brundermorderzählung jedenfalls individuell-urgeschichtlich zu lesen. Anders formuliert: „Kain ist kein ethnologischer, sondern ein moralischer Typus.“26

1. Genesis 4, 1–16: Kain und Abel 4, 1–2 Die Exposition der Erzählung schildert die Voraussetzungen für den Kon-

flikt zwischen den Brüdern. Zugleich markiert sie den Übergang von der Geschichte des ersten Menschenpaares im Garten Eden zur Geschichte der Menschheit. Letzteres erklärt die vielfach notierten Auffälligkeiten der Zeugungs- und Geburtsnotiz in V. 1.  Der Mann wird weiterhin als „Mensch“ (hā- ʾādām) bezeichnet, erst mit Eröffnung der zweiten Abstammungslinie erhält er den Eigennamen Adam ( ʾādām; V. 25). Die Frau hat dagegen ihren Eigenamen Eva (Ḥawwā ) bereits zum Ende der Paradieserzählung erhalten (Gen 3, 20). Dies wird durch die in Genealogien nur in Ausnahmefällen übliche Nennung des Namens der Frau (vgl. Gen  4, 19 –23; 11, 27–32 anders Gen 5; 10; 11, 10 –26)27 explizit aufgegriffen. Die erste Zeugung und Geburt eines Menschen erweist sich so als praktische Umsetzung der in der Namenserklärung in Gen 3, 20 geäußerten Erkenntnis, wonach Eva die „Mutter aller Lebenden“ ist.28 Die Wahl von *yd   ʿ „erkennen“ zur Umschreibung der Zeugung unterstreicht diesen Gedanken, der den Auftakt der Brudermorderzählung und die beiden daran anschließenden Zeugungen (Gen  4, 17. 25) eng mit der Paradieserzählung zusammenbindet. Das Leitwort der Paradieserzählung umfasst wie in anderen semitischen Sprachen das ganze Begriffsfeld einer zumeist durch konkrete Wahrnehmung erlangten Erkenntnis, Jacob, 156. Vgl. dazu Hieke, Genealogien, 278 –288. 28  Vgl. Bührer, Anfang, 250. 26  27 

Kain und Abel

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wozu auch die Sexualität gehört.29 Entsprechend beziehen sich die relativ wenigen einschlägigen alttestamentlichen Belege von *yd  ʿ fast ausnahmslos auf (fehlende) sexuelle Erfahrung.30 Mehr sollte auch in Gen  4, 1 nicht in den Gebrauch des Wortes hineingelesen werden. Dass „hier die körperliche Beziehung von Mann und Frau nicht primär physiologisch, sondern primär personal gedacht ist“31, lässt sich aus den übrigen sexuell konnotierten Belegen von *yd   ʿ jedenfalls kaum herleiten. Der von den übrigen Genealogien des Alten Testaments abweichende Gebrauch von *yd   ʿ in Gen  4, 1. 17. 25 erklärt sich vielmehr allein und ausschließlich durch den Rekurs auf die Paradieserzählung und die dort erlangte Erkenntnisfähigkeit, die auch das für die Zeugung von Nachkommen und damit für den Anfang der Menschheitsgeschichte notwendige Wissen umfasst. Die Mutter nennt ihren ersten Sohn Kain (Qayin). Der Name begegnet noch in Num 24, 22; Ri 4, 11, bezeichnet dort aber eindeutig den Stamm der Keniter (s.  o.). Die Etymologie des Namens ist unsicher. Am wahrscheinlichsten ist ein Zusammenhang mit der im Arabischen belegten Wurzel *q yn „gestalten, formen, bilden“, von der sich das Nomen „Schmied, Handwerker“ ableitet.32 Dies würde gut zu der genealogischen Notiz in Gen 4, 22 passen, die den Stand besonders fachkundiger Metallhandwerker auf einen späteren Nachkommen Kains namens Tubal-Kain zurückführt (s.  u.). An die Schmiedekunst lässt auch denken, dass qayin in 2Sam  21, 16 die auch in anderen semitischen Sprachen belegte Bedeutung „Spieß“ hat. Die Namensgebung durch die Mutter in V. 1b ist indes frei von derartigen Überlegungen. Sie verbindet den Namen mit der Wurzel *qnh1 „erwerben“ oder *qnh2 „schaffen“ und führt zur Erläuterung aus qānītī   ʾīš   ʾæt Yhwh „ich habe einen Mann erworben/erschaffen mit/durch Jhwh“. Mit dieser Erklärung hat sie die Auslegung vor erhebliche Verständnisprobleme gestellt: Von den beiden homophonen Wurzeln33 *qnh1 und *qnh2, ist *qnh1 „erwerben“ weit häufiger belegt. Das seltenere *qnh2 „schaffen“ hat zudem stets Gott als Subjekt (vgl. Gen 14, 19. 22; Dtn 32, 6; Ps 139, 13; Spr 8, 22), wenngleich die metaphorische Aussage von Ps 139, 13 „denn du hast meine Nieren geschaffen (qānītā ), du hast mich im Leib meiner Mutter gewoben“ ein gemeinsames Wirken von Gottheit und Mutter nicht ausschließt. Erstaunlich ist ferner, dass bei der Geburt eines Knaben von einem ʾīš „Mann“ die Rede ist (vgl. dagegen zǣra ʿ ʾanāšīm „männliche Nachkommen“ in 1Sam  1, 11). Schließlich bereitet der Ausdruck ʾæt Yhwh Schwierigkeiten, da ʾæt sowohl nota accusativi vor einem determinierten Akkusativ als auch Präposition sein kann. Philologisch am 29  Vgl. G.J. Botterweck, Art. „jādaʿ“, ThWAT  III (1982) 479 –512 , bes. 490 und das dort genannte ugaritische Beispiel für eine Parallelisierung von „erkennen“ und „schwanger werden“. 30  Gen 19, 8; 24, 16; Num 31, 18; Ri 11, 39; 21, 12; 1Kön 1, 4 notieren, dass (noch) kein Beischlaf stattgefunden hat, Num 31, 17. 35; Ri 21, 11 das Gegenteil. Die Ausnahmen sind die Ankündigung einer Vergewaltigung in Gen 19, 5; Ri 19, 22 . 25. 1Sam 1, 19 handelt vom ehelichen Beischlaf. 31  Westermann, 393. 32  Wellhausen, Composition, 306; Cassuto, I 197  f. 33  Vgl. Ges18, ‫קנה‬ 1/2 (mit weiterer Literatur).

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einfachsten ist die Übersetzung als doppelter Akkusativ: „Ich habe als Mann erworben den Jhwh“. Doch bleibt unklar, was damit gemeint sein soll. Die Deutungen, dass die von der Geburt überwältigte Eva dem Mann die lebenspendende Kraft zuschreibt, wie sie Jhwh zu eigen ist, oder dass Kain zum Gottessohn erklärt wird, haben jedenfalls kaum Anhalt am Text.34 Die antiken Übersetzungen sind sich nicht sicher, tendieren aber zu einer präpositionalen Übersetzung. So bietet die LXX διὰ τοῦ θεοῦ „durch Gott“, was wie bei Ps 139 an ein göttliches Mitwirken denken lässt.35 Für dieses Verständnis spricht auch die formal ähnlich konstruierte akkadische Namensform IttiAššur-ašamšu „Von (dem Gott) Assur erwarb ich“.36 Die Bedeutung der ungewöhnlichen Namenserklärung erschließt sich aus dem Kontext. Die Wahl des in dieser Bedeutung seltenen *qnh1 ist durch den Lautanklang an den mutmaßlich in der Tradition vorgegebenen Namen Qayin angeregt. Zugleich bot sich hierdurch die Gelegenheit, den ebenfalls als Namensätiologie formulierten Jubelruf des Mannes nach der Erschaffung der Frau (Gen 2, 23b) aufzugreifen. Wie Jhwh aus dem Mann ( ʾīš     ) die Frau ( ʾiššā ) gebaut hat, so hat die Frau und Mutter aller Lebendigen (Gen 3, 20) mit Jhwh ( ʾæt Yhwh) einen Mann ( ʾīš     ) erworben (*qnh), nämlich den erstgeborenen Menschen Qayin. Der Rückgriff auf die Erschaffung der Frau und ihre erneute Namensgebung am Ende der Paradieserzählung, schließen die Ankündigung ein, dass die Frau unter Schmerzen gebären wird (Gen  3, 16). Vor diesem Hintergrund könnte die eigenwillige Formulierung Evas auch so zu verstehen sein, dass sie mit Gottes Hilfe ein männliches Wesen rechtmäßig erworben hat und dass sie die nach der Vertreibung geltenden Umstände der Geburt, die mit Schmerz und Gefahr nicht der ursprünglichen Schöpfungsordnung entsprechen, bewusst ertragen und anerkannt hat.37 Da bei Abel (Hǣbæl ) abweichend von den üblichen Formulierungen nur die Geburt, nicht jedoch die Zeugung berichtet wird (V. 2a), ist schon früh in der jüdischen, christlichen und islamischen Tradition diskutiert worden, ob es sich hierbei um eine Zwillingsgeburt handelt.38 Die Formulierung wattōsæp lā-lǣdæt „und sie fuhr fort zu gebären“ legt diese Interpretation nahe, ist aber nicht ganz eindeutig (vgl. Gen  38, 5 und für eine ZwillingsVgl. Seebaß, 148. Nach Rösel, Übersetzung, 102 , schwächt διά statt des erwartbaren μετά den Gedanken der Mitwirkung ab. 36  R. Borger, Gen IV:1, VT  9 (1959) 85 –86. Vgl. auch HS §   117b. Der Name ließe sich allerdings auch mit „Durch die Hilfe (des Gottes) Assur erwarb ich“ übersetzen. Vgl. CAD, itti. Entsprechend hatte schon Ibn Esra die Ätiologie interpretiert. 37  Vgl. I. Willi-Plein, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse, SBS 153, Stuttgart 1993, 79  f. Ähnlich Willi, Ort, 100; Witte, Urgeschichte, 166  f. 38  Zur spätantiken Diskussion dieser und anderer Ambiguitäten und Leerstellen des Textes vgl. J. Byron, Cain and Abel in Text and Tradition. Jewish and Christian Interpretations of the First Sibiling Rivalry, Themes in Biblical Narrative  14, Leiden/Boston, MA 2011; ferner Gertz, Variations. Zur jüdischen Auslegungsgeschichte bis in die Moderne vgl. G. Oberhänsli-Widmer, Das Böse an Kains Tür: Die Erzählung von Kain und Abel in der jüdischen Literatur, KuI  19 (2004) 164  –181. 34  35 

Kain und Abel

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geburt Gen 25, 24f   ). Sollte es sich um Zwillinge handeln, würde der Bruderkonflikt wie bei Esau und Jakob oder Romulus und Remus noch mehr an Schärfe gewinnen. Der Name des Kindes wird nicht erläutert. Er ist gleichwohl sprechend. Die Grundbedeutung von hǣbæl ist „(Luft-)Hauch“ und umschreibt in Vergänglichkeitsklagen die kurze Lebensspanne des Menschen (vgl. Ps  39, 6. 12; 62, 10; 78, 33; 94, 11; 144, 4; Hi  7, 7. 16). In der Wahl des Namens Hǣbæl klingt der Gedanke der Vergänglichkeit des Menschen aus der vorangehenden Paradieserzählung nach (vgl. Gen  3, 19). Vor allem aber nimmt er das bittere Schicksal des Kindes vorweg (vgl. das Ergehen von Maḥlōn „Kränklicher“ und Kilyōn „Schwächlicher“ in Rut  1, 2. 5). Das Epitheton „sein Bruder“ (vgl. V. 2. 8. 9. 10. 11; zum Stilmittel vgl. „Isaak, seinen Sohn“ in Gen  22, 3. 6. 9) unterstreicht das Ungeheuerliche der Tat Kains, gilt doch in Israel wie in anderen antiken Kulturen das enge Verhältnis zwischen Brüdern als Vorbild für solidarisches Verhalten. Zugleich zeigt es wie das Nachtun Abels bei der Darbringung der Gaben, dass Abel nur in seiner Beziehung zu Kain in den Blick genommen wird. Abel bleibt auffällig konturlos, seine einzige Bedeutung in der Erzählung besteht darin, von seinem Bruder getötet zu werden. Die Exposition schließt mit einer kurzen Notiz über die Berufe der erwachsenen Söhne (V. 2b). Die sparsam formulierte Notiz wird häufig kulturhistorisch ausgewertet, insofern in dem Ackerbauern Kain und dem Kleinviehhirten Abel Gründerfiguren konkurrierender Lebensweisen erkannt werden.39 Dagegen spricht aber, dass die Tätigkeit der beiden Brüder und der unterstellte Urkonflikt zwischen einer bäuerlichen und nomadischen Lebensweise in der Erzählung keine Rolle spielen. Zudem sind die Brüder als Gründerfiguren denkbar ungeeignet, würden doch die Viehhirten mit Abel ermordet und die Ackerbauern mit Kain von ihrer Scholle vertrieben werden, sodass beide Grundformen des Wirtschaftens einer kleinbäuerlichen Gesellschaft aus der Menschheitsgeschichte ausscheiden würden. Deutlicher ist indes der Bezug zur Paradieserzählung. Kain ist ein ʿōbēd   ʾadāmā „Ackerbauer“. Er übt diejenige Tätigkeit aus, zu welcher der Mensch bestimmt ist (vgl. * ʿbd + ʾadāmā in Gen 2, 5; 3, 23; 4, 2. 12). Steht die ʾadāmā auch unter dem Fluch (Gen 3, 17 ), so ist damit ausweislich der im Alten Testament geschilderten kultischen Praxis kein Urteil über Kains vegetabile Gabe getroffen (vgl. Dtn  26, 2).40 Die Rede vom Bestellen des Ackerbodens erinnert in diesem Kontext vielmehr daran, dass sich der Mensch nur mit Mühen von der ʾadāmā nähren kann und dass der Erfolg seiner Mühen mitunter ausbleibt. Diese Erfahrung bildet den Hintergrund der nachfolgenden Opferszene. Nach geraumer Zeit bringen beide Brüder Jhwh eine Gabe ihrer Erträge 4, 3 –5 dar. Aber der eine Bruder und seine Gabe werden von Gott angenommen, und der andere nicht. Wie schon bei der Geburts- und Berufsnotiz ergibt die So schon Gunkel, 47. Vgl. auch von Rad, 75 f; Levin, Jahwist, 97. Anders Raschi z. St. und zuletzt wieder F.A. Spina, The „Ground“ for Cains Rejection (Gen 4): adamah in the Context of Gen 1–11, ZAW 104 (1992) 319 –332 (s. dazu im Folgenden). 39 

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Abfolge der Namen der beiden Brüder einen schönen Chiasmus: Kains Geburt und Abels Geburt – Abels Beruf und Kains Beruf (V. 1 f ); Kains Gabe und Abels Gabe – Jhwhs positive Reaktion auf Abels Gabe und seine ablehnende Reaktion auf Kains Gabe (V. 3 –5). Die Darbringung beider Brüder ist parallel gestaltet, was bei Abel durch die etwas sperrige Konstruktion („auch er“) noch im Hinblick darauf herausgestellt wird, dass Abel es seinem Bruder gleichtut (V. 4). Abermals erweist sich Kain also als die Hauptfigur der Erzählung. Die Szene ist so knapp formuliert, dass man schon immer mehr wissen wollte, als der Text verrät: Um welche Art von Darbringungen handelt es sich? Woran hat Kain erkannt, dass Jhwh ihn und seine Gabe anders als Abel und dessen Gabe nicht angesehen hat? Weshalb hat Jhwh den Kain und seine Gabe nicht angesehen? Besonders mit Blick auf die letzte Frage hat die ganz auf das bloße Geschehen konzentrierte Darstellung seit jeher irritiert, zumal die Ablehnung eines Opfers durch Jhwh im Alten Testament die Ausnahme ist und an den beiden anderen Stellen ausdrücklich mit dem Ungehorsam der Opfernden begründet wird (vgl. Num  16; 1Sam  15).41 Es ist also nicht überraschend, dass in der Auslegungsgeschichte die Leerstellen des Textes auf der Suche nach einer Antwort entsprechend ausgedeutet worden sind.42 Schon in der Übersetzung der LXX von V. 7 (s.  o. Anm. 3) begegnet die Vorstellung, Kain habe seine Gabe nicht korrekt dargebracht. Doch an welche rituellen Vorgaben hätte sich Kain bei der Darbringung des ersten Opfers der Menschheit halten können? Auch enthält die knappe Darstellung keinen Hinweis auf einen Fehler bei der Darbringung. Vielmehr hat es eher den Anschein, dass der kultische Aspekt der Handlung möglichst in den Hintergrund gerückt wird, weshalb im strengen Wortsinn nicht einmal von Opfer gesprochen werden kann: Statt des terminus technicus *qbr hi. „darbringen“ ist das unspezifische *bō   ʾ hi. „bringen“ gewählt, anders als bei Noachs Opfer am Ende der Flut wird kein Altarbau berichtet (vgl. Gen 8, 20) und *š   ʿh „ansehen“ ist im Zusammenhang mit der Annahme oder Ablehnung eines Opfers sonst nicht belegt. Beide Darreichungen werden recht allgemein als „Huldigungsgabe“ (minḥā ) bezeichnet, für die vornehmlich vegetabile Gaben verwendet wurden. Dies spricht gegen die in verschiedenen Formen vorgetragene Vermutung, die Darbringung von Ackerfrüchten habe Jhwhs Reaktion provoziert.43 Andere suchen die Gründe für Jhwhs Reaktion in der Person Kains. Im Neuen Testament wird Abel explizit als „gerecht“ bezeichnet („Aufgrund des Glaubens brachte Abel ein besseres Opfer dar als Kain; wodurch ihm bezeugt wurde, gerecht zu sein …“ Hebr 11, 4) und er erscheint mit einem breiten Strom der jüdischen Tradition als der erste biblische Fromme und erste jüdische Märtyrer („das Blut Abels, des Gerechten“ Mt 23, 35; vgl. TestIss 5, 4; TestAbr 13, 2; TFrag zu Gen 4, 10; Jos.Ant. I, 53). Die explizite Rede von Abels Gerechtigkeit und damit implizit von Kains Ungerechtigkeit beruht auf dem Rückschluss vom Brudermord auf die Gesinnung Kains (vgl. 1Joh  3, 11 f ), in der wiederum der Grund für Jhwhs Reaktion erkannt wird. Der Rückschluss liegt nahe, Vgl. Heyden, Sünde, 90  f. Vgl. die Hinweise bei Gertz, Variations (mit weiterer Literatur). 43  Vgl. u.  a. Raschi z. St. (Früchte stammen vom verfluchten Ackerboden); Gunkel, 43 (Gott liebt den Hirten und verschmäht den Bauern); Jacob, 137 (tierische Opfer sind verdienstvoller). 41  42 

Kain und Abel

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stellt jedoch die Reihenfolge der Geschehnisse auf den Kopf und hat kaum Anhalt am Text. Besser begründet wirkt auf den ersten Blick die Lesart, Abel habe seine Gabe mit größerer Hingabe dargeboten und deswegen seien Kain und seine Gabe nicht angesehen worden.44 Während für Kain lediglich das Darbringen von Früchten mitgeteilt wird, wird Abels Gabe durch einen kurzen Nachsatz etwas ausführlicher dargestellt. Abel bringt „von den Erstlingen seines Kleinviehs, und zwar von ihren Fettstücken (mē-ḥælbēhæn)“ (V. 4a). Damit sind entweder die besten Tiere der Herde (vgl. Gen 45, 18; Ps 147, 14; 1Sam 15, 22) oder die fettesten Stücke der Tiere (Ex 23, 18; 29, 13. 22; Lev 3, 3  f. 9. 14 f u. ö.) gemeint. Zudem wird die Gabe durch die Verwendung des Personalsuffixes (seines Kleinviehs) an den Opfernden zurückgebunden. In einem sehr sparsam formulierten Text kann man das als Hinweis auf die innere Haltung der Brüder bei ihrer Darbringung bewerten. Die Frage nach dem Grund für Jhwhs Ablehnung von Kain und seiner Gabe ist mit dieser Auskunft jedoch nicht beantwortet. Will man die Szene nicht zu einer Art Opferwettstreit umdeuten, so könnte eine besondere Sorgfalt Abels bestenfalls erklären, warum sich der jüngere Bruder einer besonderen Zuwendung Jhwhs erfreut. Die ablehnende Reaktion gegenüber Kain bliebe jedoch weiterhin unbegründet, zumal Kain als erster Mensch auf den Gedanken gekommen ist, dem Schöpfer vom Ertrag seiner Arbeit etwas zurückzugeben, worin ihm sein Bruder lediglich gefolgt ist. Zudem wirkt die Annahme, dass die „innere Haltung“ für die Annahme eines Opfers maßgeblich sein soll, wie eine moderne Eintragung. Sofern Opfer abgelehnt werden oder die Opferpraxis kritisiert wird, geht es ganz konkret um Ungehorsam gegenüber den (Opfer-)Geboten oder um ethische Verfehlungen. Gleichwohl sollte man über die Unterschiede in der Beschreibung der Darbringung nicht hinweggehen. Vermutlich sollen sie beim Leser Sympathien für den sonst recht blassen Abel wecken.45

Alle diskutierten Erklärungsvorschläge für die Ablehnung der Gabe Kains haben gegen sich, dass sie Informationen in den Text hineinlesen, die dieser offenkundig nicht geben will oder kann. Dies legt den Schluss nahe, dass die in der Auslegungsgeschichte so breit diskutierte Frage nach dem „Warum?“ und das durchaus verständliche Interesse, einen schlüssigen Kausalzusammenhang herauszustellen, an der Intention des Textes vorbeigehen: Der unterschiedliche Ausgang der Opferszene zielt auf die elementare Erfahrung der Ungleichheit unter Gleichen ab. Sehr wahrscheinlich ist bei der minḥā an eine Erstlingsgabe gedacht, mit der dem Schöpfer ein Teil seiner Gabe an die Menschen als Dank und Bitte um zukünftige Gabe zurückgegeben wird. Daher liegt es nahe, dass sich Annahme oder Ablehnung am Ertrag bemessen lassen.46 Insofern symbolisieren Annahme und Ablehnung des Opfers die Förderung oder die Schädigung, die der Mensch unabhängig von seiner Leistung, gleichsam schicksalhaft erfährt. „Gott hat das Opfer des einen angesehen, das des anderen nicht. Daß Gott das Opfer Kains nicht ansah, ist … weder auf seine Gesinnung noch auf ein falsches 44  So Cassuto, I 205; Willi, Ort, 101 Anm.  8; Heyden, Sünde, 94. Kritisch Westermann, 404; Seebaß, 151. 45  Vgl. Seebaß, 151. 46  Vgl. Cassuto, I 207; Westermann, 403; Ebach, Kain und Abel, 22 .

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Opfer noch auf eine falsche Art des Opfers zurückzuführen. Es ist vielmehr das Unabänderliche damit ausgesagt, daß so etwas geschieht.“47 Es geht mithin um die Erfahrung von Kontingenz und Vergeblichkeit. Diese hat sich schon in der Verfluchung der ʾadāmā am Ende der Paradieserzählung niedergeschlagen und wird jetzt auf die Erfahrung hin zugespitzt, dass die religiöse Praxis selbst der Kontingenz unterworfen ist.48 Diese Erfahrung wird im Text ausdrücklich nicht erklärt, auch nicht durch den allfälligen Hinweis auf Gottes Freiheit.49 Im Zentrum des Textes steht vielmehr die Einsicht, dass objektiv gegebene oder subjektiv empfundene Ungerechtigkeit zur „Sünde“ führen kann, was wiederum nach einem angemessenen Umgang mit dieser Erfahrung von Ungleichheit fragen lässt (V. 5b. 6 –7 ). Entsprechend wird unmittelbar auf Jhwhs ablehnende Reaktion hin Kains inneres Erleben bis hin zur Veränderung der Körperhaltung mitgeteilt. „Man sieht förmlich, wie die Zuwendung zum Bruder erstirbt und der Haß ihn in Besitz nimmt.“50 So entbrennt Kain vor Zorn angesichts des empfundenen Unrechts (vgl. absolut gebrauchtes *ḥrh in Gen 31, 36; 34, 7; 1Sam 18, 8; 2Sam 13, 21; Jon 4, 4). Seine Gesichtszüge entgleiten ihm (wörtlich: „sein Gesicht senkte sich“), er kocht vor Zorn und ist zugleich – darin besteht die eigentliche Gefahr – auf Dauer niedergeschlagen und frustriert.51 4, 6 –7 Jhwh reagiert mit einer kurzen Ansprache an Kain. Er befragt ihn in wörtlicher Aufnahme der Notiz von V. 5b nach dem Grund für seinen Gemütszustand (V. 6). Die Fortsetzung der Rede bereitet kaum lösbare philologische Probleme, weshalb ein gut 100 Jahre altes Votum zu V. 7 auch hier pflichtschuldig vorangestellt sei: „Der dunkelste Vers des Kapitels, ja der Genesis“52. Sicher ist so viel: Es handelt sich um eine Mahnung, die mit einer rhetorischen Frage Gottes eröffnet wird und die Kain vor eine Alternative stellt. Mit der Formulierung „Ist es nicht so?“ rekurriert Jhwh auf ein Wissen um „gut und schlecht“, das Kain (und den Lesern und Leserinnen) hinlänglich und ohne vorherige Erläuterung bekannt ist. Der Gebrauch von *yṭb „gut sein/gut handeln/für gut halten“ zeigt zudem an, dass die Erkenntnisfähigkeit von „gut und schlecht“ eine ernste Bewährungsprobe erfährt.53 Doch schon der Bezugspunkt der Frage nach „gut oder nicht gut“ ist umstritten. Hat sie Kains Zorn über Jhwhs Ablehnung seiner Gabe im Blick oder schaut sie auf den Brudermord voraus? Häufig wird mit einem moralischen Unterton übersetzt: „Wenn du gut handelst … wenn du nicht gut handelst.“ Die Frage böte dann eine nachlaufende Erklärung der Ablehnung von Kain und seiner Gabe oder einen Ausblick auf den Brudermord. Da *yṭb q. ein po47  Westermann, 403. Diese Lesart hat vielfach Zustimmung erfahren. Vgl. zuletzt Schüle, Prolog, 185. 48  Arneth, Adam, 152  f. 49  So von Rad, 76 unter Berufung auf Ex 33, 19. 50  Levin, Jahwist, 94. 51  Vgl. von Löwenclau, Genesis IV 6 –7, 183. 52  Procksch, 47. 53  Vgl. Crüsemann, Autonomie, 64 f, 66  f.

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sitives Urteil über eine Person, eine Tätigkeit oder einen Zustand beschreibt, wird das kausative *yṭb hi. in V. 7a jedoch eher so zu verstehen sein, dass man sich oder jemand anderen veranlasst, ein entsprechendes Urteil zu fällen.54 Die rhetorische Frage bezieht sich demnach auf Jhwhs unterschiedliche Reaktion auf die Opfergaben der beiden Brüder und fordert Kain dazu auf, diese zu akzeptieren , indem er „es gut sein lässt“. Jhwh stellt Kain hierfür „Erhebung“ (Inf. cstr. von nś   ʾ ) in Aussicht. Der knappe Ausdruck bietet einigen Interpretationsspielraum. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um einen im Alten Testament sonst nicht belegten elliptischen Ausdruck, bei dem das fehlende Objekt zu „erheben“ aus dem Kontext erschlossen werden muss. Da in V. 5b. 6 vom „Fallen des Angesichts“ die Rede ist, wird es sich in V. 7a um die Kurzfassung der weit verbreiteten Wendung vom „Erheben des Angesichts“ handeln. Dies eröffnet wiederum einige Verstehensmöglichkeiten:55 Kain erhebt sein eigenes Angesicht, d.  h. er kann ohne Zorn gegenüber Gott und den Menschen frei auftreten (vgl. 2Sam 2, 22; Hi 22, 26); Kain erhebt das Angesicht Abels, d.  h. er kann ihn unbeschadet seiner Eifersucht wohlwollend wahrnehmen (vgl. Gen 32, 21); Gott erhebt das Gesicht Kains, d.  h. er nimmt ihn unbeschadet der Ablehnung seiner Gabe wohlwollend wahr (vgl. Hi 42, 8 f ); Gott erhebt sein Angesicht, d.  h. er blickt wohlwollend auf Kain (vgl. Num 6, 26). Eine Festlegung auf eine der genannten Möglichkeiten fällt schwer, ist aber vielleicht auch gar nicht gewollt. Worin liegen die Konsequenzen, sollte Kain „es nicht gut sein lassen“? Nach der verbreiteten und auch hier gewählten Übersetzung warnt Jhwh Kain davor, dass sein brennender Zorn über die empfundene Ungerechtigkeit ihn so weit bestimmt, dass er zum leichten Opfer der als personifizierte Macht vorgestellten Sünde werden kann. Die Sünde sei (wie) ein Lagerer, der am Eingang des Hauses oder im übertragenen Sinne vor der Herzenstüre lauert. Der Zorn kann sich zu einem Dämon auswachsen, der jede Form von Gemeinschaft zu zerstören vermag (vgl. ḥaṭṭāt „Sünde“ in Gen  50, 17 ). Am Ende steht der Brudermord, weil es Kain nicht gelungen ist, sich der eigenen inneren Veränderung durch seinen Zorn zu erwehren und sich so dem Beherrschtwerden durch die Sünde zu widersetzen, die wie eine fremde Macht über ihn gekommen ist. Dass eine gefasste Haltung auch angesichts der empfundenen Ungerechtigkeit gefordert ist, unterstreicht der mahnende Nachsatz (V. 7b). Er ruft Kain zur Herrschaft über die Sünde auf. Kain ist bestimmt zur „Selbstkontrolle, die zugleich den fatalen Einfluss der Sünde niederhält“56. Der Mensch ist nicht nur Herr der Schöpfung (vgl. Gen 1, 26), sondern er ist auch dazu aufgerufen, die Sünde zu dominieren.57 Als problematisch an dieser Lesart gilt, dass sie das fem. ḥaṭṭāt „Sünde“ mit dem Partizip mask. von *rbṣ „lagern“ verbindet und dass sie die Personalsuffixe Vgl. Willi, Ort, 102 mit Anm. 11; Heyden, Sünde, 97. Vgl. Willi, Ort, 102 Anm. 12 . 56  Schüle, Prolog, 188 mit Hinweis auf die Nähe zur stoischen Affektenlehre. 57  Vgl. von Löwenclau, Genesis IV 6 –7, 187. 54  55 

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der 3. Pers. mask. in V. 7b (t   ešūqātō „sein Verlangen“; bō „über ihn“) inhaltlich auf das fem. ḥaṭṭāt bezieht. Zudem wird eingewandt, dass *rbṣ im Alten Testament sonst nicht die Bedeutung des hinterhältigen Auflauerns hat, sondern das ruhige Lagern vornehmlich von Tieren beschreibt. Die gewählte Übersetzung versucht die grammatische Inkongruenz damit zu erklären, dass sie das Partizip rōbēṣ als Prädikatsnomen und ḥaṭṭāt als Subjekt versteht. Der „Lagernde“ ist die Personifizierung der Sünde, auf den sich dann die Suffixe der 3. Pers. mask. beziehen. Zwar bezeichnet *rbṣ zumeist wertneutral das Lagern oder Ruhen (vgl. Jes  65, 10 parallel zu Weideplatz), gleichwohl kann es durch den Kontext eine negative Bedeutung bekommen. Dies ist dort anzunehmen, wo vom „Lagern“ prinzipiell bedrohlicher Dinge wie der Urflut (Gen  49, 25; Dtn  33, 13) oder Flüchen (Dtn  29, 19) die Rede ist. Der ambivalente Gebrauch erklärt sich damit, dass in den altvorderorientalischen Kulturen mit der Tierwelt auch dämonisch-mythische Vorstellungen verbunden waren. Das Lagern von Tieren dürfte daher nicht als so harmlos wahrgenommen worden sein, wie es sich uns Heutigen bei der Lektüre oder während eines Zoobesuchs darstellt. Dies gilt insbesondere für den Lagerplatz von Raubtieren (vgl. Gen  49, 9). Im Kontext mit ḥaṭṭāt „Sünde“ liegt eine negative Bedeutung von *rbṣ durchaus nahe, zumal die Tür(schwelle) als Übergang vom gesicherten Innen zum ungeschützten Außen ein besonders gefährlicher Ort ist (vgl. Zef  1, 8 f  58). Eine ferne Analogie zu dem in V. 7 vermuteten rōbēṣ bietet der in akkadischen Texten belegte heimtückische Dämon rābiṣu.59 Auch wenn die Verbindung jenseits der etymologischen Verwandtschaft unsicher ist, sollte die Kenntnis eines akkadischen Dämons im hebräischen Sprachraum ebenso wenig ausgeschlossen werden wie eine Bedeutungsverschiebung von einem seine Opfer hinterrücks attackierenden Dämon zur Personifizierung der Sünde, die ihrem Opfer auflauert und es zu beherrschen droht. Einiges bleibt an der vorgeschlagenen Lesart dennoch problematisch, wie die betonte Stellung der adverbialen Bestimmung „zur Tür hin“ am Anfang des Satzes, der Rückbezug der Personalsuffixe in V. 7b auf das mask. Prädikatsnomen rōbēṣ statt auf das fem. Subjekt ḥaṭṭāt und die fehlende Determination bei ḥaṭṭāt. Deswegen soll eine mögliche Alternative kurz dargestellt werden, wonach sich das Partizip mask. von *rbṣ „lagern“ auf den letztmals in V. 4 genannten Abel bezieht.60 Bei dieser Auslegung wird das durch seine Wortstellung hervorgehobene lap-pǣtaḥ „zur Tür“ zusammen mit ḥaṭṭāt „Sünde“ als metaphorischer Ausdruck für „Anlass zur Sünde“ verstanden, wobei abweichend von der masoretischen Vokalisation eine Verbindung im Vgl. H. Donner, Die Schwellenhüpfer: Beobachtungen zu Zef 1, 8 f, JSS 15 (1970) 42 –54. M.L. Barré, Art. „Rabiṣu“, DDD2 (1999) 682  f. 60  Vgl. im Anschluss an Überlegungen bei Ibn Esra, z. St., Ehrlich, Randglossen, 21; Jacob, 139; Willi, Ort, 103 mit Anm.  13, sowie die weithin gleichsinnigen Auslegungen bei Heyden, Sünde, 97–100 und Janowski, Eden, 149 –153. Dort jeweils auch zum Folgenden. Zur Diskussion der These vgl. Gertz, Variations, 42 –   4 4. 58  59 

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st. cstr. l e-pǣtaḥ ḥaṭṭāt „zur Tür der Sünde“ vorausgesetzt ist (statt lap-pǣtaḥ ḥaṭṭāt „an der Tür [ist die] Sünde“).61 Der Vers wäre dann wie folgt zu übersetzen: „Wenn du es aber nicht gut sein lässt: Als Anlass zur Verfehlung lagert er [= Abel]. Aber zu dir [= Kain] hin ist sein [= Abels] Verlangen. Und du sollst über ihn [= Abel] walten.“62 Wenn Kain das Urteil Gottes nicht anerkennt und weiterhin eifersüchtig auf seinen Bruder ist, dann ist ihm dieser ein ständiger Anlass zur Sünde. Im Fortgang des Satzes bleibt Abel das Subjekt und die Personalsuffixe der 3. Pers. mask. beziehen sich regelkonform auf Abel: Abel verlangt nach Kain und dieser soll für seinen jüngeren Bruder Sorge tragen. Das Verhältnis der Brüder soll also demjenigen von Mann und Frau entsprechen (vgl. Gen 3, 16). Hieran wird Kain erinnert. Sollte er sich der Empörung hingeben, so die Warnung Gottes, dann wird ihm die schiere Existenz des bevorzugten und dabei völlig ahnungslosen Bruders zum Anlass zur Sünde.63 Doch auch dieser Vorschlag ist mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet: Die vermutete abstrakte Bedeutung von pǣtaḥ „Tür“ im Sinne von „Anlass“ ist im Alten Testament nicht belegt.64 In Verbindung mit der vorausgesetzten doppelten Symbolik stellt sie eine schwere Hypothek für diese Lesart dar: Der Ausdruck l e-pǣtaḥ „zur Tür hin“ wird zunächst metaphorisch verstanden als „Anlass zu Sünde“. Dieser metaphorische Gebrauch wird dann wiederum metaphorisch auf den im Vers ungenannten Abel bezogen. Gerade weil sich diese doppelte Symbolik nur schwer dechiffrieren lässt und wohl auch ohne Analogie in der erzählenden Literatur des Alten Testaments ist, gewinnt die Beobachtung an Gewicht, dass sie in der Auslegungsgeschichte weitgehend eine neue „Entdeckung“ ohne Vorgeschichte darstellt. Weder die antiken Übersetzungen noch die Rabbinen oder die Masoreten haben den Text im Sinne dieser Lesart verstanden.65 Die hier vorgeschlagene „klassische“ Auslegung löst sicher nicht alle Schwierigkeiten des Verses. Sie „bleibt  … eine Notlösung“66, scheint aber immer noch die wahrscheinlichere zu sein. V. 6 –7 werfen auch in literarkritischer Hinsicht Fragen auf.67 Einerseits wirkt der Wechsel von der Handlung zur Gottesrede in V. 5 f und dann wieder von der Gottesrede zur Handlung in V. 7 f wenig abgestimmt. Auch macht V. 8a einen unvollständigen Eindruck, insofern auf das hebräische Wort * ʾmr „sagen“ im Regelfall eine mit einem weiteren verbum dicendi eingeleitete direkte Rede folgt, was schon die antiken Ehrlich, Randglossen, 20. Vgl. Heyden, Sünde, 96; Janowski, Eden, 141. 63  Heyden, Sünde, 99  f. 64  Vgl. Schüle, Prolog, 199, der zu Recht von „ungewöhnliche[n] Begriffsbedeutungen“ spricht. Zur Diskussion der als Analogie beigebrachten Belege vgl. Gertz, Variations, 43  f. 65  Vgl. J. Erzberger, Kain, Abel und Israel. Die Rezeption von Gen  4, 1–16 in rabbinischen Midraschim, BWANT 192 , Stuttgart 2011, 51 mit Anm. 61. Die Lesart der Midraschim entspricht durchweg der erstgenannten Alternative. 66  Levin, Jahwist, 101. 67  Vgl. (mit unterschiedlichen redaktionsgeschichtlichen Zuordnungen) von Löwenclau, Genesis IV 6 –7; Dietrich, Bruder, 162 f; Levin, Jahwist, 100; Witte, Urgeschichte, 152; Schüle, Prolog, 195 –199. 61  62 

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Versionen zu Ergänzungen veranlasst hat (s.  o. Anm. 4). In der vorliegenden Gestalt macht der Teilvers jedenfalls den Eindruck einer literarischen Naht. Andererseits wird durch die Gottesrede und die etwas unglückliche Überleitung in V. 8a ein guter Zusammenhang von V. 5 zu V. 8b unterbrochen. Diese Beobachtungen sprechen für die Annahme, dass es sich bei V. 6 –8a um einen Nachtrag handelt. Dieser Eindruck wird durch eine inhaltliche Akzentverschiebung verstärkt. V. 7 zitiert Gen 3, 16. Sollte V. 7 tatsächlich auf die Beherrschbarkeit der Sünde zielen, so würden die Überordnung des Mannes über die Frau nach Gen  3, 16 und die Beherrschbarkeit der Sünde nach Gen  4, 7 gleichgesetzt. Das ist eine Vorstellung, die in der Rezeptionsgeschichte des Verses einige Befürworter gefunden hat, doch wird man dem weisheitlichen Erzähler einen solchen Gedanken kaum unterstellen wollen, bewertet dieser das Verhältnis von Mann und Frau doch grundsätzlich positiv.68 Ein möglicher Grund für die Einfügung von V. 6 –7 mag die Sorge gewesen sein, dass die Erzählung Jhwh in ein schlechtes Licht rückt. In der mutmaßlichen Grundschicht folgt der Brudermord unmittelbar auf die unterschiedliche Reaktion Jhwhs auf die Darbringung der Brüder. Mit V. 6 –7 wird eine Mahnung Jhwhs an Kain eingeschoben, die dieser ausweislich des Fortgangs der Erzählung missachtet hat. Damit erscheint der Brudermord nicht mehr als die unmittelbare Folgereaktion auf die Ablehnung Kains und seiner Gabe. Zudem wird Kain als uneinsichtig gegenüber der Mahnung Gottes charakterisiert, was wiederum Gottes Ablehnung rückblickend rechtfertigt. Dass sich mit dieser Einfügung die Verhältnisse wirklich geklärt haben, wird man angesichts der Auslegungsgeschichte allerdings nicht behaupten wollen.

4, 8 Kains Tat wird denkbar knapp beschrieben. Kain erhebt sich gegen seinen

Bruder und tötet ihn. Erstmals nach der Geburtsnotiz heißt es wieder explizit und dann gleich zweimal „Abel, sein Bruder“, was das Unfassbare der Tat unterstreicht. Nach Maßgabe alttestamentlicher Rechtssätze reichen die Tatbestandsmerkmale nicht aus, um juristisch über einen möglichen Vorsatz Kains zu urteilen (vgl. Ex  21, 12 f; Dtn  19, 4  f. 11).69 Es wird lediglich angedeutet, dass die Brüder allein auf dem Feld sind. Wie in den Rechtssätzen unterstreicht die Ortsangabe das Fehlen von Zeugen und die Hilflosigkeit des Opfers (vgl. Dtn  22, 25 –27 ). Im Zusammenhang mit dem mutmaßlich sekundären V. 7 wirkt die Tat wie die Antwort Kains auf Jhwhs Mahnung. Sollte in V. 8a mit der LXX eine Aufforderung Kains an Abel zu lesen sein, mit ihm auf das Feld zu gehen, so würde es sich zudem eindeutig um eine vorsätzliche Tat handeln. Der ursprünglichen Erzählung sind solche Überlegungen jedoch weitgehend fremd. Aus der Notiz „da erhob sich Kain“ lässt sich kaum eine Tötungsabsicht herleiten. Es wird lediglich gesagt, es habe sich nicht um einen Unfall gehandelt (vgl. dazu Ex 21, 13). Auch wenn V. 8b ursprünglich unmittelbar auf V. 5 gefolgt sein sollte, so ist damit noch nicht gesagt, dass Kain zornentbrannt zur Tat schreitet und diese gleichsam im Affekt geschieht. Die Formulierung way  ehī bi-hyōtām („es geschah aber, als 68  Wellhausen, Composition, 10, hält die Annahme, dass Gen 3, 16 und V. 7 auf ein und denselben Verfasser zurückgehen, schlicht für „geschmacklos“. 69  Zu den rechtlichen Aspekten vgl. E. Noort, Genesis  4:1–16. From Paradise to Reality: The Myth of Brotherhood, in: Luttikhuizen, Eve’s Children, 93 –106.

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sie auf dem Feld waren“) ist gegenüber dem vorausgehenden Geschehen zeitlich unbestimmt (vgl. Jos 5, 13; 2Sam 3, 6; 1Kön 11, 15). Es ist also durchaus möglich, dass sich die Wut in Kain langsam aufgestaut und erst später als Gewalttat entladen hat. So oder so signalisiert der Verzicht auf jeden erläuternden oder bewertenden Zwischenschritt, dass das Geschehen eine Eigendynamik entwickelt, die sich nur schwer aufhalten lässt – trotz der gar nicht bestrittenen und in V. 7 durch eine spätere Hand eigens betonten Freiheit, sich der Zwangsläufigkeit des Geschehens zu entziehen und anders zu handeln. Gerade darin liegt das Erschreckende und urgeschichtlich Typische der Szene: Das Erleben, grundlos zurückgesetzt zu sein, der daraus folgende Zorn, die aus dem Zorn geborene Missetat und die darüber empfundene Scham – „Es ist dies doch wohl die bekannteste Geschichte der Welt, denn sie ist jedermanns Geschichte “ ( John Steinbeck, Jenseits von Eden). Die Verhör- und Strafszene weist eine große strukturelle Übereinstim- 4, 9 –15 mung mit ihrer Parallele in der Paradieserzählung auf.70 Auf die nur knapp geschilderte Tat (V. 8; vgl. Gen  3, 6 –8) folgt zunächst eine Befragung durch Jhwh. Seine erste mit „Wo?“ eingeleitete Frage (V. 9a; vgl. Gen 3, 9) wird mit einer Ausflucht beantwortet (V. 9b; vgl. Gen  3, 10). Die zweite Frage konfrontiert den Täter mit seiner Schuld (V. 10; vgl. Gen 3, 11). Die Ahndung der Tat erfolgt durch Straf- und Fluchsprüche (V. 11 f; vgl. Gen  3, 14  –19). Der aus der Gemeinschaft ausschließende Fluchspruch über Kain nimmt die Formulierung der Flüche über die Schlange und den Ackerboden auf ( ʾārūr + min „hinweg verflucht von“ V. 11; vgl. Gen 3, 14 und 17 [ohne min]). Inhaltlich bedeutet dies eine Verschärfung des Strafspruchs gegen den Menschen (V. 12; vgl. Gen 3, 17–19). Die anschließende Klage Kains hat auf den ersten Blick keine Entsprechung in der Paradieserzählung, doch korrespondiert die durch die Klage bewirkte Schutzzusage Jhwhs mit seiner fürsorglichen Anfertigung von Kleidern für das erste Menschenpaar (V. 15; vgl. Gen  3, 21). Beide Szenen schließen mit einer Auszugsnotiz (V. 16; vgl. Gen 3, 23 bzw. redaktionell in V. 24). Deutlicher noch als ihre Parallele ist die Szene von Sachverhalten und Ausdrücken geprägt, die in den Bereich des Rechtswesens gehören. Gleichwohl sollte sie nicht zu sehr in den Rahmen verschiedener straf- und prozessrechtlicher Bestimmungen des Alten Testaments gepresst oder als rechtshistorische Erzählung gelesen werden. Dass es sich um kein ordentliches Gerichtsverfahren handelt, zeigt sich schon an der urgeschichtlichen Unmittelbarkeit, mit der Gott in das Verfahren eingebunden ist. Sie ist im Alten Testament singulär. Jhwhs Frage nach dem Bruder nimmt das „Wo bist du?“ aus Gen 3, 9 auf. V. 9 In Verbindung mit der Erinnerung an den Menschen, der sich vor Jhwh versteckt hat, ruft die Frage die Assoziation hervor, dass Abel nicht auffindbar, der Leichnam vielleicht sogar verscharrt ist. Dies führte in antiken Nachdichtungen zu entsprechenden Eintragungen. So berichtet der Koran, dass 70 

Das ist vielfach notiert worden. Vgl. Westermann, 412; Witte, Urgeschichte, 167–169.

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(der nicht namentlich genannte) Kain einen von Gott geschickten Raben beim Verscharren eines toten Raben beobachtet hat, was ihn zur ersten Bestattung der Menschheit veranlasst (Sure 5, 31). Durch diese und andere Lesarten angeregt, wird zuweilen mit Textausfall im Zuge einer Überarbeitung einer älteren Tradition gerechnet.71 Doch gibt es für diese Annahme keine Indizien. Die Erzählung ist sehr sparsam und berichtet wie in der Opferszene nur das, was sie unbedingt mitteilen will. Die sprichwörtlich gewordene Antwort Kains gilt zumeist als dreiste Lüge oder als patzige Ausflucht.72 Nach einer freundlicheren Lesart gibt Kain mit seiner Antwort zu erkennen, dass er zu ahnen beginnt, worin seine Bestimmung gelegen habe, nämlich der Hüter seines Bruders zu sein.73 Dagegen spricht aber, dass sich Kain durch das einleitende „Ich weiß es nicht“ als Lügner entlarvt, der von vornherein jeden Verdacht von sich weist.74 Auch scheint er mit dem betonten „Ich“ im Gegenüber zu Gott jegliche Verantwortung für den Bruder von sich weisen zu wollen. Vielleicht lässt sich aus Kains rhetorischer Gegenfrage „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ sogar eine höhnische Anspielung auf die gefährliche Hirtenexistenz des Ermordeten heraushören, selbst wenn sich nur wenige Belege von *šmr „hüten“ auf die Tätigkeit eines Hirten beziehen (vgl. Gen 30, 31; 1Sam 17, 20; Jer 31, 10; Hos 12, 13). Im Vergleich zu der mit erkennbar schlechtem Gewissen erteilten und zumindest nicht gelogenen Antwort Adams hat sich die Situation jedenfalls noch einmal deutlich verschärft. Jhwhs zweite Frage ist dem Rechtsleben entnommen.75 Das einleitende V. 10 „Was hast du getan?“ hat mehr rhetorische als fragende Funktion, was schon daran ersichtlich ist, dass Jhwh keine Antwort abwartet, sondern selbst die Tat mit aller Deutlichkeit benennt. In gerichtlichen wie außergerichtlichen Auseinandersetzungen konfrontiert eine so formulierte Frage den Angeredeten mit einem gegen ihn erhobenen Vorwurf (vgl. Gen 31, 36; 2Sam 3, 24; Jes  45, 9; Hi  9, 12; Pred  8, 4). Kain mag die Tat leugnen und sich sicher fühlen, weil er seinen Bruder auf dem Feld, d.  h. fernab von möglichen Zeugen getötet hat (vgl. Dtn  22, 27 ). Doch er wird überführt, weil das vergossene Blut des Bruders von der Bluttat zeugt und zu Jhwh schreit. Vor Gott gibt es keinen „perfekte[n] Mord“76 (vgl. 2Sam  12; 1Kön  21). Der Plural von dām „Blut“ bezeichnet in der Regel gewaltsam vergossenes Blut oder die Blutschuld. Auch *ṣ  ʿq „schreien“ mit Gott als Adressaten begegnet im Bereich des Rechtswesens, wo das „Zetergeschrei“ die äußerste Möglichkeit Vgl. von Löwenclau, Genesis IV 6 –7, 181  f. Vgl. Gunkel, 44 und viele andere. 73  Vgl. Willi, Ort, 104. 74  Anders Willi, Ort, 104, wonach der „ursprüngliche Mensch“ in seiner Naivität wirklich nichts über den Tod weiß. Der „Ort der Toten“ ist aber weder Gegenstand der Frage Jhwhs noch der Erzählung. Zudem hat der ursprüngliche Mensch seine Naivität bereits mit Gen 3, 6 verloren. 75  Vgl. H.J. Boecker, Redeformen des Rechtslebens im Alten Testament, WMANT 14, Neukirchen-Vluyn 1964, 26 –31 (zur Beschuldigungsformel) und 61–66 (zum Zetergeschrei). 76  Westermann, 415. 71  72 

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eines Opfers einer Gewalttat darstellt, sich Gerechtigkeit zu verschaffen (vgl. 2Kön  4, 1; 8, 5; Gen  27, 34; Jes  5, 7 ). Das Blut des getöteten Bruders schreit zu Jhwh um Gerechtigkeit (nicht der Ackerboden!), und dieser ist dadurch aufgefordert, für Abels Recht einzutreten (vgl. Ps 9, 13 „Denn der, der Blutschuld einfordert, hat ihrer gedacht, hat nicht vergessen das Zetergeschrei der Gebeugten“; Hi  16, 18 „Erde, decke mein Blut nicht zu, und es sei kein Ruheort für mein Zetergeschrei“). Abermals wird das Leitmotiv vom Ackerboden aufgenommen: „Den V. 11–12 Acker hat Qain bebaut, des Ackers Früchte dargebracht, dem Acker Bruderblut zu trinken gegeben: aber vom Acker her klagt das Blut wider ihn, darum verweigert ihm der Acker seine Frucht, so wird er vom Acker verbannt.“77 Diese Abfolge der Geschehnisse wird häufig so verstanden, dass der Ackerboden das ius talionis ausführt und gleichsam selbsttätig auf seine Verunreinigung mit dem unschuldig vergossenen Blut reagiert: Jhwh straft nicht, indem er Kain vom Ackerboden hinweg flucht, sondern benennt mit dem Fluch lediglich machtvoll und wirksam die Tatfolgen, die Kain durch seinen Mord selbst in Gang gesetzt hat.78 Die Frage nach der „strafenden“ Instanz ist indes nicht so einfach zu beantworten.79 Verweigert der durch das unschuldige Blut geschändete Ackerboden Kain seine Nahrung gebende Kraft (V. 12a; vgl. Hi 31, 38 f ), so erinnert dies an die Drohung, das Land werde diejenigen ausspeien, die es verunreinigen (Lev 18, 24  –28). Umgekehrt kann eine Dürre wie andere Katastrophen auch ein Hinweis auf eine ungesühnte Blutschuld sein. Nach 2Sam  21 bewirkt eine ungesühnte Blutschuld, die wegen der Ermordung der Gibeoniter auf Saul und seinem Haus lastet, eine mehrjährige Hungersnot; im ugaritischen Aqhat-Epos hat die Ermordung des Titelhelden eine Dürre zur Folge, was schließlich durch Flüche des Vaters des Opfers auf das Versiegen der Wasserquellen ausgedehnt wird, und auch der Vatermord des Ödipus bringt Blutschuld und Dürre über das Land.80 Derartige Vorstellungen von den selbstwirksamen Folgen der Blutschuld werden sich in der Ausgestaltung der Erzählung von Kain und Abel niedergeschlagen haben, gleichwohl stehen diese in Gen 4 (wie im König Ödipus des Sophokles) nicht im Vordergrund. Dies geht deutlich aus der Formulierung des Fluches in V. 11 hervor. Diese greift unverkennbar die Flüche und Strafsprüche aus der Paradieserzählung auf ( ʾārūr + min nur hier und in Gen  3, 14), und zwar im Sinne einer Steigerung. Der Fluch trifft nicht mehr nur den Ackerboden, sondern den schuldig gewordenen Menschen, und aus der Mühsal der Arbeit des Ackerbauern wird die Ertraglosigkeit des Ackerbodens. Von der Paradieserzählung her gelesen, erscheint die Verfluchung Kains daher als richtender Akt Jhwhs, der Gunkel, 45. Vgl. Ebach, Kain und Abel, 25; Schüle, 94  f. 79  Vgl. J. Dietrich, Kollektive Schuld und Haftung, ORA 4, Tübingen 2010, 202 –209. 80  Für eine deutsche Übersetzung des Aqhat-Epos vgl. M. Dietrich/O. Loretz, Mythen und Epen in ugaritischer Sprache, TUAT III, 1254  –1305, 1285  f. 77  78 

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vom Blut des getöteten Bruders um Hilfe angegangen worden ist. Kain sieht das nicht anders und formuliert in seiner an Jhwh gerichteten Klage, dass dieser ihn vom Ackerboden vertrieben habe (V. 14a). Im Rechtsleben begegnen Flüche sonst dort, wo ein Vergehen heimlich stattfindet und deshalb nicht aufgeklärt werden kann (vgl. Dtn  27, 24; ähnlich Dtn  21, 1–9). In Gen  4 liegt der Fall etwas anders, insofern das Blut als Zeuge auftritt und Jhwh als Richter aufruft. Damit ist von vornherein gewährleistet, was der Rechtsfluch zu erreichen sucht: die Identifikation und Bestrafung des Täters, um so durch Unrecht entstandenen Schaden von einem Gemeinwesen abzuwehren. Das Bild vom aufgerissenen oder geöffneten Rachen der Erde ist noch im Zusammenhang vom Aufstand der „Rotte Korach“ belegt (Num 16, 32 f; vgl. Dtn 11, 6; Ps 106, 17 ), womit das Bild der nach Toten gierenden Unterwelt hervorgerufen und die tödliche Bedrohung für den Täter herausgestellt wird. Mit dem Fluch wird dem Ackerbauern Kain verwehrt, sich weiterhin vom Ackerboden ( ʾadāmā ) zu ernähren. Ihm wird die Lebensgrundlage entzogen und ihm bleibt eine Existenz, in der er auf der Erde ( ʾǣræṣ) keine dauerhafte Heimat mehr finden wird (V. 12). Der singuläre Ausdruck nā   ʿ wā-nād „unstet und flüchtig“ wird im Kontext einer stammesgeschichtlichen Interpretation der Erzählung (s.  o. S. 155 f  ) gerne als Kennzeichen nomadischer Existenz verstanden.81 Doch bleibt es zumindest fraglich, ob dies den historischen Bedingungen oder auch nur der Fremdwahrnehmung nomadisierender Stämme durch die sesshafte Bevölkerung entsprochen hat. Immerhin beruft sich das nachmalige „sesshafte Israel“ auf ein „nomadisches Erbe“.82 Wichtiger ist indes, dass derartige kulturgeschichtliche Überlegungen im vorliegenden Kontext bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Dies zeigt die Reaktion Kains, der sich mit der Ankündigung eines unsteten und flüchtigen Lebens ganz grundsätzlich aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen sieht (V. 14b). Wer eine Blutschuld auf sich geladen hat, ist bis zum eigenen Tod auf der Flucht (vgl. Spr  28, 17 ) und bar jeglichen Schutzes durch die Gemeinschaft. Die hinter Kains Verstoßung stehende Rechtspraxis lässt sich bis in die Neuzeit hinein für nichtstaatlich organisierte Rechtsgemeinschaften arabischer Stämme beobachten. In der Regel fällt derjenige, der eine Blutschuld begangen hat, der Blutrache durch einen nahen männlichen Verwandten des Opfers anheim (vgl. Dtn  19, 1–9). Handelt es sich jedoch um eine Blutschuld innerhalb der Familie, so wird der Täter nicht getötet, sondern aus der Sippe ausgestoßen und darf auch von keinem anderen Stamm aufgenommen werden.83 Mit Kain wird erstmals ein Mensch verflucht, der zwar ein urgeschichtlicher Wellhausen, Composition, 8 f; vgl. hierzu auch Stade, Kainszeichen, 299  f. Vgl. Gen 12 ff; Dtn  26, 5; 2 Sam  20, 1 u. ö. Zur Sache vgl. Staubli, Image; S. Rosen/G. Lehmann, Hat das biblische Israel einen nomadischen Ursprung? Kritische Beobachtungen aus der Perspektive der Archäologie und Kulturanthropologie, WdO 40 (2010) 160 –189. 83  Vgl. A. Musil, Ethnologischer Reisebericht, Arabia Petraea  3, Wien 1908, 360 (zitiert bei Westermann, 430). 81  82 

Kain und Abel

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Typus ist, gleichwohl schon durch den Gegensatz zu Abel (und Set) als Individuum gezeichnet ist. Kains Antwort ist ganz vom Schrecken über die soeben gehörten Worte V. 13 –14 Jhwhs erfüllt. Sie hat die Form einer „klagende[n] Einrede“84 und enthält die typischen Elemente der Ich-Klage (V. 13b), der Du-Klage (V. 14a) und der Feindklage (V. 14b). Das aus den Klageliedern des Psalters bekannte Element der Unschuldsbeteuerung fehlt aus verständlichen Gründen. Auch die übliche Bitte hat keine Entsprechung. Dementsprechend handelt sich um eine Leidklage, die voraussetzt, dass das Leid unabänderlich ist.85 Die Intention der Ich-Klage in V. 13b wird sehr unterschiedlich bestimmt. Schon die LXX hat in ihr ein Sündenbekenntnis Kains erkannt und übersetzt „Meine Schuld ist zu groß, als dass ich freigesprochen werden könnte“ (Μείζων ἡ αἰτία μου τοῦ ἀφεθῆναί με). Das griechische αἰτία „Schuld/Vergehen“ wird nur hier im Pentateuch als Übersetzung von ʿāwōn gewählt. Es bezeichnet die Ursache für eine Anklage im juristischen Sinne.86 Dem entspricht im religiösen Sprachgebrauch die Übersetzung mit „Sünde“ (Luther). Damit ist das Bedeutungsspektrum des hebräischen Ausdrucks aber nicht abgedeckt, insofern ʿāwōn nicht nur das Vergehen meint, sondern auch seine unabwendbaren Folgen für den Täter im Sinne einer „Strafe“ umfasst.87 Für die deutsche Übersetzung bietet sich am ehesten der Begriff „Schuld“ an, der ebenfalls die beiden Aspekte der Ursache einer Strafe und der Folgen eines Vergehens umfasst. Wenn Kain sagt, dass seine Schuld zu groß sei, um sie zu tragen (*nś  ʾ inf. q.), so wird damit gleichermaßen für die Tat, den Brudermord, wie für die Tatfolgen, die Verfluchung, festgestellt, dass diese für ihn zu schwer sind, als dass er sie schultern könnte. Der Inhalt der Du- und der Feindklage erschließt sich leicht. Gemeinsam entfalten sie die Folgen der Vertreibung vom Ackerboden (vgl. V. 11. 12a und V. 14a) und der Flüchtlingsexistenz (vgl. V. 12b und V. 14b). Kains Klage, Jhwh würde ihn vom Angesicht des Ackers vertreiben (*grš    ), nimmt in verschärfter Form die Entlassung (šlḥ) des ersten Menschenpaares aus dem Garten zur Arbeit auf dem Ackerboden auf (Gen  3, 23; die Steigerungslogik wird durch das *grš in der redaktionellen Notiz in Gen 3, 24 überdeckt). Zur Verdammung vom Ackerboden tritt die räumliche Entfernung von Gott. Beide Aussagen sind aufeinander zu beziehen. Wie auch die Stiftung eines Schutzzeichens durch Jhwh anzeigt, geht es nicht darum, dass Kain sich vor dem Blick Jhwhs verbergen muss (so als unmögliche Option in Ps 139, 7–10; Am 9, 3). Vielmehr ist Kain dem schützenden Blick Jhwhs entzogen (vgl. Ps  88, 15; 102, 3), der 84  Westermann, 419; F. Golka, Keine Gnade für Kain, in: R. Albertz u.  a. (Hg.), Werden und Wirken des Alten Testaments (FS C. Westermann), Göttingen/Neukirchen-Vluyn 1980, 58 –73, 66 (jeweils unter Absehung von V. 13b und mit abweichender Zuordnung der Elemente; vgl. aber Schüle, Prolog, 204). 85  Vgl. Golka, ebd. 86  Vgl. Rösel, Übersetzung, 110  f. 87  Grundlegend: K. Koch, Der Spruch „Sein Blut bleibe auf seinem Haupt“, VT  12 (1962) 396 –  416.

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offenkundig nicht bis an den Ort der Verbannung Kains reicht (vgl. zu den räumlichen Vorstellungen auch Gen 46, 4; 1Sam 26, 19; Jon 1, 3). Dieser Gedanke scheint dem Verfasser wichtig zu sein und wird in V. 16a noch einmal aufgegriffen.88 Dem fehlenden Schutz entspricht die Feindklage, wonach Kain jedermanns (kål mōṣ  e   ʾī ) Mutwillen ausgeliefert ist. Kain strebt keine Amnestie an, sondern nur, dass er mit der Strafe leben V. 15 kann. Diese (unausgesprochene) Bitte seiner Klage wird ihm gewährt: Der Mann, der Jhwhs grundlose Bevorzugung des Bruders nicht zu akzeptieren vermochte, wird seinerseits grundlos unter Jhwhs Schutz gestellt. Seine Tötung durch „jedermann“ (V. 14b) wird mit der Androhung siebenfacher Todesstrafe bewehrt. Dabei ist mit Sicherheit nicht an die siebenfache Tötung eines möglichen Täters gedacht (analog zur mehrfach lebenslänglichen Haftstrafe in einigen modernen Rechtsordnungen), sondern an eine Bestrafung, die außer dem Täter auch die nächsten Angehörigen mit in Haft nimmt (vgl. 2Sam  3, 29; 21, 1 ff ). Diese Vorstellung widerspricht den einschlägigen Bestimmungen der Rechtstexte des Alten Testaments wie des übrigen alten Vorderen Orients, einschließlich seiner regulierten Form der Blutrache. Vermutlich ist daran gedacht, dass die durch die Siebenzahl symbolisierte Vollständigkeit (vgl. Ps 79, 12; Spr 24, 16) von vornherein ausschließt, dass es zum Bruch des Tabus kommt. Selbst für den Brudermörder gilt der Schutz des Rechts. So erblickt die umfassende Ordnung des Lebens durch das Recht, zweifellos die bedeutendste Leistung menschlicher Kultur überhaupt, als Schutzzeichen des Brudermörders das Licht der Welt. Worin das „Kainsmal“ bestanden hat, wird nicht gesagt. Vermutlich konnte es als bekannt vorausgesetzt werden. Am häufigsten wird auf eine Tätowierung (Ez  9, 4; Jes  44, 5) getippt, denkbar wäre auch eine Art Feldzeichen (vgl. Ps  74, 4). Liebenswert ist eine rabbinische Auslegung, wonach Gott Kain einen Hund als Begleiter mitgegeben hat (BerR XXII, 12). Sicher ist nur, dass das Zeichen dem Schutz des Friedlosen und weniger der unabweislich gegebenen Stigmatisierung Kains als Brudermörder gilt. Diese Absicht erklärt auch die Formulierung „Und Jhwh setzte Kain (l e-Qayin) ein Zeichen“ (statt „setzte xy an Kain zum Zeichen“ ʿal Qayin xy l e- ʾōt). Sie hat mitunter zu der Vermutung Anlass gegeben, Kain werde selbst zum Zeichen oder das Zeichen bestünde in Jhwhs Zusage, dass er nicht getötet werde.89 Beides wurde bereits in der rabbinischen Auslegung vertreten. In ihr kann Kain als Zeichen für diejenigen gelten, die umkehren, das Zeichen kann aber auch im Aufschub des Gerichts bis zum Kommen der Sintflut bestehen (BerR XXII, 12). Der Kontext lässt jedoch an ein individuelles und unmittelGunkel, 46. Jacob, 146. Vgl. R.W.L. Moberly, The Mark of Cain – Revealed at Last?, HTR 100 (2007 ) 11–28. Zuletzt hat J.N. Lohr, „So YHWH established a sign for Cain“: Rethinking Genesis 4, 15, ZAW 121 (2009) 101–103, erwogen, dass das abstrakt zu verstehende Zeichen nicht als Merkmal auf Kains Körper zu verstehen sei, sondern auf die zu Kains Schutz errichtete Stadt (Gen 4, 17 ). In diesem Fall wäre ein klärender Rückbezug auf Jhwhs Zusage zu erwarten. Weitere Hinweise zur Auslegungsgeschichte bei R. Mellinkoff, The Mark of Cain, Berkley, CA 1981. 88  89 

Zum Verständnis der Sünde in Gen 2–  4

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bar sichtbares Zeichen denken. Das schließt freilich nicht aus, dass Kain hier zugleich als Ahnherr der Keniter gedacht ist und dass ein bestimmtes, uns freilich unbekanntes Stammeszeichen den Erzähler zu diesem Motiv angeregt hat. Kain nimmt seine Verbannung an. Er zieht fort und siedelt im Land Nod, 4, 16 jenseits von Eden. Kains Auszug und sein gleichermaßen erzwungener wie ermöglichter Neuanfang korrespondieren zum einen mit der Entlassungsnotiz in der Paradieserzählung (Gen 3, 23) und zum anderen mit der erneuten Benennung der Frau (Gen 3, 20), mit der der Mensch lebensbejahend auf die Strafsprüche reagiert hat. Darüber hinaus bereitet der Vers die Städtebaunotiz und die kulturgeschichtlichen Mitteilungen in der nachfolgenden Genealogie der Kainiten vor. Dass sich Kain im Lande Nod niederlässt, wirkt auf den ersten Blick wie ein krasser Widerspruch zur Ankündigung „unstet und flüchtig“ zu leben, doch nimmt der von der Wurzel *nūd „umherirren“ gebildete Name Nod die Wendung nā   ʿ wā-nād „unstet und flüchtig“ auf. Es handelt sich zeitlich wie räumlich gesehen um eine Art Niemandsland. Wie Eden ist Nod ein Symbolname. Auch darin entsprechen sich die Paradiesund die Brudermorderzählung. Der Hinweis, dass das Land östlich von Eden gelegen habe, stimmt zudem mit den geographischen Vorstellungen des weisheitlichen Erzählers vom Garten in Eden überein (vgl. Gen 2, 8 u. ö.; anders redaktionell „Garten Eden“ in Gen  2, 15 u. ö.). Aus dem Garten zur Arbeit auf dem Acker entlassen, wohnt der Mensch zunächst noch außerhalb des Gartens in Eden, nach dem Brudermord lässt sich Kain in Nod, weit außerhalb des Wonnelandes Eden nieder.90

Zum Verständnis der Sünde in Gen 2–  4 Im  5. Kapitel seines Römerbriefes legt Paulus dar, dass durch einen Menschen, Adam, die Sünde und mit ihr der Tod in die Welt gekommen sind (vgl. Röm  5, 12 ff ). Diese Vorstellung hat das christliche Sündenverständnis tief geprägt. Sie ist biblisch, aber nur in einem gewissen Grade alttestamentlich. Wie gesehen, kommt das Begriffsfeld Sünde in der Paradieserzählung nicht vor. Auch wird man Paulus nur mit Einschränkung zustimmen können, dass die Übertretung des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, den Tod in die Welt gebracht hat. Der Mensch ist nach Gen 2 –3 von vornherein mit dem Merkmal der Vergänglichkeit ausgestattet (vgl. Gen  2, 7; 3, 19), und allenfalls mit Blick auf die redaktionelle Endgestalt der Paradieserzählung gilt, dass der wesensmäßig sterbliche Mensch durch die Vertreibung aus dem Garten vom Zugang zum ewigen Leben ausgeschlossen ist (vgl. Gen 3, 22). Terminologisch begegnet die Sünde erstmals in der Erzählung von Kain und Abel. Hier wird sie zweimal erwähnt, und zwar gleich in differenzierender 90 

Vgl. Witte, Urgeschichte, 169. Gegen Gertz, Adam, 235 ist V. 16b kein Nachtrag.

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Weise: Zum einen geht es um die Verfehlung, die ein Gemeinschaftsverhältnis verletzt und die sich zu einem Dämon auswachsen kann (ḥaṭṭāt „Sünde“ in Gen 4, 7 ), zum anderen um das Vergehen und seine unabwendbaren Folgen für den Täter ( ʿāwōn „Schuld“ in Gen 4, 13). Man ist versucht, im Widerspruch zu dem von Paulus geprägten Verständnis die Erzählung von Kain und Abel angesichts der Nichterwähnung der Sünde in der Paradieserzählung und ihrer Ersterwähnung in Gen  4, 7 zur eigentlichen Sündenfallerzählung zu erklären.91 Dies ist möglich, beschreibt aber die inhaltliche Bewegung der beiden Erzählungen mit Blick auf das Thema Sünde nur unvollständig. Es fällt auf, dass die Paradieserzählung und die Erzählung von Kain und Abel eine große Parallelität im Aufbau aufweisen.92 Auf die Exposition und Darlegung der Ausgangssituation (Gen 2, 4  –15//Gen 4, 1–5) folgen jeweils eine göttliche Warnung (Gen  2, 16 f//Gen  4, 7 ), die Missachtung der Warnung (Gen  3, 1–7//Gen  4, 8), eine erste mit „Wo?“ und eine zweite mit „Was?“ eingeleitete Frage Gottes (Gen 3, 9+13//Gen 4, 9+10), ein Fluchspruch und die Darlegung der Folgen für die Menschen (Gen  3, 14  –19//Gen  4, 11–12), eine Notiz über Gottes Fürsorge für die betroffenen Menschen (Gen 3, 21// Gen  4, 15) sowie die Ausweisung der Menschen vom Ort des Geschehens (Gen  3, 23 f//Gen  4, 16). Hinzu kommen vielfach festgestellte terminologische Querbezüge, die sich sämtlich auf die Übertretung des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und deren Folgen beziehen. Dieser Befund ist kaum zufällig. Er lässt sich damit erklären, dass beide Erzählungen (neben anderen ebenso gewichtigen Themen) eine gemeinsame Frage behandeln, und zwar wie die Sünde in die Welt gekommen ist. Dabei wird mit der Übertretung des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, jedoch nur die Bedingung der Möglichkeit zur Sünde geschaffen, nämlich das Wissen um gut und schlecht und die damit verbundene Wahlmöglichkeit. Die Warnung Gottes an Kain spielt mit der Forderung „es gut sein zu lassen“ (Gen  4, 7 ) deutlich auf diese Wahlmöglichkeit an. Die Sünde ist dem Menschen weder wesenhaft eigen noch angeboren, sie ist ihm aber als Gefährdung seiner Entscheidung zwischen gut und schlecht unmittelbar nahe. Bekanntlich entscheidet sich Kain anders, woraufhin die Sünde erstmals Wirklichkeit wird. Obgleich Folge der Übertretung eines göttlichen Gebots, ist die menschliche Autonomie, sich zwischen gut und schlecht zu entscheiden, für sich genommen keine Sünde, sondern nachparadiesische Realität. Sie kann aber zur Sünde führen.93 Mit Blick auf Gen  4 und die weiteren Erzählungen der Urgeschichte drängt sich freilich der Eindruck auf, dass sich für den weisheitlichen Erzähler der Mensch durch den Hang auszeichnet, die falsche Alternative zu wählen (vgl. Gen 6, 5).

Für diese Tendenz in der neueren Auslegungsgeschichte vgl. Schüle, Prolog, 155 f u. ö. Vgl. zuletzt Heyden, Sünde, 103  f. 93  Mit Crüsemann, Autonomie, 69. 91  92 

Kainiten und Setiten

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2. Genesis 4, 17–26: Kainiten und Setiten Die Brudermorderzählung endet nicht mit der Vertreibung Kains, sondern 4, 17–26 mündet in die Genealogie seiner direkten Nachkommen (Gen  4, 17–24), in die einige kulturhistorische Notizen (Gen  4, 20 –22) und das Lamechlied (Gen  4, 23 –24) eingewoben sind. Hierauf folgt eine genealogische Erzählung zu dem drittgeborenen Sohn des ersten Menschenpaares, Set, und dessen Sohn Enosch (Gen  4, 25 –26).94 Genealogien dienen in frühen, durch Sippenverbände geprägten Gesellschaften der Wahrung und Abgrenzung sozialer Ansprüche und der verwandtschaftlichen Zusammengehörigkeit. Egal ob fiktiv oder real, stellen sie ein wesentliches Ordnungsprinzip dar, das Individuen wie Gruppen in Zeit und Raum verortet.95 Als solche haben Genealogien primär eine soziale und weniger eine historiographische Funktion. Die Akzente können sich verschieben, sobald eine Genealogie wie in Gen  4, 17–24 im literarischen Zusammenhang verwendet oder für einen literarischen Zusammenhang konzipiert wird. Doch abgesehen von der unstrittigen Feststellung, dass das Gegenüber von Kainiten- und Setitengenealogie die Geschichte der vorsintflutlichen Menschheit darstellt und darin die gemeinsamen Ursprünge aller Menschen festhält, lässt sich die Funktion der beiden Genealogien nicht leicht beschreiben. Genealogien sind in vergleichbaren urgeschichtlichen Texten des alten Vorderen Orients häufig mit der Legitimation der politischen Ordnung verbunden und laufen auf das Königtum hinaus. Dies ist in Gen  4 eindeutig nicht der Fall, zumal nach dem Erzählverlauf die Linie der Kainiten mit der Sintflut endet. Sie hat daher eher die Funktion, die Zeit zwischen Brudermord und Sintflut zu überbrücken. Häufig wird die Kainitengenealogie kulturhistorisch gelesen. Hierfür lässt sich auf die breit belegte Verbindung urzeitlicher Genealogien und Aussagen zur Kulturentstehung verweisen. So ist für die phönizische Geschichte des Philo von Byblos eine vierzehngliedrige urzeitliche Genealogie von Kulturbringern auf den Gebieten der Ernährung (Ackerbau, Jagd, Fischfang), des Handwerks (Schiffe, Häuser, Bekleidung, Medizin, Schreibkunst) und des Kultes überliefert.96 Eine vielfach vertretene kulturkritische Variante dieser Lesart der Kainitengenealogie beruft sich darauf, dass der kulturelle Fortschritt sämtlich den Nachkommen des Brudermörders Kain zugeschrieben wird. Dass es in Gen 4, 17–26 auch um Kulturentstehung geht, ist angesichts der ätiologischen Grundausrichtung der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers und mit Blick auf die Literaturen des alten Vorderen Orients kaum zu bestreiten. Die Kulturgeschichte steht aber nicht im Zentrum, sind doch von Zur Terminologie vgl. Hieke, Genealogien, 18 –20. Vgl. R.R. Wilson, Art. „Genealogy, Genealogies“, ABD II (1992) 929 –932 . 96  Zur „phönizischen Geschichte“ des Philo von Byblos s.  o. S.  43 Anm. 53. Zu der bei Euseb überlieferten Genealogie der Kulturbringer (Praeparatio Evangelica I 10, 7–14a) vgl. Ebach, Weltentstehung, 90 –273. 94  95 

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Irad, Mehujaël, Metuschaël und Lamech und im vorliegenden Textzusammenhang auch von Henoch keine entsprechenden Taten überliefert. Zudem strebt die Aufzählung keinerlei Vollständigkeit an. Der für eine kulturkritische Lesart angeführte pessimistische Grundton ist zwar nicht zu überhören. Er verdankt sich aber dem Schlussakkord, den das Lamechlied setzt, und weniger der Aufzählung kultureller Errungenschaften. Gegen eine betont kulturkritische Lesart spricht zudem, dass Jhwh mit der Bekleidung des ersten Menschenpaares und dessen Entlassung zum Ackerbau (cultura) selbst den Anfang dieser Entwicklung gesetzt hat. Auch ist weder für das Wohnen in Zelten und die Viehwirtschaft noch für die Musik eine negative Bewertung im Kontext des Alten Testaments als wahrscheinlich anzunehmen. Für das Metallhandwerk mag sich dies wegen der Möglichkeit der Herstellung von Waffen und der abschließenden Verherrlichung der Gewalt im Lamechlied auf den ersten Blick anders darstellen. Es fällt aber auf, dass jegliche Angabe über die Produkte fehlt. Das Metallhandwerk kann zum Guten oder zum Bösen dienen (vgl. Jes  2, 4). Das gilt im Übrigen auch für die vermeintlich harmlosen Künste der Musik und Dichtkunst, wie schon als ihr erstes Beispiel das Lamechlied vor Augen führt. Dass die Heroen der Kulturgeschichte gleichsam in Sippenhaft für die Taten ihres Vaters Lamech und ihres Ahnen Kain genommen werden, ist auch nicht zu erkennen. Vielmehr enthält sich der Text jeglicher Bewertung der kulturellen Eigenschaften und ihrer Ahnherren – sei es zum Guten oder Schlechten. So ließe sich auch im Vergleich mit entsprechenden Aufzählungen in anderen Literaturen von einer betont neutralen Darstellung der kulturellen Entwicklung sprechen. Ambivalent sind nicht die kulturellen Errungenschaften, ambivalent ist ihr Gebrauch. Dies wiederum fügt sich gut in das Gesamtbild von Gen 2, 4  –  4, 26. Der Auftakt der Genealogie knüpft mit der Wortfolge *yd   ʿ „erkennen“, V. 17 *hrh „schwanger werden“ und *yld „gebären“ an V. 1 an. Wie erwähnt, wird *yd   ʿ in alttestamentlichen Genealogien nur in Gen 4, 1. 17. 25 für das Zeugen eines Kindes verwendet. Durch den außergewöhnlichen Sprachgebrauch stellt der weisheitliche Erzähler den Zusammenhang mit der Paradieserzählung heraus (vgl. *yd   ʿ in Gen 2, [9]. 17; 3, 5. 7. [22]) und legt zugleich mit den Mitteln der Genealogie dar, wie sich nach der ersten Zeugung der Menschheit (Gen  4, 1) und dem Brudermord die vorsintflutliche Menschheit auf zwei Linien aufteilt (Gen  4, 17. 25). Ferner nimmt die Formulierung „er wurde der Erbauer einer Stadt“ diejenige der Berufsangaben zu Kain und Abel in Gen 4, 2 auf (jeweils *hyh mit Partizip). Anders als in V. 1 wird der Name der Frau nicht genannt; ebenso wenig wird gesagt, woher Kain seine Frau genommen hat. Die Tradition hat schon früh an eine Schwester gedacht. Im Hintergrund dieser Annahme steht außer der praktischen Notwendigkeit eine exegetische Überlegung zur Notiz über Abels Geburt in Gen  4, 2. Die zweifache nota accusativi ( ʾæt) vor „seinen Bruder“ und vor „Abel“ ist an der zweiten Stelle redundant, weshalb sie teilweise als „mit ( ʾæt ; beide Wörter sind in der Grundform gleichlautend) Abel“ gelesen und als Hinweis auf die Geburt einer Zwillingsschwester gedeutet wurde (bJev 62a).

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Dass Kain nach seiner Vertreibung einen Sohn zeugt (V. 17a), entspricht im Handlungsverlauf der Benennung der Frau als Eva und Mutter alles Lebendigen in Gen  3, 20 im Anschluss an die göttlichen Strafsprüche und der auf die Entlassung aus dem Garten folgenden Zeugung von Kain und Abel.97 Ebenso markiert das Erbauen einer Stadt einen Neuanfang (V. 17b). Es wird häufig als trotzige Reaktion des vertriebenen Brudermörders beurteilt, der sich dem Fluch einer „unsteten und flüchtigen“ (V. 14) Existenz entziehen möchte.98 Doch die Parallelität zum Ausgang der Paradiesgeschichte wie auch die beiden möglichen Lesarten von V. 17b sprechen gegen dieses negative Verständnis: Nach dem vorliegenden Textzusammenhang ist Kain der Erbauer der Stadt (vgl. 1Sam  30, 29), die er jedoch für seinen Sohn Henoch baut. Deswegen trägt diese den Namen der neuen Generation der Nachkommen Kains,99 was durch den Wortanklang von bōnǣ „Erbauer“ und b enō „seinen Sohn“ vielleicht noch unterstrichen werden soll.100 Kain würde sich dem Fluch also selbst nicht entziehen. Der Name des Sohnes Henoch (Ḥ anōk) leitet sich von einer Wurzel *ḥnk „einweihen, gründen“ ab und bedeutet entsprechend „Gründer“. Die nach ihm benannte Stadt hieße dann „Gründung“ oder „geweihter Platz“. Henoch ist im Alten Testament mehrfach als Personenname belegt (vgl. Gen  5, 18, ferner der Sohn Midians und Enkel Abrahams nach Gen 25, 4; 1Chr 1, 33 sowie der Erstgeborene Rubens nach Gen 46, 9; Ex 6, 14; Num 26, 5; 1Chr 5, 3), während eine geographische Identifizierung unmöglich ist. Dies legt den Verdacht nahe, dass es sich beim Ortsnamen „Henoch“ um eine rein literarische Bildung handelt.101 Überdies ist zu erwägen, ob Kain nicht erst nachträglich zum Stadtgründer gemacht wurde. Nach dem üblichen Sprachgebrauch wäre zu erwarten, dass sich die Notiz „er war der Erbauer einer Stadt“ auf den zuvor genannten Namen zurückbezieht, mithin Henoch gemeint ist. Hierfür spricht auch die formale Entsprechung zu Gen  4, 20 –22, wo auf die Geburtsnotiz bzw. Namensgebung jeweils unmittelbar eine Angabe über die Tätigkeit des Sohnes folgt. Dass dieses naheliegende Textverständnis in V. 17b wegen der nochmaligen Nennung Henochs zum Schluss ausgeschlossen ist, legt den Verdacht einer Textverderbnis oder Überarbeitung nahe. Schon Budde hatte vermutet, dass in V. 17b ein ursprüngliches kišmō ḥ     anōk „nach seinem Namen Henoch“ in ke-šēm benō ḥ     anōk „nach dem Namen seines Sohnes Henoch“ verschrieben

97  Die  LXX scheint diesen Zusammenhang herausstellen zu wollen, indem sie V. 17 mit καί „und“ als Abschluss zur Brudermorderzählung zieht und den mit δέ markierten Einschnitt erst in V. 18 folgen lässt. Vgl. Rösel, Übersetzung, 112  f. 98  So Witte, Urgeschichte, 169, allerdings unter der Vorgabe, dass das Bekenntnis zum Leben in Gen 3, 20 als „Trotzreaktion des Menschen auf Jahwes Fluchworte“ zu verstehen sei. Damit lässt sich jedoch kaum vereinbaren, dass Jhwh in den Strafsprüchen die Weitergabe des Lebens durch die Frau selbst anspricht. 99  Mit Seebaß, 167. 100  Vgl. Cassuto, I 231. 101  Jericke, Art. „Henoch“, odb (2016 ).

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sei.102 Wahrscheinlicher ist indes, dass die zweite Nennung Henochs eingetragen wurde, entweder aus Versehen oder weil man irrtümlich in Kain den Erbauer sah.103 In diesem Fall hätte V. 17b ursprünglich gelautet: „und er (= Henoch) wurde der Erbauer einer Stadt und benannte die Stadt nach dem Namen seines Sohnes“.104 Dies würde gut zur Bedeutung des Namens Henoch passen. Zudem ließe sich der Name von Henochs Sohn Irad (V. 18) unschwer mit dem Namen des im südlichen Mesopotamien gelegenen Eridu (Tell Abū Šaḫrēn) in Verbindung bringen. In der Überlieferung Mesopotamiens gilt sie als die älteste Stadt der Welt und wurde (wie andere Städte auch) bereits vor der Flut gegründet. Nach Mesopotamien weist auch die Vorstellung, dass die Stadt die Mutter der Kultur ist, der die Zeltbewohner und Nomaden deutlich nachgeordnet sind.105 Hinzu kommt schließlich, dass im Namen Irad ( ʿĪrād    ) das hebräische ʿīr „Stadt“ anklingt.106 Nicht erwähnt wird, woher schon in der zweiten oder dritten Generation die Bewohner einer Stadt kommen sollen. Das hat immer wieder Anstoß erregt und ist als Indiz gewertet worden, in Gen  4, 17 ff sei eine Genealogie aufgenommen worden, die ursprünglich nicht in einen urgeschichtlichen Kontext gehört habe. Dies ist einerseits möglich. Es ist andererseits aber auch zu bedenken, dass ähnlich wie im Fall der Frau Kains solche „Leerstellen“ fast zwangsläufig auftreten, wenn die Menschheitsgeschichte als Geschichte der Nachkommen eines Menschenpaares vorgestellt ist. Ohne weitere Angaben eilt die Genealogie über drei Generationen hinweg V. 18 –19 zu Lamech weiter (V. 18). Die Bedeutung des Namens Irad ist unbekannt, aber anspielungsreich (s.  o.), die Namen Mehujaël „Gott macht lebendig“ und Metuschaël „Mann Gottes“ sind typisch westsemitische Namensbildungen mit dem theophoren Element ʾēl „Gott“. Die Bedeutung des Namens Lamech ist wiederum unklar, dafür weiß die Genealogie aber einiges über ihn zu berichten. Das unterstreicht die Wichtigkeit Lamechs im Aufriss des Ganzen, ist doch mit ihm der traurige Höhepunkt der Kainitengenealogie erreicht. Das negative Urteil ist allerdings erst mit dem Zitat des Lamechliedes gesprochen, auch wenn die Erwähnung von den beiden Frauen Lamechs gerne als Zeichen des sittlichen Verfalls gedeutet worden ist. Dass Lamech hier wegen der Einführung der Polygamie kritisiert werde, ist jedoch abwegig (vgl. dazu nur Jakob und seine Frauen in Gen 29 f ). Vielmehr wird Lamech Budde, Urgeschichte, 120 –123. Die Glosse muss relativ früh in den Text geraten sein, da MT und die antiken Versionen übereinstimmen. 104  Vgl. Cassuto, I 228 –231. Dass in diesem Fall die Notiz über die Geburt des Sohnes streng genommen zu spät kommt (vgl. Day, Creation, 57 Anm.  14), könnte der engen Verbindung von Geburtsnotiz und Tätigkeit einerseits und der strengen genealogischen Abfolge in V. 18 andererseits geschuldet sein. 105  Vgl. für beides den Anfang der sumerischen Königsliste: „Als das Königtum vom Himmel heruntergekommen war, war das Königtum in Eridu …“ (Einleitung und Übersetzung: W.H.Ph. Römer, Die sumerische Königsliste, TUAT I, 328 –337 ). 106  Herkunft, Etymologie und Bedeutung dieses und der folgenden Namen sind zumeist völlig ungewiss. Vgl. Hess, Personal Names, 37–67. 102  103 

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als eine gewichtige Persönlichkeit eingeführt, die zwei Frauen (V. 19), drei bedeutende Söhne und eine schöne Tochter hat (V. 20 –22).107 Zudem erlaubt die Erwähnung der beiden Frauen, deren Namen im Lamechlied vorausgesetzt sind, ein Verzweigen der Nachkommen Lamechs in zwei Gruppen, sodass aus der linearen Kainitengenealogie in ihrem letzten Glied eine segmentäre Genealogie wird (so auch in Gen  5, 1–32; 11, 10 –26). Der Name der erstgenannten Frau, Ada, hängt mit der Wurzel * ʿdh „schmücken“ zusammen. Der Name der zweiten Frau, Zilla, hat wohl die Bedeutung „[im] Schatten/Schutz [der Gottheit]“. Ada gebiert die Brüder Jabal und Jubal, Zilla einen Sohn namens Tubal- V. 20 –22 Kain und dessen Schwester Naama. Den drei Söhnen sind kulturelle Errungenschaften zugeordnet, von Naama wird lediglich der Name genannt. Jabal gilt als Ahnherr („Vater“) der nomadisierenden Viehhirten, deren Lebensweise durch das Wohnen in Zelten und das enge Beieinander von Mensch und Viehherden charakterisiert ist (vgl. Gen 13, 5; 25, 27 ). Aus der Verzweigung der Kainitengenealogie in der Generation der Lamechsöhne folgt, dass nicht alle Kainiten diese Lebensweise pflegten. Dies gilt selbst für die Musiker und Spielleute, als deren Ahnherr Jubal, der „sinnige Bruder von Jabal“108 eingeführt wird. Zwar werden die Anfangsgründe der Musik wie beim Hirtengott und Flötenspieler Pan gerne mit dem Hirtenleben in Verbindung gebracht, die Gruppe derer, die professionell die Leier (kinnōr) und die Flöte ( ʿūgāb) spielen, ist aber nicht auf fahrende Musikanten beschränkt. So hat es im Umfeld von Palast und Tempel professionelle Musiker und Musikerinnen gegeben.109 Vergleichbares lässt sich auch für Metallhandwerker belegen. Ein solcher Vorgriff auf staatliche Verhältnisse liegt unbeschadet der Situierung des weisheitlichen Erzählers in der staatlichen Zeit sicher jenseits der Erzählperspektive von Gen 4, 22. Gleichwohl macht er deutlich, dass trotz des ethnologischen und ikonographischen Vergleichsmaterials die beliebte Lesart, wonach die drei Brüder typische Repräsentanten sogenannter „Wüstenzigeuner“ sind, mit einiger Unsicherheit behaftet ist.110 Ganz ungewiss ist schließlich die Etymologie der Namen Jabal und Jubal, der lautliche Gleichklang von Jabal, Jubal und Tubal(-Kain) ist sicher gewollt. Vielleicht soll im Namen des Musikers Jubal auch das yōbēl „Widderhorn“ anklingen. Wie bei seinen Brüdern ist die genealogische Angabe zu Tubal-Kain durch eine Berufsbezeichnung erweitert. Allerdings fehlt bei Tubal-Kain die Bezeichnung „Vater“, stattdessen ist in einer möglicherweise verderbten Mit Seebaß, 169. Anders vor allem die Auslegungen im 19. und frühen 20. Jh. Jacob, 148  f. Dort auch der Hinweis auf Pan. 109  Dies geht aus der Aufzählung der von König Hiskia geleisteten Tribute in Sanheribs Bericht über seinen dritten Feldzug hervor (R. Borger, TUAT I, 388 –391, 390). 110  Grundlegend für die nomadisierende Deutung (und Abgrenzung der Genealogie gegenüber der im sesshaften Milieu beheimateten Brudermorderzählung) ist Stade, Kainszeichen, 255, 259 –262 . Zum Vergleichsmaterial vgl. Staubli, Image, 150 –158 sowie die dort beschriebene Darstellung bergbaukundiger, jagender und musizierender Nomaden an der Nordwand des Grabes des Chnumhotep II. (12 . Dynastie um 1900 v. Chr.; vgl. a.a.O., 30 –35 mit Abb. 15). 107  108 

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Formulierung von seiner Tätigkeit als „Metallschleifer für jeden, der Kupfer oder Eisen schmiedet“ die Rede. Diese Formulierung legt nahe, dass es sich womöglich nicht um einen gewöhnlichen Schmied, sondern um einen Spezialisten für die Herstellung und Reparatur von Werkzeugen handelt (vgl. 1Sam  13, 20; Ps  7, 13). Auf jeden Fall geht es um das Metallhandwerk, das von den biblischen Autoren als ein entscheidender Entwicklungsschritt begriffen wurde (vgl. 1Sam 13, 20 –22; 1Kön 7, 14). Der Sohn der Zilla trägt den ersten Doppelnamen in der Bibel. Da die LXX mit Θοβελ nur den ersten Teil wiedergibt, wurde Kain wiederholt für einen Zusatz gehalten. Hierfür könnte auch die Paronomasie der Namen Jabal, Jubal und Tubal sprechen. Der Name Tubal lässt sich mit dem späthethitischen Fürstentum Tabal an der kleinasiatischen Nordgrenze des neuassyrischen Reiches in Verbindung bringen (s.  u. zu Gen 10, 2), das in der Antike für sein Metallhandwerk bekannt war (vgl. Ez  27, 13).111 Der zweite Teil des Namens, Kain, weist ebenfalls in den Bereich der Metallverarbeitung (s.  o. zu Gen 4, 1). Erwogen wurde, dass der Doppelname auf der Identifizierung zweier ehedem selbständiger Personen beruht, etwa „eines palästinischen Ahnherrn der Handwerker- und Schmiedekunst, Kain, mit Tubal, dem Repräsentanten der Eisenbearbeitung aus dem Land, in dem die Fertigkeit zuerst entwickelt wurde.“112 Weniger voraussetzungsreich und daher als Erklärung vorzuziehen ist jedoch die Deutung als Beiname: „Tubal der Schmied“.113 Da Doppel- und Beinamen zur Unterscheidung mehrerer Träger ein und desselben Namens im Alten Testament nicht belegt sind, wurde er kaum mit Blick auf den ebenfalls Tubal genannten Sohn Jafets (Gen  10, 2; 1Chr  1, 5) vergeben. Eher ließe sich vermuten, dass der Beiname neben seiner erklärenden Funktion aus kompositionellen Gründen gewählt wurde. Klingt beim letzten männlichen Nachkommen Kains der Name des Ahnherrn an, so werden dadurch die Brudermorderzählung in Gen  4, 1–16 und die Kainitengenealogie in Gen  4, 17–24 noch deutlicher aufeinander bezogen. Der Name der Schwester, Naama (vgl. 1Kön  14, 21. 31), bedeutet „Liebliche“ oder „Wonne“. Anders als bei ihren Brüdern wird außer dem Namen nichts mitgeteilt, was schon früh die Phantasie der Ausleger angeregt hat. Nach rabbinischer Auslegung ist sie die Frau Noachs oder die Ahnherrin aller Musikerinnen (BerR XXIII, 3). Letzteres beruht auf einer Verbindung ihres Namens mit dem mittelhebräischen n e   ʿīmā „Gesang“ (vgl. Sir 45, 9) und hat in den Targumim zu der Erläuterung „Sie war eine Herrin der Klagen und Gesänge“ geführt (TJ zu V. 22; vgl. auch TN). Doch diese Symmetrie, gemäß der jede Frau Lamechs zwei bedeutende Kinder hat, scheint im biblischen Text nicht angestrebt zu sein. Da Frauen in den alttestamentlichen Genealogien in der Regel nur erwähnt werden, wenn sie für die Darstellung 111  In dem Namen des Fürstentums hat sich eventuell das hurritische tabališ „Schmied“ aus älterer Zeit erhalten. 112  Ebach, Weltentstehung, 345, im Anschluss an Gunkel, 50  f. 113  Wellhausen, Composition, 306 und zuletzt Seebaß, 170.

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der Abstammungslinie oder in anderer Hinsicht eine besondere Bedeutung haben,114 wird die Erwähnung der Tochter wie der Beiname Kain in V. 22 vielmehr ein Hinweis darauf sein, dass mit V. 20 –22 eine genealogische Notiz aus einem anderen Kontext aufgenommen wurde. Die Erwähnung der Tochter erklärt sich dann mit einem verloren gegangenen Zusammenhang, in dem diese eine wichtige Rolle gespielt haben dürfte, mutmaßlich als Mutter weiterer bedeutender Stammesangehöriger. Die kleine Aufzählung kultureller Leistungen hat immer wieder zu Fragen nach dem realgeschichtlichen Hintergrund und möglichen traditionsgeschichtlichen Verbindungen angeregt. Dies liegt angesichts des urgeschichtlichen Kontextes und seines ätiologischen Charakters sowie der Analogie in anderen Literaturen des alten Vorderen Orients und der klassischen Antike nahe. Doch sollte den beiden Versen nicht mehr an Information abverlangt werden, als sie tatsächlich bieten können. Das gilt insbesondere für Überlegungen zum Verhältnis von Jäger-, Acker- und Stadtkultur oder nach einem im Text vorausgesetzten Verhältnis von der Bronze- zur Eisenzeit (zuweilen wurde in Lamech auch ein faustkeilschwingender Höhlenmensch erkannt). Gen  4, 20 –22 bietet keine Darstellung der Ur- und Frühgeschichte im modernen Sinn, sondern eine Ätiologie von Lebensverhältnissen, die in der Wahrnehmung der Autoren und intendierten Leser gleichzeitig existiert haben. Andererseits sollte in einer Kritik an einer kulturgeschichtlichen Lesart auch nicht überbewertet werden, dass dem Wortlaut nach keine Notizen zur Erfindung von Kulturleistungen, sondern zu deren Praxis vorliegen.115 Für den vorliegenden Kontext ergibt sich der Eindruck des Erstmaligen schon aus dem Umstand, dass von den betreffenden Techniken zuvor nichts verlautet und auch keine anderen Personen als Erfinder in Frage kommen. Dass es vornehmlich um eine Ätiologie der Lebensweise geht, steht dazu nicht im Widerspruch. „Die ersten Erfinder gelten hier zugleich als Urahnherren des Kreises, in dem Erfindung gegenwärtig besteht“116, was wiederum Lebensverhältnissen entspricht, in denen Berufe vom Vater auf den Sohn übergehen. Da Ätiologien auf die Gegenwart ihrer Verfasser zielen, musste natürlich die Frage aufkommen, wie die Kulturtechniken der Kainiten die Sintflut überstehen konnten. Der Text gibt darauf keine Antwort, mit Blick auf seinen Altarbau und sein Opfer könnte man an Noach als Kulturträger denken (Gen 8, 20 f; vgl. außer dem technischen Wissen für den Bau der Arche noch die Episode über den Acker- und Weinbauern Noach in Gen 9, 20 f ). Der Gedanke, dass die grundlegenden Ordnungen und kulturellen Errungenschaften aus der Zeit vor der Flut stammen, entspricht jedenfalls der mesopotamischen Fluttradition. Allerdings wird dort ausdrücklich angesprochen, wie das vorsintflutliche Wissen fortbestehen konnte. So wird berichtet, dass neben den Tieren auch die Vertreter aller Künste mit auf die Arche genommen worden seien (vgl. Gilgm XI, 86). Andere wussten, dass der Sintflutheld Tontafeln mit dem vorsintflutlichen Wissen vergraben habe und dass diese Tafeln dann den Grundstock der Bibliothek von Babylon bildeten (Berossos II, iii). Hierbei geht es freilich weniger um eine Lösung für ein erzähllogisches Problem als um die Sukzession des uranfänglich göttlich vermittel-

Vgl. dazu den Überblick bei Hieke, Genealogien, 278 –298. Anders Seebaß, 169  f. 116  Gunkel, 51. 114  115 

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ten (Herrschafts-)Wissens.117 Dieser Aspekt spielt wiederum in der alttestamentlichen Überlieferung keine Rolle, weshalb aus der vermeintlichen Inkohärenz des alttestamentlichen Erzählverlaufs keine weitreichenden redaktionsgeschichtlichen Schlüsse gezogen werden sollten.118

V. 23 –24 Höhepunkt und Abschluss der Kainitengenealogie ist das Lamechlied. Die

knappe Einführung („Da sagte Lamech zu seinen Frauen“) nennt die beiden Frauen Lamechs als Adressatinnen. Das Lied selbst ist im prägnanten Rhythmus von drei Doppelversen (Bikola) gehalten, deren Teilverse semantisch und inhaltlich jeweils parallel zueinander stehen (     parallelismus membrorum). Im Erzählverlauf von Gen  2, 4b–  4, 26 markiert das Lied nach der Übertretung des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, durch das erste Menschenpaar und nach Kains Brudermord den dritten Einschnitt in einer offenkundig als Steigerung angelegten „Geschichte des Anwachsens der Sünde und damit Hand in Hand gehend, einer immer tieferen Zerstörung der ursprünglichen Lebensordnungen … – nun wird die Ausübung der Rache (die sich Gott vorbehalten hat!) vom Menschen beansprucht; sie wird ganz maßlos, und der Mensch brüstet sich dessen gar.“119 Das Lied ist gut in seinen jetzigen Kontext eingebunden. Die Namen der im Höraufruf genannten Frauen Lamechs sind konstitutiver Bestandteil der Kainitengenealogie, insofern sie deren Segmentierung in der letzten Generation ermöglichen. Der abschließende Doppelvers bezieht sich mit der Erwähnung Kains und durch die wörtliche Aufnahme von V. 15 (*nqm q. pass. „gerächt werden“) auf die Brudermorderzählung zurück. Die genannten Rückbezüge lassen sich nicht überzeugend als Nachträge ausweisen,120 weshalb sich die viel diskutierte Frage nach der Aufnahme eines alten Liedes und seines möglichen Sitzes im Leben auf die zweite Zeile des Liedes (V. 23b „Einen Mann tötete ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Strieme!“) oder besser noch auf die Gattung des Liedes eingrenzen lässt. Am ehesten lässt es sich als Prahl- oder Siegeslied bezeichnen, das selbstbewusst von den Taten des Helden spricht. Vergleichbare Lieder finden sich wiederholt im Alten Testament, etwa das humoristisch-blutige 117  Vgl. dazu B. Pongratz-Leisten, Herrschaftswissen in Mesopotamien. Formen der Kommunikation zwischen Gott und König im 2 . und 1. Jahrtausend v. Chr., SAA  10, Helsinki 1999, 293 –301, 312  f. 118  Anders Wellhausen, Composition, 8, 10, und zuletzt Levin, Jahwist, 98, sowie Kratz, Komposition, 252 , die in Gen 4, 17–27 (und andernorts) einen Kernbestand der nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte identifizieren, die noch nichts von der Sintflut gewusst habe. 119  von Rad, 82 . 120  Die Nennung von Ada und Zilla gehört nicht mehr zur Einführung des Liedes, sondern zum Höraufruf. Sie ist fester Bestandteil des ersten Doppelverses des Liedtextes, womit der für eine literarkritische Ausscheidung vorgebrachte Hinweis auf eine umständliche Einführung, in der die beiden Frauen nochmals namentlich genannten werden, ins Leere läuft. Anders Dietrich, Bruder, 161; Levin, Jahwist, 101. Zur vielfach geäußerten Annahme, ein unterschiedlicher Gebrauch von *nqm q. pass. in V. 15 („der Rache verfallen“) und V. 24 („gerächt werden“) mache eine gemeinsame Verfasserschaft unmöglich (vgl. Wellhausen, Composition, 9), s.  o. S. 151 Anm. 8.

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Siegeslied Simsons („Mit dem Kinnbacken eines Esels [erschlug ich] einen Haufen, zwei Haufen, mit dem Kinnbacken eines Esels erschlug ich tausend Mann“; Ri  15, 16) oder der Gesang der tanzenden Frauen (  !  ) bei Davids Rückkehr („Saul hat seine Tausende erschlagen, und David seine Zehntausende“; 1Sam  18, 7 ). Über den konkreten Anlass für das ohne Kontext dargebotene „Entzücken über die herrliche Kraft des Helden“121 lässt sich nur spekulieren. Die genannten Parallelen aus städtischem Milieu sprechen jedenfalls gegen die Zuspitzung, dass sich hier der Charakter der Nomaden im allgemeinen122 oder der Lamechsippe im besonderen123 zeige. So wird man sich mit der Feststellung begnügen müssen, dass der weisheitliche Erzähler ein überkommenes Prahl- oder Siegeslied (V. 23b) aufgenommen hat oder lediglich den Vorgaben der Gattung gefolgt ist, um im Kontext der Brudermorderzählung den prototypischen Charakter des in seiner Selbstbehauptung maßlosen Lamech herauszustellen. Schon die erste der beiden auf den zweifachen Höraufruf (vgl. Jes  32, 9) folgenden Aussagen zeugt von Lamechs übersteigertem Selbstwertgefühl und seinem heldischen Autismus. Da kaum anzunehmen ist, dass der im ersten Teilvers genannte Mann und der im zweiten Teilvers genannte Knabe ein und dieselbe Person sind, ist der Ausspruch deutlich als Steigerung angelegt. Schon die Vergeltung einer Fleischwunde (pǣṣa ʿ) mit dem Tode setzt den Gedanken der angemessenen Vergeltung außer Kraft, wie er der berühmten Talionsformel zugrunde liegt („Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme“; Ex 21, 23b–25). Erst recht dürfte die Tötung eines Knaben um eines Schlages oder einer Strieme (ḥabbūrā ) willen, dem Rechtsempfinden nicht nur nach alttestamentlicher Auffassung Hohn sprechen. Vollends die 77–fache Rache bricht mit den Prinzipien jeder um Schadensbegrenzung und Konfliktregelung bemühten Rechtsordnung und rühmt stattdessen die ins Maßlose gesteigerte Vergeltung, wie ein Vergleich mit dem Schicksal Kains zeigt. Im Falle Kains soll die durch die Siebenzahl symbolisierte Vollständigkeit von vornherein ausschließen, dass es zum Bruch des von Jhwh zum Schutz Kains gesetzten Tabus kommt. Hingegen verabschiedet sich Lamech mit dem Anspruch auf eine gegenüber Kain verelffachte (V. 24) und gegen Groß und Klein selbst ausgeübte (V. 23b) Rache von Jhwh als dem Garanten des Schutzes des Lebens und des Rechts. Am Ende der Kainitengenealogie erscheint das Gegenüber nur noch als Feind.124 Innerhalb der Urgeschichte ist die Reaktion auf diesen zum Größenwahn gesteigerten Hochmut die ihrerseits maßlose Strafe Jhwhs in der Flut, die Gunkel, 52 . Wellhausen, Composition, 307: „Und wie die Araber sich besonders gern ihren Weibern gegenüber als grosse Eisenfresser rühmen, so macht es hier auch Lamech.“ 123  Dietrich, Bruder, 166: „Die Lamech-Leute rühmen sich dessen, daß sie auf Angriffe noch unerbittlicher und härter reagieren, als die Keniter insgesamt für sich in Anspruch nehmen.“ 124  Witte, Urgeschichte, 170. 121  122 

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aber eine radikale Umkehr in Gott bewirkt (s.  u. zu Gen  8, 20 –22) und den Weg frei macht für die Forderung nach der 77–fachen, mithin grenzenlosen Vergebung (Mt 18, 21–22). Die Notiz über Zeugung, Geburt und Namensgebung des Set (Šēt) marV. 25 kiert nach der Kainitengenealogie einen Neueinsatz. Die Formulierung entspricht weitgehend Gen  4, 1. 17, wird aber mit Bedacht modifiziert: Anders als in Gen  4, 17 wird wie in Gen  4, 1 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Namensgebung durch die Mutter erfolgt. Auch wird der Name im Unterschied zu Gen  4, 17 wie in Gen  4, 1 mit einem Hinweis auf Jhwh/Gott erläutert. Zudem wird mit der Erwähnung von Kain und Abel explizit auf Gen 4, 1 zurückverwiesen. Der durch V. 2 –24 unterbrochene Faden wird also unter veränderten Bedingungen wieder aufgenommen.125 Im Gegensatz zur ersten Zeugung geht es nun in Gen 4, 25 um eine zweite Abstammungslinie neben derjenigen der Kainiten. Aus diesem Grund ist jetzt der Eigenname Adam ( ʾādām) statt der Gattungsbezeichnung „Mensch“ (hā- ʾādām) gewählt. Das wiederum entspricht der Nennung Kains in Gen 4, 17. Desgleichen wird wie in Gen  4, 17 und im Unterschied zu Gen  4, 1 der Name der Frau nicht erwähnt. Angesichts dieser Parallelität fallen die Unterschiede zwischen dem Auftakt der Kainitengenealogie und derjenigen der Setiten besonders auf. Sie betonen den Kontrast zwischen den beiden Abstammungslinien: Die Erklärung des Namens Šēt  – Gott hat mir einen anderen Nachkommen gegeben/gesetzt (*šīt) anstelle Abels, weil Kain ihn getötet hat  – ruft die schreckliche Tat Kains in Erinnerung. Auf diese Weise charakterisiert die Frau den Namen ihres Drittgeborenen als Ersatznamen. Damit knüpft sie an den verbreiteten, im Sippendenken wurzelnden Brauch an, Kindern Namen zu geben, „in denen in irgendeiner Weise die Anschauung lebt, dass der Namensträger ein verstorbenes Familienglied neu verkörpert oder dass dieses in jenem wieder erschienen bzw. wieder lebendig geworden sei.“126 Set ist also nicht nur ein weiterer Sohn, sondern die Fortsetzung oder Aufnahme des mit Abel begonnenen Handelns, dessen Gabe Jhwh angesehen hat. Diese Linie mag zwar von Kain und seinem Brudermord unterbrochen worden sein, der Faden ist aber nicht abgerissen. Insofern erscheint es nur als konsequent, wenn nach Gen 4, 26b zur Zeit von Sets Sohn Enosch die Anrufung Jhwhs eingesetzt hat. Durch den Hinweis auf Gott in der Namensgebung und den im Vergleich zu Gen  4, 1 bescheidenen Tonfall wird Sets Geburt zudem zum Gegenentwurf zum selbstüberheblichen Lamechlied. Die etymologische Herleitung des Namens Set und seine ursprüngliche Bedeutung ist ganz ungewiss. Eventuell ist Set mit den in Num  24, 17 genannten benē šēt in Verbindung zu bringen, über die freilich auch nicht viel bekannt ist. In der Regel werden sie in Moab lokalisiert und dann mit den in ägyptischen und keilschriftlichen Texten

Vgl. Willi, Schlußsequenzen, 433. J.J. Stamm, Hebräische Ersatznamen, in: ders., Beiträge zur hebräischen und altorientalischen Namenkunde, OBO 30, Freiburg, Schw./Göttingen 1980, 59 –79, 59. 125  126 

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genannten Sutū-Nomanden in Verbindung gebracht.127 In Gen  4 verdankt Set die Bedeutung seines Namens wie auch seine genealogische Position gänzlich den in der Brudermorderzählung erzählten Begebenheiten: Damit erklären sich auch die Unterschiede in der genealogischen Einordnung Sets bzw. Kains/Kenana zwischen Gen 5 und Gen 4. Der Bestand beider Reihen ist identisch, sie bieten aber eine andere Reihenfolge, was eine gemeinsame Vorlage vermuten lässt. Die Priesterschrift dürfte in Gen  5 die ursprüngliche Reihenfolge bieten (Adam  – Set  – Enosch  – Kenan/ Kain). Hingegen beruhen die Erweiterung um die Brudermorderzählung und die damit verbundene Aufteilung der einen Genealogie der Nachkommen Adams in die Abstammungslinien der Kainiten und Setiten auf der Konzeption des weisheitlichen Erzählers. Dies wird durch seine an die Paradieserzählung anknüpfende Formulierung der genealogischen Notizen in Gen 4, 1. 17. 25 bestätigt.

Die mit Set neu eröffnete Abstammungslinie wird durch Enosch ( ʾænōš    ) V. 26 fortgeführt. Als Personenname ist Enosch nur hier und in der Parallele in Gen  5, 6 –11 (vgl. 1Chr  1, 1) belegt, sonst bedeutet ʾænōš wie ʾādām Mensch oder Menschheit. Die Mehrzahl der Belege von ʾænōš  betonen den Aspekt der Sterblichkeit und Begrenztheit im Gegenüber zu Gott (vgl. Ps  8, 5). Trägt der Enkel somit den Namen seines Großvaters Adam, so wird Enosch der Ahnherr der Menschheit, die der Linie Sets folgt und in Noach die Flut überlebt. In diesem Sinne ist Enosch der neue Adam.128 In der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers dürfte sich an Gen  4, 25 f eine Geburtsnotiz Noachs angeschlossen haben, von der sich noch Spuren in Gen  5, 28 –29* erhalten haben (s.  u. zu Gen 5, 28 –31). Ist diese Annahme richtig, dann ist für den weisheitlichen Erzähler Noach der Sohn des Enosch gewesen. Gen  4, 26b verbindet mit Enosch den Beginn der Anrufung Jhwhs. Das Anrufen des göttlichen Namens meint zunächst ganz allgemein die kultische Verehrung (vgl. Gen  12, 8; 26, 25). In der Auseinandersetzung mit anderen Religionen hat es zudem Bekenntnischarakter (1Kön 18, 24; Jes 12, 4; 41, 25; Joel  3, 5). In Gen  4, 26b irritiert die Formulierung deswegen, weil schon die beiden Brüder Kain und Abel eine Gabe dargebracht haben (Gen  4, 3 f ). Auch wenn es unmissverständlich ist, dass die Darbringungen Jhwh gegolten haben, so wird dieser jedoch nicht explizit angerufen (vgl. dagegen nur Gen 12, 8: „Er baute für Jhwh einen Altar und er rief den Namen Jhwhs an“). Vielleicht wollte der Verfasser von Gen 4, 26b explizit ausschließen, dass der Brudermörder Kain, der die erste kultische Handlung vollzogen hat, auch als erster Jhwh kultisch angerufen hat. Mit derartigen Überlegungen setzt schon die Auslegungsgeschichte ein, weshalb es nicht ausgeschlossen ist, dass die Notiz ein später Zusatz aus dem Umfeld Jerusalemer Tempeltheologie ist und der Redaktion zugewiesen werden kann.129 Dass Enosch analog zu den Söhnen des Lamech als Kulturstifter charakterisiert werden soll, ist hingegen wenig wahrscheinlich. Die Formulierung „damals begann man“ bezieht sich M. Görg, Art. „Set“, NBL III (2001) 577–578. Hess, Personal Names, 67. 129  Vgl. Witte, Urgeschichte, 306 –309. 127  128 

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gar nicht exklusiv auf Enosch, sondern bezeichnet ganz allgemein „die Zeit des Enosch“ (vgl. Gen 12, 6; 13, 7 ).130 Ob nachgetragen oder nicht, die Notiz betont die uranfängliche Anrufung Jhwhs, der selbst von Anbeginn der eine Schöpfergott ist. Im Ganzen des Pentateuchs stößt sich die Aussage, die Menschheit habe in der Zeit des Enosch mit der Anrufung des Jhwh-Namens begonnen, mit einer starken, von der Priesterschrift geprägten Tradition, welche die erstmalige Nennung des Gottesnamens mit Mose verbindet (Ex  3, 14 [nachpriesterschriftlich131]; Ex  6, 3 P). Vielleicht ist das auch der Grund für die unterschiedlichen Lesarten des Verses in den antiken Übersetzungen. Die LXX übersetzt „Dieser (Enosch) hoffte, den Namen Gottes des Herrn anzurufen“ und schreibt Enosch so die Tugend der Hoffnung zu. In der rabbinischen Tradition wird die Aussage auf die ganze Epoche bezogen, jedoch im Anschluss an die Targumim negativ gelesen: „Damals begannen die Menschen, sich selbst Götzen herzustellen und sie unter dem Namen Jhwh anzurufen“ (TN zu Gen  4, 26). Dieses Verdikt über die Zeitgenossen des Enosch lässt sich als ein weiterer Grund für das Kommen der Sintflut verstehen.

Mit Willi, Schlußsequenzen, 433. Zur (umstrittenen) literarhistorischen Einordnung von Ex  3, 14 vgl. J.C. Gertz, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung, FRLANT 186, Göttingen 2000, 281–305. 130  131 

IV. Genesis 5, 1–32: Das Register der Zeugungen Adams 5, 1 Dies ist das Register der Zeugungen Adams. Am Tag, als Gott einen Menschen schuf, machte er ihn als ein gottgleiches Bild.   2 Männlich und weiblich schuf er sie, und er segnete sie und gab ihnen den Namen „Mensch“ (ʾādām) an dem Tag, als sie geschaffen wurden.   3 Und Adam lebte 130 Jahre, da zeugte er (einen Sohn)1 ihm gleich, gemäß seinem Bilde, und er nannte seinen Namen Set.   4 Und die Lebenszeit Adams betrug, nachdem er Set gezeugt hatte, noch 800 Jahre, und er zeugte Söhne und Töchter. 5 So betrug die gesamte Lebenszeit, die Adam lebte, 930 Jahre, dann starb er. 6 Und Set lebte 105 Jahre, da zeugte er Enosch.   7 Und Set lebte noch 807  Jahre, nachdem er Enosch gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter.   8 So betrug die gesamte Lebenszeit des Set 912 Jahre, dann starb er. 9  Und Enosch lebte 90  Jahre, da zeugte er Kenan.   10  Und Enosch lebte noch 815 Jahre, nachdem er Kenan gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter.   11 Die gesamte Lebenszeit des Enosch betrug 905 Jahre, dann starb er. 12 Und Kenan lebte 70 Jahre, da zeugte er Mahalalel.   13 Und Kenan lebte noch 840  Jahre, nachdem er Mahalalel gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter.   14 So betrug die gesamte Lebenszeit des Kenan 910 Jahre, dann starb er. 15 Und Mahalalel lebte 65 Jahre, da zeugte er Jered.   16 Und Mahalalel lebte noch 830 Jahre, nachdem er Jered gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter.   17 So betrug die gesamte Lebenszeit des Mahalalel 895 Jahre, dann starb er. 18 Und Jered lebte 62 (162)2 Jahre, da zeugte er Henoch.   19 Und Jered lebte noch 785 (800) Jahre, nachdem er Henoch gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter.   20 So betrug die gesamte Lebenszeit des Jered 847 (962) Jahre, dann starb er. 1  Sachlich ist bēn „Sohn“ zu ergänzen (Homoioarkton?), zumal sonst der Bezug für das Suff. der 3. Pers. mask. in š  emō „seinen Namen“ fehlt. Das Schema der Genealogie lässt erwarten, dass auf wayyōlæd „er zeugte“ ʿæt N.N. „den N.N.“ folgt (vgl. V. 6 u. ö.). Es ist zu vermuten, dass die Unebenheit in V. 3 durch den Rückbezug auf Gen  1, 27 entstanden ist. Grund hierfür dürfte die Aufnahme eines älteren „Toledotbuches“ durch die Priesterschrift gewesen sein. S.  u. S.  198 zu Gen 5, 1–5. 2  MT, Sam und LXX weichen bei den Altersangaben deutlich voneinander ab. Die Übersetzung folgt Sam, abweichende Zahlen nach MT sind in Klammern gesetzt. Die Angaben der LXX wurden nicht notiert. Zur Begründung s.  u. zum Text.

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Genesis 5, 1–32

21 Und Henoch lebte 65 Jahre, da zeugte er Metuschelach (Methusalem). 22 Und Henoch wandelte mit Gott noch 300 Jahre, nachdem er Metuschelach gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter.   23 So betrug3 die gesamte Lebenszeit des Henoch 365 Jahre.   24 Und Henoch wandelte mit Gott. Und er war nicht mehr da, denn Gott hatte ihn weggenommen. 25  Und Metuschelach lebte 67 (187) Jahre, da zeugte er Lamech.   26 Und Metuschelach lebte noch 653 (782) Jahre, nachdem er Lamech gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter.   27 So betrug die gesamte Lebenszeit des Metuschelach 720 (969) Jahre, dann starb er. 28 Und Lamech lebte 53 (182) Jahre, da zeugte er [Noach4] einen Sohn, 29 und er nannte seinen Namen Noach mit der Bemerkung: „Dieser wird uns Trost  5 verschaffen von unserer Arbeit und von der Mühsal unserer Hände wegen des Ackerbodens, den Jhwh verflucht hat.“   30 Und Lamech lebte noch 600 (595) Jahre, nachdem er Noach gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter.   31 So betrug die gesamte Lebenszeit des Lamech 653 (777) Jahre, dann starb er. 32  Und Noach war 500  Jahre alt, da zeugte Noach Sem, Ham und Jafet. Analyse: Das Kapitel geht auf die Priesterschrift zurück. Spuren des weisheitlichen Erzählers finden sich lediglich in Gen 5, 28*. 29.

Aufbau Auf die genealogischen Notizen zu den Nachkommen der Adamssöhne

Kain und Set in Gen  4, 17–24. 25 –26 folgt in Gen  5 eine weitere Genealogie der Nachkommen Adams, diesmal von priesterschriftlicher Hand. Die Genealogie reicht bis zu Noach und seinen Söhnen. Ihr nachsintflutliches Gegenstück in Gen 11, 10 –26 bietet eine Genealogie von Noachs Sohn Sem und reicht bis zu Terach, dem Vater Abrahams. Beide Genealogien sind bis einschließlich des vorletzten Gliedes unilinear und laufen über den Vater und den jeweils erstgeborenen Sohn. Ihr Aufbau ist streng schematisch: Genannt werden (a.) der Name des Patriarchen, (b.) sein Alter bei der Zeugung des (c.) namentlich genannten ersten Sohnes, (d.) die verbleibenden Lebensjahre nach dessen Zeugung, (e.) die Zeugung weiterer nicht namentlich genannter Söhne und Töchter, (f.) das gesamte Lebensalter des Patriarchen und (g.) sein Tod.6 Die lineare Genealogie geht im letzten Glied in eine segmentäre Genealogie über (V. 32; vgl. Gen 11, 26). Gen 5 schließt mit den drei Söhnen Noachs, von denen sich alle Völker der Erde herleiten (Gen  10, 1. 32). Das Schema dokumentiert die Wiederkehr des Ewiggleichen.

Hier und in V. 31 mit Sam Plural. S.u. zur Auslegung von V. 28. 5  LXX liest διαναπαύσει ἡμᾶς „er wird uns Ruhe verschaffen“. Vgl. dazu die Auslegung. 6  In Gen 11 fehlen die Angabe des gesamten Lebensalters und die Todesnotiz. 3  4 

191

Das Register der Zeugungen Adams

Die Angaben zum Alter bei der Zeugung des ersten Sohnes und das (errech- Text nete) Lebensalter ermöglichen es, unter Hinzuziehung weiterer Daten eine absolute „biblische“ Chronologie zu errechnen und zugleich dem Lauf der Zeit den Anschein einer Ordnung zu geben.7 Da die Hauptzeugen bei den Jahreszahlen zum Teil erheblich (aber mit System!) voneinander abweichen, liegt die Annahme unterschiedlicher Zielpunkte der jeweiligen biblischen Chronologie nahe. Ob und welche chronologischen Zielpunkte sich noch ermitteln lassen, ist allerdings sehr umstritten.8 Für die Auslegung von Gen  5 (und 11) ist dies jedoch nur von untergeordnetem Interesse. Wichtiger ist die Frage, welchen Zahlangaben die Priorität zukommt. Folgende Unterschiede sind für Gen 5 festzuhalten: Anno mundi

Alter bei der ersten Zeugung

restliche Lebenszeit

Gesamtalter

MT

Sam

MT

LXX

Sam

MT

LXX

Sam

MT

LXX

Sam

Adam

1–930

1–930

130

230

130

800

700

800

930

930

930

Set

130 – 1042

130 – 1042

105

205

105

807

707

807

912

912

912

Enosch

235 – 1140

235 – 1140

  90

190

  90

815

715

815

905

905

905

Kenan

325 – 1235

325 – 1235

  70

170

  70

840

740

840

910

910

910

Mahalalel

395 – 1290

395 – 1290

  65

165

  65

830

730

830

895

895

895

Jered

460 – 1422

460 – 1307

162

162

  62

800

800

785

962

962

847

Henoch

622 – 987

522 – 887

  65

165

  65

300

200

300

365

365

365

Metuschelach

687– 1656

587– 1307

187

167

  67

782

802

653

969

969

720

Lamech

874  – 1651

654  – 1307

182

188

  53

595

565

600

777

753

653

Noach9

1056 – 2006

707– 1657

500

500

500

950

950

950

Beginn der Flut im 600. Lebensjahr Noachs nach MT: 1656, nach LXX: 2242 und nach Sam: 1307.

7  Vgl. Blenkinsopp, Creation, 107–111; C. Berner, Art. „Chronology  II. Hebrew Bible/Old Testament and Judaism“, EBR 5 (2012) 241–250. 8  Vgl. hierzu und zum Folgenden Rösel, Übersetzung, 129 –144; Gertz, Genesis 5, 81–90. Kritisch: R. Hendel, A Hasmonean Edition of MT Genesis? The Implications of the Editions of the Chronology in Genesis  5, HeBAI  1 (2012) 448 –  464. Zur Auseinandersetzung mit Hendels Rekonstruktion vgl. Gertz, a.a.O., 85 –87. 9  Unter Berücksichtigung der Angaben zu Noachs Lebensjahren nach der Flut und seiner gesamten Lebenszeit nach Gen 9, 28  f.

192

Genesis 5, 1–32

Die Chronologie ist im MT und im Sam für die ersten fünf Patriarchen gleich. Die LXX datiert in diesen Fällen die Zeugung des ersten Sohnes jeweils 100 Jahre später und verkürzt die restliche Lebenszeit um 100 Jahre. Dadurch bleibt das Lebensalter gleich, während sich die absolute Chronologie um 400 Jahre verlängert. Die längere Chronologie der LXX führt dazu, dass Metuschelach (Methusalem) die Flut um 14  Jahre überlebt! MT hebt im Vergleich zu Sam das Alter bei der Zeugung des ersten Sohnes ab Jered deutlich an. Gehen MT und Sam bei den ersten fünf Patriarchen von einem Durchschnittsalter von 92 Jahren bei der ersten Zeugung aus, so beträgt es nach MT bei Jered, Metuschelach (Methusalem) und Lamech durchschnittlich 177  Jahre gegenüber 61  Jahren bei Sam. Die Angaben bei Sam fügen sich besser zum Durchschnittsalter der ersten fünf Patriarchen. Sie passen auch zu den 65 Jahren bei Henoch nach MT und Sam und entsprechen den Altersangaben, wie sie MT in Gen  11, 10 –26 fast durchgängig voraussetzt. Schließlich dürfte die persönliche Bekanntschaft Noachs mit Henoch, wie sie nur nach der Chronologie des Sam möglich ist, der Intention des Textes gemäß sein. Es hat also den Anschein, dass MT aufgrund eines übergeordneten chronologischen Konzepts das Datum der ersten Zeugung bei Jered um 100  Jahre, bei Metuschelach (Methusalem) um 120  Jahre und bei Lamech um 129 angehoben und die Lebenszeit entsprechend verlängert hat. In Gen 11, 10 –26 liegt der Fall anders. Hier bietet MT gegenüber den übereinstimmenden Angaben von Sam und LXX den ursprünglicheren Text. Kontext: Auf der Ebene des Endtextes ist Gen 5 im Zusammenhang mit den geneaEndtext logischen Notizen zu den Nachkommen der Adamssöhne Kain und Set in

Gen  4, 17–24. 25 –26 zu betrachten. Das „Register der Zeugungen Adams“ (sēpær tōl edōt ʾādām) unterscheidet nicht zwischen einer Kainiten- und einer Setitenlinie. Gleichwohl kehren unbeschadet kleinerer Abweichungen in der Schreibweise und einiger Umstellungen in der Reihenfolge alle Glieder beider Linien mit Ausnahme der Nachkommen Lamechs wieder. Mithin handelt es sich um zwei Versionen ein und derselben Genealogie10:

10  Erstmals P. Buttmann, Mythologus oder gesammelte Abhandlungen über die Sagen des Alterthums I, Berlin 1828, 171.

193

Das Register der Zeugungen Adams

Kain

Gen 4, 1–2 . 17–26 Adam und Eva Abel (ohne Nachkommen)

Set

. . . Lamech

Enosch

Kainiten Gen 4, 1. 17–24 Adam

Setiten Gen 4, 25 –26; 5, 28b. 29** Adam Set Enosch

Gen 5, 1–32* Adam Set Enosch Kenan (Qēnān) Mahalalel (Mah     alal   ʾēl ) Jered (Yǣræd ) Henoch Metuschelach (M etūšǣlaḥ) Lamech Noach

Kain (Qayin) Henoch Irad (‘Īrād) Mehujaël (M eḥūyā   ʾēl ) Metuschaël (M etūšā   ʾēl ) Lamech Noach Jabal Jubal TubalKain Naama ♀

Noach und sein Haus (Gen 7, 1)

Sem

Ham

Jafet

Synchron gelesen, nimmt Gen 5 die Notizen über die Zeugung von Adams drittgeborenem Sohn Set und dessen Sohn Enosch aus Gen 4, 25 f auf (vgl. V. 3 mit Gen  4, 25 und V. 6 mit Gen  4, 26). Das „Register der Zeugungen Adams“ präsentiert sich damit als die Abstammungslinie des als Ersatz für den erschlagenen Abel geborenen Set, die in zehn Generationen zu Noach führt. Unbeschadet der Überschneidungen von Gen  5 und Gen  4, 17–24 wird so eine Setiten-Genealogie entworfen, welche die Kainiten nicht mehr einschließt. Deren Genealogie endet nach Gen 4 mit den Kindern Lamechs, für die es in Gen 5 keine Entsprechung gibt. Stattdessen wird in Gen 5 Noach als Sohn eines Lamech eingeführt, der nach der Konzeption des vorliegenden Textzusammenhangs kein Nachkomme Kains ist. Vielmehr steht der Sintflutheld in der Nachkommenschaft des Set, der den Platz Abels einnimmt, dessen Darbringung Jhwh angesehen hatte (Gen  4, 4), und des Enosch, zu dessen Zeit die Jhwh-Verehrung einsetzt (Gen  4, 26). Noachs Stammbaum der Gerechten zeichnet sich überdies dadurch aus, dass die Linie von Set und Enosch zu Noach über eine Reihe von Patriarchen führt, die sich sämtlich eines wahrhaft biblischen Alters erfreut haben und – sofern man den Altersangaben des MT folgt – sämtlich friedlich vor der Flut verstorben

194

Genesis 5, 1–32

sind. Die beiden Ausnahmen unterstreichen dies. Henoch wandelte mit Gott und wurde im Alter von nur 365 Jahren entrückt (V. 21–24), Metuschelach (Methusalem) stirbt im Jahr der Flut, erreicht aber von allen Patriarchen das höchste Alter (V. 27 ). Kontext: P Die genealogische Konzeption des vorliegenden Textzusammenhangs ist

durch den weisheitlichen Erzähler und Verfasser von Gen 4 vorgegeben, der zwischen den zur Gewalt neigenden Kainiten und den positiv gewerteten Setiten unterscheidet und Noach (als Sohn des Enosch: Gen 4, 26; 5, 28b–29*) zu den Setiten rechnet. Die Priesterschrift, auf die Gen 5 mit Ausnahme von V. 28b–29* (s.  u. zur Auslegung) zurückgeht, scheint mit dem „Register der Zeugungen Adams“ jedoch eine andere Konzeption verfolgt zu haben. Hier folgt Gen  5 unmittelbar auf den Schöpfungsbericht in Gen  1, 1–2, 3 und dokumentiert die anfängliche Erfüllung der im Segenswort dem Menschen gegebenen Befähigung und Kraft zur Fruchtbarkeit (vgl. Gen 1, 28). Zudem bildet das Geschlechtsregister Adams den Auftakt von zehn als „Toledot/ Zeugungen des N.N.“ überschriebenen Genealogien. Deren End- und Zielpunkt markieren die „Toledot/Zeugungen Jakobs/Israels“ (Gen 37, 2), dessen Nachkommen in Ägypten zum Volk Israel werden. Die Priesterschrift strukturiert so im Bereich des Buches Genesis den Erzählverlauf und präsentiert ihn als eine sich immer mehr auf Israel ausrichtende genealogische Fokussierung: Bei den drei Söhnen Noachs liegt das Hauptaugenmerk auf Sem (Gen 11, 10 –26), bei den drei Terachsöhnen auf Abraham (Gen 11, 27 ), unter dessen Nachfahren Isaak (Gen  25, 19) und Jakob (37, 2) im Zentrum stehen, während Ismael und Esau immerhin als Seitenlinie berücksichtigt werden (Ismael in Gen  25, 12 –18; Esau in Gen  36). So führt die Reihe der Toledot, beginnend mit dem ersten Menschen, Adam, über Noach und Sem in 22 (LXX: 23) Generationen zu den Vorfahren Israels.11 Im Hintergrund des gerade für die exilisch-nachexilische Zeit nachweisbaren Interesses an Genealogien (vgl. Esra-Nehemia und die Bücher der Chronik, insbesondere 1Chr 1–9) dürfte das Bemühen stehen, Israels Identität unter nachstaatlichen Bedingungen zu sichern. Freilich erschöpft sich das System der priesterschriftlichen Genealogien nicht in der Herleitung Israels. Die Differenzierung innerhalb der Menschheitsfamilie setzt nämlich erst mit den Toledot/ Zeugungen Sems in Gen 11, 10 –26 ein, die das nachsintflutliche Gegenstück zur vorsintflutlichen Genealogie in Gen 5 bilden. In Gen 5 liegt die Aussage dagegen deutlich auf der Betonung der einen Menschheit, die sich von Adam ableitet und dadurch mit ihm das Privileg der Gottebenbildlichkeit teilt (Gen 5, 1–3). Ihren Endpunkt markieren die drei Söhne Noachs (Gen 5, 32), von denen sich alle Völker nach der Flut ableiten (Gen 10, 1). Wie schon in den Aussagen zur Erschaffung des Menschen in Gen 1, 26 – 28 betont die Priesterschrift die essentielle Einheit des Menschseins, die in 11 

Vgl. dazu Tengström, Toledotformel, 26; Crüsemann, Menschheit, 181.

Das Register der Zeugungen Adams

195

Gen 5 auch als eine Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft betrachtet wird. Die Aufzählung der 10 Generationen dient nämlich nicht nur als Überbrückung des Zeitraumes zwischen Schöpfung und Flut. Die Priesterschrift entfaltet nicht, wieso sich das Urteil des Schöpfers über seine Schöpfung so radikal vom „sehr gut“ (Gen  1, 31) zum „verdorben“ wandeln konnte (Gen  6, 12). Stattdessen wird das negative Urteil im priesterschriftlichen Prolog zur Sintfluterzählung mit einem derartigen Nachdruck festgestellt (vgl. S.  246  –252 zu Gen  6, 9 –12. 13), dass sich jede weitere Begründung erübrigt. Gleichwohl bleibt eine erzählerische Leerstelle, die Gen  5 – sofern bei den Altersangaben Sam gegenüber MT der Vorzug zu geben ist – füllt.12 Anders als MT unterscheidet Sam deutlich zwischen den ersten fünf und den folgenden fünf vorsintflutlichen Patriarchen: Die Sterbedaten der ersten fünf liegen eindeutig vor der Flut. Hingegen sterben Metuschelach (Methusalem), Jered und Lamech alle im Jahr 1307, d.  h. dem Jahr, auf das Sam den Beginn der Flut datiert. Von den Patriarchen der zweiten Hälfte der Genealogie überleben lediglich Noach und Henoch, der im Jahre 887 entrückt wird. Da die Genealogie von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von rund neunhundert Jahren ausgeht, sterben Jered mit 847 Jahren, Metuschelach (Methusalem) mit 720 Jahren und Lamech mit 653 Jahren deutlich vor ihrer Zeit. Damit werden sie gegenüber den beiden jüngeren Zeitgenossen Henoch und Noach, deren Gerechtigkeit ausdrücklich hervorgehoben wird und die der Flut nicht zum Opfer fallen, sowie gegenüber den hochbetagten und friedlich entschlafenen Patriarchen der ersten bis fünften Generation als Sünder gekennzeichnet. Interessant sind vor allem die Angaben zu Metuschelach (Methusalem) und Henoch. Metuschelach (Methusalem) stirbt auch nach MT im Jahr der Flut. Dieses Schicksal wird aber dadurch erheblich relativiert, dass der sprichwörtliche Methusalem nach MT ein Alter von 969 Jahren erreicht und der älteste Mensch ist, von dem die Bibel berichtet. Nach Sam verstirbt er bereits mit 720 Jahren. Mit 785 Jahren wäre Henoch im Jahr der Flut nach Sam nur unwesentlich älter gewesen. Doch wird der mit Gott wandelnde Henoch durch seine Entrückung vor diesem „frühen“ Tod bewahrt. Henochs besonderes Ergehen wirft einen dunklen Schatten auf die drei Patriarchen, die relativ „jung“ im Jahr der Flut sterben. Dies wird dadurch noch unterstrichen, dass nach Sam alle Patriarchen Zeugen der Entrückung Henochs waren. Da das Lebensalter der Patriarchen, die im Jahr der Flut sterben, immer weiter abnimmt, liegt schließlich der Umkehrschluss nahe, dass die Sünde unter den Zeitgenossen Noachs von Generation zu Generation zugenommen hat (vgl. Gen 6, 9), mithin die Genealogie ein deutliches Gefälle zum göttlichen Urteil über die Schlechtigkeit allen Fleisches aufweist (Gen  6, 12). Damit bietet Sam zwar keine erzählerische, wohl aber eine genealogische Entfaltung des Themas des zunehmenden Verderbens der guten Schöpfung. 12  Vgl. Gertz, Genesis 5, 81–84, im Rückgriff auf Budde, Urgeschichte, 89 –116; ferner Seebaß, 181–182 .

196

Genesis 5, 1–32

Tradition Die hohen, jedes Maß an Erfahrung und biologischer Wahrscheinlichkeit

übersteigenden Altersangaben in Gen  5 (und Gen  11) haben seit jeher die Apologeten herausgefordert.13 Flavius Josephus erklärt sie mit einer gesünderen Ernährung der Patriarchen und ihrer größeren zeitlichen Nähe zum Schöpfungsursprung ( Jos.Ant. I, 105 f ). Zudem verweist er auf ganz ähnliche Aussagen über die Langlebigkeit der frühesten Menschheitsgenerationen bei Griechen, Ägyptern und Phöniziern, um die Glaubwürdigkeit der biblischen Darstellung zu belegen. In der Tat teilt die Priesterschrift die auch andernorts belegte Vorstellung, dass die Menschen in der Vorzeit länger gelebt haben und dass sich die Lebenszeit von Zeitalter zu Zeitalter auf das gewohnte Maß von 70 bis 80 Jahren (vgl. Ps 90, 10) verringert hat: Für die Zeit vor der Flut geht die Priesterschrift von einer Lebenszeit zwischen rund 700 und knapp 1000 Jahren aus. Im Zeitalter zwischen Flut und Abraham reicht die Spanne von 148 bis 600 Jahren. Zwischen Abraham und Mose beträgt das Lebensalter 100 bis 200 Jahre, und erst in der nachmosaischen Zeit sinken die Altersangaben auf das zur Zeit der Priesterschrift und in der Neuzeit noch vor wenigen Jahrzehnten erwartbare Lebensalter.14 Über die Gründe dieser gestaffelten Lebenserwartungen schweigt sich die Priesterschrift aus. Es liegt aber nahe, dass sie von einer kraftvollen, durch die zeitliche Nähe zum ursprünglichen Schöpfungssegen geprägten Anfangszeit ausgeht: „Wie gewaltige Kraft, so lauten die Gedanken, die solchen Rechnungen zu Grunde liegen, müssen die Älterväter besessen haben, welche die ganze Menschheit haben zeugen können.“15 Unter den antiken Vergleichstexten ist die Sumerische Königsliste aus dem 2. Jt. v. Chr. hervorzuheben.16 Die idealisierte Aufzählung aufeinanderfolgender Königtümer in verschiedenen, überwiegend babylonischen Städten beginnt mit der programmatischen Aussage „Als das Königtum vom Himmel heruntergekommen war, war das Königtum in …“. In der Regel setzt sie „nach der Flut“ mit der Dynastie des östlich von Babylon gelegenen Kiš ein, doch ist auch ein Texttyp mit einer Liste von zunächst acht, später zehn vorsintflutlichen Königen belegt. Diese Liste entstammt einer Tradition früher Städte, die in der sumerischen Fassung der Fluterzählung enthalten ist und mit Eridu (vgl. zu Gen  4, 17 ) beginnt. Von den

13  Über einige Umrechnungsversuche oder symbolische Deutungen informiert Dillmann, 107  f. Sie sind samt und sonders unhaltbar, da die Priesterschrift bei den 10 Patriarchen an wirkliche Personen und bei den Altersangaben an wirkliche Lebensjahre dachte. 14  Laut WHO ist die Lebenserwartung in den letzten 50 Jahren weltweit um durchschnittlich 20 Lebensjahre gestiegen, doch selbst die Lebenserwartung von 78, 4 Jahren bei Männern bzw. 83, 1 bei Frauen in Deutschland (Stand 2016) liegt noch weit unter den Angaben von Gen 5. 15  Gunkel, 133. 16  Einleitung und Übersetzung: W.H.P. Römer, TUAT I, 328 –337 (mit acht vorsintflutlichen Herrschern); H. Schmökel, RTAT, 114  f. Zu den unterschiedlichen Texttypen vgl. D.O. Edzard, Art. „Königslisten und Chroniken. A. Sumerisch“, RLA 6 (1983) 77–86. Vgl. auch die Dynastische Chronik, deren Anfänge in die altbabylonische Zeit zurückreichen, deren erhaltenen Fragmente aus neuassyrischer und spätbabylonischer Zeit stammen. Vgl. A.K. Grayson, Assyrian and Babylonian Chronicles, TCS V, Locust Valley, NY 1975.

Das Register der Zeugungen Adams

197

meisten Vertretern dieses Texttyps wird als letzter Herrscher vor der Flut der sumerische Sintflutheld Ziusudra genannt. Das erinnert wie die langen Regierungszeiten der vorsintflutlichen Herrscher von weit mehr als jeweils 10  0 00 Jahren an Gen  5.17 Wie angesehen die Sumerische Königsliste in der Schultradition gewesen sein muss, zeigt ihre weite Verbreitung und ihre bis in das hellenistische Zeitalter reichende Tradierung. Hier ist vor allem der babylonische Priester Berossos zu nennen, dessen Exzerpt einer Liste von zehn Herrschern vor der Flut schon in der Antike als Vergleich für die biblische Darstellung herangezogen wurde.18 Die griechischsprachige Liste des Berossos endet mit dem Fluthelden Xisouthros, was dem sumerischen Ziusudra entspricht, und erwähnt zudem als siebten von zehn Herrschern einen Enedôranchos, was wiederum dem sumerischen Enmeduranki entspricht. Dieser wird wiederum gerne mit der Gestalt des Henoch in Verbindung gebracht, der in Gen 5 ebenfalls die siebte von zehn Positionen einnimmt.19 Nach mesopotamischen Quellen residiert Enmeduranki in der für die Verehrung des Sonnengottes bekannten Stadt Sippar. Dadurch ergibt sich eine Verbindung zu den 365 Lebensjahren des Henoch, die sich unschwer mit dem Sonnenjahr in Verbindung bringen lassen. Enmeduranki gilt aufgrund einer vorübergehenden Entrückung in den himmlischen Hofstaat als Vater der Wahrsagekunst. Er gilt zudem als Zeitgenosse von Utuabzu, dem siebten und letzten der auch bei Berossos genannten vorsintflutlichen Weisen, von dem es heißt, er sei zum Himmel hochgestiegen. Dies gemahnt nicht nur an die spärlichen Angaben zu Henoch in Gen  5, 21–24, sondern fügt sich auch gut zum Bild Henochs in der frühjüdischen Literatur, in der Henoch zum Weisen und Visionär schlechthin wird (vgl. Sir 44, 16; Jud 14 f ).

Da auch der Schöpfungsbericht und die Fluterzählung der Priesterschrift einige Nähe zu den Ausführungen bei Berossos aufweisen (vgl. zu Gen  1, 2. 3 –5; Gen  6, 5 –9, 17 ), ist eine „Urverwandtschaft“20 mit einer Variante der Sumerischen Königsliste, wie sie sich auch bei Berossos erhalten hat, recht wahrscheinlich. Genaueres lässt sich aber über die traditionsgeschichtlichen Verhältnisse kaum noch sagen. Das hohe Alter der frühesten Generationen, das auch in Gen  5 und 11 greifbare Verständnis der Flut als wesentlichen Einschnitt in der Vorgeschichte der Menschheit und die Praxis, bedeutende Personen aus der Zeit vor der Flut in Listen zu erfassen, ge17  Die Zahlen weichen in den einzelnen Rezensionen deutlich voneinander ab. Im Unterschied zu den Lebensjahren in Gen  5 folgen die Regierungszeiten in der Sumerischen Königsliste dem Sexagesimalsystem und lassen sich in die Einheiten Sar (3600) und Ner (600) umrechnen. 18  Text und Übersetzung bei Jacoby, Fragmente, 374  –378 . Vgl. Day, Creation, 61–76. 19  Vgl. J.C. VanderKam, Enoch and the Growth of an Apocalyptic Tradition, CBQ Monograph Series  16, Washington, DC 1984, 23 –51; ders., Enoch. A Man for All Generations. Studies on Personalities of the Old Testament, Columbia, SC 1995, 6 –16; R. Borger, Die Beschwörungsserie Bıt Meseri und die Himmelfahrt Henochs, JNES  33 (1974) 183 –196. Enmeduranki erscheint in anderen Ausgaben der sumerischen Königsliste als siebter von acht, als sechster von sieben, acht oder zehn Herrschern. 20  Gunkel, 132 . Vgl. Day, Creation, 61–76.

198

Genesis 5, 1–32

hören zu den Gemeinsamkeiten des alten Vorderen Orients. Anders als in der Sumerischen Königsliste geht es in Gen 5 freilich nicht um das göttliche Königtum, sondern um den königlichen, durch die Gottebenbildlichkeit geadelten Menschen (vgl. V. 1–3). 5, 1–5 Die Überschrift in V. 1a hebt sich von den anderen priesterschriftlichen

Genealogien durch die Formulierung „Register der Toledot/Zeugungen“ (sēpær tōl edōt) ab. Das hebr. sēpær ist ein Sammelausdruck für verschiedenartige Schriftstücke. Da keine Angaben zur Beschaffenheit des Schriftstücks gemacht werden, liegt eine Übersetzung nahe, die sich wie das hier gewählte „Register“ am Inhalt des Schriftstücks orientiert.21 Als Überschrift markiert es den Anfang eines Dokuments mit der Genealogie Adams. Ihre Fortsetzung folgt in Gen 11, 10 –26 mit derjenigen Sems. Da diese wie die nachfolgenden Genealogien nur als „Toledot/Zeugungen“ (tōl edōt) bezeichnet wird, liegt die Annahme eines mit Gen  5, 1 einsetzenden Dokuments genealogischen Inhalts nahe, das durch die immer wieder aufgenommene Toledotformel gegliedert wird.22 Die Rückbezüge auf Gen  1, 26 –28 in V. 1b–2. 3a verdanken sich dann der Einbindung dieses Dokuments in die Priesterschrift, was zur Abweichung vom genealogischen Schema und zu einer leichten sprachlichen Unebenheit in V. 3a (s.  o. Anm. 1) geführt hat. Die These eines „Toledotbuches“ wird dadurch gestützt, dass die separate Tradierung genealogischer Wissensstoffe unter traditionsgeschichtlichen Gesichtspunkten höchst wahrscheinlich ist. Gleichwohl ist nicht gänzlich auszuschließen, dass die Erwähnung eines „Registers der Zeugungen Adams“ ein literarisches Mittel der Priesterschrift ist, die durch die vermeintliche Quellenangabe die Dignität der eigenen Genealogien herausstellt. Wie dem auch sei, durch die Überschrift in V. 1a wird die mit Adam einsetzende Menschheits- und später Israelgeschichte von ihrem schöpfungsgeschichtlichen Prolog in Gen 1, 1–2, 3 abgesetzt. Die  V. 1b–3 leiten von der Schöpfung der Gattung Mensch als Ebenbild Gottes (V. 1b; vgl. Gen  1, 26a. 27a), der sexuellen Ausdifferenzierung (V. 2a; vgl. Gen  1, 27b) und dem Schöpfersegen (V. 2b; vgl. Gen  1, 28) zur Geschichte einzelner Menschen über, in der sich der Segen realisiert (V. 3). Der Übergang wird in V. 3 durch die Benennung Sets durch Adam ( ʾādām) markiert, die ihre sachliche Entsprechung in der Benennung der Gattung Mensch ( ʾādām) durch Gott hat (V. 2b). Ebenso greift der vom Schema der Genealogie abweichende Vermerk, Adam habe Set als „ihm gleich, gemäß seinem Bilde“ gezeugt (V. 3a), mittels des Zitats in V. 1b die Menschenschöpfung in Gen 1, 26 f auf. In signifikanter Weise tritt an die Stelle des göttlichen 21  Die gängige Übersetzung mit „Buch“ ist schwierig, da dies die anachronistische Vorstellung eines gebundenen Buches hervorruft. Sollte ausdrücklich eine Buchrolle gemeint sein, wäre eher das hebr. m egillā zu erwarten. 22  Grundlegend: G. von Rad, Die Priesterschrift im Hexateuch, BWANT  65, Stuttgart 1934, 33 –   4 0. Zur Diskussion vgl. den Überblick bei Bührer, Anfang, 156 –160. Carr, Formation, 83 –114.

Das Register der Zeugungen Adams

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Schaffens (*br  ʾ) von nun an die Begrifflichkeit des Zeugens (*yld hi.), womit sich zugleich die Segenszusage in Gen 1, 28 realisiert. Der Übergang von der Schöpfung der Menschheit zur Generationenfolge der Nachkommen vollzieht sich also in der Zeugung und Benennung des ersten Nachkommens. Vermittelt durch die Generationenkette haben alle Menschen Anteil an der Gottebenbildlichkeit des ersten Menschenpaares bzw. der Gattung Mensch. Die Gottebenbildlichkeit pflanzt sich fort; bei den künftigen Generationen muss dies nicht eigens vermerkt werden.23 Zuweilen gelten V. 1b–2 wegen des wechselnden Gebrauchs von ʾādām als Eigenname in V. 1a. 3 und als Gattungsbegriff in V. 1b–2 und wegen des als redundant empfundenen Rückgriffs auf Gen  1, 26 –28 als Nachtrag zur Einbindung von Gen 2 , 4  –  4, 26.24 Diese Bewertung verkennt die kompositionelle Funktion des Abschnitts. Auch wäre bei einer redaktionellen Wiederaufnahme zur Einbindung des nicht-priesterschriftlichen Textbestandes zu erwarten, dass der Faden dort aufgenommen wird, wo er verlassen wurde, also mit einer Notiz über die Vollendung der Schöpfung, oder dass in irgendeiner Weise auf die Paradieserzählung oder die Erzählung von Kain und Abel Bezug genommen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Nach Gen 4, 25 ist Set (zur Namenserklärung s. zu Gen 4, 25) der drittgeborene Sohn Adams. Die dort gebotene Erklärung des Namens weist ihn als Ersatz für den getöteten Abel aus. Doch verdankt sich diese Erklärung wie auch die Unterschiede in der Reihenfolge und der Bezeichnung Kains als Sohn Adams der Verbindung von Genealogie und Brudermorderzählung durch den weisheitlichen Erzähler. Die Priesterschrift weiß offenkundig nichts von Kindern, die vor Set geboren sind, da die anderen Söhne und Töchter ausdrücklich nach Set genannt werden. Die Priesterschrift dürfte mit Adam – Set – Enosch – Kain/Kenan die ursprüngliche Generationenfolge bieten (s. S. 186 f zu Gen 4, 25). Die  V. 6 –8 bieten erstmals vollständig und unverändert das Schema der 5, 6 –20 Genealogie. Ihm folgen auch die Einträge in V. 9 –11. 12 –14. 15 –17. 18 –20. Wie in Gen  4, 26 gilt Set als Vater des Enosch (zur Namenserklärung s. zu Gen  4, 26). Der Name von dessen Sohn Kenan ist eine Variation zu Kain. Eventuell handelt es sich um einen Diminutiv oder eine Koseform (zur Namenserklärung s. zu Gen  4, 1–2).25 Die unterschiedliche Schreibweise erleichtert die Lesart des vorliegenden Textzusammenhangs, wonach die Kainiten von den Setiten einschließlich Kenans zu unterscheiden sind. Mahalalel „Preis Gottes“ oder „Gott preisend“ entspricht Mehujaël in der Kainitengenealogie in Gen  4, 18, ist aber anders als dort der Sohn von Kenan/ Kain und nicht dessen Urenkel. Die Bedeutung des Namens Jered ist wie bei seinem Pendant Irad in Gen  4, 18 ganz ungewiss. Die verschiedenen Vorschläge für Jered reichen von einer Verbindung mit dem hebräischen Wort Vgl. Dillmann, 113. Vgl. Holzinger, 58 f; Levin, Jahwist, 100; Seebaß, 180. 25  Vgl. Hess, Personal Names, 67 f, sowie a.a.O., 68 –71, zu den folgenden Namen. 23  24 

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für Rose oder Blüte bis zu einem etymologischen Zusammenhang mit dem akkadischen (w)ardu(m) „Sklave“. Wahrscheinlicher ist eine Herleitung von der Wurzel *yrd „herabsteigen“. Denkbar ist ein Satzname „N.N. steigt (zur Hilfe) herab“, wobei das theophore Element fortgefallen ist. In der frühjüdischen Exegese wurde die Verbindung mit der Wurzel *yrd damit erklärt, dass zur Zeit Jereds die Göttersöhne (vgl. Gen  6, 2) vom Himmel herabgestiegen seien (vgl. Jub 4, 15). Der genealogische Eintrag zu Henoch (zur Namenserklärung s. zu 5, 21–24 Gen 4, 17 ) weicht vom Schema ab. In dem Element „er lebte noch [x] Jahre nach der Zeugung des erstgeborenen Sohnes“ wird „er lebte“ durch „er wandelte mit Gott“ ersetzt (V. 22). Statt der abschließenden Todesnotiz heißt es, „Gott habe Henoch weggenommen“ (V. 24). Das „Wegnehmen“ (*lqḥ) ist mit Sicherheit kein synonymer Ausdruck für „sterben“. Wie es später von Elia berichtet wird (vgl. 2Kön 2, 3. 5. 9. 10), starb Henoch keines natürlichen Todes. Er wurde mitten im Leben in die himmlische Welt entrückt, wobei sich die Priesterschrift anders als die Eliaüberlieferung (vgl. 2Kön 2, 11) über die näheren Umstände der Entrückung und das Wohin ausschweigt. Lediglich eine Begründung wird angedeutet, insofern der Notiz die nochmalige Feststellung vorausgeht, Henoch sei mit Gott gewandelt. Die Formulierung „mit Gott wandeln“ (*hlk hitp. + ʾæt hā- ʾælōhīm) bezeichnet wie das häufiger belegte „vor Gott/Jhwh Wandeln“ (*hlk hitp. + li-pnē; vgl. Gen 17, 1 P; 24, 40; 48, 15; 2Kön  20, 3 par. Jes  38, 3; Ps  56, 14; 116, 9; ferner Mi  6, 8; Mal  2, 6) einen frommen Lebenswandel und hat darüber hinaus vielleicht auch noch den Aspekt einer besonderen Vertrautheit mit Gott (vgl. *hlk hitp. + ʾæt in 1Sam 25, 15). Die Formulierung begegnet nur noch im Zusammenhang mit Noach, dem die Priesterschrift im Unterschied zu seinen Zeitgenossen Gerechtigkeit und Vollkommenheit bescheinigt (Gen 6, 9). Die leichte Variation der üblichen Formulierung stellt offenkundig eine Verbindung zwischen beiden Aussagen her (vgl. Hebr  11, 5). Das Urteil über Noachs Wandel mit Gott steht im ausdrücklichen Gegensatz zum Urteil über seine Zeitgenossen und dient zur Begründung für das Kommen der Flut und für die Rettung Noachs. Folgt man den Altersangaben des Sam, so wird für Henoch implizit eine ganz ähnliche Aussage getroffen. Durch seine Entrückung wird Henoch wie Noach vor einem vorzeitigen Tod gerettet, während die drei folgenden Generationen im Jahr der Flut sterben. Da die Notiz über die Entrückung noch einmal ausdrücklich betont, dass Henoch mit Gott wandelte, liegt es in jedem Fall nahe, hier an einen Kausalzusammenhang zu denken: Der mit Gott wandelnde Henoch wird um seines Lebenswandels willen entrückt und vor dem Tode bewahrt. In der Entrückung Henochs deutet sich die Rettung Noachs an. Lebenswandel und Ergehen dieser beiden Patriarchen sind beispiellos unter den Zeitgenossen.26 Die äußerste Knappheit der Notiz über Henochs außergewöhnliches Schicksal spricht für die Annahme, dass die 26 

Vgl. Witte, Urgeschichte, 76.

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Priesterschrift auf eine breitere Tradition anspielt. In diese Richtung weisen auch die 365  Jahre, die Henoch auf Erden lebte. Die Zahl 365 hängt mit dem Sonnenjahr zusammen. Das könnte auf einen schon der Priesterschrift bekannten astralreligiösen oder astronomischen Hintergrund der Figur Henochs hindeuten (vgl. später Jub  4, 17 ). In der jüdischen Apokalyptik ist Henoch jedenfalls eine der bedeutendsten literarischen Gestalten, mit der sich ein umfangreiches Schrifttum verbunden hat.27 Henochs Sohn Metuschelach (Methusalem) ist das Pendant zu dem in 5, 25 –27 Gen 4, 18 genannten Metuschaël, der ebenfalls als Vater des Lamech bezeichnet wird, aber als Urenkel des Henoch gilt. Wie bei Metuschaël lässt sich das erste Element des Namens mit dem westsemitischen mutu „Mann, Held, Krieger“ in Verbindung bringen. Die Herleitung des zweiten Elements ist unsicher. Diskutiert wird, ob es mit dem vergöttlichten Unterweltsfluss Šelaḥ zusammenhängt:28 „Mann des (Gottes) Šelaḥ“. Die LXX gibt den Namen mit Μαθουσαλα wieder, woraus in der Vulgata Mathusalam und dann im Deutschen Methusalem wurde. Da er nach der Fassung des MT von allen vorsintflutlichen Patriarchen, die sich ohnehin durch ein besonders hohes Alter auszeichnen, mit 969 Jahren am längsten gelebt hat, wurde der Name Methusalem im Deutschen sprichwörtlich für ein hohes Alter. Nach der Fassung des Sam erreicht Metuschelach (Methusalem) ein Alter von „nur“ 720 Jahren und stirbt im Jahr der Flut. Über die Bedeutung des Namens seines Sohnes Lamech (s.  o. zu Gen 4, 18 f ) lässt sich nichts sagen. Der Eintrag zu Lamech weicht in V. 28b–29 in mehrfacher Hinsicht 5, 28 –31 vom genealogischen Schema seines Kontextes ab. Wie bei Adam werden die Zeugung des erstgeborenen Sohnes und seine Benennung unterschieden, was hier eine in Gen  5 sonst nicht übliche Erklärung des Namens nach sich zieht. Im priesterschriftlichen Kontext fällt zudem der Gebrauch des Gottesnamens Jhwh auf. Darüber hinaus greift die Namenserklärung mit der Formulierung „von dem Erdboden, den Jhwh verflucht hat“ (min hā- ʾadāmā ʾašær   ʾēr   erāh Yhwh) über Gen  4, 11 auf Gen  3, 17 zurück, während ihr erster Teil auf Gen 6, 5 –8*; 8, 20 –21 vorverweist. Sämtliche Bezugstexte der Namenserklärung gehören zum nicht-priesterschriftlichen Stratum. Daher liegt es nahe, die (Teil-)Verse als eine versprengte Notiz des weisheitlichen Erzählers über die Geburt Noachs zu bewerten, die ursprünglich auf Gen  4, 25 f und eine entsprechende Geburtsnotiz gefolgt ist.29 In der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers wird es sich also bei den Worten, die im vorliegenden Textzusammenhang Lamech in den Mund gelegt sind, um einen Ausspruch des Enosch gehandelt haben. Der restliche Bestand von V. 28 dürfte der Priesterschrift entstammen, die hier ebenfalls die Geburt Noachs notiert hat und sehr wahrscheinlich analog zu den übrigen Geburtsnotizen formuliert hat: „da zeugte er Noach“. Der Name Noach B. Ego, Art. „Henoch/Henochliteratur“, WiBiLex (2007 ). Vgl. B. Becking, Art. „Shelah“, DDD2 (1999) 762  f. 29  So schon Gunkel, 54  f. 27  28 

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(Nō     aḥ) ist wahrscheinlich von der Wurzel *nūḥ „ruhen“ abzuleiten (vgl. Nōḥā in 1Chr  8, 2; Mānō     aḥ in Ri  13).30 Die LXX trägt dem Rechnung und liest in V. 29 διαναπαύσει ἡμᾶς „er wird uns Ruhe verschaffen“ (hebr. y  enīḥēnē ). Die schwierigere, besser bezeugte und daher zu präferierende Lesart des MT „er wird uns trösten“ (    y  enaḥ     amēnū ) bringt den Namen aufgrund der klanglichen Nähe mit der Wurzel *nḥm „trösten“ in Verbindung. Worin der Trost des Noach besteht, lässt sich nur schwer sagen. Im vorliegenden Textzusammenhang wird wegen der Motivassoziation von „Wein“ und „Trost“ gerne an Noachs Erfindung des Weinbaus gedacht (Gen  9, 20).31 Wein hat seither sicher über einiges hinweggetröstet (vgl. Ps  104, 15; Spr  31, 6 f ), doch geht die Erzählung von Noach als Weinbauer auf eine spätere Redaktion zurück. Vor allem aber fehlt der Erzählung jeglicher Hinweis auf den von Noach gespendeten Trost. Vielmehr endet sie für einen der Nachkommen Noachs mit einem neuen Fluch (Gen  9, 25). In Verbindung mit dem Rückverweis auf Gen  3, 16. 17 ( ʿiṣṣābōn „Mühsal“) dürfte das Motiv des Trostes eher auf die am Ende der Flut und als Reaktion auf Noachs Dankopfer gegebene Zusicherung Jhwhs vorausblicken, die Erde fortan nicht mehr verfluchen zu wollen (vgl. S.  243 f, 275 –277 zur Auslegung von Gen  6, 6 und 8, 20 –21). In der Perspektive der handelnden Personen ist die Namenserklärung als offener Wunsch formuliert, der in der Urgeschichte seine Realisierung in dem mit Noach gesetzten Neuanfang nach der Flut erfährt.32 Nach MT erreicht Lamech ein Alter von 777 Jahren. Es ist denkbar, dass diese Zahl auf einer gelehrten Überlegung eines späten Schreibers beruht und auf die 77–fache Rache des Kainiten Lamech in Gen 4, 24 anspielt.33 5, 32 Das „Register der Zeugungen Adams“ schließt mit der Notiz über die Zeugung der Söhne Noachs. Damit geht die lineare Genealogie mit Blick auf die kommenden Ereignisse in eine segmentäre Genealogie mit drei Linien über, in denen sich bereits die Entstehung der nachsintflutlichen Völkerwelt ankündigt. Der Name Jafet ist im Alten Testament nur in der Zusammenstellung der Söhne Noachs belegt (Gen  6, 10; 7, 13; 9, 18 –27; 10, 1–32; 1Chr  1, 4 f ). Sem begegnet zudem in den „Toledot/Zeugungen Sems“ (Gen 11, 10. 11; vgl. 1Chr 1, 17. 24), für Ham finden sich noch drei auf das Ägypten der Exoduserzählung bezogene Erwähnungen des „Landes Hams“ (Ps  78, 51; 105, 23. 27; vgl. 1Chr  4, 40). Sem (Šēm) ist vermutlich ein Kunstname, dessen Bedeutung „Name“ auf den Nachruhm der mit Sem eröffneten Linie hinweist. Zur Etymologie vgl. Witte, Urgeschichte, 208 –210. Erstmals Budde, Urgeschichte, 306  f. Vgl. Gunkel, 54 f; Jacob, 167; von Rad, 103; Westermann, 487; Seebaß, 184  f. Skeptisch u.  a. Arneth, Adam, 204. 32  Ähnlich Witte, Urgeschichte, 215 –217, der Gen 5, 29 der Endredaktion zuweist und die Realisierung dieses Wunsches in der priesterschriftlichen Darstellung der Segnung Noachs und der Zusage eines „ewigen Bundes“ (Gen 9, 1–7. 8 –17 ) erkennt. Doch kommt hierfür auch Gen 8, 20 –21 in Frage, da auch der weisheitliche Erzähler in Noach den neuen Adam erkannt hat. 33  Vgl. Wellhausen, Prolegomena, 309. 30  31 

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Die Etymologie des Namens Ham (Ḥām) ist unsicher. Denkbar ist eine Verbindung mit dem ägyptischen ḥm „Diener“ („Diener des Gottes N.N.“). Ein anderer Vorschlag leitet den Namen von dem gleichlautenden hebräischen Wort für Schwiegervater, genauer für den Vater des Mannes ab (vgl. Gen 38, 13. 25; 1Sam 4, 19. 21). Darüber hinaus lässt sich im Hebräischen aus dem Namen auch das gleichlautende Adjektiv „heiß“ heraushören, das jedoch nicht in Personennamen belegt ist. Möglicherweise hat das ägyptische Namenselement beim Übergang in die Levante eine „semitische“ Neucodierung erfahren (vgl. dazu die Namensgebung für Mose durch die Tochter des Pharao nach Ex 2,10).34 Der Name Jafet (Yǣpæt) wird in der Regel mit dem aus der griechischen Mythologie bekannten Titanen Japetos, dem Vater des Atlas, Menoitios, Prometheus und Epimetheus, verbunden. In der Priesterschrift sind auf Gen  5, 32 ursprünglich mit Gen  6, 9 f unmittelbar die Toledot/Zeugungen Noachs gefolgt, die abermals die drei Söhne Noachs erwähnen. Diese Wiederholung wirkt wie die betonte Wiederholung des Subjekts Noach in V. 32b auf den ersten Blick redundant. Doch ist dies kein Grund, den Vers der Priesterschrift abzusprechen oder als Argument gegen die Annahme einer ehedem selbständigen Priesterschrift anzuführen.35 Wie Gen 11, 26 und 11, 27 belegen, ist es nicht ungewöhnlich, dass die Abschlussformulierung einer Genealogie bereits auf die nächste hinweist. Im Kontext der viermaligen Nennung Noachs in Gen  6, 9 f erstaunt dann auch die Wiederholung seines Namens in V. 32b nicht. Da die drei Söhne Noachs den Zielpunkt der Genealogie bilden und nur Noach und seine drei Söhne (samt Frauen) in der Flut gerettet werden, fehlt die Angabe über weitere Söhne und Töchter Noachs (so auch bei Terach in Gen 11, 26). Die verbleibende Lebenszeit (nach der Flut) wird sachgemäß zusammen mit der gesamten Lebenszeit nach Abschluss der Erzählungen von Noach nachgetragen (Gen  9, 28 –29). Das mit 500 Jahren im Vergleich zu den anderen Patriarchen wesentliche höhere Alter Noachs bei der Zeugung seiner Söhne verdankt sich dem Fluttermin, der in das 600. Jahr Noachs datiert ist (Gen 7, 6), und der Überlegung, dass es sich bei den Söhnen Noachs um die letzte Generation vor der Flut gehandelt hat.

34  35 

Vgl. Hess, Personal Names, 30  f. Zur Diskussion vgl. Gertz, Genesis 5, 78  f.

V. Genesis 6, 1–  4: Göttersöhne und Menschentöchter 6, 1 Und es geschah, als der Mensch anfing, auf dem Erdboden zahlreich zu werden, und ihnen Töchter geboren wurden,   2 da sahen die Göttersöhne die Menschentöchter, dass sie gut waren, und sie nahmen für sich Frauen von allen, die sie auswählten.   3 Und Jhwh sprach: Mein Geist soll nicht für ewig im Menschen wirksam sein1, denn auch er2, er ist Fleisch. So betrage seine Lebenszeit 120 Jahre.   4 Die Riesen waren auf der Erde in jenen Tagen (und auch später noch), als die Göttersöhne zu den Menschentöchtern eingingen und sie ihnen [Kinder] gebaren: Das sind die Helden von alters her, Männer des Namens. Analyse: Der Abschnitt geht auf die Redaktion zurück, w  e-gam ʾaḥ     arē kēn „und auch später noch“ in V. 4 ist eine Glosse.

Kontext Die enigmatische Episode über Göttersöhne und Menschentöchter wird

häufig als Fremdkörper in der biblischen Urgeschichte wahrgenommen. Das liegt in erster Linie an ihren mythischen Motiven. Doch bei genauerer Betrachtung unterscheidet sie sich hierin nicht allzu sehr von ihrem Kontext: Das wertungsfreie Erzählen vom sexuellen Umgang einer Mehrzahl männlicher Götterwesen mit menschlichen Frauen und dessen Folgen mag heutige Leser irritieren, es fügt sich aber recht gut in die mythisch geprägte Vorstellungswelt der biblischen Urgeschichte ein, die auch andernorts eine Mehrzahl von himmlischen Wesen voraussetzt (Gen 1, 26; 2, 1; 3, 22; 11, 7; vgl. 5, 24), Zwischenwesen wie die Cheruben kennt (Gen 3, 24), über weite Strecken von einer direkten Interaktion zwischen Gott und Mensch handelt (vgl. nur Gen  3, 8 ff ) und mit der sprechenden Schlange einen Akteur auftreten lässt, der wie die Riesen eher ins Märchen gehört (Gen 3, 1 ff ). Gleichwohl ist

1  Das hebr. yādōn ist ein Hapaxlegomenon von einer sonst im Hebr. nicht belegten Wurzel *dūn oder *dnn (vgl. aber den Personennamen Jadon in Neh 3, 7 ) wie akkad. danānu „gewaltig/mächtig sein“. Die LXX übersetzt mit καταμένω „bleiben“, was wohl hebr. *dūr „wohnen“ (vgl. 4Q252 1, 2 [DJD XXII, 185 –207 ]) voraussetzt. 2  b e-šag-gam ist ein zusammengezogenes Wort aus der Präposition b e + Relativpartikel ša + gam „auch“. Ähnliche Wortbildungen aus ša/šæ mit zwei weiteren Partikeln finden sich im Alten Testament sonst erst im hellenistischen Koheletbuch (b e-šæk-kebār in Pred 2 , 16; vgl. auch šæg-gam zǣ in Pred  1, 17; 2 , 15; 8, 14). ša/šæ mit einer weiteren Partikel ist vereinzelt schon in früheren Texten belegt, öfter aber erst in Hhld und Pred. Zu anderen Vorschlägen („wegen ihrer Verfehlungen“; „wegen ihres Brüllens“) vgl. die berechtigte Kritik bei Witte, Urgeschichte, 67 sowie u. Anm.  14. Auf eine interessante, bereits von den Rabbinen gemachte Beobachtung (BerR XXVI, 6) hat R.A. Rosenberg, Beshaggam and Shiloh, ZAW  105 (1993) 258 –261, aufmerksam gemacht. Nach der Gematrie beträgt der Zahlenwert von Mose und b e-šag-gam jeweils 345. Sollte die außergewöhnliche Wortbildung dem Zusammenhang von V. 3 mit der Notiz über Moses Tod im Alter von 120 Jahren nach Dtn 34, 7 (s.  u. zur Auslegung von V. 3) geschuldet sein?

Göttersöhne und Menschentöchter

205

der Eindruck einer Sonderstellung im Kontext der biblischen Urgeschichte nicht unberechtigt. Das liegt an ihrer Art des Erzählens, der allenfalls noch die Notiz zur Entrückung Henochs in Gen 5, 24 an die Seite gestellt werden könnte. Die äußerst knapp gehaltene Erzählung führt ihr Thema nicht aus. Sie scheint bei ihren ursprünglich intendierten Rezipienten ein breites Vorwissen vorauszusetzen und begnügt sich mit Anspielungen, die heutigen Lesern und Leserinnen selbst unter Einbeziehung des religionsgeschichtlichen Vergleichsmaterials kaum noch verständlich sind. In der Forschung hat ihr das die Charakterisierung als „Fragment“ oder „Torso“ eingetragen.3 Gen  6, 1–  4 ist nach vorn durch die Einleitungsformel „Und es geschah“ (way  ehī kī; vgl. 26, 8; 27, 1) und nach hinten durch die Ätiologie zu den „Helden der Vorzeit“ abgegrenzt. Kompositorisch dient der Abschnitt als Brücke zwischen dem Register der Zeugungen Adams in Gen  5 und der Fluterzählung in Gen 6, 5 –9, 17. Mit den vorangehenden Genealogien hat er das Thema der Vermehrung der Menschen gemeinsam, nur dass jetzt die bislang nur en passant erwähnte weibliche Nachkommenschaft im Vordergrund steht (vgl. Naama in Gen  4, 22 sowie die formelhafte Notiz zur Geburt weiterer Söhne und Töchter in Gen  5, 4 u. ö.). Das Nachtragen der weiblichen Linie geschieht im deutlichen Rückgriff auf den Anfang der Zeugungen Adams in Gen  5, 1–3, da sich die Episode selbst in einer Zeit verortet, in der sich Menschen zu vermehren begannen (V. 1).4 Die nachfolgende Fluterzählung klingt leise in Jhwhs Reaktion auf die Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern an. Das Verdikt über den Menschen „er ist Fleisch“ (V. 3) wirkt im Rückblick wie der erste Schritt hin zu Gottes Urteil, wonach „alles Fleisch seinen Weg auf der Erde verdorben hatte“ (Gen 6, 12), und der Feststellung des Erzählers, dass „das Ende alles Fleisches vor Gott gekommen ist“ (Gen  6, 13). Mit der Fluterzählung ist die Episode ferner dadurch verbunden, dass sie einen vorsintflutlichen Kontrast zu der nachsintflutlichen Welt der Verfasser beschreibt, in der es zumindest nach alttestamentlicher Darstellung keine sexuelle Verbindung zwischen Göttersöhnen und Menschentöchtern mehr gibt. Gen 6, 1–  4 oder ein Kernbestand des Abschnitts wird häufig als (weitere) Einleitung zur (nicht-priesterschriftlichen) Fluterzählung in Gen  6, 5 ff verstanden.5 So ist die Episode von den Göttersöhnen und Menschentöchtern nach einer breit rezipierten These Gerhard von Rads neben dem Griff nach der verbotenen Frucht, dem Brudermord und dem Turmbau ein Beleg dafür, dass die jahwistische Urgeschichte „menschlicherseits gekennzeichnet [ist] durch ein lawinenartiges Anwachsen der Sünde“6. Das Aufkommen des „Übermenschentums“ aus der Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern werte der „Jahwist“ als furchtbare „Entartung der ganzen Gunkel, 59. Vgl. Schüle, Prolog, 220. 5  So u.  a. mit jeweils sehr unterschiedlichen Begründungen und Auswertungen des vermeintlichen Zusammenhangs mit der Fluterzählung Jacob, 169 –182; Speiser, 46; Scharbert, 78 f; Ruppert, 265 –269; ferner Hendel, Demigods, 16 –24; Levin, Jahwist, 104; H.S. Kvanvig, History, 274  –310. 6  von Rad, 116. 3  4 

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Genesis 6, 1–  4

Schöpfung“ und „Überhandnehmen der Sünde“, aus dem Gott mit der Sintflut die „entsprechenden Folgerungen“ ziehe.7 Es ist allerdings mehr als fraglich, dass schon die Episode in Gen 6, 1–  4 eine allgemeine Verderbnis der Menschen anprangert, wie das dann im Flutprolog explizit der Fall ist (vgl. Gen 6, 5 wE und Gen 6, 12 f P).8 Die Verbindung zwischen den Göttersöhnen und Menschentöchtern geht eindeutig von den Göttersöhnen aus, während die Frauen als rein passiv geschildert werden. Anders als es von Gen  6, 5 her von einem Prolog zur Flutgeschichte zu erwarten wäre, wird in Gen 6, 1–  4 also weder von menschlicher Schuld noch von einem Anwachsen der Sünde gesprochen.9 Wie dagegen ein Kausalzusammenhang zwischen den sogenannten „Engelehen“ und der Flut aussieht, zeigt die frühe Rezeptionsgeschichte (vgl. u. zu V. 2).10 Davon abgesehen leuchtet es nicht ein, dass Gott die Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern zum Anlass nimmt, die menschliche Lebensdauer auf 120 Jahre zu begrenzen, wenn das Strafgericht und mit ihm die Auslöschung allen Fleisches auf Erden die unmittelbare Konsequenz der sexuellen Verbindung zwischen Göttersöhnen und Menschentöchtern sind.11 Als weiteres Argument für eine Verbindung von Gen 6, 1–  4 mit der Fluterzählung wird sodann auf die mesopotamische Fluttradition verwiesen.12 Im altbabylonischen Atram­ḫasis-Epos, der den biblischen Autoren als Vorlage für die eigene Sintfluterzählung gedient hat (s.  u. S.  235 –238 zu Gen  6, 5 –9, 17 ), reagieren die Götter auf die übermäßige Vermehrung der Menschen und den dadurch verursachten Lärm zunächst mit schweren Plagen und schließlich mit der Sintflut. Nach der Flut wird das menschliche Leben neu geordnet, um eine abermalige übermäßige Vermehrung von vornherein zu verhindern (Atr III vi, 46 –vii, 11). Zwar erinnert das Motiv Vermehrung der Menschheit an Gen 6, 1a,13 aber mit diesem sehr unspezifischen und in jeder Urgeschichte erwartbaren Motiv erschöpfen sich die „Parallelen“ von Gen 6, 1–  4 und dem Atram­ḫasis-Epos. Auslöser der Flut ist im Atram­ḫasis-Epos das Lärmen der Menschen, das in Gen 6, 1–  4 (und der Sintfluterzählung in Gen 6, 5 –9, 17 ) keine Rolle spielt,14 während andererseits die Verbindung von Götterwesen und Menschen aus von Rad, 85. Vgl. Seebaß, 188; Kvanvig, History, 277; Bührer, Göttersöhne, 508. Anders Oeming, Sünde, 46 –50, der in Gen 6, 1–  4 ein Verständnis von Sünde als „Verhängnis“ erkennt. 9  Dies spricht auch gegen Westermann, 494  –  497, der die Episode als eine von vier „Erzählungen von Schuld und Strafe“ (66) und Darstellung der „Vielfalt der Sünde in ihren Grundmöglichkeiten“ (498) charakterisiert. 10  Day, Creation, 86  f. 11  Schüle, Prolog, 227  f. 12  Vgl. E.G. Kraeling, The Significance and Origin of Gen. 6: 1–  4, JNES  6 (1947 ) 193 –208; Kvanvig, History, 279, 303 –310. Nach Hendel, Demigods, 16 f, 23 f, und Levin, Jahwist, 104, greift Gen 6, 5 („Da sah Jhwh, dass die Bosheit des Menschen zahlreich war auf der Erde“) auf Gen 6, 1 zurück und deutet so die Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern als Beleg für das Überhandnehmen des Bösen unter den Menschen. Diese Auslegung beruft sich auf die Verwendung von rbb „zahlreich werden“, übersieht aber die bei einem gezielten Querverweis nicht erklärbaren Formulierungsunterschiede (bā- ʾāræṣ „auf der Erde“ in V. 5 statt ʿal p enē hā- ʾadāmā „auf dem Erdboden“ in V. 1). 13  Vgl. Levin, Jahwist, 104. 14  Dieses Motiv lässt sich gegen D.J.A. Clines, The Significance of the „Sons of God“ Episode (Genesis 6:1–  4) in the Context of the „Primeval History“ (Genesis 1–11), JSOT 13 (1979) 33 –  46, 40; Kvanvig, History, 285, nicht über die Ableitung des b e-šag-gam („denn auch er“; s.  o. Anm. 2) aus dem akkad. šagāmu „brüllen, schreien“ in den Text von Gen  6, 1–  4 hineinlesen. Diese Wurzel ist im Hebr. nicht belegt, die vorgeschlagene Übersetzung von bešaggam „mit Lärmen“ ergibt im vor7  8 

Göttersöhne und Menschentöchter

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Gen  6, 1–  4 im Atram­ḫasis-Epos ohne Parallele ist. Auch erfolgt im Aufriss der biblischen Urgeschichte die Minderung menschlicher Lebensbedingungen im Gegensatz zum Atram­ḫasis-Epos bereits vor der Flut (vgl. außer der Begrenzung der Lebenszeit nach Gen  6, 3 vor allem Gen  3, 16 –19. 22). Aus alldem folgt: Gen  6, 1–  4 ist nicht in das Aussagegefälle der Sintfluterzählung einzuordnen. Vielmehr gilt es, die Episode und die in ihr versammelten Motive als eigenständige Erzählinhalte auszulegen.

Über die literatur- und religionsgeschichtliche Einordnung von Gen  6, 1–  4 Entstehung zeichnet sich in der Forschung kein Konsens ab, weshalb die Auslegungen sehr voneinander abweichen. Unumstritten ist lediglich, dass der Abschnitt nicht auf die Priesterschrift zurückgeht. Wie er innerhalb der nicht-priesterschriftlichen Texte zu verorten ist, wird hingegen kontrovers diskutiert: Der Text gilt einigen als einheitlich, andere rechnen mit einer tiefgreifenden Überarbeitung, die sich für manche auf mehr als drei Fortschreibungen verteilen lässt. Erkennen die einen in Gen 6, 1–  4 sehr altes mythologisches Material, so verorten die anderen den Text in der frühjüdischen Henochüberlieferung oder in der Auseinandersetzung mit dem hellenistischen Heroenkult. Im Rahmen der Neueren Urkundenhypothese wird der Abschnitt vielfach zum Kernbestand eines „jahwistischen“ Geschichtswerks gerechnet. In den V. 1–2(. 4) wird dann zumeist ein Fragment eines älteren Mythos von den Göttersöhnen erkannt, das vom „Jahwisten“ aufgenommen und durch die Einschreibung von V. 3 entmythologisiert und als Einleitung zur Sintfluterzählung ausgestaltet wurde.15 Daneben gibt es innerhalb wie außerhalb der Neueren Urkundenhypothese Stimmen, die Gen  6, 1–  4 als Nachtrag zum „Jahwisten“ bewerten16 oder in dem Abschnitt eine schriftgelehrte Fortschreibung sehen, die bereits die priesterschriftlichen Textanteile voraussetzt.17 Die Mannigfaltigkeit und Unvereinbarkeit der vorgeschlagenen Lösungen bestätigen in gewisser Weise ein älteres Votum von Martin Noth: „Gen 6, 1–  4 steht in jeder Hinsicht so isoliert da, daß über die Quellenhaftigkeit dieses Stückes schlechterdings nichts Sicheres auszumachen ist; es kann J, aber auch JS, oder aber ein Zusatz zum fertigen Pentateuch sein.“18 Mit diesem Vorbehalt wird im Folgenden die These vertreten, dass der Abschnitt mit Ausnahme der Glosse w  e-gam ʾaḥ     arē kēn „und auch später noch“ in V. 4 (s.  u. zu V. 4) literarisch einheitlich ist und dass er auf keine der beiden Hauptliegenden Kontext keinen Sinn und das zur Begründung für diese Herleitung angeführte Atram­ ḫasis-Epos verwendet an den fraglichen Stellen für den Lärm der Menschen nicht šagāmu, sondern rigmu und ḫubūru. 15  von Rad, 83 –85; Westermann, 494  –500. Oeming, Sünde. Nach Levin, Jahwist, 103 –117, stammt V. 1 f als Einleitung zur Fluterzählung vom Jahwisten, während in V. 3 f vier verschiedene Nachträge versammelt sind. 16  Vgl. Gese, Lebensbaum, 85. 17  Jeweils mit einer anderen Gesamtsicht der Entstehung von Gen 1–11: Scharbert, 32 , 78 –81; Witte, Urgeschichte, 65 –74, 293 –297; Schüle, Prolog, 219 –246; Bosshard-Nepustil, Sintflut, 208 – 210; Arneth, Adam, 210 f; Bührer, Göttersöhne. 18  Noth, Überlieferungsgeschichte, 29 Anm. 83.

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Genesis 6, 1–  4

stimmen der biblischen Urgeschichte zurückgeht, sondern aus dem Umfeld der redaktionellen Verbindung der Priesterschrift mit der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers stammt. Die vorgeschlagene literarhistorische Einordnung von Gen 6, 1–  4 hat sich in der Beschreibung des Verhältnisses des Abschnitts zu seinem Kontext schon angedeutet, die Auslegung der einzelnen Verse wird dies bekräftigen. Die Frage der literarischen Einheitlichkeit entscheidet sich an der Einschätzung von V. 3. Dieser Vers schildert Jhwhs Reaktion auf das Geschehen in V. 1 f und unterbricht auf diese Weise den konventionellen Zusammenhang zwischen „Brautwahl“ (V. 1–2) und „Geburt der Nachkommen“ (V. 4).19 Allerdings schließt V. 4 nicht fugenlos an V. 2 an, denn erstens führt der Nominalsatz am Anfang des Verses „die Riesen waren auf der Erde in jenen Tagen“ die Handlung nicht fort. Zweitens ist der wiederholt vorgeschlagene Anschluss mit yābō   ʾū „sie gingen zu ihnen ein“ (d.  h. sie zeugten Nachkommen) aus V. 4 ebenfalls unmöglich, da die Imperfektform syntaktisch nicht als Satzeinleitung oder Fortsetzung zu V. 2 fungieren kann. Sie ist vielmehr von der Konjunktion ʾašær abhängig, die sich über die Glosse w  e-gam ʾaḥ     arē kēn („und auch später noch“) hinweg auf die zeitliche Verortung „in jenen Tagen“ rückbezieht. Die genannten Probleme eines Anschlusses von V. 4 oder Teilen dieses Verses an V. 1–2 relativieren das Argument einer Unterbrechung des engen Zusammenhangs von V. 1 f und 4 ganz erheblich. Vielfach gelten allerdings schon die sehr komplizierte Konstruktion von V. 4 sowie das uneindeutige Verhältnis von „Riesen“ und „Helden“ in V. 4 als hinreichendes Indiz für den redaktionellen Charakter von V. 3.  Nach dieser Auffassung hat sich die postulierte Einfügung von V. 3 massiv auf den ursprünglichen Text von V. 4 ausgewirkt oder weitere Verschlimmbesserungen durch den ebenfalls nachgetragenen V. 4 verursacht.20 Veranlasst seien die mehrfachen Eingriffe durch die theologischen Schwierigkeiten, die das Fragment einer Erzählung in V. 1 f den alttestamentlichen Autoren bereitet hätte: „Der wiederholte Versuch, den mythischen Torso von Gen 6, 1  f. 19  Vgl. statt vieler Westermann, 495. Bartelmus, Heroentum, 28, führt als das „wohl gewichtigste Argument“ für eine redaktionelle Herkunft von V. 3 an, dass der Vers in der Rezeption von Gen 6, 1–  4 vor dem Jubiläenbuch (vgl. Jub 5, 1. 8) fehle, während die übrigen Verse nahezu wörtlich aufgenommen worden seien. Von der LXX einmal ganz abgesehen, ist der Befund aber komplexer. Zwar wird Gen  6, 1–  4 in 1Hen 6 –11 unter Auslassung von V. 3 zitiert (vgl. 1Hen  6, 1–2a; 7, 1a. 2), doch wird auf V. 3 in 1Hen 10, 9 –10; 13, 6; 14, 4  –7; 15, 3 –6 angespielt (vgl. H.S. Kvanvig, Gen  6, 3 and the Watcher Story, Henoch  25 [2005] 277–300; ders., History, 291–294, dort allerdings mit der These, dass Gen  6, 3 ein von den genannten Stellen abhängiger Einschub in Gen 6, 1–  4 ist). Grund für diese Abweichung ist die unterschiedliche Verwendung der Erzählung. In Gen  6, 1–  4 geht es um die Begrenzung der Lebenszeit für „Halbgötter“ (s.  u. zur Auslegung von V. 3), hingegen beschreibt 1Hen 6 f die Schuld der „Engel“ an der Verderbnis der Welt und damit an der Sintflut. Letzteres gilt auch für das Jubiläenbuch, weshalb V. 3 erst nach dem Flutanfang zitiert wird. Ähnlich wird V. 3 in einem Kommentar zu ausgewählten Abschnitten aus Gen 6 –9, der aus der 2 . Hälfte des 1. Jh. v. Chr. stammt, in einem anderen narrativen Kontext zitiert (4Q252 1, 2 [DJD XXII, 185 –207 ]). 20  Skinner, 146; Westermann, 495; Perlitt, Riesen, 241–243.

Göttersöhne und Menschentöchter

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israelitisch zu erläutern und passabel zu machen, endete im syntaktischen Chaos der Endgestalt von Gen  6, 4.  … Für die Wesen, die am Ende aus der sexuellen Verbindung der Göttersöhne mit den Menschentöchtern hervorgingen, hatte das biblische Israel keinen Begriff, und darum machte es so viele Worte – je später desto mehr.“21 Im Hinblick auf diese Auskunft stellt sich freilich die Frage, warum das „Erzählfragment“ in Gestalt von Gen  6, 1 f oder Gen  6, 1–2. 4* überhaupt in die biblische Urgeschichte eingestellt wurde.22 Welches Erzählinteresse besteht an einer folgenlosen Notiz über die sexuelle Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern (V. 1–2) oder an einer bruchstückhaften Ätiologie der Riesen und Helden der Vorzeit (V. 1–2. 4*), die im Fortgang der Erzählung keine Rolle spielen? Warum sollte der „Jahwist“ oder ein späterer Ergänzer solche Schwierigkeiten provozieren, wenn es ihm nur darum ging, einen „mythischen Torso“ zu relativieren, den er selbst aufgenommen hat? Kurzum: Für Gen  6, 1–2(. 4*) lässt sich im Rahmen der biblischen Urgeschichte kein Überlieferungsinteresse wahrscheinlich machen. Unter Einbeziehung von V. 3 sieht dies hingegen anders aus. V. 3 steht zwischen „Brautwahl“ und „Geburt der Nachkommen“, weil er Jhwhs Reaktion auf das zuvor geschilderte Geschehen benennt und zugleich die Konsequenzen dieser Reaktion für die Nachkommen aufzeigt. Das „Er ist Fleisch“ (hū bāśār) in V. 3 bezieht sich proleptisch auf die Nachkommen der Göttersöhne und Menschentöchter, von denen in V. 4 die Rede ist.23 Deren Lebenszeit wird wie die Lebenszeit aller (anderen) Menschen grundsätzlich auf 120 Jahre begrenzt. In dieser Aussage wird man den entscheidenden Grund dafür vermuten dürfen, dass überhaupt von der Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern im Kontext der vorsintflutlichen Welt gesprochen wird. V. 3 ist demnach keine Ergänzung oder Entschärfung eines „mythischen Torsos“. Vielmehr war die Erzählung von den Göttersöhnen und Menschentöchtern nie ohne V. 3  Teil der Urgeschichte, wobei die äußerst verknappte Erzählweise ein deutliches Indiz dafür ist, dass der Verfasser nicht nur auf mythische Stoffe anspielt, sondern die Kenntnis dieser Stoffe bei seinen intendierten Lesern und Leserinnen voraussetzen kann und diese vielleicht sogar in V. 1–2 „zitiert“. Sexuelle Verbindungen zwischen Göttern und Menschen sind vereinzelt auch in Ugarit (Mythos der Geburt des von El mit zwei sterblichen Frauen gezeugten Götterpaares Šaḥar und Šalim) und Ägypten (der Pharao als Sohn des Gottes Amun-Re und der Königin) belegt. Besondere Aufmerksamkeit verdient die im gesamten alten Vorderen Orient bis in die hellenistische Zeit hinein sehr populäre Figur des Gilgamesch, da sowohl die priesterschriftlichen wie die nicht-priesterschriftlichen Passagen der biblischen Urgeschichte immer wieder Anlehnungen an das Gilgamesch-Epos aufweisen. Der hochgewachsene und überaus schöne Gilgamesch entstammt der Verbindung einer Göttin (  !  ) mit einem König (Gilgm I, 35 f ) und ist zu zwei Dritteln Perlitt, a.a.O., 243  f. Gese, Lebensbaum, 83. 23  Cassuto, I 297; Gese, Lebensbaum, 85; Witte, Urgeschichte, 70; Bührer, Göttersöhne, 503. 21  22 

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Genesis 6, 1–  4

Gott und zu einem Drittel Mensch. Sein Name findet sich auch in Qumran-Fragmenten des sogenannten Buches der Giganten, das in die Nachgeschichte von Gen 6, 1–  4 gehört. Gilgamesch ist danach der Name eines der Riesen, die aus der Verbindung der „Engel“ mit den Menschentöchtern hervorgegangen sind (4Q530 Frgm. 2ii,2 [DJD XXXI, 28 –38]; 4Q531 Frgm. 22 , 12 [DJD XXXI, 74  –78]). Die weitaus meisten und bekanntesten Beispiele für derartige gott-menschliche Verbindungen stammen jedoch aus der griechischen Mythologie. Dies belegt allein schon die Auflistung der Affären des Zeus oder von Göttinnen mit sterblichen Menschen in der Theogonie des Hesiod (Hes.theog. 940 ff, 965 ff ) oder in dem Hesiod zugeschriebenen „Katalog der Frauen“24. Nach Hesiods „Werke und Tage“ geht aus der Vereinigung der Götter mit den Sterblichen ein Geschlecht von Heroen/Halbgöttern hervor, deren Untergang „historisch“ mit dem trojanischen Krieg in Verbindung gebracht wird, der wiederum ähnlich wie die biblische Sintfluterzählung den Übergang zur gegenwärtigen Menschheit markiert (Hes.erg. 106 –201). Die Nähe von Gen 6, 1–  4 zur griechischen Mythologie hatte schon Josephus notiert ( Jos.Ant. I, 73). In jüngerer Zeit wurde sie als Rezeption des griechischen Heroenkonzepts gedeutet, mit dem vor einem hellenistischen Hintergrund die biblische Schöpfungsgeschichte in die Chronologie der griechischen Mythologie eingeordnet werden sollte.25 Doch die Anknüpfungspunkte hierfür sind zu unspezifisch und erklären sich ähnlich wie diejenigen an die Figur des Gilgamesch eher damit, dass Gen  6, 1–  4 in einem breiten Strom mesopotamischer, griechischer und autochthoner Traditionen steht.26 Von literarischen Bezugnahmen ist dagegen im Verhältnis zum „Fall der Engel“ nach 1Hen 6 –11 auszugehen, wie die zum Teil wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Gen 6, 1–2 . 4 und 1Hen 6, 1 f; 7, 1 f deutlich zeigen (über diese Zitate hinaus werden die Ereignisse auch noch rückblickend in 1Hen  9, 8 f; 10, 9 –15; 12, 4 erwähnt). Dabei zeichnet sich die Fassung im 1Hen 6 –11 gegenüber ihrer Parallele in Gen  6, 1–  4 durch Explikationen des Geschehens aus. So werden aus den „Göttersöhnen“ in 1Hen 6, 2 „Engel/Wächter, die Söhne des Himmels“, diese „sehen“ nicht nur „die guten Menschentöchter“, sondern „sehen und begehren die schönen und guten Menschentöchter“. Das spricht neben der konzeptionellen Weiterbildung der Episode in 1Hen 6 –11 für die Priorität von Gen 6, 1–  4.27

6, 1–2 V. 1 ist ein Temporalsatz, der die im Folgenden geschilderten Geschehnisse

mit dem Beginn der menschlichen Mehrungsgeschichte verknüpft (*ḥll hi. „anfangen“ noch in den redaktionellen Texten Gen 9, 20; 10, 8; 11, 6; *ḥll ho. in Gen  4, 26). Der Sache nach führt diese Auskunft zurück zu Gen  5, 1–3 (P). Dadurch fällt die Episode aus der Erzählfolge heraus: Nach der priester-

24  Vgl. die genealogische Übersicht bei M.L. West, The Hesiodic Catalogue of Women. Its Nature, Structure, and Origins, Oxford 1985, 173 –182 . 25  Schüle, Prolog, 228 –232 . 26  Vgl. auch Bührer, Göttersöhne, 512  f. 27  Vgl. Nickelsburg, 1Enoch, 166 –168; D. Dimant, 1 Enoch 6 –11. A Fragment of a Parabiblical Work, JJS  53 (2002) 223 –237. Anders J.T. Milik, The Books of Enoch. Aramaic Fragments of Qumrân Cave 4, Oxford 1976, 30 –32 , der die These vertritt, dass Gen 6, 1–  4 von der aramäischen Fassung des Henochbuches abhängig ist und daraus wörtlich zitiert. Nach Witte, Urgeschichte, 293 –297 gehen Gen 6, 1–  4 und die entsprechenden Passagen in 1Hen 6 –11 auf eine gemeinsame Vorlage zurück. Zum Diskussionsstand vgl. V. Bachmann, Die Welt im Ausnahmezustand. Eine Untersuchung zu Aussagegehalt und Theologie des Wächterbuches (1Hen 1–36), BZAW  409, Berlin 2009, 239 f mit Anm. 340.

Göttersöhne und Menschentöchter

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schriftlichen Chronologie liegen diese Anfänge schon einige Jahrhunderte zurück, und auch der weisheitliche Erzähler setzt bereits die Vermehrung der Menschheit voraus, wie seine Notiz zum Städtebau in Gen  4, 17 belegt. Der nachholende Charakter von Gen  6, 1–  4 ist auch deshalb zu notieren, weil sich die beiden Hauptstimmen in der biblischen Urgeschichte streng an eine chronologisch geordnete Erzählfolge halten. In der redaktionellen Endgestalt hingegen verhält sich dies anders. In ihr wird die Paradieserzählung zur Rückblende, die nochmals auf die Menschenschöpfung eingeht, und die nachgetragene Turmbauerzählung erklärt im Nachhinein, wie es zur Verteilung der Völker gekommen ist. Die Formulierung der Mehrungsaussage erinnert an den priesterschriftlichen Segen in Gen  1, 28 (dort jedoch mit der Wurzel *rbh statt mit *rbb). Zugleich klingt in ihr die Notiz vom Zahlreichwerden (*rbb) der Bosheit der Menschen auf Erden an, mit der die Fluterzählung des weisheitlichen Erzählers einsetzt (Gen 6, 5). Anders als dort heißt es in V. 1 jedoch nicht „auf der Erde“ (bā- ʾāræṣ), sondern „auf dem Erdboden“ ( ʿal p enē hā- ʾadāmā ). Mit dieser Wendung greift V. 1 das in der Paradiesgeschichte breit entfaltete Motiv des aus dem Erd-/Ackerboden ( ʾadāmā ) erschaffenen Menschen ( ʾādām) auf und rekurriert so abermals auf die frühesten Anfänge der Menschheit. Dabei bezeichnet der Ausdruck „der Mensch“ hā- ʾādām (V. 1a) ausweislich des lāhæm „ihnen“ (V. 1b) anders als in der Paradiesgeschichte und am Anfang des Registers der Zeugungen Adams kein Individuum, sondern wird wie im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht als Kollektivbegriff gebraucht. V. 2 knüpft als Hauptsatz mit Imperf. cons. bruchlos an V. 1 an. Mit dem Auftritt der im Pentateuch nur hier erwähnten Göttersöhne (b enē hā- ʾælōhīm) führt er in die eigentliche Handlung ein. In grammatikalischer Hinsicht ist die Formulierung benē hā- ʾælōhīm nicht eindeutig. Für eine mögliche Übersetzung mit „Söhne Gottes“ (vgl. LXX: οἱ υἱοὶ τοῦ θεοῦ28) ließe sich anführen, dass ʾælōhīm in der Urgeschichte durchweg als Hoheitsplural gebraucht wird.29 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich um eine analoge Bildung zu den „Menschentöchtern“ handelt (benōt hā- ʾādām; wörtlich: „Töchter des Menschen“). In diesem Fall wird hā- ʾælōhīm wie hā- ʾādām als kollektiv gebrauchter Gattungsbegriff verwendet, und bēn „Sohn“ bezeichnet die männlichen Angehörigen dieser Klasse.30 Die b enē hā- ʾælōhīm sind demnach „Götterwesen“ (vgl. Hi  1, 6; 2, 1; 38, 7 sowie b enē ʾēlīm „Göttersöhne“ in Ps  29, 1; 89, 7; b enē   ʿælyōn „Söhne des Höchsten“ in Ps  82, 6). Im Hintergrund steht die Vorstellung von Jhwhs himmlischem Hofstaat. Sie klingt in der Urgeschichte 28  Zu Übersetzung und Varianten (ἄγγελοι τοῦ θεοῦ) der LXX vgl. Rösel, Übersetzung, 145 – 158: Für die LXX erklärt sich die singularische Übersetzung damit, dass in den b enē hā- ʾælōhīm keine eigenständigen Gottheiten gesehen wurden, sondern durchaus zutreffend der dem Umkreis Gottes zugehörige himmlische Hofstaat. Die von daher naheliegende Übersetzung mit ἄγγελοι τοῦ θεοῦ wurde anders als in Hi 1, 6; 2 , 1; 38, 7 wohl wegen der positiven Konnotationen des Ausdrucks vermieden. 29  Day, Creation, 77–80. 30  Gunkel, 55  f.

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mehrfach an (vgl. Gen  1, 26 P sowie die redaktionellen Belege in Gen  2, 1*; 3, 22; 11, 7 ), und zwar ohne dass dies den Rahmen des „monotheistischen“ Gottesbildes der biblischen Urgeschichte zu sprengen droht. Insbesondere die beiden Belege im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1, 1–2, 3 zeigen eindeutig, dass sich die Vorstellung eines himmlischen Hofstaates und die monotheistische Konzeption des einen universalen und souveränen Schöpfergottes nach Ansicht der biblischen Autoren nicht gegenseitig ausschließen. So besteht nach Gen 6, 1–  4 offenkundig ein zumindest qualitativer Unterschied zwischen Jhwh und den als benē hā- ʾælōhīm bezeichneten „Götterwesen“: Es wird dezidiert nicht gesagt, dass es sich um Abkömmlinge Jhwhs handelt, und Jhwh gehört ohne den geringsten Zweifel auch nicht zu den himmlischen Wesen, die sich mit den Menschentöchtern eingelassen haben. Seine Rolle ist diejenige des „souveränen Beobachters, der an entscheidender Stelle in das Geschehen eingreift, ohne davon aber in irgendeiner Weise selbst betroffen zu sein“31. Gleichwohl hat die mit der Rede von den b enē hā- ʾælōhīm gegebene Vorstellung einer Mehrzahl von Götterwesen und insbesondere deren sexuelle Verbindung mit den „Menschentöchtern“ schon frühzeitig Irritationen hervorgerufen. So erklärt es sich, dass in der Auslegungsgeschichte gegen den eindeutigen Wortlaut in den benē hā- ʾælōhīm immer wieder Engel oder eine spezielle Menschengruppe erkannt wurden.32 Die in der hellenistisch-jüdischen und frühchristlichen Exegese sehr verbreitete Engeldeutung ist erstmals in der relecture von Gen  6, 2 im Henochbuch greifbar: „Die Engel (äth.; griech.)/Wächter33 (aram.), die Söhne des Himmels, sahen sie und begehrten sie“ (1Hen 6, 2; vgl. Philo gig. 6; Jos.Ant. I, 73). Auf diese Weise wurde nicht nur die als problematisch empfundene Rede von den b enē hā- ʾælōhīm entschärft, sondern zugleich ein Kausalzusammenhang mit der Fluterzählung hergestellt, insofern der „Fall der Engel/Wächter“ eine Ätiologie der Sünde bietet und zur Flut überleitet (1Hen 6 –11). Die Engel/Wächter verschwören sich und verbinden sich mit den Menschenfrauen. Die aus dieser Beziehung hervorgehenden Riesen verwüsten die Erde und richten auf der Suche nach Nahrung ein Blutbad an, das die göttliche Intervention hervorruft. Oder es ist – auf einer literarisch jüngeren Stufe34 – der fatale Einfluss der Engel/Wächter auf das Menschengeschlecht, der zum moralischen Verfall der Welt und schließlich zum Strafgericht Gottes führt (vgl. auch Jub  5, 1–8). Später konnte Vgl. Schüle, Prolog, 237. Für einen Überblick: F. Deixinger, Jüdisch-christliche Nachgeschichte von Gen 6, 1–  4, in: S. Kreuzer/K. Lüthi (Hg.), Zur Aktualität des Alten Testaments (FS G. Sauer), Frankfurt/M. 1992 , 155 –175; Witte, Urgeschichte, 72 f; Schüle, Prolog, 222 –225. 33  Dieser Text ist in den aram. Qumranfragmenten des Henochbuches nicht erhalten und wurde vom Herausgeber anhand der parallelen Wendungen und alter Übersetzungen rekonstruiert. Die griechische Überlieferung hat zum Teil auch ἐγρήγοροι „Wächter“. Vgl. J.T. Milik, The Books of Enoch. Aramaic Fragments of Qumrân Cave  4, Oxford 1976, 165; Nickelsburg, 1 Enoch, 174. Ursprünglich dürften die Mitglieder des himmlischen Hofstaates als „die Wächter, die Heiligen“ bezeichnet worden sein (vgl. Dan 4, 10). Die griechische Übersetzung differenziert und bezeichnet in 1Hen 6 –16 nur die rebellierenden Himmelswesen als ἐγρήγοροι „Wächter“, die anderen als ἄγγελοι „Engel“. Vgl. a.a.O., 140  f. 34  C. Newsom, The Development of 1 Enoch 6 –19: Cosmology and Judgment, CBQ 42 (1980) 310 –329; Nickelsburg, 1 Enoch, 165 –173. 31  32 

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die Geschichte dann auch so interpretiert werden, dass die Engel von den „Töchtern Kains“ verführt wurden (PRE  22). Es ist aber fraglich, ob hinter Gen  6, 1–  4 bereits eine ausgeführte Engellehre vermutet werden darf. Insofern ist die weniger festge­ legte Übersetzung als „Göttersöhne/Götterwesen“ vorzuziehen. Sollten „Engel“ im Sinne der alttestamentlichen Gottesboten gemeint sein, wäre jedenfalls das hebr. mal   ʾakē   ʾælōhīm (vgl. Gen  28, 12) zu erwarten. Die Deutung auf eine bestimmte Menschengruppe setzt im 2 . Jh. n. Chr. ein, als die Engeldeutung ihrerseits zunehmend als problematisch empfunden wurde. In der christlichen Exegese wurde vornehmlich an die Setiten gedacht. Diese hätten sich mit den weiblichen Nachkommen Kains eingelassen (vgl. im Rahmen der Engeldeutung schon PRE  22), auf diese Weise die Verderbnis der Nachkommen des Brudermörders Kains auf die moralisch integren Nachkommen Sets übertragen und damit die Flut heraufbeschworen (oder die Kainiten hätten mit dem gleichen Ergebnis die weiblichen Nachkommen Sets verführt). In der jüdischen Auslegung bildete sich dagegen das Verständnis heraus, dass es sich bei den b enē hā- ʾælōhīm um besonders mächtige Männer gehandelt habe. Beide Lesarten scheitern jedoch am Wortsinn des benē hā- ʾælōhīm sowie an der betonten Gegenüberstellung zu den „Töchtern des Menschen“.35

Die Göttersöhne nehmen die Menschentöchter wahr und befinden diese für „gut“ (ṭōb). Die Formulierung erinnert an die Billigungsformel im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gen  1, 4. 10. 12. 18. 21. 25. 31). Wie dort werden mit dem Adjektiv ṭōb Personen oder Sachen bezeichnet, die im Hinblick auf eine Aufgabe oder Funktion gut geeignet sind. Die Menschentöchter scheinen sich also nach Ansicht der Göttersöhne besonders gut als Frauen zu eignen, womit sehr wahrscheinlich nicht allein ein ansprechendes Aussehen gemeint ist. Die vielfach gewählte Übersetzung mit „schön“ (vgl. ṭōb in Gen 26, 7; 2Sam 11, 2; dort aber in Verbindung mit mar  ʾǣ „Aussehen“) reduziert das Urteil der Göttersöhne vorschnell auf den sexuellen Aspekt und ist mutmaßlich von der Lesart der Episode als „Sündenerzählung“ geprägt.36 Dies gilt umso mehr für die Eisegese, die Menschentöchter hätten ihre Reize bewusst ausgespielt, um die Göttersöhne zu ihrer als sexueller Übergriff interpretierten Handlung zu provozieren. Die Formulierung „für sich als Frau nehmen“ (*lqḥ [+ l e+ Personalsuffix] + ʾiššā ) ist ein konventioneller Ausdruck für eine Eheschließung (vgl. Gen  11, 29; 24, 4; 25, 1; 26, 34; Dtn 21, 11; 22, 13; 24, 1 u. ö.) und bezeichnet nur in wenigen Ausnahmefällen einen gewalttätigen Akt, der dann aber als solcher eindeutig gekennzeichnet Anders zuletzt wieder Scharbert, 80  f. So deutlich bei von Rad, 83 f und mit besonderer Akzentsetzung Westermann, 495 –  497. Nach Westermann steht hinter Gen  6, 1–2 eine für die Welt des Alten Testaments „spezifische konfliktauslösende Situation“ vom „Betroffenwerden von der Schönheit einer Frau“ durch einen mächtigen Mann, wobei in der urgeschichtlichen Situation einer noch nicht ausdifferenzierten Menschheit die „Göttersöhne“ die den Menschen „schlechthin überlegene Klasse“ symbolisieren, deren Angehörigen tun können, was immer ihnen gefällt. Wie in den vergleichbaren Erzählungen von der Gefährdung der Patriarchin durch sexuelle Übergriffe seitens fremder Herrscher (Gen 12 , 10 –20; 20, 1–18; 26, 1–11) und der Geschichte von David und Batseba (2 Sam 11 f ) gehe es um die Frage: „Was geschieht, wo das Betroffenwerden von Schönheit über eine Grenze hinweg geht, die nicht überschritten werden darf ?“ 35  36 

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ist (vgl. Gen  34, 2; 2Sam  11, 4. 9).37 Die Eheschließung erfolgt zudem nicht wahllos und betrifft auch nicht alle Menschentöchter. Die Göttersöhne nehmen sich nur diejenigen zu Frauen, die sie sich aussuchen und dadurch gegenüber allen anderen auszeichnen (*bḥr). Die Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern und damit die Überschreitung der sexuellen Grenze zwischen himmlischer und menschlicher Welt wird also auf den ersten Blick erstaunlich neutral und unaufgeregt berichtet. Dass die Erzählung gleichwohl einen negativen Unterton hat, deutet sich lediglich in der zu Gen  3, 6 parallel verlaufenden Handlungsfolge von „sehen“, „für gut befinden“ und „nehmen“ an:38 Eva sieht, dass der Baum gut ist, weil er Erkenntnis erlangen lässt, und sie nimmt von seinen Früchten. Mit diesem Urteil liegt sie richtig, auch wenn die Folgen des „Nehmens“ ambivalent sind. Dass das Tun der Göttersöhne in den Augen des Verfassers von Gen  6, 1–  4 unbeschadet der konventionellen Sprache alles andere als unproblematisch ist, zeigt dann auch der Fortgang der Episode. Das erwartbare Ergebnis, die Geburt von Nachkommen, wird nicht unmittelbar im Anschluss notiert, sondern es folgt zunächst eine Intervention Jhwhs, die auf das Geschehen reagiert und die damit verbundenen Möglichkeiten einschränkt. Jhwhs Reaktion unterbricht die erwartbare Handlungsfolge von „Braut6, 3 wahl“ und „Geburt der Nachkommen“, ist aber syntaktisch durch das Imperf. cons. „da sprach Jhwh“ gut in die Szene eingebunden. Wegen der in V. 1  f geschilderten Verbindung soll Jhwhs Geist (rū     aḥ) nicht auf unbegrenzte Zeit im Menschen wirksam sein. Dies wird damit begründet, dass der Mensch auch Fleisch (bāśār) ist, worauf die Begrenzung menschlicher Lebenszeit auf 120 Jahre folgt. Der „Geist Gottes“ ist die Leben spendende Kraft, die den Menschen bei ihrer Erschaffung von Gott zukommt und die Gott ihnen wieder nehmen kann, sodass sie sterben.39 Der Formulierung nach begegnet der Geist Gottes in der Urgeschichte noch in der Priesterschrift (Gen  1, 2). Weitere Belege entstammen dem Umfeld der priesterschriftlichen Literatur sowie jüngeren prophetischen und weisheitlichen Texten (Ez  37, 8. 10; Hi 12, 10; 27, 3; 33, 4; 34, 14 f; Ps 104, 29 f; vgl. Num 16, 22; 27, 16). Der Sache nach wird die Aussage in der Paradieserzählung des weisheitlichen Erzählers vorbereitet: Jhwh-Gott haucht dem von ihm geformten Menschen den Lebensodem ein und bringt ihn dadurch zum Leben (nišmat ḥayyīm; Gen  2, 7 ). Allerdings ist dort noch nicht explizit von Jhwhs Lebensodem die Rede. Der Ausdruck Fleisch bāśār bezeichnet die vergängliche körperliche Existenz des Menschen. Er fehlt in dieser Bedeutung in der Paradieserzählung, begegnet aber unter Einbeziehung der Tiere in der priesterschriftlichen Sintfluterzählung (Gen 6, 12. 13. 19; 7, 16. 21; 8, 17; 9, 4. 11. 15. 16. 17 ). Dort findet sich auch die klare Unterscheidung von Geist rū     aḥ und Fleisch bāśār (Gen  6, 17; 7, 15), Anders Jacob, 172 f; Ruppert, 275. Schmidt, Mythos, 245, spricht von „Vergewaltigung“. Sie findet sich in dieser Form im Alten Testament nur an diesen beiden Stellen. 39  Anders Seebaß, 193, der an eine charismatische Geistbegabung denkt. In diesem Fall wäre aber eine Konstruktion mit ʿal statt mit be zu erwarten (vgl. Ri 11, 29 u. ö.). 37  38 

Göttersöhne und Menschentöchter

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wobei wie in der Paradieserzählung nicht explizit gesagt wird, dass es sich um den Geist Gottes handelt, der Menschen und Tieren das Leben verleiht. Als anthropologische Grundkonstellation ist die Belebung des vergänglichen Fleisches durch den Geist Gottes nur in sehr jungen Texten belegt (Hi 12, 10; 34, 14 f und Ez  37, 5 ff ). Schließlich trifft sich die Aussage, dass dem Menschen das ewige (l e- ʿōlām) Leben verweigert ist, mit dem späten Nachtrag zur Paradieserzählung in Gen 3, 22. Die Reaktion Jhwhs in V. 3 speist sich demnach gleichermaßen aus beiden Hauptstimmen der Urgeschichte, wobei sie deren Aussagen im Geiste jüngerer Texte ausführt. Weitere Hinweise auf eine entsprechend junge Herkunft sind die Wortbildung b e-šag-gam „denn auch er“ (vgl. o. Anm. 2) und die Wortfolge hū bāśār „er ist Fleisch“ statt des klassischen bāśār hū.40 Wie aber sind die Reaktion Jhwhs und die Begrenzung menschlicher Lebenszeit vor dem Hintergrund zu bewerten, dass beide Hauptstimmen der Urgeschichte schon vor der göttlichen Intervention kein ewiges Leben des Menschen kennen und dass die Vergänglichkeit des Fleisches ein Gemeinplatz ist ( Jes 40, 6 f; Ps 78, 39)? Die Antwort gibt die auffällige Formulierung hū bāśār „er ist Fleisch“ im Anschluss an das nicht weniger auffällige be-šaggam „denn auch er“. Jhwhs Reaktion blickt gleichermaßen auf die zuvor geschilderte Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern zurück und auf die Nachkommen dieser Verbindung voraus. Das „Er ist Fleisch“ wird daher so zu verstehen sein, dass auch das Leben, das aus einer solchen Verbindung hervorgeht, menschlich-vergängliches Leben ist.41 Die Nachkommen von Götterwesen und Menschentöchtern müssten, wie es eine distanzierte und etwas undifferenzierte Wahrnehmung vor allem der griechischen Mythologie nahegelegt haben mag, der göttlichen Sphäre angehören und vielleicht sogar unsterblich sein.42 Doch durch Jhwhs Intervention sind sie unbeschadet ihrer halbgöttlichen Herkunft von vornherein (vergängliches) Fleisch. Noch bevor von den Nachkommen selbst die Rede ist, wird also festgehalten, dass auch für sie das in der redaktionellen Endgestalt der Paradieserzählung betont herausgestellte Verdikt der Vergänglichkeit menschlichen Lebens gilt. Nach Gen  3, 22. 24 ist der Mensch hinsichtlich seiner Erkenntnisfähigkeit „wie einer von uns“, d.  h. der Götterwesen geworden. Daher muss ihm, soll die Unsterblichkeit als letzte Grenze zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre erhalten bleiben, der Zugang zum Baum des Lebens dauerhaft verwehrt werden. Diese Sachlage greifen Gen  6, 1–  4 und die Turmbauerzählung in Gen  11, 1–9 auf. In der Turmbauerzählung geht es um die Unterscheidung der Möglichkeiten göttlichen und menschlichen Handelns, die am Beispiel der Aufrechterhaltung der räumlichen Grenzziehung zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre durchgespielt Oeming, Sünde, 44. Vgl. von Rad, 84; Zimmerli, 266 und in jüngerer Zeit vor allem Witte, Urgeschichte, 68. 42  Die griechischen Heroen gehören in der Regel auf die Seite der Sterblichen, erlangen jedoch im Einzelfall im Lauf des Lebens oder nach ihrem Tod Unsterblichkeit. 40  41 

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wird. Gen 6, 1–  4 nimmt hingegen nochmals das Thema des ewigen Lebens aus Gen 3, 22 auf. Dort wird dem Menschen die Möglichkeit genommen, die geschöpfliche Todesgrenze durch den Griff nach dem Baum des Lebens zu überwinden. Gen  6, 3 schließt als eine zweite Möglichkeit aus, dass eine sexuelle Verbindung zwischen Göttersöhnen und Menschentöchtern die strikte Grenze der Sterblichkeit verwischt und so die Nachkommen von Menschen ewiges Leben erlangen. Diese Problemstellung dürfte textimmanent durch die Anklänge an den himmlischen Hofstaat in Gen  3, 22 (sowie Gen  1, 26; 2, 1*) angeregt worden sein.43 Diese konnten insbesondere dann, wenn sie vor dem Hintergrund griechischer Mythologie und ihrer heldenhaften Halbgötter wie Herakles neu gelesen wurden, Überlegungen zum Verhältnis der Jhwh zugeordneten Götterwesen zu den Menschen und den möglichen Auswirkungen einer sexuellen Verbindung anstoßen. Auffällig ist, dass die Überschreitung der sexuellen Grenze zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre vergleichsweise neutral erzählt wird. Eine Distanzierung von den Vorgängen ist in V. 3 lediglich angedeutet: Zum einen in der Parallele zum Griff der Frau nach der verbotenen Frucht, zum anderem in dem Umstand, dass Jhwh anders als der griechische Göttervater Zeus nicht direkt beteiligt ist. Es hat daher ganz den Anschein, als würde das mythische Geschehen, wie es in Gen  6, 1–2 geschildert wird, wie etwas Vorgegebenes hingenommen, das mit der Kenntnis mythologischer Stoffe der eigenen oder anderer Kulturen in der Welt ist und das in einer Darstellung der längst vergangenen vorsintflutlichen Zeit mitbedacht werden muss. Gen  6, 1–  4 trägt insofern Erwartungen seines intendierten Adressatenkreises Rechnung, die von Göttersöhnen, Riesen und Helden der Vorzeit wussten, und deren Erwähnung in einer Urgeschichte verlangten.44 Die möglichen Folgen dieser Grenzüberschreitung für die Begrenztheit menschlichen Lebens werden jedoch – ganz auf der Linie mit dem Wachdienst der Cheruben am Zugang zum Baum des Lebens und im Widerspruch zur Existenz unsterblicher Halbgötter anderer Kulturen – von vornherein abgewehrt. Die Aussage über die Beschränkung der Lebenszeit auf 120 Jahre gilt demnach in erster Linie den Nachkommen von Göttersöhnen und Menschentöchtern, weil sie Menschen und keine Götterwesen sind. Im Umkehrschluss gilt sie dann ebenso für alle anderen Menschen.45 Aus diesem Grund werden die 120 Jahre auch nicht als Zeit der Buße zum Einbruch der Sintflut zu verstehen sein, wie dies in der frühen Auslegungsgeschichte immer wieder vorgeschlagen wurde (4Q252 1, 1. 2 –3 [DJD XXII, 185 –207 ]; TO; TN; TJ; Ephraem d. Syrer; Hieronymus; Raschi; Luther u.v.m.). Vielmehr präzisiert die Festlegung der Lebenszeit auf 120 Jahre die Auskunft aus Gen 3, 22: Wie lange soll der Mensch leben, wenn ihm das ewige Leben verwehrt ist?46 Die Seebaß, 130 f; Witte, Urgeschichte, 291 ff; Bührer, Göttersöhne, 513  f. Cassuto, I 300. 45  Gese, Lebensbaum, 85; Witte, Urgeschichte, 68 . 46  Bührer, Göttersöhne, 509. 43 

44 

Göttersöhne und Menschentöchter

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maximale Lebenszeit von 120 Jahren wirft in zweifacher Hinsicht Fragen auf. Zum einen stimmt sie nicht mit den Altersangaben der priesterschriftlichen Genealogie überein. Das Alter der urgeschichtlichen Patriarchen nimmt zwar nach der Flut erheblich ab, überschreitet aber die 120 Jahre immer noch bei weitem. Zum anderen entsprechen die 120  Jahre weder in der Antike noch in unserer Gegenwart praktischer Lebenserfahrung. Eine mögliche Erklärung wäre, dass nach Auffassung des Verfassers von Gen  6, 1–  4 die nachsintflutlichen Patriarchen der auf Israel hinführenden Linie der Nachkommen Sems wie auch Abraham (175 Jahre; Gen  25, 7 f ), Sara (127 Jahre; Gen  23, 1) Isaak (180 Jahre; Gen  35, 28) und Jakob (147 Jahre; Gen  47, 28) einzelne ausgewählte Vorfahren Israels sind, denen ein besonders hohes Alter zugebilligt wird. Vor allem aber dürfte der Tod des Mose im Alter von 120 Jahren (Dtn  34, 7; vgl. Dtn  31, 2) der Fluchtpunkt für die Festlegung in Gen 6, 3 sein (vgl. bereits Jos.Ant. IV, 177 ). Die 120 Jahre haben ihren Haftpunkt in der Moseüberlieferung47 und wurden von dort entnommen, um eine idealtypische Obergrenze menschlichen Lebens zu setzen.48 Der dadurch geschlagene Bogen von den Anfängen der Menschheitsgeschichte im ersten Buch der Tora bis zum Tode des Mose und dem Schlusspunkt der Tora dürfte dem Verfasser von Gen  6, 1–  4 ein größeres Anliegen gewesen sein als die chronologische Stimmigkeit zu den priesterschriftlichen Genealogien, die sich in der beschriebenen Weise auch harmonisierend als Ausnahmen mit abnehmender Tendenz erklären lassen. V. 4 setzt neu ein und verortet die Ereignisse in einer Zeit, in der die n epīlīm 6, 4 auf der Erde waren. Die Herleitung und Bedeutung des nur hier und in Num 13, 33 belegten Wortes n epīlīm ist nicht ganz sicher. Ein Zusammenhang mit der Wurzel *npl „(tot) hinfallen“ auch „fallen i.S. von geboren werden“ (vgl. Jes  26, 18) und davon nēpæl „Fehlgeburt“ (Pred  6, 3; Hi  3, 16; Ps  58, 9) ist möglich, hilft aber nicht wirklich weiter. Nach Num  13, 32 f verbreiten die israelitischen Kundschafter das Gerücht, die Bewohner des Landes seien furchterregend große Männer, was in einem Nachtrag erläutert wird, es seien n epīlīm gewesen, vor denen sich die Israeliten klein wie Heuschrecken gefühlt hätten. Das legt im Anschluss an das mittelhebräische nāpīl „Riese“ eine Übersetzung von n epīlīm mit „Riesen“ nahe.49 Sodann werden die erwartbaren Folgen der Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern notiert. Das Verb *bō   ʾ „eingehen“ bezeichnet auch sonst den Geschlechtsakt (Gen 16, 2. 4; Dtn 22, 13 u. ö.), wobei das Imperf. eine Handlung beschreibt, die sich in der Vergangenheit über einen gewissen Zeitraum immer wieder 47  Vermutlich konnten die Verfasser von Dtn 31, 2; 34, 7 die 120 Lebensjahre aus dem Alter von 80 Jahren bei der Berufung (Ex 7, 7 P) und der in der dtr Tradition beheimateten Vorstellung einer vierzigjährigen Wüstenwanderung (Dtn  2 , 7; 8, 2 . 4 u. ö.) kombinieren. Ähnliche Rechenkünste lassen Aaron nach einem späten Zusatz in Num 33, 38 f im Alter von 123 Jahren sterben. Weniger wahrscheinlich ist, dass die 120 Jahre des Mose ohne Kenntnis von Ex 7, 7 aus den heiligen vierzig Jahren der Wüstenwanderung konstruiert wurden. 48  Vgl. Witte, Urgeschichte, 247; Bührer, Göttersöhne, 511. 49  Vgl. Perlitt, Riesen, 236 –238 .

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Genesis 6, 1–  4

ereignet hat.50 Das passt gut zu der Auffassung, die Göttersöhne hätten sich die von ihnen ausgewählten Menschentöchter zu Frauen genommen, sodass es sich hierbei nicht um einen einmaligen (Gewalt-)Akt handelt. Hierauf folgt die Geburt von Nachkommen. Wer diese Nachkommen sind, sagt der abschließende Objektsatz, der die hochgerühmten Helden der Vorzeit nennt. Die gibbōrīm „Helden“ sind im Alten Testament schlicht kräftige (*gbr) Männer, die durch ihre Taten zu „Helden“ werden (vgl. nur die „Helden Davids“ nach 2Sam  23, 8 –39). Ganz in Übereinstimmung mit V. 3 entstammen den Ehen zwischen den Göttersöhnen und Menschentöchtern keine Halbgötter, sondern außergewöhnliche Männer, die unbeschadet ihres Ruhmes wie alle anderen Menschen sterblich sind. Die Geburt von Nachkommen war nach dem Auftakt der Episode in V. 1 f nicht anders zu erwarten, gleichwohl ist der Vers in mehrerlei Hinsicht auffällig: Er setzt mit einem Nominalsatz ziemlich abrupt ein und führt die Handlung aus V. 1 f nicht einfach fort. Auch lässt sich das Verhältnis der zuvor nicht genannten n epīlīm „Riesen“ zu den ebenfalls vorher nicht genannten gibbōrīm „Helden“ nur mit einiger Unsicherheit bestimmen. Schließlich fügt sich die Angabe w  e-gam ʾaḥ     arē kēn „und auch später noch“ nicht richtig in die Syntax des Satzes ein. Dass V. 4 die Handlung aus V. 1 f nicht einfach fortführt, erklärt sich mit der Intervention Jhwhs in V. 3. Diese unterbricht die Handlungsfolge an der entscheidenden Stelle, und zwar zwischen der „Eheschließung“ der Göttersöhne und Menschentöchter und der erwartbaren Zeugung von Nachkommen. Wie gesehen, trifft sie auf diese Weise eine Regelung, die im Hinblick auf genau diese Nachkommen formuliert wird und darüber hinaus für alle Menschen gilt. Deshalb muss die Schilderung mit einer zeitlichen Einordnung neu einsetzen, wobei das „in jenen Tagen“ auf die Ereignisse in V. 1  f zurückweist. Der anschließende Verbalsatz nimmt mit der Erwähnung der Göttersöhne und Menschentöchter ebenfalls V. 1 f auf. Es ist umstritten, ob mit n epīlīm „Riesen“ und gibbōrīm „Helden“ unterschiedliche Größen gemeint sind oder ob es sich um ein und denselben Personenkreis handelt. Zwar mag es kräftige Riesen und großgewachsene Helden geben, doch wird man beide Begriffe grundsätzlich auseinanderhalten müssen. Dies wurde allerdings schon von den antiken Übersetzungen nicht durchgängig beachtet. So wählt die LXX in beiden Fällen γίγαντες „Giganten“ als Übersetzung, obwohl sie sich sonst bemüht, unterschiedliche hebräische Wörter mit verschiedenen griechischen Ausdrücken wiederzugeben. Im Hintergrund dieser Übersetzung steht der im Zeitalter des Hellenismus breit rezipierte Mythos vom Kampf der Giganten, was dafür sprechen könnte, dass die LXX trotz der gleichlautenden Übersetzung in V. 4 zwei Gruppen von Giganten unterschieden hat.51 Neuere Auslegungen GK §  107e. Zur Fortsetzung mit Perf. cons. („und sie gebaren“) s. GK §  112e. Vgl. Rösel, Übersetzung, 150 –158. TO und TN übersetzen jeweils mit gībārīn (hebr. gibbōrīm), der auch in Num  13, 33 für n epīlīm gewählten Übersetzung. Die Nacherzählung von V. 4 in 1Hen  7, 2 kennt nur eine Gruppe, die griech. γίγαντες und aram. gībārīn genannt werden. Diese 50  51 

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berufen sich für eine Gleichsetzung der n epīlīm „Riesen“ mit den gibbōrīm „Helden“ auf das identifizierende Personalpronomen hemmā „sie“ in V. 4b. Dieses Pronomen kann sich auf die zuvor implizit genannten Nachkommen beziehen: „Sie gebaren ihnen (Kinder): Das sind die Helden der Vorzeit.“ In diesem Fall sind Riesen und Helden wohl zu unterscheiden. Es ist aber auch möglich, dass sich hemmā im Sinne einer Gleichsetzung mit den gibbōrīm „Helden“ auf die n epīlīm „Riesen“ bezieht.52 Die n epīlīm „Riesen“ gelten dann in der Regel als die Nachkommen aus der Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern. Die Erwähnung der gibbōrīm „Helden“ wird hingegen als Erläuterung zu den n epīlīm „Riesen“ aufgefasst. Bei dieser Interpretation bleibt allerdings völlig unklar, warum nicht explizit gesagt wird, dass es sich bei den n epīlīm „Riesen“ um ebendiese Nachkommen handelt (vgl. dagegen 1Hen  7, 2; Jub  5, 1), und warum sie stattdessen als temporale Hintergrundinformation zu ihrer eigenen Zeugung und Geburt eingeführt werden.53 Erkennt man dagegen in den n epīlīm „Riesen“ einerseits und den aus den Ehen der Göttersöhnen und Menschentöchtern entstammenden gibbōrīm „Helden“ andererseits unterschiedliche Größen, die nicht durch das hemmā „diese“ in V. 4b identifiziert werden sollen, dann illustriert die Erwähnung der Riesen lediglich den zeitlichen Hintergrund der im Folgenden notierten Geschehnisse.54 Vermutlich bot der Neueinsatz nach der Intervention Jhwhs dem Verfasser von Gen  6, 1–  4 die Gelegenheit, noch andere Merkwürdigkeiten über diese Anfangszeit mitzuteilen. Diese Gelegenheit hat er genutzt und mit den Riesen weiteres Inventar der Überlieferung in der Urgeschichte verortet, von dem sich auch andernorts Spuren im Alten Testament finden.55 Dass es sich bei den Riesen um eine bekannte Größe handelt, geht schon aus ihrer Determination hervor. Einen weiteren Hinweis in diese Richtung bietet auch das w  e-gam ʾaḥ     arē kēn „und auch später noch“. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine Glosse, die auf die Erwähnung von „Riesen“ in „mosaischer Zeit“ Rücksicht nimmt (Num 13, 33).56 Es liegt auf dieser Linie, wenn die spätere Tradition zu berichten weiß, dass Noah den Riesen Og (vgl. Dtn 3, 11) auf einer Leiter außen an der Arche mitfahren ließ und durch ein Loch in der Wand mit Nahrung versorgte (PRE 23).

entstammen den Ehen der Göttersöhne mit den Menschentöchtern und zeugen dann nach einem Teil der Überlieferung ihrerseits die ναφηλείμ (Transkription des hebr. n epīlīm). Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch, 182  f. Jub 5, 1 erwähnt nur die von den Göttersöhnen gezeugten n epīlīm. 52  Gunkel, 58; Skinner, 147; von Rad, 85; Vervenne, Love, 34 f; Bührer, Göttersöhne, 505. 53  Day, Creation, 82 . 54  Mit Bartelmus, Heroentum, 20  f. 55  Anklänge an die „riesenhaften“ Vorbewohner des Landes finden sich in Am  2 , 9; Dtn 2 , 10. 20 f; 3, 11. Vgl. dazu Perlitt, Riesen. 56  Mit Skinner, 147 („though even then the phrasing is odd“); Gese, Lebensbaum, 85  Anm.  52 .  Anders Bührer, Göttersöhne, 500 mit Anm.  34; Witte, Urgeschichte, 69 –71, die w  e-gam ’aḥ     arē kēn auf V. 3 beziehen: Auch nach der Intervention Jhwhs vermischten sich Göttersöhne und Menschentöchter und gebaren ihnen Helden.

VI. Genesis 6, 5 –9, 17: Die Fluterzählung 6, 5 Und Jhwh sah, dass die Bosheit des Menschen zahlreich war auf der Erde und jedes Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse war alle Tage.   6 Da reute es Jhwh, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte, und es schmerzte ihn bis in sein Herz hinein.   7 Und Jhwh sprach: Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, von der Oberfläche des Erdbodens vertilgen, vom Menschen bis zum Vieh, bis zum Kriechtier und den Flugtieren des Himmels, denn es reut mich, dass ich sie [ihn] gemacht habe.   8 Noach jedoch fand Gnade in den Augen Jhwhs. 9 Dies sind die Zeugungen Noachs. Noach war ein gerechter Mann, er war vollkommen1 in seinen Generationen. Mit Gott wandelte Noach. 10 Und Noach zeugte drei Söhne: Sem, Ham und Jafet.   11 Und die Erde verdarb vor Gott, und die Erde füllte sich mit Gewalttat.   12 Und Gott sah die Erde und siehe, sie war verdorben, denn alles Fleisch hatte seinen Weg verdorben auf der Erde.   13 Da sprach Gott zu Noach: Das Ende alles Fleisches ist vor mich gekommen, denn die Erde ist ihretwegen voll von Gewalttat. Und siehe, ich werde sie mit2 der Erde verderben.   14  Mache dir eine Arche aus Goferholz. Aus Rohr (  ?  )3 sollst du die Arche machen und du sollst sie von außen und von innen mit Pech verpichen.   15 Und so sollst du sie machen: 300 Ellen ist die Länge der Arche, 50 Ellen ihre Breite und 30 Ellen ihre Höhe.   16 Ein Dach (  ?  ) sollst du machen für die Arche und nach einer Elle sollst du es aufhören lassen nach oben (  ?  ), und eine Öffnung der Arche an ihrer Seite sollst du einsetzen, ein unteres, ein zweites und ein drittes (Stockwerk) sollst du machen.   17 Und ich, siehe, ich bin im Begriff die Sintflut4, d.  h. Wasser5, über die Erde kommen zu lassen, um al1  tāmīm eröffnet in Übereinstimmung mit der masoretischen Akzentsetzung einen zweiten Nominalsatz und ist kein Attribut zu „Mann“ oder zu „gerecht“. 2  Die Syntax von V. 13b ist schwierig, aber möglich. Die vorgeschlagene Übersetzung versteht das Suffix des Partizips als Akkusativobjekt und liest mit MT (vgl. Vulg; Pesch; TO; TJ) die Präposition ’æt „mit“. Vgl. u.  a. Dillmann, 139; Seebaß, 201, 204; Witte, Urgeschichte, 74  f mit Anm.  104. Denkbar wäre auch, das Suffix des Partizips als Dativobjekt aufzufassen und die Akkusativpartikel ’æt zu lesen („Und siehe, ich werde ihnen die Erde verderben“); vgl. Baumgart, Umkehr, 222 , 260. Die LXX umgeht die schwierige Konstruktion des Satzes und liest eine syndetisch angeschlossene Akkusativpartikel w  e-’æt („ich verderbe sie und die Erde“). Zuweilen wird eine Haplographie angenommen und mē-’æt konjiziert („ich verderbe sie von der Erde“); vgl. Westermann, 523, 526. Diese und andere Änderungen (vgl. Gunkel, 141: w  e-hinnām mašḥītīm ’æt hā-’āræṣ „und sie stehen im Begriff, die Erde zu verderben“) sind nicht notwendig. 3  qānīm „aus Rohr“ (vorangestellter Akkusativ des Stoffs; vgl. Ex 25, 29; 29, 2 und GK §  117 hh) statt MT qinnīm „Nester“. S.u. zur Auslegung. 4  Zum Gebrauch des Artikels vgl. GK §  126r. 5  Eventuell handelt es sich bei dem appositionellen mayim „Wasser“ (GK §  131k) um eine erläuternde Glosse. Vgl. aber Gen 7, 6; 9, 11.

Die Fluterzählung

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les Fleisch, in dem Lebensatem ist, unter dem Himmel zu verderben; alles, was auf der Erde ist, wird umkommen.   18 Mit dir aber will ich meinen Bund aufrichten, und du sollst in die Arche hineingehen, du und deine Söhne und deine Frau und die Frauen deiner Söhne mit dir.   19  Von allem Lebendigen, von allem Fleisch, sollst du je zwei in die Arche hineinbringen, um mit dir zu überleben, männlich und weiblich sollen sie sein.   20 Von den Flugtieren nach ihrer Art, von dem Vieh nach seiner Art, von allem Kriechtier des Erdbodens nach seiner Art. Je zwei sollen zu dir kommen, um zu überleben.   21 Du aber nimm dir von allem, was man essen kann, und sammle es bei dir, damit es dir und ihnen als Speise diene.   22  Und Noach tat gemäß allem, was ihm Gott befohlen hatte, so tat er. 7, 1 Und Jhwh sprach zu Noach: Geh du und dein ganzes Haus in die Arche, denn dich habe ich als gerecht ersehen vor mir in dieser Generation.   2 Von allem reinen Vieh nimm dir je sieben, ein Männchen und sein Weibchen, und von dem Vieh, das nicht rein ist, zwei, ein Männchen und sein Weibchen, 3 [auch von den Flugtieren des Himmels je sieben, männlich und weiblich,] um Nachwuchs zu erhalten auf der ganzen Erde.   4  Denn noch sieben Tage, dann will ich es regnen lassen auf die Erde 40 Tage und 40 Nächte, und ich will alles Bestehende, was ich gemacht habe, von der Oberfläche des Erdbodens wegwischen.   5 Da tat Noach gemäß allem, was Jhwh ihm befohlen hatte. 6  Noach war 600  Jahre alt, als die Sintflut kam, Wasser auf der Erde.   7 Und Noach ging und seine Söhne und seine Frau und die Frauen seiner Söhne mit ihm vor dem Wasser der Sintflut in die Arche.   8 Von dem reinen Vieh und von dem Vieh, das nicht rein war, und von den Flugtieren und von allem, was auf dem Erdboden kriecht,   9 gingen je zwei zu Noach in die Arche, männlich und weiblich, wie Gott Noach befohlen hatte.   10  Als die sieben Tage vorüber waren, da war das Wasser der Sintflut auf der Erde. 11  In dem Jahr, in dem Noachs Lebenszeit 600 Jahre betrug, im zweiten Monat, am 17. Tag des Monats6, an diesem Tag brachen alle Quellen der großen Urflut auf, und die Luken des Himmels öffneten sich.   12 Da kam Regen über die Erde, 40 Tage und 40 Nächte.   13 An eben diesem Tag ging Noach sowie Sem und Ham und Jafet, die Söhne Noachs, und Noachs Frau und die drei Frauen seiner Söhne mit ihnen in die Arche,   14 sie und alles Wild nach seiner Art und das ganze Vieh nach seiner Art und das ganze Kriechtier, das auf der Erde kriecht, nach seiner Art und die ganzen Flugtiere nach ihrer Art [jeder Vogel, alles was Flügel hat]7.   15 Und sie gingen zu Noach in 6  Nach der LXX beginnt die Flut am 27. 02 . und dauert genau ein Kalenderjahr. Hierzu s.  u. zu Gen 7, 11 und zur Chronologie. 7  Die in der Priesterschrift singuläre Näherbestimmung (vgl. Ez  17, 23) fehlt in der LXX und dürfte eine spätere Glosse sein. Vielleicht will diese zum Ausdruck bringen, dass unter ʿōp „Flugtier(e)/Geflügel“ nicht nur Vögel, sondern alle Arten von Tieren mit Flügeln einschließlich der Insekten gemeint sind (vgl. Lev 11, 20  f. 23 [dort mit vier Beinen]; Dtn 14, 19; Sir 11, 3).

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Genesis 6, 5–9, 17

die Arche, je zwei von allem Fleisch, in dem Lebensatem ist.   16a Und diejenigen, die hineingingen: Ein männliches und ein weibliches von allem Fleisch gingen hinein, wie Gott ihm befohlen hatte.   16b Und Jhwh schloss hinter ihm zu. 17 Und die Sintflut war 40 Tage8 auf der Erde, und das Wasser wurde stark und hob die Arche an und sie war hoch über der Erde.   18 Und das Wasser wurde mächtig und sehr viel auf der Erde, und die Arche fuhr auf dem Wasser.  19  Und das Wasser war überaus mächtig auf der Erde. Und alle hohen Berge, die unter dem Himmel sind, wurden bedeckt. 20  15 Ellen war das Wasser nach oben hin mächtig, sodass die Berge bedeckt waren.  21  Da starb alles Fleisch, das auf der Erde kriecht, an Flugtieren, an Vieh, an Wild und allem Gewimmel, das auf der Erde wimmelt, und auch alle Menschen.   22 Alles, was Lebens-Atem-Odem in seiner Nase hatte, starb, und zwar alles 9, was auf dem Trockenen lebte.   23 So wischte er alles Bestehende, was auf der Oberfläche des Erdbodens war, weg, vom Menschen bis zum Vieh, bis zum Kriechtier, bis zu den Flugtieren des Himmels, und sie wurden weggewischt von der Erde. Allein Noach blieb übrig und die mit ihm in der Arche waren. [24  Und das Wasser wurde mächtig auf der Erde, 150 Tage.] 8, 1 Da dachte Gott an Noach und an das ganze Wild und das ganze Vieh, das mit ihm in der Arche war, und Gott ließ einen Wind über die Erde wehen, und das Wasser sank.   2  Da verschlossen sich die Quellen der Urflut und die Fenster des Himmels. Und der Regen vom Himmel hörte auf.   3 Da wich das Wasser von der Erde, allmählich aber stetig. [Nach Ablauf der 150 Tage10 nahm das Wasser ab.]   4 Und die Arche kam am 17. Tag11 des siebten Monats zur Ruhe auf den Bergen von Ararat.   5 Und das Wasser nahm stetig ab bis zum zehnten Monat. Im zehnten Monat12, am ersten des Monats, wurden die Spitzen der Berge sichtbar.   6 Und nach Ablauf von 40 Tagen öffnete Noach das Fenster der Arche, das er gemacht hatte.   7 Und er ließ den13 Raben hinaus, und er flog hinaus, flog hin und her  14 bis das Wasser von der Erde weggetrocknet war.   8 Und er schickte die Taube von sich weg, um zu sehen, ob das Wasser zurückgegangen war von der Oberfläche des Erdbodens. 9 Aber die Taube fand keinen Ruheplatz  für ihre Fußsohle, so kehrte sie zu ihm in die Arche zurück, weil noch Wasser auf der ganzen Erde war. Da streckte er seine Hand aus und nahm sie und brachte sie zu sich in die Arche.   10 Da wartete er noch weitere sieben Tage, dann schickte Die LXX ergänzt in Angleichung an Gen 7, 4. 12 „und Nächte“. Vgl. GK §  119 w. 10  Da die 150 Tage schon in Gen 7, 24 genannt sind, ist vermutlich „am Ende der 150 Tage“ zu lesen. Grund für die Lesart des MT „und nach 150 Tagen“ ist eine falsche Worttrennung, miq-qēṣ ha-ḥ     amiššīm statt miqṣē ḥ     amiššīm. 11  LXX liest auf der Linie ihrer Harmonisierung der Daten „am siebenundzwanzigsten Tage“ (s.  u. zu Gen 7, 11 und zur Chronologie). 12  LXX geht in V. 5 von einer zeitlichen Abfolge aus und liest „im elften Monat“. 13  Zum Gebrauch des Artikels hier und bei der Taube in V. 8 s. GK §  126r. 14  Vgl. GK §  113 s. 8  9 

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er die Taube erneut aus der Arche.   11 Und die Taube kam um die Abendzeit zu ihm zurück und siehe, ein frisches Olivenbaumblatt war in ihrem Schnabel. Da wusste Noach, dass das Wasser weniger geworden war auf der Erde.   12 Da wartete er noch weitere sieben Tage, dann schickte er die Taube los, und sie kehrte nicht mehr zu ihm zurück. 13a  Und es geschah im 601. Jahr15 im ersten Monat, am Ersten des Monats, da war das Wasser von der Erde weggetrocknet.   13b  Und Noach entfernte das Verdeck der Arche und er sah, und siehe, die Oberfläche des Erdbodens war trocken.   14 Und im zweiten Monat, am 27. Tag des Monats war die Erde trocken. 15  Da sprach Gott zu Noach:   16  Geh aus der Arche, du und deine Frau und deine Söhne und die Frauen deiner Söhne mit dir.   17 Alles16 Getier17, das bei dir ist, alles Fleisch, an Flugtieren und an Vieh und an allem Kriechtier, das auf der Erde kriecht, das führe18 mit dir hinaus. Sie sollen wimmeln auf der Erde und fruchtbar sein und zahlreich werden auf der Erde.  18 Da ging Noach hinaus und seine Söhne und seine Frau und die Frauen seiner Söhne mit ihm.   19 Alles Lebendige, alles Kriechtier und alle Flugtiere, alles, was auf der Erde kriecht, nach ihren Gattungen gingen sie aus der Arche hinaus. 20 Und Noach baute einen Altar für Jhwh und er nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und er ließ ein Brandopfer aufsteigen auf dem Altar.   21 Da roch Jhwh den beschwichtigenden Duft und Jhwh sprach zu seinem Herzen: Ich will hinfort nicht noch einmal den Ackerboden um des Menschen willen verfluchen, obschon19 das Gebilde des menschlichen Herzens böse ist von seiner Jugend an, und ich will hinfort nicht noch einmal alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe.   22 Noch alle Tage der Erde sollen Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht nicht aufhören. 9, 1 Da segnete Gott Noach und seine Söhne und sagte zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde.   2 Und eure Furcht und

LXX liest „Lebensjahr Noachs“ und gleicht an die Formulierung in Gen 7, 11 an. LXX, Pesch, Sam schließen V. 17 durch eine Kopula an. Die Änderung ist unnötig. V. 17 (und V. 19) setzten die Tiere bewusst von Noach und seiner Familie ab. Die mit der Schreckensherrschaft gegebene strikte Unterscheidung von Mensch und Tier wirft ihre Schatten voraus. 17  ḥayyā in der Priesterschrift meistens „Wild“ im Unterschied zu b ehēmā „Vieh“ (vgl. Gen 1, 24; 7, 14; 8, 1), hier für die Tiere insgesamt gebraucht. In V. 19 scheint der Ausdruck nach dem vorliegenden Textzusammenhang auf Vierbeiner beschränkt zu sein. Dieser Vers macht aber den Eindruck, als sei die Wortfolge durcheinandergeraten, da er die Kriechtiere (rǣmæś   ) von ihrem üblichen Relativsatz „das kriecht“ (rōmēś   ) trennt. Vgl. V. 17, ferner Gen 7, 14 und die unterschiedlichen Lesarten der antiken Versionen. Eventuell ist bei der Textverwirrung auch das Vieh verlorengegangen: „Alles Wild, alles Vieh und alle Vögel und alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen, …“ 18  Vgl. GK §  69 v. 19  Das kī hat konzessive Bedeutung und bezieht sich zurück auf die Ankündigung, die Erde hinfort nicht mehr zu verfluchen. Vgl. Baumgart, Umkehr, 161  f. Anders u.  a. Holzinger, 82 f, der den kī-Satz als ergänzende Ausführung (Epexegese) zu „um des Menschen Willen“ versteht und mit „denn“ übersetzt. 15 

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euer Schrecken sei über allem Getier20 der Erde und über allen Flugtieren des Himmels; mit allem, das auf dem Erdboden kriecht, und mit allen Fischen des Meeres sind sie in eure Hand gegeben.   3 Alles, was sich regt, was lebendig ist, diene euch zur Nahrung. Ich gebe euch alles wie das Grün des Krautes.   4 Nur Fleisch mit seinem Leben, seinem Blut, dürft ihr nicht essen. 5 Und nur euer Blut, euer eigenes21 will ich einfordern, von jedem Tier will ich es einfordern und von dem Menschen, von jedem, seinem Bruder22, will ich einfordern das Leben des Menschen:   6 Derjenige, der des Menschen Blut vergießt, dessen Blut soll um des Menschen willen vergossen werden, denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht.   7 Ihr aber seid fruchtbar und mehrt euch, wimmelt auf der Erde und werdet zahlreich23 auf ihr. 8 Und Gott sagte zu Noach und zu seinen Söhnen, die mit ihm waren: 9 Ich aber, siehe, ich richte sogleich meinen Bund mit euch auf und mit euren Nachkommen nach euch   10 und mit allen Lebewesen, die bei euch sind, an Flugtieren, an Vieh und an allem Getier der Erde bei euch, von allen, die aus der Arche aussteigen, für alles Getier der Erde24.   11 Ich werde also meinen Bund mit euch aufrichten, sodass niemals wieder alles Fleisch von dem Wasser der Sintflut vertilgt werden wird, und niemals wieder eine Sintflut sein wird, die Erde zu verderben. 12 Und Gott sagte: Dies ist das Zeichen des Bundes, den25 ich jetzt setze zwischen mir und euch und allen Lebewesen, die bei euch sind, für ewige Generationen.   13  Meinen Bogen gebe ich hiermit in die Wolken und der soll ein Zeichen des Bundes zwischen mir und der Erde sein.   14 Wenn ich Wolken über der Erde auftürme und der Bogen in den Wolken erscheint, 15 dann will ich meines Bundes geden20  ḥayyā bezeichnet eigentlich Wildtiere im Unterschied zu den Haustieren (b ehēmā ), wird aber hier wie in V. 5 und in Gen 1, 28. 30 als Kollektivbegriff für alle auf der Erde lebenden Tiere verwendet. 21  Zur Übersetzung vgl. E. Jenni, Die hebräischen Präpositionen. Band  3: Die Präposition Lamed, Stuttgart u.  a. 2000, 69. 22  Sam, Vulg verknüpfen die schwierige Verbindung durch eine Kopula und lesen „jeder und sein Bruder“, LXX lässt das Suffix bei ’āḥ „Bruder“ unübersetzt und vereinfacht die Syntax. Ist MT als lectio difficilior beizubehalten, dann ist miy-yad ’īš „von jedem“ eine Apposition zu hā-’ādām „Mensch“ und ’āḥīw „sein Bruder“ eine Apposition zu ’īš, deren Suffix sich auf hā-’ādām bezieht. Vgl. Witte, Urgeschichte, 144. 23  BHS und der textkritische Kommentar in BHQ nehmen an der Wiederholung des ū-r   ebū „werdet zahlreich“ Anstoß und schlagen im Anschluss an einige wenige griechische Minuskelhandschriften vor, in Angleichung an Gen  1, 28 ū-r   edū „und herrscht“ zu lesen. Die bestens bezeugte und stimmige Lesart des MT ist beizubehalten. Vgl. Ruppert, 376 f; Seebaß, 204, 226; Witte, Urgeschichte, 143 Anm. 91; Bosshard-Nepustil, Sintflut, 117 Anm. 30. 24  „Für alles Getier der Erde“ fehlt in der LXX und ist eventuell ein später Zusatz in MT. 25  Der Relativsatz bezieht sich auf b erīt „Bund“. Vgl. W. Groß, Bundeszeichen und Bundesschluß in der Priesterschrift, TTZ 87 (1978) 98 –115, hier 106  f. Anders Seebaß, 204, 227.

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ken, der zwischen mir und euch besteht und allen Lebewesen, mit allem Fleisch. Und das Wasser soll nicht nochmal zu einer Sintflut werden, um alles Fleisch zu vernichten.   16 Wenn der Bogen in den Wolken ist, dann will ich ihn ansehen, um eines ewigen Bundes zu gedenken zwischen Gott und allen Lebewesen mit allem Fleisch, das auf der Erde ist.

17 Und Gott sagte zu Noach: Dies ist das Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe zwischen mir und allem Fleisch, das auf der Erde ist. Analyse: Weisheitlicher Erzähler einschließlich Fortschreibungen: Gen  6, 5 –7a*. 8; 7, 1a. 2 . 3b–5. 16b. 10a. 12 . 17b. 22*. 23*; 8, 2b. 6 –12 . 13b. 20 –22; Priesterschrift einschließlich Fortschreibungen: Gen 6, 9 –22; 7, 6 –7. 11. 13 –16a. 17a*. 18 –21. 24; 8, 1–2a. 3 –5. 13a. 14  –19; 9, 1–17; Redaktion und spätere Fortschreibungen: Gen  6, 7aα*[den ich geschaffen habe]βγ; 7, 1b. 3a. 8 –9. 10b. 17a*[40 Tage]. 22* [Atem]. 23a*[ab „vom Menschen bis zum Vieh …“].

Die Sintfluterzählung in Gen  6, 5 –9, 17 markiert gleichermaßen den Tief- Kontext und den Wendepunkt der biblischen Urgeschichte: Hatte Gott am Anfang aus dem Chaos einen wohlstrukturierten Lebensraum für ein friedliches Miteinander von Mensch und Tier geschaffen (Gen  1, 1–2, 3), so folgt jetzt der Entschluss, wegen der Bosheit und Gewalt von Mensch und Tier die Welt ins Chaos zu stoßen und alles Leben auszulöschen (Gen  6, 7. 13). Doch inmitten der Chaosfluten ist Noachs Arche eine Schöpfung en miniature, die in den Neuanfang nach der Flut hinübergerettet wird. Kennzeichen dieses Neuanfangs sind die Zusage einer nachhaltigen Bewahrung der Schöpfung (Gen 8, 20 –22; 9, 8 –17 ) und die modifizierte, auf die Lebenswirklichkeit der nachsintflutlichen Lebenswelt angepasste Wiederholung des Mehrungssegens (Gen  9, 1–7 ). Als Gegenmythos zur Schöpfungsgeschichte zeigt die Sintfluterzählung die notwendigen Konsequenzen auf, die sich aus der „Verderbnis“ der Schöpfung ergeben. Als Auftakt der bis in die Gegenwart der Leser reichenden Epoche steht sie zugleich dafür, dass die grundsätzliche Infragestellung der Schöpfung durch den Schöpfergott ein für alle Mal überwunden ist. In der Priesterschrift, die auch den Aufriss der Endgestalt der Urgeschichte geprägt hat, folgte die Sintfluterzählung als narrative Ausgestaltung der Toledot Noachs (Gen 6, 9; 9, 28 f ) auf den Abschluss des Registers der Zeugungen Adams (Gen  5, 32). An die Toledot Noachs schlossen sich diejenigen seiner Söhne an, die wie im vorliegenden Textzusammenhang die Epoche der nachsintflutlichen Völkerwelt einleiteten und deren Nennung am Anfang der Sintfluterzählung bereits auf ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte vorverweist. Hingegen dürfte die Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers mit Jhwhs Zusage geendet haben, die Erde nicht noch einmal zu verwünschen, geschweige denn förmlich zu verfluchen, die Schlechtigkeit des Menschen zu ertragen und die Segenskraft der Erde zu erhalten (Gen 8, 21 f ). Diese Konzentration auf die Themen „Schöpfung“ und „Flut“ ist für Ursprungsmythen in der Literatur des alten Vorderen Orients gut be-

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zeugt.26 Im Aufriss der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers folgte die Sintfluterzählung auf die Brudermorderzählung und die genealogischen Notizen zu den Nachkommen Kains und Enoschs (Gen  4), zu denen auch eine Geburtsnotiz Noachs gehörte (Gen 5, 28 –29*). Aufbau Für die weithin übliche, gleichwohl nicht unumstrittene Abgrenzung der

Sintfluterzählung mit Gen  6, 5 –9, 17 spricht, dass Gen  6, 1–  4 durch den ätiologischen Schluss in Gen  6, 4b und Gen  9, 18 –29 durch die Exposition in Gen  9, 18 f gegenüber der Sintfluterzählung deutlich abgegrenzt sind.27 Dem korrespondiert das vielleicht offensichtlichste Strukturmerkmal der vorliegenden Sintfluterzählung, und zwar ihre doppelte Rahmung durch den zweiteiligen Prolog in Gen  6, 5 –8 und 6, 9 –22 einerseits und den ebenfalls zweiteiligen Epilog in Gen  8, 20 –22 und 9, 1–17 andererseits: Der Prolog schildert Gottes Entschluss, die Menschheit samt der belebten Natur zu vernichten, und wird durch die Toledotformel in Gen  6, 9 untergliedert. Die beiden Teile enthalten jeweils eine Begründung und Ansage der Vernichtung, wobei jedoch Gen  6, 5 –8 nach innen gerichtet ist und Jhwhs Nachsinnen über die Verderbnis der Erde schildert, während Gen  6, 9 –22 auf eine Mitteilung Gottes nach außen hinausläuft. Der Zweiteilung des Prologs entspricht diejenige des Epilogs mit Gottes Zusage, die Erde zukünftig vor einem Geschehen wie der Sintflut zu bewahren. Diese Zusage wird in Gen 8, 20 –22 in der Innenperspektive Jhwhs geschildert und in Gen 9, 1–17 als Mitteilung nach außen. Der jeweils erste Teil des Prologs und Epilogs in Gen 6, 5 –8 und Gen 8, 20 –22 sind durch die fast wortwörtlich übereinstimmende Bewertung der menschlichen Wesensart verbunden (vgl. Gen 6, 5 –7 und 8, 21). Der zweite Teil des Epilogs in Gen  9, 1–17 greift hingegen auf den Wortlaut der Ankündigung eines Bundes (hebr. berīt) im zweiten Teil des Prologs in Gen  6, 9 –22 zurück (vgl. 6, 18 und 9, 9. 11. 17 ). Auch nimmt die Reformulierung der Mehrungsverheißung in Gen  9, 1. 7 (vgl. Gen  1, 28) das Urteil vom Überhandnehmen „lebensbedrohlicher Gewalt“28 auf der Erde aus Gen 6, 11 sachlich auf, insofern der Herrschaftsauftrag zur Ankündigung der Schreckensherrschaft des Menschen über seine belebte Umwelt wird (Gen 9, 2). Eine präzise Gliederung des von diesem zweifachen Rahmen umschlossenen Hauptteils der Sintfluterzählung in Gen  7, 1–8, 19 bereitet dagegen Schwierigkeiten. Ein chiastischer oder konzentrischer Aufbau lässt sich nicht

26  So in der sumerischen Flutgeschichte (Einleitung und Übersetzung: W.H.P. Römer, Die Flutgeschichte, TUAT III, 448 –  458) und im altbabylonischen Atram­ḫasis-Epos. 27  Diskutiert werden auch ein Beginn mit Gen  6, 1 (Schmidt, Mythos, 243 Anm.  12; Ruppert, 293) oder Gen 6, 9 (vgl. u.  a. Jacob, 183) und ein Ende mit Gen 8, 22 (vgl. u.  a. von Rad, 97 f; Westermann, 518) oder Gen 9, 29 ( Jacob, 183). 28  J. Jeremias, Schöpfung in Poesie und Prosa des Alten Testaments. Gen 1–3 im Vergleich mit anderen Schöpfungstexten des Alten Testaments, JBTh 5 (1990) 11–36, 36.

Die Fluterzählung

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aufzeigen.29 Auch gelingt es nicht, sämtliche Gliederungsmerkmale wie die Datierungen oder die Korrespondenz von Auftrag und Erfüllung in eine in sich stimmige Gliederung des vorliegenden Textzusammenhangs zu überführen. So wird man sich für den Hauptteil der Sintfluterzählung damit bescheiden müssen, dass er durch den Handlungsverlauf und unterschiedlich gewichtete Gliederungsmerkmale strukturiert wird.30 Im Einzelnen lassen sich im Hauptteil folgende Abschnitte abgrenzen: I. Gen 7, 1–5; II. Gen  7, 6 –16; III. Gen  7, 17–24; IV. Gen  8, 1–14; V. Gen  8, 15 –19. (I.) Die erneute Ankündigung der Flut und der Befehl des Einzugs in die Arche in Gen 7, 1–  4 sowie die summarisch mitgeteilte Ausführung des Befehls in Gen 7, 5 bilden mit Gen 8, 15 – 19 einen inneren Rahmen der Schilderung der Flut. (II.) Der Abschnitt beginnt mit einer Datierung der Flut (V. 6). In seinem Zentrum steht die ebenfalls datierte Notiz vom Kommen der Flut (V. 10 –12). Sie wird flankiert von der Erzählung über den Einzug (V. 7–9) und der Feststellung des „an eben diesem Tag“ erfolgten Einzugs (V. 13 –16). (III.) Die Schilderung der Flut wird durch Angaben zur Dauer der Flut gerahmt. Die Schilderung der Flut ist der einzige Abschnitt, in dem weder Jhwh/Gott noch Noach explizit erwähnt werden. (IV.) Der Abschnitt ist rein inhaltlich bestimmt, insofern er die Wende des Geschehens beschreibt. Durch die Aufnahme des Motivs von Gottes Gedenken (hebr. *zkr) aus Gen 8, 1 zum Abschluss der Sintfluterzählung in Gen  9, 15 f wird sein Auftakt jedoch im Nachhinein betont herausgestellt. Das Ende des Abschnitts ist durch die Datierung in V. 14 und den Neueinsatz mit einer Gottesrede in V. 15 markiert. (V.) Der hintere Teil des inneren Rahmens greift mit V. 16 f auf Formulierungen von Gen 7, 1b–  4 zurück. Zudem bietet Gen 8, 15 –17 erstmals nach Gen 7, 1–5 wörtliche Rede.

Die im Vergleich zu den übrigen Erzählungen der Urgeschichte ungewöhn- Entstehung lich umfangreiche Sintfluterzählung weist schon bei einer oberflächlichen Lektüre eine Reihe von Auffälligkeiten auf, die auf eine mehrstufige Entstehung des Textes hindeuten. Die Erzählweise ist eigentümlich redundant. Fast alle Erzählzüge, die für den Plot der Erzählung wesentlich sind, begegnen in stilistischen und vorstellungsmäßigen Variationen (I.). Hinzu kommen sachliche Unstimmigkeiten schwererer und leichterer Art (II.) sowie die unterschiedliche Bezeichnung Gottes (III.).

29  Zu den Schwierigkeiten derartiger Versuche, wie sie vor allem Cassutto, Genesis II 30 –33; G.J. Wenham, The Coherence of the Flood Narrative, VT  22 (1972) 326 –348; ders., 155 ff; Y.T. Radday, Chiasmus in Hebrew Biblical Narrative, in: J.W. Welch (Hg.), Chiasmus in Antiquity: Structures, Analyses, Exegesis, Hildesheim 1981, 50 –117, unternommen haben und die immer wieder als Nachweis für die literarische Einheitlichkeit der Sintfluterzählung aufgeführt werden, vgl. J.A. Emerton, An Examination of Some Attempts to Defend the Unity of the Flood Narrative in Genesis. Teil I, VT  37 (1987 ) 401–  420; Teil II, VT  38 (1988) 1–21; Blum, Studien, 283 Anm.  208. Zur Rekonstruktion einer ringförmigen Struktur bei Seebaß, 205 –207, und einer Zweiteilung nach Gen 8, 19 bei Bosshard-Nepustil, Sintflut, 27–  41, 265, vgl. Gertz, Beobachtungen, 46 f Anm. 19 und 20. 30  Ähnlich Baumgart, Umkehr, 96 –98 .

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Zu I.31: 1. Jhwh/Gott sieht die Bosheit der Menschen und die Verderbnis der Erde (Gen  6, 5 und 6, 11 f ); 2 . Jhwh/Gott beschließt die Vernichtung des Menschen und alles Fleisches (Gen  6, 7 und 6, 13); 3.  Gott/Jhwh kündigt eine Flut an (Gen  6, 17 und 7, 4); 4.  Gott/Jhwh befiehlt Noach mit seiner Familie in die Arche zu gehen (Gen  6, 18b und 7, 1); 5. Gott/Jhwh befiehlt die Mitnahme von Tieren (Gen  6, 19  f und 7, 2), um sie am Leben zu erhalten (Gen  6, 20 und 7, 3); 6.  Kommen der Flut (Gen 7, 10a und 7, 11) und Steigen des Wassers (Gen 7, 17b und 7, 18 –20); 7. Umkommen der Geschöpfe (Gen  7, 21 und 7, 22 f ); 8. Ende der Flut (Gen  8, 2a und 8, 2b); 9. Wahrnehmen des Endes der Flut und Verlassen der Arche (Gen  8, 6 –12 . 13b und 8, 15 –19); 10. Jhwh/Gott schließt eine erneute Flut aus (8, 20 –22 und 9, 8 –17 ). Zu II.: 1. Noach nimmt von allen Tieren je zwei mit auf die Arche (Gen 6, 19 f; 7, 15 f ) oder von den unreinen je zwei und von den reinen je sieben (Gen 7, 2); 2 . Alle Quellen der großen Urflut (t   ehōm) und die Fenster des Himmels öffnen sich (Gen  7, 11; vgl. 8, 2a) oder es handelt sich um einen Regen (Gen 7, 4. 12; vgl. 8, 2b); 3. Noach erfährt anhand der Vogelprobe, dass er die Arche verlassen kann (Gen  8, 6 –12), oder Gott teilt ihm dies mit (Gen 8, 16 f ); 4. Die Angaben der Dauer der Flut sind runde Zahlen (7 bzw. 40  Tage in Gen  7, 4. 10. 12; 8, 6. 10. 12) oder die Flut wird genau datiert (Lebensjahre Noachs) und dauert wesentlich länger (7, 6. 11. 13. 24; 8, 3b–5. 13a. 14); 5. Die Bergspitzen sind sichtbar (Gen  8, 5), doch die Taube findet keinen Platz zum Landen (Gen 8, 9); 6. Es ist von Noach, seiner Frau, seinen Söhnen und den Frauen seiner Söhne (Gen 6, 18; 7, 7. 13; 8, 16. 18) oder verallgemeinernd von Noach und seinem Haus die Rede (Gen 7, 1). Zu III.: Das Nebeneinander des Gattungsbegriffs ʾælōhīm („Gott“ oder „Götterwesen“; Gen 6, 9. 11. 12 . 13. 22; 7, 9. 16a; 8, 1a.b. 15; 9, 1. 6. 8. 12 . 16. 17 ) und des göttlichen Eigennamens Jhwh (Gen 6, 5. 6. 7. 8; 7, 1. 5. 16b; 8, 20. 21) ist für sich genommen kein Hinweis auf eine literarische Spannung. Gleichwohl überrascht nach der strengen Aufteilung der Abschnitte, die den Gottesnamen Jhwh (Gen 2 , 4  –  4, 26*) verwenden, und solchen, die den Gattungsbegriff ʾælōhīm gebrauchen (Gen 1, 1–2 , 3; 5), dass sich in der Sintfluterzählung beides ohne erkennbaren Grund abwechselt (vgl. „Und Noach tat gemäß allem, was ihm Gott/ ʾælōhīm befohlen hatte, so tat er“ in Gen 6, 22 mit „Da tat Noach gemäß allem, was Jhwh ihm befohlen hatte“ in Gen 7, 5). Zudem geht der Wechsel von Gottesnamen und Gattungsbegriff häufig einher mit den genannten Wiederholungen.

Das Zusammentreffen der Wiederholungen nahezu aller Bausteine der Sintfluterzählung mit den genannten Spannungen auf der Sachebene sowie der Bezeichnung identischer Sachverhalte durch unterschiedliche Begriffe hat bereits in den Anfängen der historischen Bibelauslegung zur Unterscheidung von zwei Textschichten geführt. Über die Abgrenzung dieser Textschichten, die schon Hermann Gunkel rückblickend völlig zu Recht als „Meisterstück 31  Die Aufzählungen der als Doppelungen bewerteten Passagen unterscheiden sich je nach Analyse. So gelten z.  B. die Notizen über das Besteigen der Arche in Gen  7, 7–9 und 7, 13 –16 und das Sinken des Wassers in Gen  8, 3a und 8, 3b. 5 häufig als Dubletten. Doch liegt hier ein in sich stimmiger Aussagezusammenhang vor und die Bewertung als Dublette verdankt sich wohl eher dem Bemühen, zwei vollständige und im Kern gleichartige Versionen der Sintfluterzählung herauszuarbeiten.

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der modernen Kritik“32 bezeichnet hat, besteht seit den grundlegenden Analysen des 19. und frühen 20. Jh. eine weitgehende Übereinstimmung.33 Das gilt auch für die Zuschreibung der beiden erkannten Strata an die beiden Hauptstimmen der biblischen Urgeschichte, die Priesterschrift und (in der hier gewählten Terminologie) den weisheitlichen Erzähler. Die priesterschriftliche Version der Sintfluterzählung ist in erzählerischer Hinsicht vollständig und selbsttragend. Das wird unbeschadet der Kontroverse um das literarische Profil der Priesterschrift weithin anerkannt. Hinsichtlich des zweiten Stratums ist die Forschungsmeinung weniger einheitlich, gleichwohl sind auch in diesem Fall große Übereinstimmungen zu notieren. Das betrifft die Abgrenzung des Materials und die grundsätzliche Zugehörigkeit zu den Texten der Urgeschichte, die hier dem weisheitlichen Erzähler zugeschrieben werden. Unstrittig ist auch, dass sich die Texte dieses Stratums nicht zu einem lückenlosen Bericht verbinden lassen. Zur Erklärung des literarischen Befundes werden vornehmlich drei Modelle herangezogen: 1. die Annahme einer redaktionellen Verbindung der ursprünglich selbständigen Versionen der Sintfluterzählung der Priesterschrift und des weisheitlichen Erzählers (in der hier gewählten Terminologie; sonst „J“ oder „non-P“) durch eine dritte Hand;34 2. die Annahme einer Ergänzung der Sintfluterzählung einer älteren Urgeschichte durch priesterliche Editoren;35 3.  die Annahme einer Ergänzung einer priesterschriftlichen Grundschrift durch nachpriesterschriftliche Editoren.36 Das als erstes aufgeführte Quellenmodell repräsentiert nach wie vor die Mehrheitsmeinung in der Forschung. Wesentliche Argumente für diese auch hier vertretene Position ergeben sich schon aus der Zurückweisung der beiden Ergänzungsmodelle. Was die These einer priesterlichen Edition (2.) anbelangt, so bieten die priesterschriftlichen Texte in Gen  6, 5 –9, 17 auch nach Ansicht profilierter Gunkel, 137; vgl. bereits Budde, Urgeschichte, 248. H. Hupfeld, Die Quellen der Genesis und die Art ihrer Zusammensetzung von neuem untersucht, Berlin 1853; E. Schrader, Studien zur Kritik und Erklärung der biblischen Urgeschichte. Gen Cap. I–XI, Zürich 1863; Budde, Urgeschichte, 248 –289; Gunkel, 137–140. Zur Forschungsgeschichte vgl. Baumgart, Umkehr, 381–384. Zur neueren Diskussion vgl. Gertz, Beobachtungen. Dort auch zum Folgenden. 34  Vgl. Budde, Urgeschichte, 248 –289; Gunkel, 137–140; von Rad, 85 –101; Westermann, 531– 535, und in jüngerer Zeit Seebaß, 228 –231; Levin, Jahwist, 103 –117; Carr, Fractures, 48 –62; Witte, Urgeschichte, 130 –146, 171–184; Gertz, Beobachtungen. Angeregt durch Wellhausen, Composition, 7–14, wurde die Fluterzählung vor allem in der älteren Forschung (Budde, Holzinger, Gunkel u.  a.) für ein Nachtrag zur non-P Urgeschichte gehalten. Vgl. in jüngerer Zeit Levin, Jahwist, 103; Carr, Formation, 159 –177. 35  Vgl. nach P. Volz, Kurzer Anhang über den Priesterkodex, in: ders.,/W. Rudolph, Der Elohist als Erzähler: Ein Irrweg der Pentateuchkritik an der Genesis erläutert, BZAW  63, Gießen 1933, 135 –145, 140 –142 , vor allem Van Seters, Prologue, 160 –169; Blum, Studien, 278 –285. 36  Vgl. Tuch, 137–186. Eine Renaissance erlebt die Ergänzungshypothese Tuchscher Prägung für die Sintfluterzählung (bzw. die gesamte Urgeschichte) bei Ska, Relato; Kratz, Komposition, 259 –261; Blenkinsopp, A Post-exilic lay source; Bosshard-Nepustil, Sintflut; Schüle, Prolog, 247– 354; Arneth, Adam, 43 –92 , 169 –200. 32  33 

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Vertreter dieser Erklärung eine in sich geschlossene Fassung der Sintfluterzählung. Daher wird für diesen Textbereich wie für den Schöpfungsbericht in Gen  1, 1–2, 3 vermutet, dass der priesterliche Editor die Sintfluterzählung einer älteren Urgeschichte mit seiner eigenen Flutüberlieferung verschränkt hat. Faktisch wird der literarische Befund innerhalb der Sintfluterzählung also mit einem Quellenmodell erklärt.37 Die Beurteilung der priesterschriftlichen Sintfluterzählung als Bestandteil einer im weitesten Sinne Bearbeitungsschicht hängt vor allem an der Einschätzung, dass sich der radikale Umschwung vom Schöpferlob in Gen  1, 31 zum vernichtenden Urteil über die Verderbnis der Schöpfung in Gen 6, 11–13 allein unter Einbeziehung der Paradies- und der Brudermorderzählung plausibilisieren lasse, mithin die Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers voraussetze.38 Doch die Analyse der Angaben zum Lebensalter der vorsintflutlichen Patriarchen im Register der Zeugungen Adams in Gen 5 hat gezeigt, dass die Priesterschrift sehr wohl den Gedanken einer zunehmenden Verderbnis der Welt kennt, an deren Ende die Feststellung des Erzählers von Gen  6, 11 und das Urteil Gottes in Gen  6, 12 stehen. Von diesen Andeutungen abgesehen, scheint die Priesterschrift an einer narrativen Entfaltung eines Verfallsprozesses nicht interessiert zu sein. Vielmehr konzentriert sie sich darauf, die „strukturelle Störung der Schöpfungs- und Lebensordnung“39 durch die definitionsartige Nennung der universalen Verderbnis der Erde herauszustellen (s.  u. zu Gen  6, 9 –13), sodass ihre Sintfluterzählung weder auf die Erwähnung des „Sündenfalls“ noch auf die Brudermorderzählung angewiesen ist. Die Priesterschrift steht also auch mit Blick auf den Übergang von der guten zur verdorbenen Schöpfung auf eigenen Füßen und kann daher recht zuversichtlich in der Urgeschichte als ein ehedem selbständiges Literaturwerk bewertet werden. Für die These einer nachpriesterschriftlichen Edition (3.) wird in erster Linie darauf verwiesen, dass eine aus den Anteilen dieses Stratums rekonstruierte Sintfluterzählung unvollständig ist. Hinzu kommen Beobachtungen zum redaktionellen Verfahren und zur Struktur des vorliegenden Textzusammenhangs. Zudem werden einzelne Wendungen als nachpriesterschriftlich klassifiziert, worauf jeweils bei der Auslegung einzugehen ist. Dreh- und Angelpunkt der Debatte ist die Frage, wie das Fehlen eines Berichts über den Bau der Arche zu bewerten ist.40 Ohne jeden Zweifel ist der Baubericht ein konstitutives Element der Sintfluterzählung. Zudem ist die erste (erhaltene) Erwähnung der Arche in diesem Stratum determiniert (Gen 7, 1; vgl. dagegen Gen 6, 14 P), was mit einiger Wahrscheinlichkeit eine vorherige Einführung der Arche voraussetzt. Im Rahmen eines Quellenmodells muss angenommen werden, dass der Baubericht bei der redaktionellen VerbinVgl. Blum, Studien, 282 mit Anm. 206. Zur Geschichte dieses Arguments vgl. Gertz, Genesis 5, 68 –70. 39  Zenger, Bogen, 33. 40  Auf weitere (vermeintliche) Lücken wird in der Auslegung eingegangen. Zum Problem der redaktionellen Überformung und etwaiger Umstellungen s.  u. zu Gen 7, 6 –16. 37  38 

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dung der beiden Versionen ausgefallen ist. Was auf den ersten Blick wie eine Verlegenheitsauskunft wirkt, lässt sich aber gut begründen. Zum einen kann ein redaktionell bedingter Textausfall nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Empirisch betrachtet stellt eine aus einem sekundären Text vollständig rekonstruierbare Urkunde ohnehin die Ausnahme dar. Hinzu kommt, dass sich an dieser Stelle ein Textausfall konzeptionell begründen lässt und dass sich Hinweise auf den ausgelassenen Text erhalten haben: Die priesterschriftlichen Anweisungen zum Bau der Arche in Gen 6, 14  –16 korrespondieren mit denen zum Bau des Zeltheiligtums in Ex 25 –31, zugleich entspricht der dreistufige Aufbau der Arche der in Gen 1, 1–2, 3 entfalteten Ordnung der Lebenswelt (s.  u. zu Gen  6, 14  –16). Sollte diese Korrespondenz nach der Zusammenführung der beiden Versionen erhalten bleiben, so war die Streichung des zweiten Bauberichts kaum zu vermeiden.41 Diese Annahme wird durch die Notiz des weisheitlichen Erzählers zum Öffnen „des Fensters (ḥallōn) der Arche, das Noach gemacht hatte,“ in Gen 8, 6 bestätigt. Die Notiz setzt zweifellos einen Baubericht voraus. Im vorliegenden Textzusammenhang läuft der Querverweis „das er gemacht hatte“ jedoch ins Leere, da das Fenster in den priesterschriftlichen Bauanweisungen nicht erwähnt wird. Der in Gen  8, 6 (wE) vorausgesetzte Baubericht wird daher mit ziemlicher Sicherheit nicht in Gen  6, 9 –22 (P) zu suchen sein, vielmehr darf mit dem redaktionell bedingten Ausfall einer entsprechenden Passage des weisheitlichen Erzählers gerechnet werden. Ähnlich verhält es sich mit dem „Verdeck“ (miksǣ  ) in Gen 8, 13b (wE), das im priesterschriftlichen Text ebenfalls nicht erwähnt wird. Natürlich sollen in der redaktionellen Endgestalt die beiden Architekturelemente aus der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers mit der „Öffnung“ (pǣtaḥ) und dem „Dach“ (ṣōhar) aus der priesterschriftlichen Bauanweisung (Gen  6, 16) gleichgesetzt werden. Doch die Sperrigkeit dieser recht komplizierten Identifizierung zeigt, dass sie kaum ursprünglich ist. Selbst das Fehlen eines Bauberichts in der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers spricht nach alldem eher für als gegen das Quellenmodell. Für die skizzierte Ergänzungshypothese wird ferner angeführt, dass die nicht zur Priesterschrift gehörenden Passagen die Struktur des Gesamttextes vorgeben, mithin redaktionell über die priesterschriftliche Sintfluterzählung gelegt worden sind.42 Ein Blick auf Prolog und Epilog zeigt, dass sich diese Annahme wie auch die Gegenmeinung, wonach allein der priesterschriftliche Text die Struktur vorgibt, nicht halten lässt. Auf den weisheitlichen Erzähler gehen der erste Prolog und Epilog in Gen  6, 5 –8 und 8, 20 –22 zurück, auf die Priesterschrift der zweite Prolog und Epilog in Gen  6, 9 –22 und 9, 1–17. Damit sind die prominenten Eröffnungs- und Schlusspassagen der Sintfluterzählung auf den weisheitlichen Erzähler und Baumgart, Umkehr, 416. Zuweilen wird die gleichlautende These auch damit begründet, dass sich die Struktur des vorliegenden Textzusammenhangs an der Priesterschrift orientiere. Vgl. Schüle, Prolog, 259. 41  42 

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die Priesterschrift verteilt. Dass sich die Struktur allein an den nicht-priesterschriftlichen Texten oder an den priesterschriftlichen Texten orientiert, lässt sich somit schwerlich behaupten. Folgende Beobachtung kommt hinzu: In der Regel eröffnet die Toledotformel einen neuen Abschnitt. In der Sintfluterzählung wird die priesterschriftliche Toledotformel in Gen  6, 9 durch die Eröffnung des weisheitlichen Erzählers von der Anfangsposition verdrängt. Stattdessen wird die sonst als Überschrift verwendete Toledotformel zum Signal für einen Einschnitt innerhalb des zweiteiligen Prologs. Offenkundig überlagert die Struktur des vorliegenden Textes die ihr vorgegebene Struktur der Priesterschrift. Vergleichbar ist der Befund zum Abschluss der Sintfluterzählung. Im Epilog des weisheitlichen Erzählers sagt Jhwh nach Gen  8, 21–22 den Bestand der Schöpfung zu. Diese Zusage greift unverkennbar auf den Prolog in Gen  6, 5 –8 zurück. Sie ist in ihrem Schlussteil rhythmisch formuliert. Das weist sie als Höhepunkt und – bedenkt man das alttestamentlichen Erzählungen eigentümliche Achtergewicht – als Schlusspunkt einer mit Gen  6, 5 –8 eröffneten Sintfluterzählung aus. Im Endtext folgt freilich der inhaltsschwere Abschnitt Gen  9, 1–17. Dieser ist priesterschriftlicher Herkunft und lässt sich wegen seiner engen Korrespondenz zu Gen 6, 11–22 kaum von der Sintfluterzählung trennen. In der Endgestalt bilden demnach Segen und Bund den Schlussakt der Sintfluterzählung, wodurch die Zusage Jhwhs in Gen  8, 21–22 aus ihrer gleichsam natürlichen Schlussstellung verdrängt und zu einer Binnenzäsur transformiert wird. Abermals überlagert also die jetzige Gliederung ältere Textgrenzen. Diesmal handelt es sich aber um die Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers, die um den Schlussakkord der Priesterschrift erweitert wird. Die Struktur des vorliegenden Textzusammenhangs fußt demnach auf zwei älteren Vorlagen mit je eigenen Gliederungsprinzipien: Gen 6, 5 –8

Gen 6, 9 f

Gen 6, 11–22

Gen 7, 1–8, 19

Gen 8, 20 –22

Gen 9, 1–17

wE

Prolog

-  -  -

-  -  -

Flut

Epilog

-  -  -

P

-  -  -

Toledotformel: Eröffnung der Toledot Noachs (bis Gen 9, 28 –29)

Rede Gottes an Noach vor der Flut

Flut (bis Gen 8, 14) Rede Gottes an Noach nach der Flut Teil I

-  -  -

Rede Gottes an Noach nach der Flut Teil II

Endtext

Prolog I (nach innen)

Prolog II (nach außen)

Flut

Epilog I (nach innen)

Epilog II (nach außen)

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Eine Gliederung von Gen 6, 5 –9, 17, die alle Gliederungsmerkmale aufnimmt und zusammengehörige Gliederungsmerkmale gleich gewichtet, ist nicht möglich. Auch dies zeigt, dass sich in der vorliegenden Sintfluterzählung verschiedene Strukturierungen überlagern. Da sich jüngere Bearbeitungen in der Regel an vorgegebene Strukturen anschmiegen oder diese ausbauen und verdeutlichen, spricht dieser Befund ebenfalls eher für die Annahme älterer Vorlagen mit je eigenen Gliederungsprinzipien. Dies gilt schließlich auch für die Widersprüche auf sachlicher Ebene. Sie lassen sich in der Gesamtheit nicht befriedigend auf die Intention möglicher Bearbeiter zurückführen, sondern belegen, wie sehr sich der Verfasser oder Herausgeber des vorliegenden Textzusammenhangs an seine Vorlagen („Quellen“) gebunden fühlte. Die in der Analyse ermittelten Textschichten lassen sich als zwei (nahezu) vollständige und ehedem unabhängig voneinander überlieferte Versionen der Sintfluterzählung beschreiben, was die Kenntnisnahme in der einen oder anderen Richtung im Übrigen nicht ausschließen muss. Auf den ersten Blick scheint das Verfahren der für die Zusammenstellung verantwortlichen Redaktion von dem Verfahren in Gen 1–5 abzuweichen, insofern dort die beiden Hauptstimmen der Urgeschichte jeweils in geschlossenen Blöcken aneinandergereiht wurden. Doch bot sich diese Kompositionstechnik für die Sintfluterzählung deswegen nicht an, weil beide Versionen von ein und demselben singulären Geschehen handeln. Gleichwohl ist die Redaktion nicht gänzlich von ihrem bisherigen Verfahren abgewichen, insofern sie größere Texteinheiten der beiden Versionen blockweise zusammengestellt präsentiert. Lediglich im Flutbericht ist sie an einigen Stellen recht kleinteilig verfahren, allerdings wird man dort nicht ausschließen können, dass sie den Text zum Teil auf Grundlage der Versionen relativ eigenständig (re-)formuliert hat, was auch etwaige Textumstellungen gegenüber den Vorlagen erklärt (s.  u. zu Gen 7, 6 –16). Davon abgesehen beschränken sich ausgleichende Zusätze der Redaktion auf wenige Teilverse. Mythen über eine urgeschichtliche Gefährdung der Schöpfung sind ein uni- Tradition versales Phänomen, wobei im Einzelnen sehr unterschiedliche Erfahrungen auf sehr unterschiedliche Art reflektiert werden. Häufig besteht die Gefährdung in einer großen, beinahe alles Leben vernichtenden Flut.43 Doch sind neben der Flut je nach den lokalen Gegebenheiten auch andere Bedrohungen der guten Schöpfung des Anfangs belegt. So reagiert im ägyptischen „Buch von der Himmelskuh“44, das den Umschwung der guten Schöpfung des Anfangs in den gegenwärtigen Zustand der Welt thematisiert, der Sonnengott Re auf die Rebellion der Menschen mit einer verheerenden Feuers43  Zu den verschiedenen Sammlungen von Fluterzählungen vgl. B. Lang, Non-Semitic Deluge Stories and the Book of Genesis: a Bibliographical and Critical Survey, Anthropos  80 (1985) 605 –616. 44  Einleitung und Übersetzung H. Sternberg el-Hotabi, Der Mythos von der Vernichtung des Menschengeschlechtes, TUAT III, 1021–1027.

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glut, unterläuft dann aber selbst den vorher gefassten Entschluss zur völligen Vernichtung der Menschheit. Auf die Frage nach etwaigen entstehungsgeschichtlichen Zusammenhängen der verschiedenen Erzählungen von einer großen Flut gibt es keine allgemein gültige Antwort. Die lebensweltlichen Erfahrungen traditioneller Gesellschaften weisen unbeschadet aller Unterschiede vielfach Gemeinsamkeiten auf. Überlegungen zur Herkunft, Stabilität und Gefährdung der Lebenswelt, die aus den Gefährdungen der menschlichen Existenz herrühren, haben in diesen Gesellschaften deshalb oftmals zu ähnlichen Darstellungen einer Überkatastrophe geführt. Entsprechend teilen die meisten Flutsagen außerhalb des Kulturraums des alten Vorderen Orients und des östlichen Mittelmeeres mit der biblischen Sintfluterzählung auch nur die Grundstruktur. Diese ist durch die „natürlichen Gegebenheiten“ einer Vernichtung (eines Teils) der Menschheit durch eine Flut vorgegeben und bedarf zur Erklärung weder eines genetischen Zusammenhangs in dem Sinne, dass die Erzählungen auf ein und dasselbe Großereignis rekurrieren, noch der Rückführung auf archetypische Strukturen in der menschlichen Psyche. Auch wird in vielen Fällen damit zu rechnen sein, dass die biblische Sintfluterzählung durch die christliche Missionstätigkeit verbreitet wurde und stark auf die jeweiligen autochthonen Überlieferungen eingewirkt hat. Für die traditions- und literaturgeschichtliche Rückfrage ist daher eine Beschränkung auf einen historisch und geographisch zusammenhängenden Kulturraum geboten.45 Schon in der Antike wurden die Gemeinsamkeiten der damals bekannten Sintfluterzählungen diskutiert. Der jüdisch-hellenistische Philosoph Philo von Alexandria identifizierte Noach im 1. Jh. n. Chr. wohl erstmals mit dem griechischen Fluthelden Deukalion (Philo praem. 23). Sein Zeitgenosse Flavius Josephus setzte Noach mit einem Hinweis auf das Werk des babylonischen Priesters Berossos mit den Fluthelden der mesopotamischen Überlieferungen gleich ( Jos.Ant. I, 93). Derartige Erwägungen wurden von frühen christlichen Autoren als apologetisches Argument für die Verlässlichkeit der biblischen Überlieferung aufgegriffen, während die Übereinstimmungen der Überlieferungen ihren Gegnern als Beleg dafür dienten, dass die biblische Sintfluterzählung eine skrupellose Verfälschung der Sage von Deukalion sei.46 Der griechische Sagenkreis um Deukalion und Pyrrha ist für die Frage, welche Traditionen und Überlieferungen den biblischen Autoren vorlagen, von untergeordnetem Interesse.47 Sehr wahrscheinlich hat die mesopota45  Anders Westermann, 536 –546, der den Vergleich auf sämtliche Frühkulturen ausdehnt und in der „Sintflut“ einen „Archetyp der Menschheitskatastrophe“ erkennt. Zur Kritik vgl. Lang, a.a.O., 612  f. 46  Kelsos von Alexandria nach Origenes, Contra Celsum 4, 41, FChr 50/3. 47  Zur griechischen Tradition vgl. G.A. Caduff, Antike Sintflutsagen, Hypomnemata  82 , Göttingen 1986.

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mische Überlieferung mittelbar über Kleinasien auf die griechische Flutsage eingewirkt. Ein griechischer Einfluss auf die Formierung der biblischen Sintfluterzählung lässt sich dagegen nicht nachweisen. Gänzlich anders stellt sich der Befund für das Verhältnis der biblischen zur mesopotamischen Überlieferung dar. Diese war zur Zeit des Josephus nur durch Vermittlung des Berossos bekannt, dessen Werk in der Folgezeit selbst nur in Exzerpten und Zitaten vorgelegen hat.48 Mit der Wiederentdeckung keilschriftlicher Originaltexte seit dem 19.  Jh. ist die Diskussion jedoch auf eine breitere Grundlage gestellt. Am Anfang der mesopotamischen Überlieferung mögen einzelne Erfahrungen mit Flutkatastrophen und durch Überbevölkerung ausgelöste soziale Unruhen gestanden haben, die sich zum Mythos der einen Überkatastrophe von der großen Flut (sum. amaru, eigentlich „Orkanwasser“, akkad. abūbum) verdichtet haben.49 Erstmals greifbar wird der mesopotamische Flutmythos im frühen 2.  Jt. v. Chr., und zwar in Gestalt der dritten Tafel des Atram­ḫasis-Epos. Von da an ist er als Text präsent und Gegenstand der Literaturgeschichte.50 Bekannt sind neben dem Atram­ ḫasis-Epos zwei weitere keilschriftliche Versionen der Sintfluterzählung: die vermutlich etwas jüngere sumerische Fluterzählung und die elfte Tafel des Gilgamesch-Epos, die mit einiger Sicherheit ein Exzerpt aus dem Atram­ ḫasis-Epos ist und bei ihren Lesern und Leserinnen eine größere Vertrautheit mit dem ganzen Stoff voraussetzt. Hinzu kommen weitere Epen, die an sich ein anderes Geschehen zum Gegenstand haben, dieses aber mit dem Flutmotiv verknüpfen, sowie eine Reihe von Erwähnungen der Sintflut in ganz anderen Textgattungen. So ist diese eine verbreitete Metapher für Verheerungen des Landes durch Kriegshandlungen, während Königslisten sich in besonders langlebige Herrscher vor der Sintflut und solche danach unterteilen (s.  o. S. 196 f zu Gen 5). Die Kenntnis des Gilgamesch-Epos und des Atram­ḫasis-Epos ist für die Levante nachgewiesen,51 die zeitliche Erstreckung der vorhandenen Textzeugen reicht bis weit in das 1. Jt. v. Chr., im Fall des Gilgamesch-Epos sogar bis in die hellenistische Zeit. Der Aufbau der drei Versionen des mesopotamischen Sintflutmythos entspricht demjenigen der biblischen Sintfluterzählung und ihrer (hypothetischen) Quellen: Die göttliche Seite beschließt eine weitreichende Vernich48  Der Text der Fluterzählung der Babylonaika bei Jacoby, Fragmente, 378 –381. In der Fluterzählung des Berossos laufen verschiedene Traditionen zusammen. Vgl. dazu S. Dalley, First Millennium BC Variation in Gilgamesh, Atrahasis, the Flood Story and the Epic of Creation: What was Available to Berossos?, in: J. Haubold u.  a. (Hg.), The World of Berossos, Classica et Orientalia  5, Wiesbaden 2013, 165 –176. Aus diesem Grund ist es methodisch nicht angeraten, „Lücken“ der sumerischen Fluterzählung im Rückgriff auf Berossos zu füllen, wie dies Wöhrle, Gott, 330 f, unternimmt. 49  Vgl. Wilcke, Weltuntergang; Maul, Ringen. Dort jeweils auch zum Folgenden. 50  Zur Unterscheidung des einzelnen Mythos von seinen jeweiligen Textfassungen vgl. W. Burkert, Literarische Texte und funktionaler Mythos: Zu Ištar und Atrahasis, in: J. Assmann/W. Burkert/F. Stolz, Funktionen und Leistungen des Mythos. Drei altorientalische Beispiele, OBO  48, Freiburg, Schw./Göttingen 1985, 63 –82 . 51  Zu den Belegen s.  o. S. 21 f mit Anm. 51.

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tung, ermöglicht aber die Rettung Einzelner. Aus diesem Grund wird ein wassertüchtiges Gefährt gebaut, befrachtet und bestiegen. Daraufhin bricht die verheerende Flut ein, in der die Götter bzw. Gott walten. Nach Ende der Flut bringt der Flutheld den Göttern bzw. Gott ein Opfer dar, worauf die Götter bzw. Gott beschließen, dass sich die erzählte Katastrophe so nicht wieder ereignen wird. Hinzu kommen bis ins Detail reichende Übereinstimmungen, die nicht durch das Thema „Flut“ vorgegeben sind und nicht nur auf eine allgemeine Kenntnis des Stoffes, sondern auf Textkenntnis schließen lassen. Das gilt vor allem für die Vogelflugszene in Gen  8, 6 –12 und ihre Parallele im Gilgamesch-Epos (Gilgm XI, 147–156). Dass die biblische Sintfluterzählung und ihre Quellen von der mesopotamischen Überlieferung abhängig sind, duldet schon wegen des erheblich höheren Alters der keilschriftlichen Originaldokumente keine Zweifel. Auch ist der Stoff dem Alten Testament eher fremd. Eine Überflutung des ganzen Landes ist im bergigen Palästina sicher keine traditions- und mythenbildende Erfahrung. Doch in der semiariden Region des südmespotamischen Tieflandes, in der kein Regenfeldbau möglich ist, stellt sich dies anders dar. Hier ist der Ackerbau gänzlich vom Wasser des Euphrat und Tigris abhängig und sieht sich mit der besonderen Schwierigkeit konfrontiert, dass die Frühjahrsschmelze im türkischen Taurus- und iranischen Zagrosgebirge das Wasser erst zur Erntezeit in die mesopotamische Tiefebene bringt und dann das Land zu überschwemmen droht. Daher bedarf es gewaltiger und gut organisierter Anstrengungen, um durch ein ausgeklügeltes Kanalsystem (vgl. nur Atr. I, 19 –24) das Wasser für die Bestellung der Felder vorzuhalten und die zerstörerische Kraft der Hochflut während der Erntezeit einzudämmen. Dementsprechend berichten Alltagsdokumente immer wieder davon, dass Hochflut und Unwetter die Felder und Ernten vernichten.52 Die mesopotamische Überlieferung ist recht variabel. Auffälligstes Kennzeichen hierfür sind die verschiedenen Namen des Fluthelden: Atram­ḫasis „Überaus Weise“, Ziusudra „Leben ferner Tage“ (vgl. Xisouthros bei Berossos) in der sumerischen Fluterzählung und Utanapišti „Ich fand Leben“ im Gilgamesch-Epos. Auch war der Text des Atram­ḫasis-Epos anders als derjenige des Gilgamesch-Epos nicht standardisiert. Seine neuassyrische Fassung kann als Neudichtung charakterisiert werden, während im jüngeren Kontext gefundene Fragmente weitgehend der altbabylonischen Fassung folgen. Gleichwohl überwiegen ungeachtet aller Differenzen die Übereinstimmungen, weswegen sich die knappe Zusammenfassung am Atram­ḫasis-Epos orientieren kann: In mythischer Vorzeit – „Als die Götter Mensch waren“ (Atr I, 1) – ist zunächst eine Gruppe niederer Götter für die Versorgung der Hochgötter zuständig. Doch nach geraumer Zeit kommt es zum Aufruhr, worauf Enki (akkad. Ea), der weise Gott des Süßwasserozeans, und die Muttergöttin Nintu (akkad. Belet-ili, auch Mami) die Menschen erschaffen, damit diese für die Götter arbeiten (Atr I, 191. 197 [II, 70. 74]). Doch die Menschen vermehren sich übermäßig schnell. Ihr Lärmen belästigt den 52  Vgl. C. Wilcke, Flurschäden, verursacht durch Hochwasser, Unwetter, Militär, Tiere und schuldhaftes Verhalten zur Zeit der 3. Dynastie von Ur, in: H. Klengel/J. Renger (Hg.), Landwirtschaft im Alten Orient, BBVO 18, Berlin 1999, 301–339.

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Götterkönig Enlil und raubt ihm den Schlaf (Atr  I, 352 –359). Enlil bewirkt daher einen Beschluss der Götterversammlung, der Vermehrung der Menschheit und damit dem Lärm ein Ende zu bereiten. Nachdem eine Reihe von immer schwerer werdenden Plagen dies nicht erreicht (Atr I, 360 ff; II i–vii), schicken die Götter – hier nimmt das Exzerpt des Gilgamesch-Epos den Faden auf (Gilgm XI, 11) – eine Sintflut (Atr III ii, 48 –iii, 23).53 Diesmal soll die Menschheit ganz vernichtet werden. Wie schon bei den Plagen hintertreibt Enlils göttlicher Gegenspieler Enki das von den Göttern vereinbarte Vorhaben. Enki ist zwar an den Beschluss der Götterversammlung gebunden und wirkt auch an dessen Durchsetzung mit, indem er zur Täuschung der zum Untergang bestimmten Menschen vor dem Hereinbrechen der Flut besonders günstige Vorzeichen schickt (Atr III i, 34; vgl. Gilgm XI, 46  f. 87 f ),54 doch zugleich warnt er den Sintfluthelden. Enki spricht zur „Wand des Rohrhauses“, sodass Atram­ḫasis die Warnung vor der Flut im Traum hören kann (Atr III i, 15 –35), ohne dass Enki das ihm auferlegte Schweigen bricht (vgl. Gilgm XI, 196). Auf seinen Rat hin retten sich Atram­ḫasis, seine Familie sowie einzelne Tiere in ein Boot (Atr III ii, 32 –38 [  ?  ]; vgl. Gilgm XI, 27: „Hole den Samen, all dessen, das atmet, herauf in das Inn’re des Schiffs!“).55 Schließlich ist es das Ausbleiben der Opfergaben, das die Götter zum Einlenken bewegt (Atr III iv, 15 –22). Die Menschheit überlebt, aber das nachsintflutliche Leben ist neu geordnet (Atr III vi, 46 –vii, 11).56 Nachdem Atram­ḫasis ein Opfer dargebracht hat, wird die Muttergöttin zur Neuschöpfung von Menschen aufgefordert. Doch zugleich soll verhindert werden, dass die Menschen sich erneut unkontrolliert vermehren und ihr Lärmen abermals die göttliche Ruhe beeinträchtigt. Aus diesem Grund wird das Bevölkerungswachstum durch Sterilität, Kindersterblichkeit, die Einrichtung einer Klasse kinderloser Priesterinnen und wohl auch die Begrenzung der Lebensspanne der Menschen beschränkt.57 Ferner soll das Schicksal der Menschen an ihrem Tun bemessen werden (Atr III vi, 25; Gilgm XI, 185 f ). Schließlich scheint mit dem Ende der Flut das Verhältnis unter den Göttern und das der Götter zu den Menschen grundsätzlich geklärt zu sein. Die Götter brauchen die Menschen, der abermalige Versuch einer Vernichtung wäre unklug. Auch deshalb will sich die Muttergöttin zukünftig anhand ihres Halsbandes mit Fliegen aus Lapislazuli stets daran erinnern, dass sie ihre Menschen nicht wieder der Vernichtung preisgibt.

53  Auch die sumerische Fluterzählung hat eine Vorgeschichte, sie handelt von der Erschaffung von Menschen und Tieren sowie der Gründung vorsintflutlicher Städte. Die Einzelheiten sind unklar. Bei Berossos gehen die in einzelnen Zügen an Gen  1, 1–2 , 3 erinnernde Weltschöpfung und die langen Regierungsjahre der neun vorsintflutlichen Könige voran, denen an zehnter Stelle der Sintflutheld Xisouthros folgt (s.  o. S. 195). 54  Anders Wöhrle, Gott, 321–329, der mit weitreichenden Folgen für die Verhältnisbestimmung der biblischen Sintfluterzählung zu ihren mesopotamischen Vorlagen übersieht, dass Enki nicht nur in der sumerischen Fluterzählung, sondern auch im Atram­ḫasis-Epos (und im GilgameschEpos) an den Beschluss der Götterversammlung gebunden und an dessen Durchsetzung beteiligt ist. 55  Gilgm XI, 86 berichtet zusätzlich, dass Utanapišti Vertreter aller Künste mit an Bord nimmt. Mit ihnen wird auch das Wissen der vorsintflutlichen Zeit gerettet. Berossos notiert, dass Xisouthros vor der Flut Tontafeln vergraben habe. 56  Zur Rekonstruktion und Interpretation des teilweise gänzlich zerstörten Schlusses vgl. Wilcke, Weltuntergang, 96 –99. 57  Letzteres erwägen Wilcke, Weltuntergang, 97 f; Maul, Ringen, 181. Der Text des Atram­ ḫasis-Epos ist an der fraglichen Stelle nicht erhalten.

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Der mesopotamische Sintflutmythos in Gestalt des Atram­ḫasis-Epos schildert die Überführung einer menschenlosen Vorzeit in eine Epoche der ungebremsten Vermehrung des Menschen und schließlich in den vorfindlichen Zustand, in dem ein stabiles Gleichgewicht zwischen Wachstum und das Wachstum regulierenden Faktoren besteht und ein geregeltes Verhältnis zwischen den Göttern untereinander und den Göttern und Menschen herrscht.58 Ausgelöst wurde die Sintflut durch die mangelnde „balance of powers“59 in der vorsintflutlichen Welt. Mit dem Ende der Sintflut hat die Welt ihre endgültige und stabile Ordnung erhalten, deren Bestand durch die Zusage garantiert wird, dass eine Wiederholung der Sintflut ausgeschlossen ist (Atr III v, 46 –vi, 4; Gilgm XI, 166 f; vgl. Gen 8, 21 f; 9, 15). Beschreibt der Sintflutmythos demnach die Gegebenheiten menschlichen Lebens als das Ergebnis einer Transformation von einem Zuvor in den Jetztzustand, dann ist für das Verstehen der biblischen Sintfluterzählung zu fragen, welcher Art die von ihr geschilderte Transformation ist. Diese Frage ist für die Priesterschrift und den weisheitlichen Erzähler gesondert zu beantworten, auch wenn sich beide Versionen im vorliegenden Textzusammenhang gegenseitig ergänzen. Im Vorgriff auf die Einzelauslegung kann hier schon festgehalten werden, dass die Priesterschrift ihren Akzent zum einen auf die Etablierung erster und ganz elementarer Regeln zum Schutz des Lebens legt (Gen 9, 4  –6). Zum anderen reagiert sie auf die theologische und politische Krise des Exils. Hierzu nimmt sie die einschlägige Terminologie der Unheilsprophetie in der Begründung der Sintflut auf (s.  u. zu Gen  6, 11. 13), garantiert aber in Gestalt eines „ewigen Bundes“ (Gen 9, 16) jenseits aller Unheilsrealität den Bestand der „sehr guten“ Schöpfung (s.  u. zu Gen  9, 8 –17 ). Der weisheitliche Erzähler legt seinen Akzent bei der Reformulierung des zunächst „fremden“ Mythos dagegen ganz auf die urgeschichtliche Verankerung des eigenen Gottesbildes. Der mesopotamische Mythos bietet ein fein austariertes Stück Theologie und Anthropologie, in dem menschliche Kontingenzerfahrung auf die in sich widersprüchlichen Willensentscheidungen innerhalb der Götterversammlung bezogen wird. Der weisheitliche Erzähler verlagert den Konflikt unter den wichtigsten Protagonisten der mesopotamischen Überlieferung in die eine, höchst spannungsvolle Gottheit Jhwh. Auf diese Weise erzählt er – ohne jeden „monotheistischen“ Überbietungsgestus gegenüber dem „polytheistischen“ Vorbild – die Wandlung Jhwhs von einem an den Maßstäben absoluter Strafgerechtigkeit orientierten Gott hin zum gnädigen Schöpfer und Erhalter der unheilbar bösen Menschheit (s.  u. zu Gen  6, 5 –8 und 8, 20 –22). 6, 5 –8 Der erste, nach innen gerichtete Prolog geht weitgehend auf den weisheitli-

chen Erzähler zurück. Lediglich in V. 7 finden sich Spuren der redaktionellen Verbindung mit der priesterschriftlichen Sintfluterzählung (s.  u.). Die Schil58  59 

Müller, Motiv, 305 –308; Gertz, Noah, 512 –514. W. Moran, Atrahasis: The Babylonian Story of the Flood, Bib. 52 (1971) 51–61, 58.

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derung, wie sich in Jhwh der Entschluss zur Vernichtung der Menschheit und zur Bewahrung Noachs ausbildet, ist klar aufgebaut.60 V. 5 bietet die auf Jhwhs eigener Wahrnehmung beruhende Situationsanalyse. Sie beschreibt die Bosheit des Menschen in Raum („auf der Erde“) und Zeit („alle Tage“). Die Darstellung von Jhwhs innerem Empfinden in V. 6 entspricht im Aufbau V. 5 und unterstreicht den Zusammenhang von menschlichem Tun und göttlicher Reaktion: 6, 5a

6, 5b

Und Jhwh sah, dass die Bosheit des Menschen zahlreich war auf der Erde und jedes Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse war alle Tage.

6, 6a

Da reute es Jhwh, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte,

6, 6b

und es schmerzte ihn bis in sein Herz hinein.

Die Ansage der Vernichtung der Menschheit in V. 7* ist wiederum eng auf V. 6 bezogen. V. 6a und V. 7b bilden einen Rahmen um Jhwhs Schmerz in V. 6b und seinen Plan zur Vernichtung der Menschheit in V. 7a. Auf diese Weise wird die Übereinstimmung von innerem Empfinden und Willenskundgabe betont. Zugleich wird deutlich gemacht, dass sich Jhwhs Schmerz auch auf die drohende Vernichtung bezieht: Rahmen: Jhwhs Reue 6, 6a Da reute es Jhwh, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte Jhwhs Empfinden 6, 6b und es schmerzte ihn bis in sein Herz hinein. Jhwhs Entschluss 6, 7a Und Jhwh sprach: Ich will den Menschen … von der Oberfläche des Erdbodens vertilgen, Rahmen: Jhwhs Reue 6, 7b denn es reut mich, dass ich [ihn] gemacht habe. Die Begnadigung Noachs in V. 8 wird durch die Voranstellung Noachs (invertierter Verbalsatz mit Waw-adversativum : „Noach jedoch“) eröffnet und so dem Beschluss zur Vernichtung der gesamten Menschheit in V. 7 betont entgegengesetzt. Das abschließende „in den Augen Jhwhs“ schlägt einen Bogen zurück zum Sehen Jhwhs am Anfang des Abschnitts in V. 5a. Die „tief pessimistische Betrachtung menschlicher Sündhaftigkeit“61 zu V. 5 Beginn der Sintfluterzählung markiert einen wichtigen Unterschied der biblischen Tradition gegenüber ihren mesopotamischen Vorbildern. Der Anlass 60  Vgl. u.   a. Oberforcher, Flutprologe, 94  –100; Witte, Urgeschichte, 174  –176; Arneth, Adam, 175 –179; Janowski, Empathie, 61  f. 61  Gunkel, 60.

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für die Flut ist die Schlechtigkeit des Menschen, während in der mesopotamischen Überlieferung menschliche Schuld keine oder allenfalls implizit und am Rande eine Rolle spielt und die Flut auf den Konflikt der Götter untereinander und die Beeinträchtigung der Götter durch die Vitalität und Fertilität der Menschen ausgelöst wird.62 Das Thema der menschlichen Schuld wird allerdings von den beiden biblischen Versionen unterschiedlich entfaltet. Während die Priesterschrift die Zunahme der Gewalt als Folge der Verderbnis von Mensch und Tier („alles Fleisch“) als Flutursache nennt (Gen 6, 11–13), geht es dem weisheitlichen Erzähler nicht allein um die Folgen des menschlichen Handelns, sondern um die Bosheit als eine anthropologische Konstante. Dabei verhalten sich V. 5a und V. 5b zueinander wie die allgemeine Aussage zur Bosheit des Menschen und deren anthropologische Präzisierung.63 Das gemeinhin mit „Herz“ übersetzte hebräische Wort lēb (bzw. lēbāb) bezeichnet im Alten Testament nur selten das Körperorgan im anatomischen Sinn. Im Vordergrund steht vielmehr seine Bedeutung als das Innerste der menschlichen Person, das deren Erkennen, Verstehen, Fühlen und Wollen bestimmt (Dtn 29, 3; 2Sam 7, 3; Spr 15, 14; 16, 9. 23).64 In V. 5b ist entsprechend vom Gebilde (    yēṣær) der Gedanken (maḥ     ašǣbæt) des Herzens die Rede. Stärker als dies in der so eingängigen wie kongenialen Übersetzung Luthers mit „Dichten und Trachten des Herzens“ zum Ausdruck kommt, hat die Wendung gleichermaßen die im Verstand und Willen des Menschen gründenden Handlungsentwürfe und deren Folgen im Blick. Benennt yēṣær den schöpferisch-produktiven Aspekt (vgl. *yṣr q. in Gen 2, 7 ), so beschreibt die Pluralbildung maḥš  ebōt „die ununterbrochene Kette von Planspielen der Menschheit, die die verschiedenartigsten Hervorbringungen zeitigt“65, eben jene „Gebilde der Gedanken“. Unverkennbar zielt V. 5b auf eine Grundhaltung ab, da ausdrücklich und in betonter Entsprechung von jedem Gebilde (kål yēṣær) zu jeder Zeit (kål hay-yōm) die Rede ist, das ohne Ausnahme (Partikel raq „nur“) böse ist. Das vernichtende Urteil bezieht sich also nicht allein auf die Generation vor der Flut, wie dies auch aus der zugespitzten 62  Zur Diskussion vgl. Wilcke, Weltuntergang, 86; Albertz, Motiv. In der Neuordnung der Welt soll das Schicksal der Menschen an ihrem Tun bemessen werden (Atr III vi, 25; Gilgm XI, 185 f ). Im Rückschluss darf daraus gefolgert werden, dass dies vor der Flut nicht der Fall gewesen ist. Angesichts der Totalität des Vernichtungshandelns liegt von den biblischen Erzählungen her der Gedanke nahe, dass die Schuld einiger die Vernichtung aller zur Folge gehabt hat, was durch die Neureglung für die Zukunft vermieden werden soll. Dieser Gedanke wird jedoch weder im Atramḥasis-Epos noch im Gilgamesch-Epos ausgeführt und liegt auch nicht auf der Linie, wie in beiden Werken die Vorgeschichte der Flut dargestellt wird. Es ist jedoch gut möglich, dass die Passagen über die Bemessung des Schicksals nach Maßgabe der Schuld die biblischen Autoren zu ihrer grundsätzlichen Aussage über menschliche Schuld mitinspiriert haben. 63  Vgl. Arneth, Adam, 177 mit Anm. 235, der zu Recht die Ausscheidung von V. 5b durch Levin, Jahwist, 114 f, zurückweist, der hierfür einen Gegensatz zwischen Menschheit (V. 5a) und Individuum (V. 5b) anführt. Wie aber sollten Merkmale, die das Handeln jedes einzelnen Menschen auszeichnen, anders beschrieben werden denn als Strukturmerkmale am Individuum? 64  Vgl. H.-J. Fabry, Art., „leb/lebāb“, ThWAT  IV (1984) 413 –  451. C. Frevel, Art. „Herz“, HGANT (2006) 250 –252 . 65  K. Seybold, Art. „ḥāšab“, ThWAT III (1982) 243 –261, 254.

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Bestätigung des Urteils nach der Flut (vgl. Gen 8, 21) eindeutig hervorgeht.66 Innerhalb des Alten Testaments hat es seinen stärksten Widerhall im hellenistischen Koheletbuch gefunden (vgl. Pred  8, 6: „denn die Bosheit des Menschen lastet schwer auf ihm“; ferner Pred 7, 29; 9, 3).67 Die Charakterisierung menschlichen Handelns durch den weisheitlichen Erzähler wirkt im Vergleich zu seiner psychologisch feinsinnigen Analyse von Kains Brudermord recht undifferenziert. Auch wenn sie in einer Fluchtlinie zu lesen ist mit der Übertretung des göttlichen Gebots durch das erste Menschenpaar, Kains Brudermord und Lamechs Lob der Gewalt, stellt sich unweigerlich die Frage, inwieweit der weisheitliche Erzähler damit auch einem Abel gerecht wird. Das so pauschale wie niederschmetternde Urteil über das „Dichten und Trachten des Herzens“ wird daher vielfach als (nachgetragene) Rechtfertigung Jhwhs gelesen. Die Aufnahme der Überlieferung von der alles vernichtenden Sintflut habe eine Aussage über die Totalität menschlicher Bosheit verlangt, sollte sich Jhwh nicht als maßlos und willkürlich erweisen.68 Dass der weisheitliche Erzähler die Entsprechung von menschlicher Schuld und göttlicher Reaktion herausstellt, ist nicht zu übersehen, erklärt die Härte des Urteils aber nur zum Teil. Ebenso wichtig ist seine Funktion im Ganzen der Sintfluterzählung: Die Wiederholung des Urteils am Ende der Sintfluterzählung bildet einen scharfen Kontrast zu Jhwhs Zusage, dass es hinfort keine Flut geben wird. Von diesem Ausgang her gelesen, geht es darum, für die nachsintflutliche Welt die totale Vernichtung als angemessene Reaktion Jhwhs auf die Boshaftigkeit des Menschen auszuschließen. In dieser Perspektive steht die Härte des Urteils auch im Dienst einer allumfassenden Daseinsgarantie,69 die selbst die wesensmäßige Schlechtigkeit des Menschen zu ertragen gewillt ist – was den anthropologischen Pessimismus in Gen 6, 5; 8, 21 freilich nicht aufhebt.70 Aus dem Sehen folgt das Bereuen (*nḥm ni. „reuen“).71 Die Aussage, dass V. 6 Jhwh die Erschaffung des Menschen wegen dessen Boshaftigkeit bereut und durch die Sintflut revidieren will, hat in der Auslegungsgeschichte schon früh einige Schwierigkeiten bereitet. Die LXX übersetzt *nḥm ni. in V. 6 mit ἐνθυμέομαι „nachdenken“ und in V. 7 mit θυμόω „sich ärgern“. Vermutlich schien es dem Übersetzer theologisch angemessener zu sein, die Reaktion Gottes auf die Verfehlung des Menschen als Zorn zu beschreiben, impliziert doch die Rede von der Reue eine als problematisch empfundene Wandelbarkeit Gottes.72 Das Jubiläenbuch und Josephus vermeiden in ihren NachAnders Westermann, 550  f. Die Nähe wird mitunter als Indiz für eine späte Datierung von Gen 6, 5 –8 angeführt, besagt aber in dieser Hinsicht wenig, weil sich Kohelet in seiner Anthropologie an die Urgeschichte anlehnt und offenkundig deren vorliegenden Textzusammenhang voraussetzt. 68  Ruppert, 316; Levin, Jahwist, 114  f. 69  Vgl. Baumgart, Umkehr, 151. 70  Anders Baumgart, Umkehr, 150 f („fiktive[r] Charakter“, „literarische Überhöhung“). 71  Zur Reue Gottes vgl. Jeremias, Reue; Döhling, Gott; Gertz, Noah, 519 –522 . 72  Rösel, Übersetzung, 161  f. 66  67 

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erzählungen ebenfalls die Rede von Gottes Reue ( Jub 5, 2 –6; Jos.Ant. I, 75), während sich Philo mit Nachdruck dagegen verwahrt, in Gottes Entschluss zur Vernichtung der Menschheit einen Beleg gegen den Grundsatz von Gottes Unveränderlichkeit zu sehen (Philo Deus 20 –22). Auch die frührabbinische Auslegung musste sich mit dem Einwand auseinandersetzen, dass Gen  6, 5 –7 die Wankelmütigkeit und fehlende Voraussicht Gottes zeige.73 Im Hintergrund steht jeweils die Auseinandersetzung mit einer Leitvorstellung der antiken Religionsphilosophie, nämlich von der Apathie oder Unveränderlichkeit Gottes.74 Mit ihr verbindet sich die Frage, ob mit der Rede von der Reue Gottes die Vorstellung seiner Unberechenbarkeit einhergehe, die den Menschen in Angst und Zweifel stürzen müsse. Für das Alte Testament ist in dieser Hinsicht die Beobachtung wichtig, dass sich Gottes Reue in der Regel auf eine Unheilsdrohung richtet, von der sich Gott durch die Fürsprache eines Propheten oder durch die bußfertige Umkehr des Volkes abhalten lässt. Einschlägig sind in diesem Zusammenhang die ersten beiden Visionen im Amosbuch, in denen der Prophet wie jeder andere Prophet des alten Vorderen Orients versucht, durch Fürbitte das geschaute Unheil abzuwenden (vgl. *nḥm pi. in Am  7, 3. 6). Ganz in dieser Traditionslinie steht der prophetische Mose, der am Sinai nach Israels Abfall von Jhwh Fürbitte für sein von Strafe bedrohtes Volk leistet (Ex  32, 12. 14). Lediglich an zwei Stellen richtet sich Gottes Reue auf sein früheres Handeln, und zwar in Gen  6, 6 f und in 1Sam  15, 11. 35 mit Blick auf die Erwählung Sauls zum König. In beiden Fällen bezieht sich die Reue aber nicht auf die göttliche Tat an sich, sondern sie ist jeweils in Relation zum menschlichen Handeln zu sehen.75 Sie ist die göttliche Reaktion auf eine schwere menschliche Verfehlung, die ein weiteres Gewährenlassen ausschließt. Saul hat nach Ansicht des Erzählers durch sein Verhalten die Erwählung zum König verspielt. Die Menschheit hat die Freiheit, wie sie mit der Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen „gut und schlecht“ gegeben ist (Gen  3), zum Bösen gebraucht. In beiden Fällen ist aber die Reue Gottes mit einer neuen Heilssetzung verbunden. In 1Sam 15 ist dies die Ankündigung des neuen Königs David, die im Übrigen mit dem nur scheinbar widersprüchlichen Kommentar abgesichert wird, dass Jhwh nichts bereut (1Sam  15, 29; vgl. 2Sam  7, 12. 16). Im Zusammenspiel von Gen  6, 6 f und 8, 21 f besteht die neue Heilssetzung in der Zusage Jhwhs, es trotz der bleibenden Boshaftigkeit des Menschen zu keiner neuen Sintflut kommen zu lassen. Auf diese Weise gesteht er dem Menschen die Freiheit zum selbstbestimmten Handeln zu, auch wenn das menschliche Tun nach der Sintflut weiterhin alles Recht zum Gericht gibt. Insofern ist Gottes Fähigkeit zur Reue nach alttestamentlicher Auffassung das notwendige Pendant seiner Zuverlässigkeit: „Unveränderlich ist Gott in seiBelege bei Jacob, 179. Vgl. dazu Janowski, Empathie (mit weiterer Literatur). 75  Anders Döhling, Gott, 131, der hinter V.  6 eine „Differenz von Schöpfungsabsicht und Schöpfungswahrnehmung“ ausmacht. Zur Kritik vgl. Janowski, Empathie, 59  f. 73  74 

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ner Treue zur Schöpfung, veränderlich aber, weil er von seinem Vernichtungshandeln absehen und ‚umkehren‘ kann, obwohl die Bosheit des Menschen unverändert weiter besteht.“76 In kanonischer Perspektive ist die Fähigkeit Gottes, angedrohtes Unheil unbeschadet seines Strafanspruchs zu bereuen (vgl. Hos 11, 8 f ), in der Sintfluterzählung verankert: Jhwh überwindet in ihrem Verlauf seine Reue über die Erschaffung des Menschen und lernt so, die gleichbleibende Boshaftigkeit des Menschen zukünftig zu ertragen, was ihn wiederum befähigt, angedrohtes Unheil zu bereuen.77 In literarhistorischer Perspektive dürfte die Rede von der Reue Gottes im Prolog der Sintfluterzählung die Unheilsprophetie bereits voraussetzen.78 Zur Reue gesellt sich der tief empfundene Schmerz Jhwhs (*  ʿṣb hitp.). Der auf das Herz gerichtete Schmerz zeigt die innere Verletzung Jhwhs durch die Bosheit der Menschen.79 Doch die Bedeutung der Aussage erschöpft sich nicht in der emotionalen Verstärkung der Reue. Vielmehr sprechen der konzentrische Aufbau von V. 6 f (s.  o.) und der Hinweis auf das Herz als den Ort der Reflexion und Willensbildung dafür, dass V. 6b die in V. 7 formulierten Konsequenzen der Reue zumindest schon im Blick hat:80 Jhwh entschließt sich aus und mit tiefem Schmerz zur Sintflut. Für den weisheitlichen Erzähler ist Jhwhs inneres Erleben vom Leiden an dem von ihm erschaffenen Menschen bestimmt, und nicht vom Zorn über dessen Boshaftigkeit, wie dies die um theologische Korrektheit bemühte Nachgeschichte der Sintfluterzählung herausstellt (vgl. Jes  26, 20; 54, 8 f ).81 Deutlich ist der Rückbezug der Aussage von Gottes Schmerz (*  ʿṣb hitp.) auf die Strafsprüche der Paradieserzählung (Gen 3, 16. 17 ) und die Notiz zur Geburt Noachs (Gen 5, 29). An beiden Stellen kennzeichnet der von der gleichen Wurzel gebildete Ausdruck „Mühsal“ ( ʿiṣṣābōn) die Daseinsminderung, die der Mensch aufgrund seiner Übertretung des göttlichen Gebots erfahren hat und über die Noach die Menschheit trösten wird (*nḥm pi.). Dass und wie sich diese Hoffnung angesichts der Reue (nāḥam ni.) Jhwhs und seines Entschlusses zur Sintflut überhaupt erfüllen kann, ist an diesem Tiefpunkt der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers noch nicht abzusehen. Doch am Ende der Sintfluterzählung ist die Antwort auf diese Frage im Rückblick bereits in V. 8 mit der Begnadigung Noachs angeklungen: Jhwh nimmt das Opfer Noachs an

Janowski, Empathie, 71 (Hervorhebung im Original). Vgl. Jeremias, Reue, 27. 78  Gertz, Noah, 519 –522 . 79  So Oberforcher, Flutprologe, 145; Ruppert, 318; Döhling, 94, 110 –116; Schüle, Prolog, 174  –177. 80  Jeremias, Reue, 25. 81  Vgl. dazu Berges, Zorn, 311–313. Anders Schüle, 139 mit Hinweis auf die Verwendung von *  ʿṣb hitp. in Gen 34, 7. Bei der Reaktion der Söhne Jakobs auf die Vergewaltigung ihrer Schwester Dina ist aber neben der Kränkung der Brüder (*  ʿṣb hitp.) ausdrücklich auch von ihrem Zürnen (*ḥrh) die Rede. Es dürfte kein Zufall sein, dass in Gen 6, 6b ein entsprechender Hinweis auf den Zorn Gottes fehlt. 76  77 

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und versichert, die Segenskraft der Erde unbeschadet der Boshaftigkeit des Menschen zu erhalten (Gen 8, 21 f ). Der Vernichtungsbeschluss ist als direkte Gottesrede formuliert. Wie im V. 7 Monolog Jhwhs zum Abschluss der Sintfluterzählung (Gen  8, 21 f ) ist aber kein Adressat genannt. Die Leser werden an diesen beiden Schlüsselstellen der Sintfluterzählung gleichsam selbst angesprochen und so in das Geschehen einbezogen.82 Wodurch Jhwh die Menschen vernichten wird, bleibt zunächst ungesagt, deutet sich aber im Verb *mḥh an. Es hat die konkrete Bedeutung „ab- oder wegwischen“ (Spr 30, 20; 2Kön 21, 13) und bezeichnet im späteren theologischen Gebrauch positiv das Tilgen von Schuld ( Jes 43, 25) und negativ das Streichen des Namens und der Erinnerung aus dem Himmelsbuch der Getreuen Jhwhs (Ex 32, 32 f ). In Gen 6, 7 klingt dagegen noch die konkrete Grundbedeutung des Wegwischens von einer Unterlage an,83 und zwar von der Erdoberfläche. Anders als in V. 5 f ist auf der Linie der Strafsprüche in Gen  3, 17; 4, 11 f nicht von der Erde ( ʾǣræṣ), sondern vom Ackerboden ( ʾadāmā; hier in der Wendung „Oberfläche des Erdbodens“) die Rede, womit auf die wesensmäßige Verbindung von Mensch ( ʾādām) und ʾadāmā angespielt wird (vgl. Gen 2, 7 ), die hier (wieder) aufgelöst werden soll. Die Begnadigung Noachs markiert  – angezeigt durch den Wechsel des V. 8 Subjekts und die Wortstellung – die Wende von der Ansage der totalen Vernichtung der Menschheit zur Rettung des Einen. Die häufig belegte Formel „Gnade finden in den Augen von …“ (*mṣ  ʾ ḥēn be- ʿēnē ) entstammt dem Stil höfischer Rede und beruht im profanen wie theologischen Gebrauch auf einem Verhältnis eindeutiger Ober- und Unterordnung. Der Bittsteller ersucht um Gnade, der Mächtige gewährt sie dem Untergebenen. In V. 8 ist zunächst das Wortspiel von Noach (Nō     aḥ) und Gnade (ḥēn) zu notieren. Das Anagramm (nḥ/ḥn) bietet neben der hoffnungsvollen Namenserklärung in Gen  5, 29 einen weiteren Hinweis auf die Bestimmung Noachs in der Urgeschichte. Besonders auffällig ist indes das Fehlen jeglicher Begründung für Jhwhs Gnadenwahl. Dies hat schon die alttestamentlichen Autoren irritiert und zu Erläuterungen provoziert. So begründet die Priesterschrift die Rettung Noachs mit seiner singulären Vollkommenheit und Frömmigkeit unter den Zeitgenossen (Gen 6, 9), und im Anschluss daran wusste ein noch späterer Bearbeiter nachzutragen, dass Noach von Jhwh als einziger seiner Generation als „gerecht“ angesehen worden sei (Gen  7, 1b). Doch selbst diese Nachbesserung hat nicht immer befriedigt, weshalb seit der Antike wiederholt der Gedanke einer Glaubensprobe eingetragen worden ist, wonach Noach gegen den Anschein allein auf Gottes Geheiß hin mit dem Bau der Arche begonnen habe (vgl. Hebr  11, 7 ) und als Prediger der Gerechtigkeit seine Zeitgenossen zur Umkehr bewegen wollte (vgl. 2Petr  2, 5). Derartige Überlegungen haben an der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers 82  83 

Ruppert, 319. Oberforcher, Flutprologe, 319.

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keinen Anhalt.84 Die Aussagen über die Boshaftigkeit des Menschen in V. 5 gelten ohne Ausnahme der gesamten Menschheit, und damit auch Noach. Damit übereinstimmend wird am Ende der Flut mit Blick auf Noachs Opfer das Urteil über den Menschen bestätigt. Es beansprucht also weiterhin Gültigkeit für Noach und seine Nachkommen, die nachsintflutliche Menschheit. Das Fehlen jeglicher Begründung für Jhwhs Gnadenwahl in der Person des Geretteten verlegt das Gewicht der Aussage ganz auf Jhwh:85 Der in der Rettung des Einen vorbereitete und nach Ende der Flut zugesagte immerwährende Bestand der Erde gründet allein in Jhwh und dem in der Sintfluterzählung erzählten „Sieg des Heilswillens Jhwhs über seine Strafgerechtigkeit“86. Doch der Preis für diesen Sieg ist hoch und schwer erkämpft, wie das unausgewogene Nebeneinander von Vernichtungsbeschluss und Gnadenwahl zeigt, in dem sich die verschiedenen göttlichen Rollen der mesopotamischen Überlieferung spiegeln.87 Jhwh trägt den Konflikt zwischen Enlil, der die Flut in der Götterversammlung fordert, und Enki, der sich dem Beschluss nicht verweigert, ihn aber zum Wohl des Überlebens der Menschheit unterläuft, gleichsam in sich aus. Sein tief empfundener Schmerz ist ein Nachhall des Weinens der Muttergöttin über den Tod ihrer Menschenkinder (Atr III iv, 4  –14; Gilgm XI, 117–124) – wobei das Furchtbare der göttlichen Tat nicht dadurch erträglicher wird, dass Jhwh sich im Gegensatz zur Muttergöttin bereits vor der Flut über deren Konsequenzen im Klaren zu sein scheint. In der weisheitlichen Sintfluterzählung dürfte auf den Prolog ursprünglich ein Bericht über den Bau der Arche samt Kundgabe an Noach gefolgt sein, wie es das nächste erhaltene Stück des weisheitlichen Erzählers in Gen 7, 1–5* voraussetzt. Eine Mitteilung des Gerichtsgrundes an Noach ist hingegen nicht notwendig, da der weisheitliche Erzähler entsprechende Erläuterungen sämtlich auf der Deutungsebene des Textes unterbringt (vgl. 8, 21–22).88 Im Übrigen erfahren auch die babylonischen Sintfluthelden Atram­ḫasis und Utanapišti nicht, warum die Flut kommen wird. Stattdessen begnügen sie sich wie Noach damit, der rettenden Anweisung zu folgen.

84  Anders Budde, Urgeschichte, 256 f Anm. 1, der das Vermisste in dem ausgefallenen Bericht vom Bau der Arche vermutete. Im Anschluss daran hat es Gunkel, 61, 141 als charakteristisch bezeichnet, dass die Priesterschrift die (postulierte) Glaubensprobe ausgelassen habe, da sie für die „persönliche Frömmigkeit … keinen Sinn hat“. 85  Vgl. H.-J. Stoebe, Art. „ḥnn“, THAT I (1971) 587–597, 590. 86  Jeremias, Reue, 38 . 87  Vgl. dazu Baumgart, 419 –  495. 88  Ließe sich im Sinne des Ergänzungsmodells noch argumentieren, dass der Redaktor die Gottesrede in Gen  6, 13 –21 (P) als Mitteilung des göttlichen Urteils von Gen  6, 5 –8 verstanden wissen wollte, so ist dies für Gen 8, 21–22 und Gen 9, 1–17 ausgeschlossen. Auch auf der Ebene des vorliegenden Textzusammenhangs erfährt Noach lediglich von der göttlichen Bestandsgarantie, bleibt jedoch von der bitteren Einsicht Gottes in das menschliche Wesen verschont. Dieses Privileg kommt allein Gott, dem Erzähler und seinen Lesern und Leserinnen zu. Warum sollte dies auf der Ebene des weisheitlichen Erzählers anders gewesen sein? Anders Bosshard-Nepustil, Sintflut, 53.

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Die Redaktion hat den Baubericht des weisheitlichen Erzählers aus konzeptionellen Gründen gestrichen (s.  o.) und die Prologe der beiden ihr vorliegenden Versionen der Sintfluterzählung einander als rein interne Mitteilung und als Kundgabe an Noach zugeordnet. Auf diese Weise hat sie einen kohärenten Auftakt gestaltet, lediglich in V. 7 hat ihr Bemühen um eine Gesamtschau zu Spannungen geführt. Die Aufzählung der Lebewesen in V. 7aβγ greift auf den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht zurück (vgl. Gen  1, 24  –26) und knüpft mit dem ersten Glied („vom Menschen“) nicht ganz stimmig an die vorherige Ankündigung an, den Menschen von der Erde zu vertilgen. Sie wird jetzt auf die Tiere ausgeweitet, obwohl sich die Schuldzuweisung zuvor ausdrücklich nur auf Menschen gerichtet hat. Der abschließende Verweis auf die Schöpfung dürfte sich ursprünglich wie in V. 6a auf den Menschen bezogen haben (kī   ʿaśītīhū „dass ich ihn gemacht habe“) und von der Redaktion durch ein Pluralsuffix an die eingefügte Aufzählung angepasst worden sein (kī   ʿaśītīm „dass ich sie gemacht habe“).89 Darüber hinaus wurde die Ankündigung der Vertilgung des Menschen durch einen weiteren Hinweis auf die Menschenschöpfung von der Aufzählung aller Lebewesen abgesetzt. Auch dies geschieht im Rückgriff auf den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (*br  ʾ; vgl. Gen 1, 27 ). Durch diese Ergänzungen trägt die Redaktion eine wesentliche Aussage der priesterschriftlichen Sintfluterzählung in den ersten, inneren Prolog ein, insofern nach der Priesterschrift die Sintflut nicht allein durch die Boshaftigkeit des Menschen veranlasst ist, sondern durch die Verderbnis alles Fleisches (Gen 6, 12 f ). Darüber hinaus ergibt sich durch das Nebeneinander der Schöpfungsaussagen mit *br  ʾ „erschaffen“ und * ʿśh „machen“ ein Querverweis auf den Abschluss des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts (Gen 1, 31 P) und den redaktionellen Auftakt der Paradieserzählung (Gen 2, 4a R; Gen 2, 4b wE), wodurch der Zusammenhang von Schöpfung und Sintflut, Mythos und Antimythos noch deutlicher herausgestellt wird. Der zweite, nach außen gerichtete Prolog geht auf die Priesterschrift zu6, 9 –22 rück. In ihr folgte der Abschnitt ursprünglich auf Gen  5, 32.90 Seine Überschrift reiht die folgenden Ereignisse in die „Toledot/Zeugungen Noachs“ (V. 9aα. 10) ein. Die Charakterisierung Noachs als gerecht und untadlig (V. 9aβb) sprengt das genealogische Schema auf und schafft so den Anknüpfungspunkt für die Sintfluterzählung, da die aus dem Schema fallende Notiz eine erzählerische Entfaltung erwarten lässt. Zusammen mit Gen 9, 28 –29 bildete Gen 6, 9 –10 in der priesterschriftlichen Urgeschichte einen Rahmen um die Sintfluterzählung. Der Korpus der priesterschriftlichen Fluterzählung ist vierteilig. Den Auftakt macht eine sehr verdichtete Darstellung der Ursachen für die Flut (Gen 6, 11–12). An sie schließt sich eine Rede Gottes an Noach mit den Anweisungen zum Bau der Arche und der Zusage des Bundes an, Vgl. Budde, Urgeschichte, 251  f. Zu einer ähnlichen Kontaktstellung von zwei Toledot vgl. Gen  11, 26 f sowie Gertz, Genesis 5, 78 –80. 89  90 

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die durch eine Erfüllungsnotiz abgeschlossen wird (Gen  6, 13 –22). Hierauf folgt die Schilderung von Gottes Handeln während der Flut (Gen 7, 6 –8, 14), die durch chronologische Angaben gerahmt wird (Gen 7, 6. 11; 8, 13 f ). Den Abschluss bildet eine mehrteilige und durch eine knappe Auszugsnotiz untergliederte Rede Gottes an Noach nach der Flut (Gen *8, 15 –9, 17 ), die auf die Darlegung der Flutursache und die Zusage des Bundes zurückgreift.91 Diese Gliederung ist im vorliegenden Textzusammenhang durch die redaktionelle Verbindung mit der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers nur zum Teil beibehalten worden. Die Vorschaltung von Gen  6, 5 –8 (wE) hat die Toledotformel aus ihrer üblichen Stellung als Überschrift verdrängt und zur Zwischenüberschrift degradiert. Dadurch wurde der Auftakt der priesterschriftlichen Sintfluterzählung zum zweiten Teil eines zweigliedrigen Prologs, der zum einen nachträgt, worin die Gnadenwahl Jhwhs begründet ist, und zum anderen die Mitteilung des göttlichen Entschlusses und seiner Konsequenzen an den Sintfluthelden berichtet. Dieser Befund ist mit dem Abschluss der Sintfluterzählung vergleichbar. Dort unterbricht der eingefügte Epilog des weisheitlichen Erzählers in Gen  8, 20 –22 den priesterschriftlichen Zusammenhang der Rede Gottes an Noach nach der Flut. Die in das genealogische Schema eingestellte Charakterisierung Noachs V. 9 –10 als „gerecht“ (ṣaddīq) und „vollkommen“ (tāmīm) und seines Lebenswandels als Gott gemäß („mit Gott wandelte Noach“) markiert gleich zu Beginn der priesterschriftlichen Sintfluterzählung einen grundlegenden Unterschied gegenüber der mesopotamischen Überlieferung und auch zur Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers. Im Gegensatz zur mesopotamischen Überlieferung führt auch die Priesterschrift das Kommen der Flut auf eine schuldhafte Verderbnis der Welt zurück. Während aber der weisheitliche Erzähler ganz auf der Linie der mesopotamischen Überlieferung keine moralische Begründung für die Rettung des Sintfluthelden gibt, stellt die Priesterschrift  – und in ihrem Gefolge der vorliegende Textzusammenhang (vgl. Gen  7, 1b R) – gleich zu Anfang die moralische Integrität Noachs fest, die ihn von seinen Zeitgenossen unterscheidet und an der das Überleben der belebten Schöpfung hängt. Wie wichtig dieser Gedanke für die Priesterschrift ist, wird schon daran ersichtlich, dass die Charakterisierung Noachs der Feststellung der Verderbnis der Welt vorangestellt ist. Der Begriff ṣaddīq 92, der im Deutschen nur unzureichend mit „gerecht“ übersetzt ist, bezeichnet ein Verhalten, das durch die Treue gegenüber den Ordnungen der Gemeinschaft bestimmt ist. Noach wird – neben Hiob und Daniel – noch in Ez  14, 14 als ṣaddīq bezeichnet, wobei dieser aus der Tradition schöpfende Beleg evenZenger, Bogen, 108 –113, 201. Das singuläre Vorkommen von ṣaddīq in der Priesterschrift ist in einem Abschnitt, der vom Gedankengut der prophetischen Literatur beeinflusst ist, kein hinreichender Grund, das Wort mit einer späteren Fortschreibung in Verbindung zu bringen. Auch sein Fehlen in der Parallelstelle Gen 17, 1 lässt sich ohne die Annahme eines Nachtrags in Gen 6, 9 erklären. Anders Levin, Jahwist, 114; Gertz, Beobachtungen, 51  f. 91  92 

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tuell in Übereinstimmung mit der Priesterschrift darauf anspielt, dass Noach einst durch seine Gerechtigkeit auch seine Söhne habe retten können, was angesichts der übergroßen Schuld des Landes selbst ihm (und Daniel und Hiob) nun nicht mehr möglich wäre (vgl. Ez  14, 16. 18. 20). Für tāmīm wird häufiger auf einen kultischen Kontext verwiesen, da der Ausdruck in der priesterschriftlichen Literatur der terminus technicus für Makellosigkeit des Opfertiers ist (vgl. Lev  9, 2 f; 22, 19. 21; 23, 12 u. ö.). Doch ist die Annahme einer Übertragung dieser spezifischen Verwendung auf die kultische und sittliche Integrität Noachs unnötig,93 da tāmīm gerade in der Verbindung mit der Wegmetapher recht häufig als Bezeichnung eines untadeligen Lebenswandels belegt ist (vgl. Gen 17, 1 P; ferner Ez 28, 15; Ps 15, 2; 18, 33; 101, 2. 6; Spr  11, 5; 28, 18). Nach dem masoretischen Trennungsakzent (s.  o. Anm.  1) stellt die Priesterschrift zunächst Noachs Gemeinschaftstreue (ṣaddīq) heraus und betont dann seinen tadellosen Lebenswandel (tāmīm) im Vergleich zu „seinen Generationen“. Die Wendung „in seinen Generationen“ (be-dōrōtāw) ist singulär im Alten Testament. Die im weitesten Sinne priesterschriftliche Literatur gebraucht die suffigierte Pluralform sonst nur mit der Präposition l e„für“ zur Bezeichnung der Generationenfolge der Nachkommen (vgl. Gen 17, 7. 9. 12 u. ö.), während die Zeitgenossenschaft im Alten Testament mit dem Singular ausgedrückt wird (vgl. „[diese] Generation“ in Gen 7, 1; Ex 1, 6; Num 32, 13; Dtn 1, 35; Jer 2, 31). Die auffällige Formulierung hat möglicherweise den durch die Sintflut markierten Epocheneinschnitt im Blick und betont Noachs unvergleichbare Integrität für die Generationen vor und nach der Flut.94 In eine ähnliche Richtung weist auch die Formulierung „Mit Gott wandelte Noach“ (*hlk hitp. + ʾæt hā- ʾælōhīm; V. 9b), die das gleichlautende Urteil über Henoch (Gen 5, 22. 24) aufgreift und einen Nachhall in der entsprechenden Aufforderung an Abraham hat. Dort ist jedoch wie im Alten Testament üblich von einem Wandel vor Gott die Rede (*hlk hitp. + li-pnē ; Gen 17, 1). Die mit dem Urteil zu Henoch übereinstimmende Formulierung erklärt Noach zum würdigen Nachfolger Henochs, der sich wie dieser von seinen Zeitgenossen abhebt. Vielleicht wird man sogar die aus diesem Urteil folgende Entrückung Henochs und die Rettung Noachs parallelisieren dürfen, werden doch beide vor einem (unzeitigen) Tod durch die Flut gerettet. Die leichte Variation gegenüber Abraham und allen nachfolgenden Gottvertrauten erklärt sich wohl damit, dass die Unmittelbarkeit des Umgangs mit Gott nach der Sintflut nur noch eingeschränkt gegeben ist.95 Ganz auf dieser Linie wird selbst von Abraham nicht festgestellt, dass er „gerecht“ (ṣaddīq) und „vollkommen“ (tāmīm) ist, sondern er wird lediglich zu einem vollkommenen (tāmīm) Lebenswandel aufgefordert (Gen  17, 1). Die Charakterisierung Noachs ist im deutlichen Kontrast zum nachfolgenden Urteil über den Zustand der Welt formuliert, wonach „alles Fleisch seinen Weg verdorben Anders Gunkel, 141; Ruppert, 323; Westermann, 557. Vgl. Jacob, 267. 95  von Rad, 94; Blum, Studien, 293. 93  94 

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hatte auf der Erde“. Dieses Verderben gründet im Überhandnehmen der Gewalt und in der Zerstörung der grundlegenden Ordnung der Schöpfung (vgl. Gen 6, 11 f ). Vor diesem Hintergrund ist der gegenüber Gott und Mitmensch treue und integre Noach, der mit Gott wandelt und den Gott damit beauftragt, die Tierpaare in die Arche zu führen (Gen 6, 19 f ), derjenige, der dem Herrschaftsauftrag nach Gen  1, 28 nachkommt und sich als Bewahrer der Schöpfung und Mandatar Gottes erweist. Insofern verkörpert Noach den „Idealtypus priesterschriftlicher Anthropologie“96. Mit der Darlegung der Flutursache geht das Augenmerk von Noach auf V. 11–12 den Zustand der Erde über. Dass dem exemplarisch frommen Noach die Verderbnis der Erde als dem von Gott geordneten Lebensraum gegenübergestellt wird und nicht zuvörderst das Verhalten seiner Zeitgenossen, wird durch den redundanten Stil herausgestellt. Wie zuvor Noach wird auch die Erde viermal genannt. Die Aussage von der Verderbnis der Erde wird ebenfalls vierfach präsentiert. Sie wird jeweils als Feststellung des Erzählers über den Zustand der Erde (V. 11a) und als das gleichsinnige Urteil Gottes (V. 12a) vorgebracht und dann jeweils mit leichten Variationen wiederholt (V. 11b.12b), die das Verständnis präzisieren. Grundsätzlich wird der erreichte Zustand vom Erzähler als „verdorben“ (*šḥt ni. Perf.) bezeichnet, was ganz allgemein die Folgen destruktiven Verhaltens benennt. Der Hinweis „vor Gott“ unterstreicht die Schwere der Verderbnis,97 die vom Erzähler damit erläutert wird, dass die Erde voll von Gewalttat (ḥāmās) war. Das Bedeutungsspektrum des Wortes, das ein zentraler Begriff der Unheilsprophetie des Alten Testaments ist, reicht von der wirtschaftlichen Ausbeutung (vgl. Am  3, 10) und gesellschaftlichen Demütigung (vgl. Gen  16, 5) über die Folgen der gericht­lichen Falschaussage (vgl. Ex  23, 1; Dtn  19, 16) bis hin zu physischen Über­ griffen, einschließlich des Blutvergießens (vgl. Gen  49, 5; Ri  9, 24; Ez  7, 23). Diese Formen individueller wie gesellschaftlicher Gewalt werden in V. 11b auch im Blick sein. Darüber hinaus gewinnt der Ausdruck durch das folgende Urteil Gottes über den Zustand eine besondere Zuspitzung: V. 12a ist in deutlicher Anspielung auf die Billigungsformel in Gen  1, 31 formuliert, mit der Gott sein gesamtes Schöpfungswerk als „sehr gut“ qualifiziert hatte.98 Aus dem „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ ist ein „Und Gott sah die Erde und siehe, sie war verdorben“ geworden. Vor dem Hintergrund dieser kontrastierenden Wiederaufnahme des Schöpfungsberichts liegt es nahe, in der Feststellung „die Erde füllte sich (*ml   ʾ ni.) mit Gewalttat“ eine Anspielung auf den Mehrungssegen „Füllt (*ml   ʾ q. Impt.) die Erde“ in Gen 1, 28a zu erkennen. Wie die Anspielung an die Billigungsformel zeigt sie die Verkehrung der ursprünglichen Schöpfung an: „Der ursprüngliche Schöpfungssegen ist pervertiert, und dies wird an der [Erde]

Vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 241. Vgl. Arneth, Adam, 54 mit Anm. 125. 98  Vgl. statt vieler bereits Procksch, 469. 96  97 

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vor Gott augenfällig.“99 Die tiefere Ursache dieser Verkehrung wird durch die folgende Begründung des göttlichen Urteils erhellt, wonach „alles Fleisch“ (kål bāśār) seinen Weg auf der Erde verdorben hatte (V. 12b). Diese steht in Parallele zur Feststellung des Erzählers vom Übermaß der Gewalt auf Erden (V. 11b), wodurch sich beide Teilverse gegenseitig auslegen: Die Verderbnis der Erde besteht darin, dass die Erde durch das Tun alles Fleisches voll von Gewalt ist (vgl. V. 13aβ). Wie der übrige Gebrauch in der priesterschriftlichen Sintfluterzählung unmissverständlich zeigt, sind mit der Wendung „alles Fleisch“ nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere (mit Ausnahme der Fische) gemeint:100 In Gen  6, 13. 17; 7, 21; 9, 11. 15 bezeichnet die Wendung die Opfer der Sintflut, also die Menschen (die in Gen  7, 21 noch als eigene Gruppe genannt sind) und die Landtiere und Vögel, die nach alttestamentlicher Kenntnis „Lebensatem“ (Gen 6, 17 ) benötigen. In Gen 6, 19; 7, 15 f; 8, 17 handelt es sich bei „alles Fleisch“ um die von Noach in die Arche gebrachten Tierpaare und nach Gen 9, 15 –17 um die Adressaten des Bundes, der explizit auch die Tierwelt umfasst. Für Gen  6, 12 bedeutet dies, dass Mensch und Tier gemeinsam die Verantwortung für die Verderbnis der Erde und damit für das Kommen der Sintflut tragen. Im Unterschied zur Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers liegt die Verantwortung also nicht allein beim Menschen. Dem entspricht, dass die Priesterschrift die Tiere ausdrücklich auch als Ziel des Vernichtungsbeschlusses nennt (vgl. Gen  6, 17 ), während ihr Tod für den weisheitlichen Erzähler eher einen Kollateralschaden darstellt (vgl. Gen  6, 7 mit Gen  7, 4. 22). Für die Priesterschrift scheint eine derartige Sicht, die noch recht unbefangen die Tierwelt für die habituelle Bosheit der Menschen leiden lässt, nicht mehr mit der Gerechtigkeit Gottes vereinbar zu sein, sodass sie von den Opfern der Katastrophe auf die daran Schuldigen schließt: Wenn Gott in einer universalen Katastrophe das Verderben über die Erde bringt (*šḥt hi.; Gen  6, 13; vgl. 6, 17 ), dann handelt er nicht maßlos, sondern lässt das Verderben auf seine Urheber zurückfallen (vgl. V. 13b). Das schließt die Tiere ein, deren Bedeutsamkeit auf diese Weise im Vergleich mit der mesopotamischen Überlieferung wie auch der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers massiv aufgewertet wird. Worin die Priesterschrift die von „allem Fleisch“ herbeigeführte Gewalt und Ursache der Verderbnis der Erde erkannt hat, ergibt sich aus den kontrastierenden Querbezügen zum Schöpfungsbericht und der Abwandlung des ursprünglichen Mehrungssegens aus Gen  1, 28 am Schluss der priesterschriftlichen Fluterzählung. Nach Gen  1, 29 f weist Gott im Anschluss an den ersten Mehrungssegen den Landtieren und Vögeln unterschiedliche Pflanzen als Neumann-Gorsolke, Herrschen, 242 , mit Hinweis auf Oberforcher, Flutprologe, 413. Vgl. H.-J. Stipp, „Alles Fleisch hatte seinen Wandel auf der Erde verdorben“ (Gen 6, 12). Die Mitverantwortung der Tierwelt an der Sintflut nach der Priesterschrift, ZAW 111 (1999) 167–186. Dort auch zum Folgenden sowie zu den Fischen (und übrigen Wassertieren), die in der priesterschriftlichen Literatur mit einer Ausnahme (Lev 11, 11) nicht unter „alles Fleisch“ fallen und auch in der „gewaltfreien“ Nahrungszuweisung in Gen 1, 29 f nicht erwähnt werden. Da sie von einer Sintflut nicht betroffen sind, spielen sie für die priesterschriftliche Argumentation keine Rolle. 99 

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Nahrung zu, womit das Töten zu Nahrungszwecken für Mensch und Tier ausgeschlossen ist. In Gen  9, 1–7 wird der Mehrungssegen aus Gen  1, 28 wiederholt, aber unter das Vorzeichen einer Schreckensherrschaft des Menschen über die Tierwelt gestellt. So ist fortan ein reglementiertes Töten zu Nahrungszwecken erlaubt, während die Blutschuld für das Töten eines Menschen durch Mensch oder Tier (vgl. Ex 21, 28 –32) eingefordert wird. Durch die Sintflut ändert sich also die Bewertung des Tötens zu Nahrungszwecken. Der Vergleich von Vor- und Nachher legt den Schluss nahe: Die Gewalttat, mit der Mensch und Tier die Erde angefüllt haben und die das Kommen der Sintflut herbeigeführt hat, ist das unkontrollierte und maßlose Töten aller Lebewesen auf der Erde, durch das die ursprüngliche Ordnung der Schöpfung verkehrt worden ist. In diesem Sinne kann dann auch von einer besonderen Verantwortung des Menschen gesprochen werden, der durch sein eigenes Tun im Gewährenlassen der fleischfressenden Tiere seinem Herrschaftsauftrag nicht gerecht geworden ist. Gottes Rede an Noach gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil beginnt V. 13 –16 mit der Mitteilung des Urteils über den Zustand der Erde (V. 13a) und der Ankündigung des göttlichen Eingreifens (V. 13b). Hierauf folgen die Anweisungen zum Bau der Arche (V. 14  –16). Schon die Wahl des sonst in der Priesterschrift nicht belegten Schlüsselbegriffs „Gewalttat“ (ḥāmās; V. 11. 13) zeigt den Einfluss der Unheilsprophetie auf die Priesterschrift bei der Beschreibung des Zustands der Welt. Die Feststellung Gottes „Das Ende (qēṣ) alles Fleisches ist vor mich gekommen (bā l e-pānay)“ bestätigt diesen Eindruck. Hierbei handelt sich um ein über Ez 7, 2 –6 vermitteltes Zitat aus Am 8, 2.101 Die beiden prophetischen Belege beziehen sich auf den Untergang des Volkes Israel bzw. Judas und Jerusalems. Die Gemeinsamkeiten sind unverkennbar und zudem auf Gen 6, 13 und die beiden prophetischen Belege beschränkt (vgl. noch Jer  51, 13; Hab  2, 3). Die Formulierung von Gen  6, 13 sollte und musste folglich bei den intendierten Adressaten der Priesterschrift die Assoziation an die Deutung der eigenen exilischen Existenz durch die Unheilsprophetie hervorrufen: Am 8, 2 Gekommen ist das Ende (bā haq-qēṣ) über mein Volk Israel. Ez 7, 2–6*. 23b So spricht der Herr Jhwh zum Land Israels: (Das) Ende (ist gekommen)102, gekommen ist das Ende (bā haq-qēṣ) über die vier Ränder der Erde! Jetzt ist das Ende über dir … (Das) Ende ist gekommen, gekommen ist das Ende, das Ende103 über dich; siehe, es ist gekommen! … denn das Land ist voll von Blutschuld und die Stadt ist voll von Gewalttat (ḥāmās)! Gen 6, 13 Da sprach Gott zu Noach: Das Ende alles Fleisches (qēṣ kål bāśār) ist vor mich gekommen (bā ), denn die Erde ist ihretwegen voll von Gewalttat (ḥāmās). Und siehe, ich werde sie mit der Erde verderben. Vgl. W. Zimmerli, Ezechiel 1–24, BK XIII/1, Neukirchen-Vluyn 1969, 169 f; Smend, Ende. Mit LXX. 103  hqyṣ ist vermutlich eine orthographische Variante zu hqṣ. 101  102 

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Allerdings hat die Priesterschrift die prophetische Ankündigung als „Ende alles Fleisches“ in die Urgeschichte zurückprojiziert und in der Bestandszusage Gottes nach der Sintflut dessen endgültige Überwindung konstatiert. Dadurch hat sie der prophetischen Ankündigung des Endes eine weltweite Dimension gegeben und zugleich die prophetische Deutung des Exils als Erfahrung der Endzeit (vgl. Klgl 4, 18) erheblich relativiert.104 Der genaue Gehalt der auffälligen und nur als zitathafte Anspielung erklärlichen Wendung „das Ende ist vor mich gekommen“ ist umstritten. Klassisch ist die Sicht, dass es sich um Gottes „Vernichtungsbeschluss“ handelt.105 So übersetzt die Lutherbibel (2017 ): „Das Ende alles Fleisches ist bei mir beschlossen.“ Dagegen spricht, dass *bō   ʾ + li-pnē + Suffix wörtlich „vor jemanden hintreten“ bedeutet (vgl. Num  27, 17; 1Sam  18, 16; Ps  79, 11; 88, 3; 100, 2) und dass die Verwendung für einen gefassten Beschluss ohne Analogie ist und eher eine Formulierung mit den Verben *klh „beschlossen sein“ (1Sam 20, 7. 9; 25, 17; Est 7, 7 ), *y ʿṣ „beschließen“ ( Jes 14, 24) oder *ḥrṣ „festsetzen“ ( Jes 10, 22) zu erwarten wäre. Entscheidend ist indes der Aufbau der V. 11–13.106 Nach der Schilderung des vorfindlichen Zustandes der Erde in V. 11 und der Wahrnehmung und Beurteilung dieses Zustandes durch Gott in V. 12 folgt in V. 13a die entsprechende Mitteilung Gottes an Noach: Alles Fleisch hat sein Ende erreicht, weil es durch Gewalttat die Erde als Lebensraum und damit die eigene Lebensgrundlage verdorben hat. Erst in V. 13b kündigt Gott, angezeigt durch einen Tempuswechsel ( futurum instans), sein unmittelbar bevorstehendes Einschreiten an. Gott wird die an der Verderbnis der Erde schuldigen Menschen und Tiere (*šḥt hi.; V. 12b) mit der bereits verdorbenen Erde (*šḥt ni.; V. 11. 12a) verderben (*šḥt hi.; V. 13b). Mit der Sintflut vollzieht Gott das tatsächliche Verderben.107 Die Anweisungen zum Bau der Arche bereiten erhebliche philologische Schwierigkeiten. Sie bieten auch keinen technisch vollständigen Bauplan, folgen aber einer erkennbaren Logik. Erst wird das Material genannt (V. 14), dann die Maße (V. 15) und im Anschluss daran für den Fortgang und das Verständnis der Erzählung wichtige Details zum Ausbau der Arche (V. 16a) und zu ihrem inneren Aufbau (V. 16b).108 Noachs Gefährt wird von der Priesterschrift wie vom weisheitlichen Erzähler nicht als Schiff, sondern auf seine Form reduziert als tēbā „Kasten“ bezeichnet (sonst nur noch Ex  2, 3. 5 für das Körbchen des Mose; das deutsche Wort Arche leitet sich von der lateinischen Übersetzung mit arca ab). Die Arche soll aus dem nur hier erwähnten Goferholz gebaut werden. Diese Holzart ist unbekannt. Auch die LXX liefert hierzu keine weiteren Informationen und spricht lediglich von Holz. Die Smend, Ende, 157  f. Smend, Ende, 156 mit Anm. 14, nennt als Vorläufer der gängigen Übersetzung u.  a. Johann Adam Osiander (Commentarius in Pentateuchum, 1676: „decretum est mihi“). Vgl. für die neueren Kommentare Westermann, 561 f; Ruppert, 325  f. 106  Vgl. dazu Steck, Aufbauprobleme, 297  f. 107  Vgl. Seebaß, 210; Baumgart, Umkehr, 225; Schüle, Prolog, 263. 108  Jacob, 187. 104  105 

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folgende Angabe ist ebenfalls unsicher. Der masoretische Text liest qinnīm, den nur hier belegten Plural von qēn „Nest“ (entsprechend LXX νοσσιά), was in der Regel als Ausdruck für Kammern interpretiert wird. Dieses Detail für den Innenausbau kommt jedoch zu früh, und eine daher wiederholt vorgeschlagene Umstellung nach V. 16a109 bleibt so lange spekulativ, wie sich die Entstehung des vorliegenden Textzusammenhags nicht plausibel erklären lässt. Die hier vorgeschlagene Vokalisierung qānīm, die Pluralform zu qānǣ „Schilfrohr“, würde dagegen der antiken Schiffsbauweise entsprechen, da durch das Wasser aufgequollenes Schilfrohr als Fugenabdichtung zwischen größeren Hölzern benutzt wurde.110 Die Arche soll sodann von außen und innen mit Pech (kōpær) bestrichen werden (*kpr). Das im Alten Testament nur hier belegte kōpær (sonst: ḥēmār  ; vgl. Gen  11, 3; 14, 10; Ex  2, 3) erinnert an akkadisch kupru „Erdpech“, das auch beim Schiffsbau Verwendung fand und entsprechend in der mesopotamischen Überlieferung des Sintflutmythos belegt ist (vgl. Atr III i, 33; Gilgm XI, 55. 66). Die Angaben zu den Maßen ergeben einen Quader. Die Länge einer Elle ( ʾammā ) betrug ca. 45cm, was eine Abmessung von ca. 135m x 17, 5m x 13, 5m ergibt. Legt man die ägyptische Elle von ca. 52cm zugrunde, die im Alten Testament eventuell als eine Besonderheit notiert ist (vgl. Ez 40, 5 ff; 43, 13), dann betrugen die Maße ca. 156m x 26m x 15, 6m. Die Angaben zu den Details des Ausbaus der Arche sind zum Teil kaum noch verständlich. Das hier mit „Dach“ übersetzte Wort ṣōhar ist das dritte Hapaxlegomenon in der Bauanweisung. Einige antike Übersetzungen verstehen das Wort als Fenster (Vulg; vgl. TO „Licht“), doch dürfte diese Wiedergabe aus dem Rückverweis „das Fenster (ḥallōn), das er gemacht hatte“ (Gen 8, 6 wE) erschlossen sein. Für die Übersetzung mit „Dach“ sprechen das akkadische ṣēru „Rücken/Oberseite“ (vgl. auch arabisch ẓahr „Rücken/Oberfläche/Schiffsdeck“) und der Aufbau der Arche als Mikrokosmos, der natürlich einer Entsprechung zur Himmelsfeste bedurfte, da diese während der Sintflut die Urfluten nicht von der Erde und den Passagieren der Arche fernhielt (vgl. Gen 7, 11). Die Angabe „nach einer Elle sollst du es aufhören lassen nach oben“ ist völlig rätselhaft. Eventuell ist an ein leichtes Gefälle des Daches gedacht (Raschi). Die Tür an der Seite wird eigens erwähnt, weil sie für den Einzug und Auszug von Noach, seiner Familie und den Tieren wichtig ist und die Arche wegen des Daches (  ?  ) nicht von oben beladen werden konnte, wie das für Schiffe in der Antike üblich war. Die Arche hat drei Stockwerke, was nach priesterschriftlicher Konzeption dem Aufbau der Welt entspricht.

So u.  a. Gunkel, 141  f. Vgl. E. Ullendorff, The Construction of Noah’s Ark, VT  4 (1954) 95 –96; E. StrömbergKrantz, Des Schiffes Wege mitten im Meer. Beiträge zur Erforschung der nautischen Terminologie des Alten Testaments, CB.OT 19, Lund 1982 , 171–173; Day, Creation, 113 –122 . 109  110 

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Die Bauanweisung erinnert an diejenigen der Priesterschrift für das Zeltheiligtum, das einzige weitere „Bauwerk“, das im Pentateuch beschrieben wird.111 Die Anweisungen erfolgen in ähnlicher Formulierung (Impt. von * ʿśh „machen“ + l e mit Personalsuffix + Objekt) jeweils direkt von Gott (Gen 6, 13aα. 14aα; Ex 25, 1. 8a). Beide „Bauten“ sind eine Wohnstatt (Gen 6, 18 –20; Ex  25, 8b), sie haben wie der Jerusalemer Tempel eine längliche Gestalt, sie sind zum Teil aus Holz und oben abgedeckt (vgl. Ex 26). Die Arche ist zehnmal so lang wie das Zeltheiligtum und ihre Stockwerke haben jeweils dessen Höhe. Die Ausführungsnotiz zum Bau des Zeltheiligtums in Ex  39, 42 erinnert an diejenige zur Arche in Gen  6, 22 . Zu diesen Entsprechungen kommen weitere kompositorische und konzeptionelle Übereinstimmungen hinzu. Die Nutzung der Bauten ist jeweils in einen Bundesschluss eingebettet (Gen  6, 18; 9, 8 –17; Ex 29, 45 f über Ex 6, 4  –7 mit dem Abrahambund in Gen 17, 7–8). Das Ende der Flut fällt auf den 1. Tag des 1. Monats (Gen 8, 13a P), das entspricht dem Datum der Aufstellung des Zeltheiligtums (Ex  40, 2 . 17 ). Hinzu kommt der jeweilige Bezug auf den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (s.  o. S. 75 f zu Gen 2 , 1–3). Schließlich ist zu bedenken, dass die Verbindung von Tempel und Sintflutgefährt schon in der mesopotamischen Überlieferung gezogen wird.112 So erinnert auch das Gefährt des Utanapišti mit den Maßen von 60m x 60m x 60m und seinen sieben Stockwerken (Gilgm XI, 58 –63) eher an die ideale Raumkonzeption eines Tempelgebäudes, das den Kosmos abbildet, als an ein (seetüchtiges) Schiff.

V. 17–21 Der zweite Teil der Gottesrede beginnt in V. 17 mit einer Wiederholung der

Ankündigung der Vernichtung aus V. 13. Beide Verse entsprechen sich weitgehend, V. 17 konkretisiert lediglich, dass es sich bei der unmittelbar bevorstehenden Vernichtung ( futurum instans wie V. 13) um die Sintflut (mabbūl ) handelt. Der Ausdruck mabbūl ist ein Leitwort der priesterschriftlichen Sintfluterzählung (Gen  7, 6. 7. 17; 9, 11. 15. 28; vgl. die Zusammenfassung der Ereignisse unter dem Stichwort mabbūl in den priesterschriftlichen Datierungen Gen  10, 1. 32; 11, 10). Er ist im Alten Testament mit Ausnahme der redaktionellen Verwendung in Gen 7, 10b sonst nur noch in Ps 29, 10 belegt. Dort beschreibt er in Übereinstimmung mit den räumlichen Vorstellungen der Priesterschrift den über der Himmelsfeste befindlichen Himmelsozean, über dem nach Ps 29 wiederum Jhwh thront. Dessen Wasser werden auf die Erde kommen und alles Fleisch, das die Luft zum Atmen braucht, unter dem Himmel vernichten. Diese Angabe greift auf Gen 1, 9 zurück, wo das Sammeln des Wassers „unter dem Himmel“ das Land und damit den Lebensraum des Menschen, der Vögel und der Landtiere hervortreten lässt. Das Wasser nimmt wieder von diesem Lebensraum Besitz, wobei die beiden Angaben „auf die Erde“ und „auf der Erde“ in V. 17 die Androhung umschließen und die Ausdehnung des Wassers in der Horizontalen beschreiben, während „unter dem Himmel“ die vertikale Ausdehnung im Blick hat. Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, dass die Fluten den ganzen Lebensraum wie 111  Grundlegend Jacob, 187–194; Zenger, Bogen, 174 f; T. Pola, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und Traditionsgeschichte von Pg, WMANT  70, Neukirchen-Vluyn 1995, 286 –290, 367; Baumgart, Umkehr, 531–542 . 112  Baumgart, Umkehr, 506 –526.

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ein Aquarium füllen, wodurch die Welt in das Chaos vor ihrer Erschaffung zurückgestoßen wird. Dies ist aber eindeutig nicht der Fall. Die Himmelsfeste bleibt bestehen. Sie wird nicht zerstört, sondern öffnet lediglich ihre (in Gen 1 nicht erwähnten) „Luken“, so wie sich auch die Quellen der Tiefe öffnen (vgl. Gen  7, 11 P). Selbst wenn das Wasser während der Sintflut die Spitzen der hohen Berge um 15 Ellen überragt (vgl. Gen 7, 19 f P), so bleibt doch Raum für die Arche. Es kommt zu keiner vollständigen Aufhebung des Raumes, und die Wasser entmischen sich auch nicht wieder zum vorweltlichen Chaos (vgl. Gen  1, 2 P). Entsprechend wird das Ende der Sintflut nicht als Neuschöpfung beschrieben, sondern als ein rein technischer Vorgang, bei dem das Wasser gleichsam „abgedreht“ wird (vgl. Gen  8, 1. 2a P). Die Sintflut entsteht durch eine partielle und temporäre Aufhebung der Schöpfung, stürzt die Welt aber nicht zurück in den Zustand vor ihrer Erschaffung.113 Im scharfen Kontrast zu der abermals angekündigten Vernichtung von „allem, was auf der Erde ist“ (V. 17b) steht Gottes Zusage, mit Noach einen Bund (berīt) aufzurichten (V. 18). Mit ihm legt sich Gott die Selbstverpflichtung auf, Noach und mit ihm das Leben auf der Erde zu retten. Dieser Inhalt des Bundes erschließt sich aus dem nachfolgenden und betont an Noach gerichteten Befehl, er solle samt seiner Frau, seinen Söhnen und Schwiegertöchtern sowie einem männlichen und einem weiblichen Vertreter jeder Tierart auf Erden in die Arche gehen (V. 18b–20). Der exklusiv mit Noach geschlossene Bund dient zur Bewahrung des Lebens auf der Erde und ist somit der Ermöglichungsgrund für den Bundesschluss mit Noach, seinen Nachkommen, den geretteten Tieren und deren Nachkommen nach dem Ende der Sintflut in Gen  9, 9  f. Insofern sind der Bund mit Noach vor und der Bund mit den Überlebenden und ihren Nachkommen nach der Sintflut zwar nicht in eins zu setzen, aber deutlich aufeinander bezogen. Unverkennbar greift die Liste der in die Arche aufgenommenen Tiergattungen, die im Fortgang der Sintfluterzählung mit leichten Variationen wiederholt wird (vgl. Gen  7, 14  –16. 21; 8, 19; 9, 2  f. 10), auf den Schöpfungsbericht zurück: Es ist wichtig, dass Vertreter aller einst geschaffenen Arten in die nachsintflutliche Welt hinübergerettet werden, wie die zweimalige Angabe, Noach solle mit diesen Maßnahmen das Leben der aufgenommenen Tiere erhalten (V. 19. 20), unmissverständlich zeigt. Auch der folgende Befehl, pflanzliche Nahrung zu sammeln und zu laden (V. 21), greift auf den Schöpfungsbericht zurück. Von jedem Tier soll jeweils nur ein Paar mitgenommen werden, um das Überleben der Art zu sichern (V. 19. 20). Folglich ernähren sich Tier und Mensch auf der Arche in Übereinstimmung mit der Nahrungszuweisung in Gen  1, 29 f allein von Pflanzen, die Noach ebenfalls mit auf die Arche nimmt. Erst nach der Sintflut wird sich dies mit der Freigabe des Fleischgenusses ändern, der vor der Sintflut noch als Gewalt und Ursache für die 113  Vgl. Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 105  f mit Anm.  7; Steck, Schöpfungsbericht, 146 Anm. 586. Anders u.  a. Gunkel, 77, 144.

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Verderbnis der Erde identifiziert wurde (vgl. Gen 6, 11–13). Gerade das Beispiel der Nahrung zeigt sehr schön, dass die Priesterschrift nicht so sehr am Realitätsgehalt des Berichteten interessiert ist. Vielmehr geht es ihr bei allen berichteten Details um die theologisch relevanten inhaltlichen Querbezüge, mit denen sie die Kontinuität und Diskontinuität zwischen der vor- und der nachsintflutlichen Welt sowie das Einbrechen der Katastrophe und ihre dauerhafte Überwindung herausstellt. Bestätigt wird dies auch durch die im Vergleich zur mesopotamischen Überlieferung äußerst sparsame Notiz über Noachs Ausführung der Befehle. All das, was die mesopotamische Überlieferung über den Bau, die Organisation der Handwerker und die Täuschung neugieriger Zeitgenossen zu berichten weiß, ließe sich auch für Noach erzählen, findet aber keine Erwähnung. Stattdessen folgt auf den Befehl eine für die Priesterschrift typische Ausführungsnotiz (vgl. Ex  40, 16!). Der beispielhaft gerechte und untadelige Noach gehorcht – mehr ist nicht zu sagen. In der Priesterschrift folgte ursprünglich die Datierung der Sintflut und der ausführlich geschilderte Einzug in die Arche in Gen 7, 6 –7. 11. 13 –16a. Der Abschnitt geht im Kern auf den weisheitlichen Erzähler zurück. Von 7, 1–5 der Redaktion stammen die Notiz über Noachs Gerechtigkeit in V. 1b und die Mitnahme der Vögel in V. 3a: Der Rückgriff auf die priesterschriftliche Charakterisierung Noachs in V. 1b (ṣaddīq; vgl. Gen  6, 9) unterbricht den chiastisch formulierten Befehl, die Arche zu besteigen (V. 1a) und die Tiere mit an Bord zu nehmen (V. 2). Dieser hat zudem mit der Angabe des Zwecks der Arche und dem Hinweis auf die Sintflut in V. 3a. 4 seine eigene sachgemäße Begründung. Außerdem bricht der Hinweis auf Noachs Gerechtigkeit der Aussage von Gen 6, 8 die Spitze ab, die Noach allein deswegen überleben lässt, weil Noach „Gnade in den Augen Jhwhs gefunden hat“, ohne für diese Gunst einen Grund zu nennen.114 Damit ist dann auch die Intention des Zusatzes beschrieben: Es geht um den Ausgleich zwischen der Vorstellung der Bewahrung aufgrund der Gnade Jhwhs (Gen  6, 8 wE) und derjenigen aufgrund der eigenen Frömmigkeit (6, 9 P).115 Sodann hat die Redaktion die Anweisungen zum Bau der Arche des weisheitlichen Erzählers, die dieser in V. 1a voraussetzt, zugunsten der priesterschriftlichen Version gestrichen (s.  o. zur Entstehung). Ob auch V. 3a auf die Redaktion oder einen davon zu unterscheidenden Glossator zurückgeht, lässt sich kaum noch klären. Der Teilvers weist sich schon durch das bei den übrigen Aufzählungen der Tierwelt nicht gebrauchte „auch“ (gam) als Anhang aus. Analog zu der nachgetragenen Tierreihe in Gen  6, 7* werden die Flugtiere ergänzt, wobei der Redaktor die Siebenzahl aus seinem unmittelbaren Vorkontext übernimmt, 114  Vgl. Levin, Jahwist, 114; Witte, Urgeschichte, 76 mit Anm 110. Auch unabhängig von der These eines Jahwisten dürfte sich mit Levins Hinweis auf Gen 18, 3; 19, 19; Ex 34, 9 das Argument erledigt haben, dass Gen 6, 8 ohne die von der Priesterschrift gegebene Begründung im Kontext „sperrig“ und deshalb als Erweiterung der Priesterschrift zu bewerten sei. So etwa BosshardNepustil, Sintflut, 67  f. 115  Mit Levin, Jahwist, 114; Witte, Urgeschichte, 76.

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sich aber mit der Formulierung „männlich und weiblich“ (zākār ū-n eqēbā ) an der Priesterschrift orientiert (vgl. Gen  1, 27; 5, 2; 6, 19; 7, 9. 16). Die Glosse ist durch die Erwähnung der Vögel beim Opfer veranlasst (vgl. Gen  8, 20), während es dem weisheitlichen Erzähler in erster Linie darauf ankam, dass neben dem Menschen auch ganz allgemein die Tierwelt überlebt, weshalb er die Vögel nicht eigens erwähnte.116 Der Samaritanus hat dann aus der Siebenzahl in V. 3a geschlossen, dass es sich in Analogie zu V. 2 um reine Tiere handeln muss, und den Text entsprechend ergänzt („und von den reinen Flugtieren des Himmels je sieben“). Das wiederum führte zu der Schwierigkeit, dass nicht-reine Vögel wie der Rabe (vgl. Gen  8, 6) erst gar nicht auf die Arche gekommen wären, was nun die LXX zu einer entsprechenden Ergänzung veranlasst hat („und von den reinen Flugtieren des Himmels je sieben, männlich und weiblich, und von den nicht reinen Flugtieren je zwei, männlich und weiblich“). Diese Ergänzungen mögen nicht sonderlich inhaltsschwer sein, sie zeigen aber sehr schön die Arbeitsweise antiker Schriftauslegung und -tradierung, deren Anfänge wie in V. 3a bereits in die Entstehung der biblischen Texte zurückreichen. Derartige Fortschreibungen sind das Ergebnis exegetischer Bemühungen und verstehen sich als Explikation des unterstellten Sinngehalts – in diesem Fall der von Gen  8, 20 her notwendigen Mitnahme von Vögeln. Im vorliegenden Textzusammenhang bildet der Abschnitt gemeinsam mit Gen 8, 15 –19 einen inneren Rahmen um die Darstellung der Flut. Trotz der sorgfältigen Arbeit der Redaktion hat die Verbindung der beiden Versionen der Sintfluterzählung gerade wegen dieses Abschnitts zu einigen Spannungen geführt. Da Noach nach V. 4 dem zuvor ergangenen Befehl nachkommt, mitsamt den Tieren an Bord zu gehen, entsteht in der Verbindung mit der Priesterschrift die Unstimmigkeit, dass das Besteigen der Arche in Gen 7, 7–9 nochmals ausführlich vorbereitet und dann in Gen  7, 15 dargestellt wird. Weitere Unstimmigkeiten bestehen hinsichtlich der Unterscheidung reiner und unreiner Tiere sowie der Chronologie. Mit Blick auf das Opfer Noachs möchte der weisheitliche Erzähler von den opfertauglichen Tieren mehr Exemplare auf der Arche wissen, damit deren Überleben nicht gleich nach der Sintflut wegen Noachs Opfer wieder gefährdet ist. Hingegen erwähnt die Priesterschrift das in der mesopotamischen Überlieferung vorgegebene Opfer (vgl. Atr. III v, 34 f; Gilgm XI, 157–163) mit Rücksicht auf ihre Konzeption der Einrichtung des Opferkultes erst am Sinai nicht und beschränkt sich auf den Aspekt des Überlebens aller Tierarten. Damit zur Chronologie: Mit V. 4 setzt eine Reihe von Tagesangaben ein, die nach einem Vorlauf von sieben Tagen die Flut beginnen lässt, die sich über einen vierzigtägigen Regen und ein ebenso langes Ausharren erstreckt, worauf nach einer Frist von zweimal sieben Tagen die Erde getrocknet ist und Noach den Ausstieg wagt (vgl. 116  Vgl. bereits Budde, Urgeschichte, 257 f, ferner Gunkel, 62; Westermann, 576; Seebaß, 213; Baumgart, Umkehr, 412 . Levin, Jahwist, 111; Witte, Urgeschichte, 76 beurteilen zudem auch V. 3b als redaktionell.

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Gen  7, 10a. 12; 8, 6. 10. 12 wE und 7, 17* R). Diese Reihe unterscheidet sich deutlich von der priesterschriftlichen Chronologie, die mit einer deutlich längeren Dauer der Flut rechnet und sich durch präzise, wenn auch nur schwer verständliche Datumsangaben auszeichnet (s.  u. zu Gen  7, 11). Für die vorgezogene Notiz, dass Noach die Arche betreten hat, sowie für die Einfügung der chronologischen Angaben lassen sich keine überzeugenden Gründe benennen, warum ein Ergänzer diese Spannungen verursacht haben sollte – es sei denn, er war im Sinne eines Quellenmodells an vorgegebenes Material gebunden.117 Hinsichtlich der Unterscheidung reiner und unreiner Tiere ließe sich natürlich argumentieren, dass dies das Anliegen eines Bearbeiters der Priesterschrift gewesen ist, doch hätte diese Differenzierung ohne Not und Verursachung von Störungen der Kohärenz direkt in den Text der Priesterschrift eingetragen werden können (vgl. nur Gen 7, 8* R). In der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers folgte auf eine AnV. 1a weisung zum Bau der Arche mit Gen 7, 1a der Befehl zum Einstieg. Anders als in der präziseren Aufzählung der Familienangehörigen in der Priesterschrift ist nur von „Noach und seinem Haus“ die Rede. Dies passt stimmig in das Konzept des weisheitlichen Erzählers. Anders als die Priesterschrift ist er nicht an der Ausdifferenzierung der Nachkommen Noachs interessiert. Er konzentriert sich ganz auf die Person Noachs und erwähnt hier lediglich, was ihm zum Überleben der Menschheit notwendig erscheint. Wie die anderen Sintfluthelden soll Noach „von allem Vieh“ mit an Bord V. 2 . 3b nehmen, um das Überleben der Fauna auf der Erde zu retten (vgl. Gilgm XI, 86). Die Differenzierung in reine und nicht-reine Tiere ist durch das Opfer am Ende der Sintflut vorgegeben (vgl. Gen  8, 20). Die Unterscheidung in opfertaugliche und dafür nicht verwendbare Tiere hat eine lange Tradition (nicht nur) im alten Vorderen Orient und ist sicher nicht von den priesterschriftlichen Reinheitsgeboten abhängig, zumal dann statt „nicht-rein“ der priesterschriftliche terminus technicus „unrein“ (ṭāmē [*ṭm ʾ]) zu erwarten wäre. Der Ausdruck „ein Männchen und sein Weibchen“, der beide Angaben zu den Tieren in V. 2 abschließt, erinnert ein wenig an Formulierungen der Paradieserzählung (vgl. Gen 2, 22 f ), ist aber sonst nicht belegt. Die Formulierung ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Autor nicht von P abhängig ist. Wie der redaktionelle V. 3a mit dem für die Priesterschrift typischen und auch in Gen  6, 19 gebrauchten „männlich und weiblich“ zeigt, ändert die Redaktion die vorgefundene Formulierung nicht ohne Grund.118 Der Hinweis auf den Zweck der Arche, das Überleben auf der Erde zu retten (V. 3b), formuliert den Kontrast zur nachfolgenden Ankündigung der Sintflut. Wieder fallen die Unterschiede gegenüber der Parallele in P auf (l e-ḥayyōt zǣra ʿ 117  Von „ad hoc-Ergänzungen zur P-Grundschicht“ spricht dagegen Bosshard-Nepustil, Sintflut, 62 –66, 62 . Vgl. zu dieser „Ad-hoc-Hypothese“ Gertz, Beobachtungen, 49 –51. 118  Anders Arneth, Adam, 194 mit Anm.  285, der in „ein Männchen und sein Weibchen“ eine notwendige Präzisierung des „männlich und weiblich“ erkennt, die damit allerdings ein „Dilemma geschaffen“ habe.

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„um Nachwuchs zu erhalten“ in V. 3b wE bzw. l e-haḥ  ayōt „um zu überleben“ in Gen 6, 19. 20 P). Der weisheitliche Erzähler stellt sich die Sintflut als Folge eines vierzigtägi- V. 4  –5 gen Dauerregens vor und weiß nichts vom Aufbrechen der Quellen der Tiefe und Öffnen der himmlischen Luken (Gen 7, 11 P). Sollte es sich um eine redaktionelle Vorbereitung der priesterschriftlichen Flutschilderung handeln, wäre an dieser Stelle eine entsprechende Formulierung zu erwarten. In der siebentägigen Frist bis zum Hereinbrechen des Regens klingt eventuell die mesopotamische Überlieferung an, in der eine siebentägige Dauer der Flut (vgl. Atr. III i, 36 f; iv, 24 f; Gilgm XI, 144  –148) belegt ist. Allerdings erklärt sich die Siebenzahl hinreichend mit der herausgehobenen Bedeutung der Zahl in kultischen Zusammenhängen oder für die Periodisierung der Zeit, die ihr im gesamten alten Vorderen Orient zukommt. Ähnliches gilt auch für die vierzigtägige Dauer. Als Zehnfaches der Vier, die ihrerseits die kosmische Ganzheit repräsentiert, steht die Vierzig für Vollständigkeit. 40 Jahre sind der Zeitraum einer Generation. Entsprechend werden 40 Jahre für die (unbekannte) Dauer der Regierungszeiten Davids und Salomos (2Sam  5, 4; 1Kön  2, 11; 11, 42) und auch für die Zeit der Wüstenwanderung angesetzt (Dtn  2, 7; 8, 4 u. ö.). Mose verbrachte 40  Tage und Nächte auf dem Berg Sinai (Ex 24, 18; 34, 28; Dtn 9, 9. 11. 25; 10, 10), Elia marschierte 40 Tage und Nächte zum Gottesberg (1Kön  19, 8), und Jesus verbrachte 40 Tage in der Wüste (Mt  4, 2 par). Mit den Formulierungen „ich will von der Oberfläche des Erdbodens wegwischen“ (*mḥh) und „die ich gemacht habe“ (* ʿśh) greift V. 4 auf den Prolog des weisheitlichen Erzählers zurück (Gen 6, 7 ). Insofern es jetzt um die Folgen des göttlichen Handelns geht und nicht um die Korrespondenz von Schuld und Strafe, sind anders als in Gen  6, 7 nicht nur die Menschen im Blick, sondern das gesamte Schöpfungswerk („alles Bestehende“). Auch hier bedient sich der weisheitliche Erzähler einer eigenständigen Formulierung und greift nicht, wie das für eine redaktionelle Aufnahme zu erwarten wäre, auf die Formulierungen der Priesterschrift zurück.119 Die Formulierung von V. 4b wird häufig so interpretiert, dass Noach erst jetzt von der drohenden Sintflut erfährt.120 Das ist möglich, wegen des bei dieser Annahme unterstellten Textausfalls aber nicht sicher zu entscheiden. V. 5 notiert kurz die Ausführung des Befehls, womit sich die Suche nach einem Einzugsbericht des weisheitlichen Erzählers erübrigt.121 Wegen der Nähe zu Gen  6, 22 (P) kann man erwägen, dass der Vers redaktionell überformt wurde, um die beiden Gottesreden in Gen 6, 13 –22 und 7, 1–5 zu parallelisieren. Notwendig ist diese Annahme indes nicht. Der Faden des weisheitlichen Erzählers wird wieder aufgenommen in Gen 7, 16b. 10a. 12.

Gegen Arneth, Adam, 195. So schon Budde, Urgeschichte, 256, der hier das Motiv einer Glaubensprobe findet. 121  Mit Levin, Jahwist, 112; Witte, Urgeschichte, 178 . Anders u.  a. Kratz, Komposition, 259, der hier eine weitere Lücke innerhalb des nicht-priesterschriftlichen Textes ausmacht. 119  120 

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Die Darstellung vom Einzug in die Arche (V. 7–9. 13 –16) und vom Kommen der Flut (V. 10 –12) beruht im Wesentlichen auf der Priesterschrift (V. 6 –7. 11. 13 –16a). Auf die Redaktion gehen ausgleichende Bemerkungen zu den Tieren (V. 8 –9) und zur Chronologie (V. 10. 12) zurück, die auf die Darstellung des weisheitlichen Erzählers in Gen  7, 1–5 Rücksicht nehmen. Ob die Redaktion dabei in V. 10. 12 Spolien der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers verwendet hat oder ob sie selbständig im Rückgriff auf die Formulierungen in Gen  7, 4 formuliert hat, ist schwer zu entscheiden. Für die zweitgenannte Alternative spricht prima facie, dass die Notiz vom Verschließen der Arche durch Jhwh in V. 16b gut an die Ausführungsnotiz in Gen  7, 5 anschließt. Doch fügen sich die chronologischen Angaben aus V. 10a.12 gut zur Ankündigung der Sintflut in Gen  7, 4 und würden in der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers fehlen. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass die Redaktion hier tatsächlich Spolien verwendet hat. Da V. 16b im unmittelbaren Anschluss an „wie Gott ihm befohlen hatte“ in V. 16a erstmals wieder nach Gen 7, 5 den Gottesnamen gebraucht, ohne dass sich dafür ein Grund angeben ließe, wird die Notiz kaum auf die Redaktion zurückgehen. Eher ist damit zu rechnen, dass sie von ihrer ursprünglichen Position hinter V. 5 weggenommen wurde, um den redaktionell bearbeiteten Abschnitt zum Einstieg in die Arche abzuschließen. In der priesterschriftlichen Sintfluterzählung handelte es sich bei V. 6 um V. 6 –7 die Überschrift zu dem bis Gen  8, 14 reichenden Mittelteil mit der Darstellung der Flut. Im vorliegenden Textzusammenhang ist diese Gliederung mit leichten Variationen beibehalten, insofern die Darstellung der Flut wegen der Integration der Version des weisheitlichen Erzählers umfangreicher geraten ist und eine stärkere Binnengliederung aufweist. Das vorangestellte „Noach aber“ in V. 6 markiert einen Neueinsatz. Die Angabe, Noach sei während der Sintflut 600 Jahre alt gewesen, steht in einer Linie mit Noachs Altersangabe bei der Zeugung Sems in Gen  5, 32 (P). Sie wird ihrerseits aufgegriffen in der Angabe zu den Lebensjahren nach der Flut und des erreichten Lebensalters in Gen  9, 28 f (P). Die Formulierung von V. 6b greift auf die Ankündigung der Flut in Gen  6, 17 zurück (P). V. 7 schließt mit der Bemerkung an, dass Noach und seine Familie die Arche besteigen. Diese Formulierung entspricht Gen 6, 18bβ (P) wörtlich, und die Wendung „vor dem Wasser der Sintflut“ geht auf Gen 6, 17 (P; vgl. Gen 9, 11 P) zurück. Beides spricht eindeutig gegen die verbreitete Annahme, dass V. 7 die nicht-priesterschriftliche Version vom Einstieg in die Arche ist.122 Grund für diese Zuweisung ist zum einen die bereits zurückgewiesene Überlegung (s.  o. zu V. 5), dass auch diese Version eine entsprechende Notiz gehabt haben muss, und zum anderen, dass V. 7 als Dublette zu V. 11. 13 –16a betrachtet wird.123 Doch lässt sich V. 7 auch sehr gut als erzählerische Hinführung zu V. 13 –16a verstehen, die durch das betonte „vor dem Wasser der Sintflut“ noch deutlich auf die Überschrift

7, 6 –16

122  123 

Mit Ruppert, 342; Witte, Urgeschichte, 136. Vgl. Budde, Urgeschichte, 258; Gunkel, 62  f.

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bezogen ist. Dagegen bieten V. 11. 13 –16a im Anschluss an die genaue Datierung des Flutbeginns in V. 11 einen detaillierten Bericht des Einzugs in die Arche. Hin- und Ausführung sind durch die Abschlussformeln in V. 9b und 16a aufeinander bezogen. Der redaktionelle Passus über die in die Arche gehenden Tiere versucht ei- V. 8 –9 nen Ausgleich zwischen der Unterscheidung reiner und nicht-reiner Tiere in der Version des weisheitlichen Erzählers und der priesterschriftlichen Konzeption, wonach die Tiere paarweise auf die Arche gehen.124 V. 8 erwähnt über Gen 7, 2 hinaus und in Übereinstimmung mit den priesterschriftlichen Tierlisten auch die Vögel und die Kriechtiere. V. 9 entspricht weitgehend V. 15, der unbestritten zum Grundbestand der Priesterschrift gehört. Da im Unterschied zum Vieh und den Vögeln bei den Kriechtieren die einleitende Partikel min „von“ fehlt, gilt V. 8 einigen als literarisch uneinheitlich. Dies wird dann zum Teil so ausgewertet, dass V. 8 f zur Priesterschrift gehört, wobei der Anfang der Tierliste einer redaktionellen Überarbeitung im Lichte von Gen  7, 2 zum Opfer gefallen sei.125 Dies ist jedoch fraglich, weil sich die Formulierung kōl   ʾašær + Ptz. rmś + ʿal hā- ʾadāmā („alles, das kriechend ist auf dem Erdboden“) in mehrfacher Hinsicht vom priesterschriftlichen Sprachgebrauch abhebt. Relativsätze werden in diesem Zusammenhang stets mit einer Verbalform gebildet (vgl. neben Gen 9, 2; Lev 20, 25 auch Gen 1, 21), und die Wendung ʿal hā- ʾadāmā („auf dem Erdboden“) ist für die Priesterschrift nicht belegt. Für die Priesterschrift wäre kōl + Ptz. rmś + ʿal hā- ʾāræṣ („alles Kriechende auf der Erde“; vgl. Gen 7, 14; 8, 19; ferner Gen 1, 26. 28. 30; 7, 21; 8, 17 ) zu erwarten. Daher liegt die Annahme nahe, dass der Redaktor seinen „Mischtext“ nach dem Vorbild des weisheitlichen Erzählers (vgl. Gen 7, 2) und der Priesterschrift (vgl. Gen 7, 15) formuliert hat.

In Übereinstimmung mit Gen 7, 4 setzt in der Version des weisheitlichen Er- V. 10 zählers nach sieben Tagen (V. 10a) ein vierzigtägiger Dauerregen ein (V. 12), nach dessen Aufhören Noach wiederum 40 Tage wartet (Gen 8, 6), um dann die Taube ein erstes Mal und dann im Abstand von jeweils sieben Tagen noch zwei weitere Male aufsteigen zu lassen (Gen 8, 8 –12126), bis er weiß, dass die Flut vorbei ist (Gen 8, 6. 9 –12). Diese Angaben sind mit der priesterschriftlichen Chronologie nicht vereinbar, weshalb die Redaktion den vierzigtägigen Dauerregen zu einem Teilaspekt der auf die Erde stürzenden Wasser des Himmelsozeans erklärte, indem sie V. 12 hinter die priesterschriftliche Notiz über das Eintreten der Sintflut in V. 11 gestellt hat. Diese Differenzierung hat Spuren in V. 10 hinterlassen. Die siebentägige Frist gilt wie in Gen  7, 4 dem Hereinbrechen der Katastrophe, doch ist anders als im ursprünglichen Kontext des weisheitlichen Erzählers nicht mehr von einem Regen die Rede. Stattdessen wird in Übereinstimmung mit der Priesterschrift vom Kommen der Wasser der Sintflut gesprochen (vgl. 6, 17; 7, 6b. 7 ) und so zum dramatischen Bericht über das Losbrechen der Flut in V. 11 übergeleitet. Budde, Urgeschichte, 260; Westermann, 580; Ruppert, 292; Seebaß, 215, 230; Witte, 77. Arneth, Adam, 64  f. 126  Gen 8, 7 und die Aussendung des Raben sind ein späterer Nachtrag (s.  u. zu Gen 8, 6 –12). 124  125 

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Mit  V. 11 setzt wieder der Faden der Priesterschrift ein, die den Anfang der Flut präzise auf den 17.  Tag des zweiten Monats im 600. Lebensjahr Noachs datiert. Demnach war Noach beim Ausbruch der Flut 599 Jahre alt. Diese Angabe widerspricht scheinbar V. 6, wonach Noach während der Flut 600 Jahre alt war. Der vermeintliche Widerspruch löst sich auf, wenn die Angabe zum Flutende im 601. Lebensjahr Noachs (Gen  8, 13) mit einbezogen und V. 6 als Überschrift über den ganzen Flutverlauf verstanden wird.127 Die Synchronisierung von Gen  7, 6 mit Gen  7, 11; 8, 13 ist das noch geringste Problem, das die Chronologie der Sintfluterzählung aufwirft.128 Auch die Integration der „runden“ Angaben des weisheitlichen Erzählers in das System der genauen Datierungen der priesterschriftlichen Version gelingt mit einigem Willen zur Harmonisierung recht problemlos: Die siebentägige Frist bis zum Einbrechen der Katastrophe (Gen  7, 4. 10a) liegt außerhalb der priesterschriftlichen Berechnung. Vor allem wird der 40 –tägige Dauerregen, der nach Gen  7, 4 die Katastrophe ausmacht, durch die Abfolge von Gen  7, 11 (P) und Gen  7, 12 (wE) zu einer Phase innerhalb der Sintflut erklärt. Ähnliches gilt für die Auskunft, dass Noach jeweils sieben Tage hat verstreichen lassen, bevor er die Taube ein zweites und drittes Mal hat aufsteigen lassen (Gen 8, 10. 12). Schwierigkeiten bereiten indes die Angaben der Priesterschrift, und zwar auf der Ebene der für sich gelesenen Priesterschrift wie auf der Ebene des vorliegenden Textzusammenhangs. Die genaue Datierung des Flutbeginns auf den 17. 02 . des 600. Lebensjahres Noachs findet ihre Fortsetzung in Gen  8, 4 (Aufsetzen der Arche am 17. 07.), 8, 5 (Sichtbarwerden der Bergspitzen am 01. 10.), 8, 13 (Ende der Flut am 01. 01. des Folgejahrs) und 8, 13 (die Erde ist wieder trocken am 27. 02 .). Über Gen 8, 3 f ist diese Reihe mit der Angabe verbunden, dass das Wasser 150 Tage steigt und dann zu sinken beginnt (Gen  7, 24; 8, 3). Wo liegt das Problem? Nach Gen  7, 11 und 8, 13 dauert die Flut ein Kalenderjahr und zehn oder, bei inklusiver Rechnung, elf Tage. Da das Alte Testament keine expliziten Angaben zur Dauer eines Jahres macht und auch verschiedene Kalender kennt, ist unklar, wie viele Tage die Flut gedauert hat. Die auffällige Angabe „ein Kalenderjahr und weitere zehn bzw. elf Tage“ legt allerdings nahe, dass an ein lunares Jahr mit 354 und zehn bzw. elf zusätzlichen Tagen gedacht ist. Damit ergibt sich eine Flutdauer von 364 oder 365 Tagen. Beides ist für die Priesterschrift denkbar. Die 364 Tage entsprechen dem später in Qumrantexten, der Henochliteratur und dem Jubiläenbuch belegten Sabbatkalender, die 365  Tage dem Sonnenjahr (vgl. das Alter Henochs bei seiner Entrückung nach Gen 5, 23) und dem lunisolaren Jahr (Mondjahr + Epakte). Warum die Priesterschrift ihren Datierungen nicht gleich den lunisolaren Kalender oder einen 364  –tägigen Kalender zugrunde gelegt hat, sodass die 364 bzw. 365 Tage währende Flut wirklich ein volles Kalenderjahr gedauert hätte, lässt sich nicht sagen. Das Nebeneinander unterschiedlicher Kalendersysteme ist jedenfalls kein Einzelfall und dürfte den Gepflogenheiten Mit Witte, Urgeschichte, 115, 134. Anders Ruppert, 299. Einen Überblick über die verschiedenen Lösungsvorschläge und ihre Probleme gibt Baumgart, Umkehr, 64  –67, die wichtigsten Argumente finden sich schon bei Dillmann, 129 –131, und Holzinger, 76 f, 83  f. Zu den unterschiedlichen Kalendern und dem vielfach angenommenen Kalenderwechsel in der neuassyrisch-neubabylonischen Zeit vgl. M. Albani, Israels Feste im Herbst und das Problem des Kalenderwechsels in der Exilszeit, in: E. Blum/R. Lux (Hg.), Festtraditionen in Israel und im Alten Orient, VWGTh 28, Gütersloh 2006, 111–156, bes. 137  f. 127  128 

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entsprochen haben. Möglicherweise wollte die Priesterschrift ihrer Erzählung einen archaischen Anstrich geben und hat deshalb den lunaren Kalender zugrunde gelegt. Wie dem auch sei, in der Textgeschichte wurde die Kalenderfrage vereindeutigt und der Flutbeginn auf den 27. 02 . datiert (LXX, die zudem in Gen  8, 4 das Aufsetzen der Arche in Angleichung an Gen  7, 11LXX; 8, 14 auf den 27. 07. verlegt, sodass der Höhepunkt der Flut exakt nach 5 Monaten zu je 30 Tagen erreicht ist) oder das letzte Datum auf den 16./17. 02 . (4Q252 2 , 1–3 [DJD XXII, 185 –207 ]; vgl. Jub  5, 23. 31). Doch handelt es sich deutlich um spätere Harmonisierungsbemühungen.129 Noch komplizierter wird der Befund dadurch, dass für die fünf Monate zwischen dem 17. 02 . (Gen  7, 11) und dem 17. 07. (Gen  8, 4) eine Zeitspanne von 150  Tagen angegeben wird (Gen  8, 3). Das setzt eine Monatslänge von 30  Tagen voraus und passt damit weder zum Sabbatkalender noch zum lunisolaren (oder lunaren) Kalender. Nach dem Sabbatkalender müssten in den fraglichen Zeitraum zwei 31–tägige Schaltmonate fallen; im lunisolaren wie lunaren Kalender wechseln sich volle Monate mit 30 Tagen und hohle Monate mit 29 Tagen ab. Möchte man nicht zu der unwahrscheinlichen Annahme greifen, dass die Priesterschrift hier runde Zahlen verwendet hat (150 statt 152 bzw. 147/8 Tage), so ist von einem schematischen Kalender mit 360 Tagen und eventuell fünf Schalttagen auszugehen, wie er für die Zeit der Priesterschrift in Ägypten, Mesopotamien und Persien bezeugt ist. Demnach orientiert sich die Datierung an einem lunaren Jahreskalender, die Länge der Flut ist an einem lunisolaren Kalender oder am Sabbatjahr ausgerichtet und die Länge der Monate wird nach einem schematischen Kalender berechnet. Allerdings lassen sich die Angaben mit den 150  Tagen in Gen  7, 24; 8, 3b, welche die weitaus meisten Schwierigkeiten bereiten, aus dem Kontext herausnehmen, ohne größere Lücken zu hinterlassen. Im Gegenteil: Das Ausrechnen der Tage ist wegen der Datumsangaben eigentlich überflüssig, und Gen 7, 24 wirkt in seinem jetzigen Kontext wie auch in der isoliert gelesenen Priesterschrift deplatziert.130 So könnte man erwägen, dass ein späterer Glossator seine auf der korrekten Annahme einer 364 - oder 365 -tägigen Flut beruhende Berechnung nach dem schematischen Kalender mit 360 Tagen (12 Monate mit einer Monatslänge von 30 Tagen) + fünf Schalttagen über die priesterschriftliche Chronologie gelegt hat, wobei das Problem der Schalttage wie auch sonst im AT nicht eigens angesprochen wird. Ganz auf dieser Linie liegt dann die Textkorrektur der LXX und des Jubiläenbuches. Doch bleibt dies alles sehr unsicher, da eindeutige literarkritische Indizien fehlen und jede Berechnung der Daten mit Unsicherheiten zu kämpfen hat, sodass hier Zurückhaltung angebracht ist. Über die Motive für die priesterschriftlichen Datierungen lässt sich noch weniger sagen. Der Beginn der Flut im zweiten Monat könnte in den Herbst und damit auf den Anfang der Regenzeit fallen. Dies setzt freilich voraus, dass die Priesterschrift an dieser Stelle bewusst archaisiert und mit „vormosaischen“ Verhältnissen rechnet: Die Priesterschrift zählt die Monate sonst vom Frühjahr an, doch wird dies als Neuordnung des Mose angesehen (Ex 12, 2). Für die verwunderliche Wahl ausgerechnet des 129  Zur Diskussion vgl. M. Rösel, Die Chronologie der Flut in Gen 7–8: keine neuen textkritischen Lösungen, ZAW 110 (1998) 590 –593. Gegen R. Hendel, 4Q252 and the Flood Chronology of Genesis 7–8: A Text Critical Solution, DSD 2 (1995) 72 –79; ders., Text, 54  f. 130  Vgl. Holzinger, 77, der beide Verse der Redaktion zuweist, sowie Levin, Jahwist, 111, der an eine Ergänzung zur Priesterschrift denkt. Letzteres dürfte zutreffend sein, da die beiden Verse auf der Ebene der priesterschriftlichen Sintfluterzählung in der Darstellung der Flut in Gen *7, 6 –8, 14 wie ein Rahmen um den Wendepunkt gelegt sind, was in der Gliederung des vorliegenden Textzusammenhangs nicht aufgenommen ist.

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17. Tages des zweiten Monats wird gerne auf die runden Zahlen in Gen 7, 4 verwiesen. In der Summe ergeben sie 47 Tage, was so ausgedeutet wird, dass die Priesterschrift von einer Bauzeit für die Arche von 40 Tagen und einer siebentägigen Frist bis zum Einsetzen der Flut ausgeht. Lässt man diese 47 Tage mit dem 01. 01. beginnen, ergibt sich das Datum 17. 02 . Je nach entstehungsgeschichtlicher Rekonstruktion wird diese Rechnung als Beweis für die Einheit der Fluterzählung131 oder als Beleg für die Abhängigkeit der Datierung in Gen 7, 11 (P) von Gen 7, 4 (non-P) bewertet.132 Nun lässt sich die Einheitlichkeit der Sintfluterzählung angesichts der zahlreichen Spannungen sicher nicht auf derartige Berechnungen stützen, die ihrerseits auf ganz unsicherem Boden stehen. Eine Kenntnis der nicht-priesterschriftlichen Version durch die Priesterschrift wird man nicht von vornherein für unwahrscheinlich halten können, doch gilt auch hier, dass die Überlegungen zur Chronologie eine unsichere Basis bilden. Warum sollte die Priesterschrift ausgerechnet in diesem Detail ihrer Vorlage folgen, sich dann aber für ein gänzlich anderes System entscheiden? Wie hochspekulativ und bei genauerer Betrachtung wenig textgemäß die Rechnung mit den 7 + 40 Tagen ist, zeigt sich schon daran, dass an keiner Stelle von einer 40 –tägigen Bauzeit die Rede ist. Vielmehr werden die 40 Tage von der Redaktion in 7, 12 eindeutig zu dem mit dem 17. 02 . einsetzenden Zeitraum gezählt, d.  h. sie setzen die Fertigstellung der Arche voraus. Die Motive für die priesterschriftliche Datierung bleiben dunkel. Es lässt sich allenfalls sagen, dass die Priesterschrift das Ende der Flut mit dem Neujahrstag in Verbindung gebracht wissen will.

Im Anschluss an die Datierung wird in V. 11 das Hereinbrechen der Sintflut beschrieben. Der Vers greift auf die Ankündigung in Gen 6, 17 zurück, stellt aber deutlicher die kosmischen Dimensionen heraus, wobei die Priesterschrift Vorstellungsgehalte des Schöpfungsberichts und verwandte Traditionen aufnimmt. Die Urflut (t   ehōm; Gen  1, 2), die durch den schöpferischen Akt zum unterirdischen Ozean geworden ist, der in seiner regulierten Gestalt das Land bewässert und fruchtbar macht (vgl. Am 7, 4; Ez 31, 4. 15; Ps 78, 15; Hi  38, 30), strömt ungebremst nach oben. Zugleich stürzen die Wasser des Himmelsozeans (mē ham-mabbūl ) durch Öffnungen des Himmelsgewölbes ( ʾarubbōt haš-šāmayim) auf die Erde (2Kön 7, 2. 19; Jes 24, 18; Mal 3, 10), sodass die Trennung des Wassers durch die Himmelsfeste teilweise aufgehoben ist (vgl. Gen  1, 6 –8). Die folgende Notiz über den vierzigtägigen Dauerregen stammt aus der Version des weisheitlichen Erzählers und ist von der Redaktion im Sinne eines Ausgleichs der Vorstellungen als Explikation des Hereinbrechens der Flut zwischen V. 11 und V. 13 eingeschoben worden. Sie fällt hinsichtlich der kosmischen Dimension nicht nur deutlich hinter V. 11 zurück, sondern unterbricht auch die Zeitfolge von V. 11 (an diesem Tag) und V. 13 (an eben diesem Tag). Die Schilderung des Einzugs in V. 13 ff ist Vgl. Cassuto, II 43, oder Jacob, 233. Vgl. N.P. Lemche, The Chronology in the Story of the Flood, JSOT 18 (1980) 52 –62; Blum, Studien, 283 Anm.  207. Kratz, Komposition, 237, der sich diese Argumentation zu eigen macht, aber für die Sintfluterzählung von einer priesterschriftlichen Grundschrift und einer nachpriesterschriftlichen Bearbeitung ausgeht und die chronologischen Angaben insgesamt für spätere Nachträge hält. Schon Gen  7, 4 sei ein Nachtrag zur Priesterschrift, der dann seinerseits noch spätere Bearbeiter zur Datierung in Gen 7, 11 und allen daran hängenden Datierungen angeregt habe. 131  132 

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unverkennbar auf den priesterschriftlichen Vorkontext bezogen. Die nur in priesterschriftlichen Texten belegten Namen der Söhne Noachs (V. 13) verweisen auf die Toledot in Gen  6, 9a. 10. Die Differenzierung der Tierwelt (V. 14) nimmt den entsprechenden Befehl in Gen  6, 19 –20 auf, wobei die Folge jetzt nicht vom Allgemeinen (alles Fleisch) zum Speziellen (nach seinen Arten), sondern umgekehrt verläuft.133 Den Abschluss bildet ein kurzes Resümee, das auf den Befehl Gottes verweist (V. 16a; vgl. Gen  6, 22) und den ganz eigentümlichen Charakter des Einzugs in die Arche unterstreicht: „an demselben Tag, an dem die Flut anfängt, geht Noach mit Familie in den Kasten und an demselben Tag auch die ungezählten Tiere – womöglich in geordnetem Zug, die Menschen an der Spitze … um die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit der Vorgänge auffallend unbekümmert.“134 In der Priesterschrift folgte ursprünglich auf den Einzug in die Arche mit V. 17* die Schilderung des Flutverlaufs. Die Redaktion ergänzt den Abschluss durch das an passender Stelle eingefügte Detail aus der Version des weisheitlichen Erzählers, wonach Jhwh in dem hereinbrechenden Chaos hinter Noach die Arche verschlossen hat (V. 16b). In der mesopotamischen Überlieferung wird dies von den Fluthelden selbst erledigt (Atr III ii, 51 f; Gilgm XI, 94). Die rührend anmutende Notiz erinnert an Einzelzüge der Paradieserzählung wie Jhwhs abendliches Spazieren im Garten oder die Ausstattung des Menschenpaares mit Kleidung. In der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers dürfte sie unmittelbar auf V. 5 gefolgt sein: „7, 5  Da tat Noach gemäß allem, was Jhwh ihm befohlen hatte.   16b Und Jhwh schloss hinter ihm zu.   10a Als die sieben Tage vorüber waren,   12a kam Regen auf die Erde, 40 Tage und 40 Nächte.“135 Die durch Angaben zur Dauer gerahmte Darstellung der Flut und der 7, 17–24 Fahrt der Arche ist auffallend knapp. Sie beruht im Wesentlichen auf der priesterschriftlichen Version, deren Überschrift in V. 17a redaktionell um die 40 Tage (LXX: 40 Tage und Nächte) nach Gen 7, 4. 12 erweitert wurde.136 Die Notizen über das Ansteigen des Wassers in V. 17b einerseits und V. 18 – 20 andererseits sind wohl als Dubletten zu bewerten.137 Der vorliegende Textzusammenhang lässt sich etwas gezwungen als ein dreistufiger Vorgang Witte, Urgeschichte, 137. Holzinger, 71. 135  Natürlich bleibt diese Rekonstruktion wie jede andere Rekonstruktion einer Vorstufe des vorliegenden Textzusammenhangs eine Hypothese. In der vorliegenden Fassung ist der Text redaktionell, doch wurde er mit einiger Wahrscheinlichkeit unter Aufnahme von Formulierungen der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers formuliert. 136  So u.  a. schon Budde, Urgeschichte, 203 f; Holzinger, 72; Gunkel, 144, in jüngerer Zeit Ruppert, 292 , 347; Witte, Urgeschichte, 137. 137  Vgl. für viele Holzinger, 72; Ruppert, 347, auch Arneth, Adam, 197, der allerdings im Sinne seiner Ergänzungshypothese das Aufsteigen der Arche (V. 17b) und ihr Fahren auf dem Wasser (V. 18b) unterschieden wissen will. Der Redaktor wird sich das in der Tat so vorgestellt haben. Der Wortlaut von V. 17b spricht eher dagegen, dass dies das ursprüngliche Verständnis von V. 17 gewesen ist, zumal V. 18a für sich genommen ebenfalls die Bedingungen schildert, warum die Arche auf dem Wasser fahren konnte, und damit die Aussage des Teilsatzes von V. 17b wiederholt. 133  134 

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beschrei­ben, wonach sich die auf dem Land gebaute Arche vom Boden erhebt (V. 17b) und dann frei schwimmt (V. 18), bis schließlich das Wasser selbst die Berge bedeckt (V. 19), sodass das Wasser die höchsten Berggipfel um 15 Ellen übersteigt. Die Schilderung in V. 18 –20 ist durch das Leitwort „mächtig werden“ (*gbr in V. 18. 19. 20) geprägt. Sie orientiert sich mit der Angabe, dass das Wasser die höchsten Berggipfel um 15 Ellen übersteigt, offenkundig an den priesterschriftlichen Anweisungen zum Bau der Arche. Die 15 Ellen entsprechen der halben Höhe der Arche und damit ihrem mutmaßlichen Tiefgang,138 da die Arche sofort mit dem Sinken des Wassers aufsetzt (Gen  8, 4 P). Die priesterschriftliche Erzählweise ist redundant. Auf diese Weise unterstreicht sie das Ausmaß der Katastrophe und deutet zugleich deren lange Erstreckung an, setzt die Arche doch erst nach fünf Monaten auf der Bergspitze des Ararat auf und bedarf es weiterer zweieinhalb Monate, bis die Bergspitzen sichtbar werden (Gen  8, 4 f ). V. 18b formuliert das Ansteigen des Wassers etwas anders (*rbh „stark werden“) und wesentlich knapper. Der Teilvers schließt gut an die Notiz vom Verschließen der Arche an und kann daher dem weisheitlichen Erzähler zugerechnet werden. V. 21 und 22 schildern die Folgen, den Tod allen Lebens auf der Erde. Die Aufzählung der Flutopfer in V. 21 setzt nach der Feststellung, dass „alles Fleisch“ starb, mit den Kriechtieren ein und endet bei den Menschen. Ganz offensichtlich ist dies als Steigerung gedacht. Die Formulierungen nehmen die priesterschriftliche Ankündigung der Flut auf (Gen  6, 17. 19 f ) und verweisen wie diese auf den Schöpfungsbericht (Gen  1, 24  –26). Die anschließende Feststellung über den Tod allen Lebens auf der Erde doppelt die vorangehende Todesnotiz und greift mit der Wendung „alles, was Lebensodem in seiner Nase hatte“ (kål   ʾašær nišmat … ḥayyīm b e- ʾappāw) auf die Paradieserzählung zurück (vgl. Gen  2, 7 ). Diese Aussage gilt natürlich auch für die Landtiere (vgl. V. 22b), doch zeigt der Rückgriff auf die Erschaffung des Menschen deutlich, dass es dem weisheitlichen Erzähler ganz auf der Linie seines Sintflutprologs zuvörderst um die Vernichtung des schuldigen Menschengeschlechts geht und der Tod der Landtiere eher einen Kollateralschaden darstellt. In der vorliegenden Fassung von V. 22 ist die Formulierung an das priesterschriftliche rū     aḥ ḥayyīm (vgl. Gen 6, 17; 7, 15) angeglichen worden. Die Wendung „Lebens-Atem-Odem“ ist offenkundig redaktionell.139 Auf den weisheitlichen Erzähler geht sodann die summarische Bemerkung über die Folgen der Flut in V. 23* zurück. Mit der auffälligen Wendung „alles Bestehende“ (kål ha-yqūm) greift sie auf die Ankündigung der Vernichtung in Gen 7, 4 zurück. Die Beschreibung des göttlichen Vernichtungshandelns mit dem Verb „wegwischen“ (*mḥh) nimmt ebenfalls Gen 7, 4 sowie Gen 6, 7 auf. Anders Witte, Urgeschichte, 138 f, der V. 17–22 mit Ausnahme zwei kleinerer Glossen insgesamt der Priesterschrift zuschreibt. 138  Gunkel, 145. 139  Vgl. Holzinger, 81. Schon die LXX ist über die Formulierung gestolpert und hat die Formulierung vereinfacht und an Gen 2 , 7 (  !  ) angeglichen (πνοὴν ζωῆς).

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Subjekt des Satzes ist der letztmals in V. 16a genannte Jhwh.140 Im Vergleich mit der Priesterschrift fällt die starke Fokussierung auf Noach auf. Noachs Familie und die Tiere werden in dem Relativsatz „die mit ihm in der Arche waren“ zusammengefasst. Die Redaktion hat dieser sparsamen Angabe die an die Priesterschrift erinnernde Aufzählung „vom Menschen bis zum Vieh, bis zum Kriechtier, bis zu den Flugtieren des Himmels“ vorangestellt und diese durch die Wiederaufnahme des Verbs „wegwischen“ eingebunden. Der Abschnitt endet mit einer Angabe zur Dauer des Ansteigens des Wassers, die mit dem Leitwort *gbr „mächtig werden“ deutlich an den priesterschriftlichen Text anknüpft. Ob er wirklich zu deren Grundbestand gehört hat, erscheint aber fraglich. Der Vers wirkt im Kontext deplatziert und lässt sich auch nicht mit den priesterschriftlichen Datierungen synchronisieren (s.  o. zu Gen 7, 11 und zur Chronologie). Gottes Gedenken leitet die Wende ein. Das Ende des Abschnitts wird 8, 1–14 durch die erneute Datierung in V. 14 und den Einsatz der Gottesrede nach der Flut in V. 15 markiert. Der Abschnitt gliedert sich in zwei Teile. V. 1–5 schildert im Anschluss an Gottes Gedenken, wie das Wasser zurückgehalten wird und der Regen aufhört, woraufhin der Pegelstand sinkt und die Arche aufsetzt. Mit V. 6 ändert sich die Szene. Erstmals werden die Geschehnisse auf der Arche in den Blick genommen. Der erste Teil beruht überwiegend auf der Sintfluterzählung der Priesterschrift. Lediglich in V. 2b hat die Redaktion in Anlehnung an ihre Kompilation der Schilderung vom Beginn der Flut in Gen  7, 11. 12 das Aufhören des Regens nachgetragen. Wahrscheinlich handelt es sich wie in Gen  7, 12 um eine Passage aus der Version des weisheitlichen Erzählers. Der zweite Teil des Abschnitts mit der ganz anders erzählten Vogelflugszene in V. 6 –12 beruht hingegen auf der Version des weisheitlichen Erzählers. Aus ihr stammt auch die Notiz vom Abheben der Decke der Arche in V. 13b, die in stilistisch und terminologisch ähnlicher Weise eine Tat Noachs schildert. Sie wird redaktionell an ihre jetzige Position geraten sein. Vielleicht wollte der Redaktor den Zeitraum zwischen den beiden Datierungen in V. 13a und V. 14, die auf die Priesterschrift zurückgehen, mit etwas Erzählstoff ausfüllen. Das Gedenken Gottes leitet die Wende vom Tod zum Leben ein. Sowohl V. 1–2 in der Priesterschrift als auch im vorliegenden Textzusammenhang markiert es den Scheitelpunkt der Sintfluterzählung nach inhaltlichen wie kompositorischen Gesichtspunkten. Die Formulierung „Da dachte Gott an Noach …“ erweckt den Eindruck, als habe Gott das Geschick der Arche und ihrer Passagiere seit Ausbruch der Sintflut nicht genauer verfolgt und sich erst nach einer Zeit der Ferne wieder mit Noach und seinem Schicksal befasst. Diese Vorstellung des transzendenten Gottes, der sich fallweise dem Menschen 140  Die aktive Verbform wird durch die antiken Versionen durchgängig bestätigt. Die häufig vorgenommene Änderung in ein Nif ’al („und es wurde weggewischt alles Bestehende“) ist eine Spätwirkung der redaktionellen Verbindung der beiden Versionen der Sintfluterzählung, insofern der Bezug wegen der priesterschriftlichen Passagen nicht mehr eindeutig ist.

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zuwendet, erinnert an den priesterschriftlichen Prolog, nach dem Gott die Verderbnis der Erde nach einem erneuten Hinsehen (nach Gen 1, 31) wahrnimmt.141 Sie begegnet auch in der Schilderung von Gottes Reaktion auf das Leiden der Israeliten unter ägyptischer Fron (Ex  2,22aβb. 24 P; vgl. Gen 19, 29 P) und wird erst in der Verheißung vom Wohnen Gottes inmitten seines Volkes Israel in eine Theologie der Präsenz Gottes überführt, wie sie die priesterschriftlichen Heiligtumstexte auszeichnet (Ex  6, 7; 25, 8 –9; 29, 43 –  46). Die Rede von Gottes Gedenken wird in Gen 9, 15 f im Kontext des mit Noach und den Nachkommen aller Überlebenden geschlossenen Bundes aufgegriffen. Auf diese Weise kommt der Wendepunkt der Sintfluterzählung in einem Verweiszusammenhang mit dem Epilog und Prolog (vgl. Gen  6, 18) der priesterschriftlichen Sintfluterzählung zu stehen. Auf ganz ähnliche Weise leitet die Aussage, Gott habe seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob gedacht, in der priesterschriftlichen Exoduserzählung die Wende ein (vgl. Ex  2, 24; 6, 5). Gottes Aufrichten des Bundes mit Noach in Gen  6, 18 ist demnach die Bedingung der Möglichkeit für sein rettendes Gedenken in Gen  8, 1. Gleichwohl fällt der Begriff Bund an dieser Stelle nicht. Dies ist eventuell darauf zurückzuführen, dass der Bund in Gen 6, 18 exklusiv mit Noach geschlossen wurde, sich das Gedenken in V. 1 aber ausdrücklich auch auf die übrigen Passagiere der Arche richtet. Das Gedenken Gottes begegnet im Alten Testament besonders häufig im Kontext der klagenden oder erhörten Bitte des Menschen (vgl. u.  a. Gen  30, 22; Ri  16, 28; 1Sam  1, 11. 19; Jer  15, 15; Ps  9, 12 f; 74, 1–3; 106, 4 f; 115, 12; ferner Jer  31, 20; Ps  8, 4  –6), wobei es „keinen bloß gedächtnismäßigen Bezug [bezeichnet], sondern ein tathaftes Eingehen der Gottheit auf den Menschen, der sich in Not befindet“.142 Entsprechend wird die Preisgabe des Beters an die Mächte des Todes als ein Vergessen Gottes bezeichnet (vgl. Ps 13, 2; Klgl 5, 20). Die in seinem Gedenken begründete Zuwendung Gottes äußert sich nach V. 1b im Senden des Windes, der die Wassermassen vertreibt. Dieser von Gott gesandte Wind (rū     aḥ) könnte eine Reminiszenz an den über dem Wasser der Urflut wehenden Geist Gottes in der Schilderung der Welt vor der Schöpfung sein (rū     aḥ ʾælōhīm; Gen  1, 2b).143 Der Wendepunkt der Sintfluterzählung und der Beginn des Schöpfungshandelns werden damit in gewisser Weise parallelisiert, auch wenn durch die Sintflut die Schöpfung lediglich partiell und temporär aufgehoben wurde und es sich in V. 1 um keine Neuschöpfung handelt. Die kosmische Dimension betont auch V. 2a, der das Gegenstück zu Gen  7, 11 bildet. Zu erwarten wäre, dass das Verschließen der Luken des Himmels und der Quellen der Urflut dem Sinken So auch Schüle, Prolog, 265. W. Schottroff, „Gedenken“ im alten Orient und im Alten Testament. Die Wurzel zakar im semitischen Sprachkreis, WMANT  15, Neukirchen-Vluyn 21967, 183 –201, 201. Vgl. ferner B. Janowski, Schöpferische Erinnerung. Zum „Gedenken Gottes“ in der biblischen Fluterzählung, JBTh 22 (2007 ) 63 –89. 143  Schüle, Prolog, 265. 141  142 

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des Wassers durch den von Gott gesandten Wind voraufgeht. Die auf den ersten Blick unstimmige Reihenfolge ist aber durch die Fokussierung auf Gottes Gedenken und sein darin beschlossenes Handeln bedingt. Erst im Anschluss daran werden die Folgen des göttlichen Eingreifens, das Sichverschließen der Quellen der Urflut und der Luken des Himmels, geschildert. Der weisheitliche Erzähler, dessen Notiz vom Aufhören des Regens die Redaktion analog zu Gen 7, 11. 12 an dieser Stelle eingefügt hat, hat die Wende nicht eigens angesprochen, da der Regen von vornherein auf 40 Tage beschränkt ist (vgl. Gen 7, 4).144 Mit V. 3a setzt die Schilderung vom Sinken des Wassers ein. Der Teilvers V. 3 –5 wird zumeist einer nicht-priesterschriftlichen Version der Sintfluterzählung zugeschrieben,145 doch entspricht die Konstruktion (Inf. abs. von *hlk „gehen“ + Inf. abs. von *šūb „weichen“) derjenigen der Priesterschrift in V. 5 (Inf. abs. von *hlk „gehen“ + Inf. abs. von *ḥsr „sinken“). Die Konstruktion bringt hier wie dort zum Ausdruck, dass das Wasser als Folge des Windes „über der Erde“ ( ʿal hā- ʾāræṣ; V. 1b) allmählich aber stetig „von der Erde“ (mē- ʿal hā- ʾāræṣ; V. 3a) abnimmt. Der redundante Erzählstil spiegelt die ähnlich redundante Schilderung vom Steigen des Wassers in Gen  7, 18 –20. Die exakten Datierungen stehen in einer Linie mit Gen  7, 11. Genau fünf Monate nach Beginn der Flut, am 17. 07., setzt die Arche auf. Nach V. 3b ist dies auch der Tag, an dem das Wasser zu sinken beginnt. Bei dieser Rechnung ist offenkundig vorausgesetzt, dass die 30 Ellen hohe Arche einen Tiefgang von knapp 15 Ellen hatte und nur knapp oberhalb der höchsten Berge geschwommen ist (vgl. Gen  7, 19 f ), deren Spitzen dann am ersten Tag des zehnten Monats sichtbar werden. Die Lokalisierung des Landeplatzes der Arche „auf den Bergen von Ararat“ hat die Auslegung seit jeher über die Maßen beschäftigt und zu mancherlei Spekulation verführt.146 Doch schon der Plural „Berge“ legt nahe, dass die Priesterschrift keine genaue Auskunft geben konnte oder wollte: Das Erinnerungszeichen an die Sintflut besteht für die Priesterschrift in Gottes Bogen in den Wolken, nicht in Resten der Arche oder im Ort ihrer Landung.147 Im Alten Testament bezeichnet Ararat ( ʾArārāṭ) eine Landschaft (außer Gen  8, 4 noch 2Kön  19, 37; Jes  37, 38; Jer  51, 27 ). Es handelt sich um das in keilschriftlichen Dokumenten belegte Urarṭu im östlichen Kleinasien an der assyrischen Nordgrenze. Dessen Kerngebiet entspricht weitgehend dem späteren Armenien, weshalb Euseb von Caesarea im ausgehenden 3. Jh. n. Chr. Ararat mit Armenien gleichsetzt. Schon in hellenistischer Zeit ist die Tendenz zu beobachten, einen bestimmten Berg in Armenien als Landeplatz der Arche zu identifizieren. Flavius 144  Anders Schüle, Prolog, 271, der das Fehlen einer Gen  8, 1 entsprechenden Notiz als entscheidenden Hinweis darauf ansieht, dass sich das „Postulat einer zweiten Quelle“ nicht halten lässt. 145  Vgl. Budde, Urgeschichte, 268; Gunkel, 63. In neuerer Zeit Ruppert, 354; Levin, Jahwist, 108; Seebaß, 230. Für die Zuordnung zur Priesterschrift vgl. Ska, Relato, 46 f; Witte, Urgeschichte, 139. 146  Vgl. zum Folgenden D. Jericke, Art. „Ararat“, odb (2016 ), mit ausführlicher Bibliographie. 147  Ruppert, 356.

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Josephus, der von einem Berg in Armenien spricht, merkt in diesem Zusammenhang auch an, dass Berossos Reste der Arche des Xisouthros auf den „Bergen der Kordyäer“ in Armenien erwähnt, denen in Babylon apotropäische Wirkung zugeschrieben wurde ( Jos.Ant. I, 92 f ). Die Angabe „Berge der Kordyäer“ deutet auf die bei mehreren antiken Autoren erwähnte Landschaft Gordiene (Γορδυηνή) hin, das rund um den Vansee gelegene Bergland zwischen Armenien und Mesopotamien. Diese Identifizierung findet sich auch in den Targumim und der Peschitta, nach denen die Arche auf den „Bergen von Kardu“ aufgesetzt ist. Trotz einiger Gegenstimmen, die wie Euseb und Hieronymus dem Wortlaut von Gen  8, 4 gemäß an der biblischen Vorstellung von Ararat als Landschaftsnamen festhielten, wurde mit dem Namen Ararat im Zuge der Auslegungsgeschichte die Vorstellung von einem einzelnen, in Armenien zu suchenden Berg verbunden. Seit dem Mittelalter wird das zum „Berg Ararat“ gewordene Ararat mit dem höchsten Gipfel des armenischen Berglands identifiziert. Der über 5000m hohe, weithin sichtbare und ständig schneebedeckte Bergkegel des Großen Ararat (Büyük Ağrı Dağı) liegt 140 km nordöstlich des Vansees im Osten der heutigen Türkei unmittelbar an den Grenzen zu Armenien und zum Iran. Neben weiteren Lokaltraditionen wird im Gefolge des Berossos, der Targumim und der Peschitta auch der gut 2000m hohe Cudi Dağı in der heutigen Türkei an der Grenze zu Syrien und dem Irak als der Berg angesehen, auf dem das Schiff des Sintfluthelden aufgelaufen ist. Auf einem seiner Gipfel finden sich Überreste eines Klosters, das im 4. Jh. n. Chr. zu Ehren der Arche Noach gebaut wurde. Der Berg gilt auch im Koran als Landeplatz der Arche (Sure 11, 44).

V. 6 –12 Die Vogelszene wird durch eine Datierung eingeleitet, die Gen  7, 4. 12 auf-

nimmt. Nach dem vierzigtägigen Dauerregen wartet Noach 40 weitere Tage, bevor er das Fenster der Arche öffnet. Wie dargelegt (s.  o. zur Entstehung), ist die Erwähnung des von Noach angefertigten Fensters ein Indiz für einen Baubericht in der Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers, der durch die Zusammenfügung mit der Priesterschrift verloren gegangen ist. Anders als der fromme, aber ohne jegliche Eigeninitiative geschilderte Noach der Priesterschrift, versucht der Noach des weisheitlichen Erzählers durch ein Vogelexperiment zu erkunden, ob die Katastrophe vorbei ist. Die Szene hat eine enge Parallele im Gilgamesch-Epos. Dort lässt Utanapišti zuerst eine Taube, dann eine Schwalbe und schließlich einen Raben aufsteigen. Als der Rabe nicht zurückkehrt, weiß der Sintflutheld wie jeder erfahrene Schiffsführer in der Antike, dass der Vogel Land gefunden hat (Gilgm XI, 147–156): „Doch als der siebte Tag anbrach,//da holte ich eine Taube hervor und ließ sie frei.//Die Taube flog, doch kam sie zurück, denn//kein Fleckchen zu rasten erschien ihr, so kehrte sie um.//Ich holte eine Schwalbe hervor und ließ sie frei.//Die Schwalbe flog, doch kam sie zurück, denn//kein Fleckchen zu rasten erschien ihr, so kehrte sie um.//Ich holte einen Raben hervor und ließ ihn frei.//Der Rabe flog. Als er sah, wie sich das Wasser verzog, da//begann er zu fressen, zu scharren und hüpfen und kam nicht wieder zurück.“ Die Szene findet sich auch bei Berossos, nur dass dort die Vogelarten nicht näher spezifiziert werden und bei jedem der drei Versuche gleich mehrere Vögel ausgeschickt werden. Nach Gen  8, 6 –12 lässt Noach zunächst einen Raben losfliegen (V. 7 ), bevor er dann wie Gilgamesch drei Versuche unternimmt,

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allerdings jedes Mal mit einer Taube (V. 8 –12). Die Erwähnung des Raben dürfte jedoch nicht zum ursprünglichen Text gehören. Seine Aussendung „bis das Wasser von der Erde weggetrocknet war“ nimmt die Begründung des Taubenflugs in V. 8b vorweg und ist im Kontext funktionslos. Die LXX hat das Problem erkannt und V. 7 f entsprechend ergänzt: „Und er ließ den Raben hinaus, um zu sehen, ob das Wasser zurückgegangen war (vgl. V. 8b), und der ging hinaus und kehrte nicht zurück bis das Wasser von der Erde weggetrocknet war. Und er schickte nach ihm die Taube von sich weg, um zu sehen, ob das Wasser wenig geworden war auf der Oberfläche des Erdbodens.“ Da der Rabe nach der ursprünglichen Textfassung rastlos hin- und herfliegt, ohne Noach die gewünschte Auskunft zu geben, ist sein Flug auf die Fortsetzung in V. 8 –12 hin angelegt.148 Damit scheidet die Möglichkeit aus, dass es sich um eine priesterschriftliche Parallele zu V. 8 –12 handelt.149 Vielmehr handelt es sich um einen vorgeschalteten Nachtrag zu V. 8 –12. Über die Gründe, die zu seiner Einfügung geführt haben, lässt sich nur mutmaßen. Sollte die Erwähnung des Raben durch das Gilgamesch-Epos angeregt worden sein, dann kam es dem Ergänzer vielleicht auf den Kontrast „unreiner Rabe“ (vgl. Lev 11, 15; Dtn 14, 14) – „reine Taube“ (Lev 1, 14) an. Gegenüber ihrem mesopotamischen Vorbild zeichnet sich die Version des weisheitlichen Erzählers durch einige liebenswerte Details aus, die in der Erzählweise an die Paradieserzählung erinnern: Die Taube findet keinen Ruheplatz (mānō     aḥ) und kehrt zu Noach (Nō     aḥ) zurück, der die Hand ausstreckt, um die Taube wieder an Bord zu nehmen; beim zweiten Mal bringt sie ein frischgezupftes, also kein aufgefischtes Olivenblatt und kündigt Noach damit das nahende Ende des Wartens und den Neubeginn der Vegetation an. Die Symbolkraft dieser Bilder sucht ihresgleichen. Der Abschnitt endet mit einer zweifachen Datierung, die im Aufbau V. 13 –14 an den Beginn der priesterschriftlichen Flutdarstellung in Gen  7, 6. 11 erinnert.150 In der priesterschriftlichen Sintfluterzählung umrahmen die beiden Datierungen den Flutbericht. Inhaltlich wird die Abfolge von V. 13a und 14 so zu verstehen sein, dass die Erde am Neujahrstag vom Wasser frei war und dass knapp zwei Monate später der Boden trocken und damit wieder begehbar war. Die beiden Daten verdanken sich übergeordneten chronologischen Interessen. Offenkundig sollte die Flut mit dem Neujahrstag enden. Die zweite Angabe verdankt sich vermutlich der Synchronisierung eines lunaren Kalenderjahrs mit einer 364 oder 365  Tage währenden Flut (s.  o. zu Gen  7, 11–16 und zur Chronologie). Vielleicht hat sich schon die Redaktion an der unmittelbaren Abfolge von V. 13b und 14 gestört. Jedenfalls hat sie zwischen beide Daten die aus der Version des weisheitlichen Erzählers Witte, Urgeschichte, 140. So von Rad, 94, 96 und jetzt wieder Schüle, Prolog, 251, 266, der im Rahmen einer Ergänzungshypothese Gen 8, 7 der priesterschriftlichen Grundschicht und Gen 8, 8 –12 einer nicht- und nachpriesterschriftlichen Ergänzungsschicht zuweist. 150  Arneth, Adam, 67. 148  149 

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stammende Notiz eingeschoben, der zufolge Noach nach dem erfolgreichen Vogelexperiment das Verdeck der Arche entfernt und sich selbst vom Ende der Flut überzeugt hat (V. 13b). Der Ausdruck miksǣ, von einer Wurzel *ksh „bedecken“, bezeichnet sonst die Überdecke aus Häuten oder Fellen, die nach den priesterschriftlichen Heiligtumstexten über das Zeltheiligtum gelegt ist (Ex  26, 14; 35, 11; 36, 19; 39, 34; 40, 19; Num  3, 25; 4, 8. 10. 11. 12. 25). In Ez 27, 7 bezeichnet der Ausdruck das Schiffsdeck oder ein über die Kajüte gespanntes Segel.151 Vermutlich handelt es sich um einen Fachbegriff aus Seefahrt und Schiffsbau. In der priesterschriftlichen Version und im vorliegenden Textzusammenhang folgen in Gen 8, 15 –19 auf die datierten Notizen zum Wegtrocknen des Wassers und zur Trocknung des Bodens der göttliche Befehl zum Verlassen der Arche und die Schilderung des Auszugs. Ein entsprechender Bericht des weisheitlichen Erzählers ist nicht erhalten. Über dessen Ausfall lässt sich nur spekulieren.152 Unerlässlich ist er in der Version des weisheitlichen Erzählers jedenfalls nicht. Mit der Bemerkung, dass Noach das Verdeck der Arche entfernt hat, ist genug gesagt, um zur Szene vom Altarbau in Gen 8, 20 überzuleiten. Der Abschnitt geht zur Gänze auf die Priesterschrift zurück. Mit Gen 8, 15 8, 15 –19 hat in der priesterschriftlichen Sintfluterzählung eine bis Gen 9, 17 reichende Reihe von Reden Gottes nach der Flut begonnen. Sie wurde lediglich durch eine kurze Notiz zum Auszug aus der Arche unterbrochen und schließt mit zwei großen Gottesreden (Gen 9, 1–7; 9, 8 –17 ) an Noach und seine Söhne, in denen die nachsintflutliche Welt ihre grundlegende Neuordnung erhält. Im vorliegenden Textzusammenhang folgt auf die priesterschriftliche Auszugsnotiz der Epilog des weisheitlichen Erzählers in Gen  8, 20 –22, sodass jetzt die Darstellung des Auszugs aus der Arche in Gen 8, 15 –19 gemeinsam mit Gen  7, 1–  4 einen inneren Rahmen um die Darstellung der Flut bildet und die beiden Epiloge deutlicher von der Darstellung der Flut abgerückt sind. Anders als in der Version des weisheitlichen Erzählers wartet Noach auf Gottes Befehl zum Verlassen der Arche, den er dann auch getreulich ausführt. Die Szene macht einen sehr geordneten Eindruck: Vorweg geht Noach samt Familie, dann folgen die Tiere „nach ihren Gattungen“ (l e-mišp eḥōtēhæm statt des nicht gebräuchlichen Plurals von mīn „Art“ des üblichen l e-mīnāh „nach seiner Art“). Im Zentrum des Abschnitts bzw. am Ende des ersten Teils der Gottesrede steht die Weisung, dass sich die Tiere, die die Arche verlassen, vermehren sollen. Sie nimmt unverkennbar den Mehrungssegen in Gen  1, 22 (vgl. Gen  1, 28) auf. Wie schon mehrfach angemerkt, betont die Priesterschrift die engen Bezüge zwischen Schöpfung und Sintflut, weiß aber zugleich zwischen beiden deutlich zu unterscheiden. So sind auch in diesem Fall Unterschiede gegenüber den Referenztexten in Gen 1 zu notie151  Statt m ekassēk (von m ekassǣ, einer anderen Nominalbildung der Wurzel *ksh) ist wohl miksēk zu lesen. 152  So u.  a. Gunkel, 65.

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ren. Sie rühren daher, dass sich durch die Sintflut die Rahmenbedingungen des Lebens auf der Erde nachhaltig zu Ungunsten der Tiere geändert haben: Anders als in Gen  1, 22 (vgl. Gen 1, 28) handelt es sich nicht um einen Mehrungssegen.153 Dieser bleibt Noach und seinen Söhnen vorbehalten (vgl. Gen  9, 1. 7 ) und ist mit der Etablierung der Schreckensherrschaft des Menschen über die Tierwelt verbunden (Gen  9, 2). Dies erklärt auch, warum die Wiederbevölkerung der Erde durch Vögel, Vieh und Kriechtiere getrennt von derjenigen durch die Menschen abgehandelt wird. Der Antagonismus von Mensch und Tierwelt beginnt bereits mit dem Auszug aus der Arche. Sehr wahrscheinlich fehlt deshalb an dieser Stelle im Vergleich zu Gen 1, 22. 28 (vgl. Gen 9, 1) auch die Aufforderung zum „Füllen der Erde“. Hier dürfte wie schon in Gen  1, 24 f bei der Erschaffung der Landtiere der Gedanke mitschwingen, dass sich ein unkontrolliertes Überhandnehmen der Population von (Land-)Tieren negativ auf das Wohlergehen der Menschen auswirkt, die mit ihnen den Lebensraum teilen (vgl. Lev 26, 22).154 Der erste, nach innen gerichtete Epilog der Sintfluterzählung geht auf 8, 20 –22 den weisheitlichen Erzähler zurück und ähnelt im Aufbau dessen Prolog in Gen  6, 5 –8: Auf die Wahrnehmung Jhwhs (V. 21aα1; vgl. Gen  6, 5 f ) folgen eine Rede Jhwhs (V. 21aα2–21b; vgl. Gen 6, 7*) und ein unpersönliches Gnadenwort (V. 22; vgl. Gen  6, 8). Der Plot folgt der mesopotamischen Überlieferung, für die das Opfer des aus den Fluten geretteten Sintfluthelden konstitutiv ist (Atr III v, 30 –38; Gilgm XI, 157–171). In der priesterschriftlichen Version fehlt es dagegen aus konzeptionellen Gründen, da für deren Verfasser der Opferkult erst am Sinai gestiftet wird. Nach dem GilgameschEpos opfert Utanapišti zunächst dem durch die vier Winde repräsentierten Raum. Er ist das einzig Verlässliche, das ihm geblieben war.155 Hierauf folgt das Opfer für die Götter, die seit Beginn der Sintflut kein Opfer erhalten haben und deshalb darben, was deutlich macht, wie sehr sie auf die Versorgung durch den zu diesem Zweck geschaffenen Menschen angewiesen sind. Die Flut war demnach ein sehr kurzsichtiges Unternehmen, da sich die Götter mit ihr selbst geschadet haben (vgl. Gilgm XI, 169 f ). Gleichwohl trägt sie zum Gleichgewicht der nachsintflutlichen Welt bei, da die Götter erkannt haben, dass sie ebenso auf den Menschen angewiesen sind, wie der Mensch seinerseits von den Göttern abhängig ist: Der süße Duft des Opfers (Gilgm  XI, 161 f ) besänftigt die Götter, deren Wüten Utanapišti und die übrigen Passagiere der Arche gerade entkommen sind, und befreit diese zugleich aus einer echten Notlage. Sinnfälliger Ausdruck für das gemeinsame Schicksal von Göttern und Menschen ist das Fliegenmotiv. Die Götter versammeln sich über dem Opfer wie Fliegen, die Muttergöttin legt nach der 153  Dies betont zu Recht auch Mosis, Gen  9, 1–7, 196 f mit Anm.  9, gegen Westermann, 619, 629, der im Überschwang einer Theologie des Segens trotz der Freigabe des Tötens von Tieren in Gen 9, 1. 7 einen universalen Segen über alle Geschöpfe erkennt. 154  Schellenberg, Mensch, 47. 155  Maul, Gilgamesch-Epos, 188, zu Gilgm XI, 157.

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Flut ein Halsband mit Fliegen aus Lapislazuli an, um an den Tod ihrer Menschenkinder erinnert zu werden, die in der Flut wie die Fliegen dahingerafft worden sind.156 Der weisheitliche Erzähler setzt die Akzente anders und löst die gegenseitige Abhängigkeit von Göttern und Menschen einseitig auf. Die Flut ist nicht durch ein kurzsichtiges Wüten Jhwhs gegen die Menschheit veranlasst, sondern weil Jhwh die Menschen bei ihren Handlungsmaximen behaftet (vgl. Gen  6, 5 –7 ).157 Von einer Selbstschädigung Jhwhs und dessen Angewiesensein auf den Menschen ist hingegen nicht die Rede. Im Fokus steht allein der Mensch, dessen Überleben gänzlich am bewahrenden Handeln des Schöpfergottes hängt. Welche Funktion in diesem Zusammenhang dem aus der Tradition überkommenen Opfermotiv zukommt, ist schwer zu beantworten. Unverkennbar handelt es sich um ein besonders kostbares Opfer, da Noach Exemplare aller (  !  ) Arten, die als opfertauglich gelten, als Brandopfer darbringt. Keinen Anhalt am Text hat die zuweilen vorgebrachte Ansicht, dass es bei dem Opfer um eine Entsühnung der verfluchten Erde geht.158 Eher könnte man an ein Dankopfer für die erfolgte Rettung denken.159 Das wäre der konventionelle Abschluss einer Erzählung, in der es auch um die Bewahrung ihres Protagonisten geht. An dieser Interpretation ist jedoch problematisch, dass die Darstellung des Opfers syntaktisch eng auf die Zusage Jhwhs in V. 21 f und damit auf die Zukunft bezogen ist. In der Version des weisheitlichen Erzählers ruft erst der Duft des Opfers Jhwh wieder auf den Plan. Der für den Duft des Opfers verwendete Ausdruck rē     aḥ han-nīḥō     aḥ, der sonst nur als stehende Wendung in priesterschriftlichen Opfertexten begegnet (vgl. Ex 29, 18. 25. 41; Lev 1, 9. 13 u. ö.; zum Riechen des Opfers durch Jhwh noch 1Sam 26, 19; Am 5, 21; Lev 26, 31), wird in Anlehnung an die LXX (ὀσμή εὐωδίας „Opfer des Wohlgeruchs“) und den „süßen Duft“ des Opfers im Gilgamesch-Epos gerne als „lieblicher Geruch“ verstanden, wie er von einer wohlschmeckenden Speise ausgeht. Doch das hebräische nīḥō     aḥ umfasst auch den Aspekt des Beruhigens und Beschwichtigens (vgl. akkad. nâḫu/ nuḫḫu + libbu „das Herz beruhigen“). Aus diesem Grund wird das Opfer auch als Anlass dafür gesehen, dass Jhwh aufgrund des „beschwichtigenden Duftes“ von seinem Vernichtungshandeln ablässt.160 Für dieses Verständnis lässt sich auch die Positionierung der Opferszene am Übergang von der Flut zur Bestandszusage für die Erde anführen. Freilich ist die Strafe schon erfolgt und der Sinneswandel Jhwhs ist in der Begnadigung Noachs (vgl. Gen 6, 8) zumindest vorbereitet, sodass auch nicht von einem Sühnopfer im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann. Noachs Opfer eignen demnach Vgl. Wilcke, Weltuntergang, 94  f. Grätz, Gericht, 152 . 158  Procksch, 69. 159  Cassuto, II 117 f; Westermann, 607. 160  Vgl. C. Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament, WMANT 94, Neukirchen-Vluyn 2002 , 369 –371. 156  157 

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Züge des Dank- wie des Sühneopfers, ohne dass es mit einem der beiden Opferarten zu identifizieren wäre: Der erfolgreiche Versuch Noachs, nach der Sintflut wieder mit Jhwh in Kontakt zu treten, ist ein Opfer ganz eigener Art.161 Für das im Gilgamesch-Epos geschilderte Opfer wird angenommen, dass dieses ein Kultgeschehen widerspiegelt, das alljährlich die Wiedergeburt der Welt nach der Flut feiert.162 Einen derartigen kultischen Kontext könnte man auch für Gen 8, 20 –22 vermuten, doch bleibt dies sehr unsicher.163 Jhwhs Reaktion auf das Opfer bezieht sich offenkundig auf den Prolog in Gen  6, 5 –8 zurück. Das gilt bereits für die Einführung der Rede Jhwhs, insofern für das Selbstgespräch der idiomatische Ausdruck „zu seinem Herzen ( ʾæl libbō ) sprechen“ verwendet wird, der die Wendung „es schmerzte ihn bis in sein Herz hinein“ ( ʾæl libbō ) aus Gen 6, 6 aufnimmt. Im Prolog erlaubt der Satz einen Einblick in die innersten Regungen Jhwhs und zeigt, wie sich angesichts der Bosheit des Menschen der Entschluss zur Sintflut herausbildet. Im Epilog zielt er auf die durch den beschwichtigenden Duft des Opfers hervorgerufenen Konsequenzen, die Jhwh für sich aus der Sintflut zieht. Besonders deutlich zeigt sich der Rückgriff auf den Prolog in der Feststellung „das Gebilde des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an“ (V. 21aβ; vgl. Gen  6, 5). Die Formulierung weicht leicht von derjenigen des Prologs ab, doch lässt dies keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich das göttliche Urteil über das Wesen des Menschen auch angesichts der Sintflut nicht geändert hat. So ist vom „Gebilde des Herzens“ die Rede, nicht mehr von „jedem Gebilde der Gedanken des Herzens“. Dadurch tritt der schöpferische Aspekt menschlichen Sinnens etwas stärker in den Vordergrund, doch bedeutet dies ebenso wenig wie die Bestimmung des zeitlichen Aspekts durch „von seiner Jugend an“ statt durch „alle Tage“ eine Verschärfung oder Abmilderung des Urteils.164 Allenfalls bleibt zu erwägen, dass der explizite Hinweis auf „jedes“ Gebilde aus Gen  6, 5 mit Rücksicht auf die vorangehende Opferhandlung weggelassen worden ist. Darüber hinaus bezieht sich die Jhwh-Rede auch auf die Paradieserzählung zurück. Die Ankündigung, den Erd-/Ackerboden ( ʾadāmā ) um des Menschen ( ʾādām) willen nicht nochmals zu verfluchen (V. 21aα2), steht nicht nur in einer Linie mit den übrigen Aussagen zur wesensmäßigen Beziehung von Mensch und Ackerboden, wie sie sich auch im Prolog der Sintfluterzählung findet (vgl. Gen  6, 7*), sondern ist eine deutliche Reminiszenz an die Verfluchung des Ackerbodens in den Strafsprüchen der Paradieserzählung 161  Vgl. dazu A. Schenker, Die Stiftungserzählung des Brandopfers. Wie versteht Gen 8: 20 –21 das Brandopfer?, in: ders., Studien zu Propheten und Religionsgeschichte, SBAB  36, Stuttgart 2003, 143 –154. 162  Maul, Gilgamesch-Epos, 188 , zu Gilgm XI, 157–171. 163  Für entsprechende Überlegungen zur Verortung der nicht-priesterschriftlichen Sintfluterzählung am ersten Jerusalemer Tempel vgl. Grätz, Gericht, 151–153. 164  Für eine Abmilderung plädiert Baumgart, Umkehr, 160, 170 –173. Vgl. dazu die Kritik bei Arneth, Adam, 187. Eine durch Gen  9, 2 ff (P) beeinflusste Generalisierung und Verschärfung erkennt hingegen Witte, Urgeschichte, 180 f, 250  f.

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(vgl. Gen  3, 17 ). Wieso der weisheitliche Erzähler in V. 21 für „verfluchen“ statt des * ʾrr aus Gen  3, 17 (vgl. Gen  5, 29) das semantisch ähnliche *qll pi. gewählt hat, ist gesondert darzulegen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Epilog dezidiert den ersten, inneren Prolog der Sintfluterzählung wie auch die Paradieserzählung aufnimmt. Dies entspricht der zweifachen literarischen Funktion von Gen  8, 20 –22 im Werk des weisheitlichen Erzählers als Abschluss (1.) der Sintfluterzählung und (2.) der Urgeschichte insgesamt.165 (1.)  Wie alle urgeschichtlichen Mythen erschließt sich die Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers von ihrem Ausgang her. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der Verbindung der Zusage, dass sich eine Katastrophe wie die Sintflut nicht wiederholen soll, mit der weitgehend wörtlichen und in der Sache unveränderten Wiederholung des anfänglichen Urteils über das menschliche Wesen. Offenkundig geht es um die Zuordnung der Strafwürdigkeit der Menschheit einerseits und andererseits einer möglichst weitreichenden Bestandsgarantie der vorfindlichen Welt, die auch die wesensmäßige Schlechtigkeit des Menschen zu ertragen gewillt ist. Der anfängliche Kausalzusammenhang zwischen der Schlechtigkeit des Menschen und der Sintflut als einer als angemessen erachteten Strafe führt zu einer Krise, die beinahe die totale Vernichtung des Geschaffenen zur Folge hat. Die Krise wird abgewendet, der alte Kausalzusammenhang von allgemeiner Schuld und Weltgericht aufgelöst (V. 21), und an seine Stelle tritt jetzt die feierliche Bestandsgarantie für die Erde (V. 22) – was selbstredend nicht bedeutet, dass Jhwh gegenüber menschlicher Schuld in Zukunft gleichgültig sein will. Bedenkt man nun, dass der Epilog explizit festhält, dass sich das menschliche Tun und seine Bewertung durch Jhwh nicht geändert haben, wohl aber dessen Reaktion auf dieses Tun, dann schildert der weisheitliche Erzähler einen Wandel in Gott.166 Ganz im mythischen Erzählduktus der mesopotamischen Vorbilder erzählt der weisheitliche Erzähler eine Transformation. Nur geht es anders als im Atram­ḫasis-Epos nicht um eine solche „verschiedener ‚überwundener‘ Stationen in der Entstehung der jetzigen Welt“167. Vielmehr bestimmt die Sintfluterzählung das Wesen Gottes, indem sie beschreibt, wie Jhwh zu dem Gott wurde, der seine „Reue“ über das Erschaffen des Menschen zu überwinden vermochte. (2.)  Für das Verständnis des Epilogs als Abschluss der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers ist Jhwhs Ankündigung maßgeblich, den Ackerboden zukünftig nicht mehr um des Menschen willen verfluchen zu wollen. Der über Gen 5, 29* vermittelte Bezug auf Gen 3, 17 ist nicht zu übersehen, auch wenn für „verfluchen“ in V. 21 *qll pi. gewählt ist, und nicht * ʾrr wie in Gen 3, 17; 5, 29:

Mit Witte, Urgeschichte, 182 . L. Perlitt, 1. Mose 8, 15 –22 , GPM 59 (1970) 391–399, 392 . 167  Stolz, Paradiese, 12 . 165  166 

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Gen 3, 17 Und zum Menschen sagte er: Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört hast und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir geboten hatte, du darfst nicht von ihm essen – verflucht ist der Ackerboden um deinetwillen, unter Mühsal sollst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Gen 5, 29 Und er nannte seinen Namen Noach mit der Bemerkung: Dieser wird uns Trost verschaffen von unserer Arbeit und von der Mühsal unserer Hände wegen des Ackerbodens, den Jhwh verflucht hat. Gen  8, 21*  Ich will hinfort nicht noch einmal den Ackerboden um des Menschen willen verfluchen.

Objekt des in Gen 3, 17 geschilderten und in Gen 8, 21 für die Zukunft ausgeschlossenen Handelns Jhwhs ist jeweils der Ackerboden ( ʾadāmā ), wobei das Handeln „um des Menschen willen“ (ba- ʿabūr   ʾādām) bzw. „um deinetwillen“ (ba- ʿabūr + Suff.) geschehen ist. Hieraus hat man gefolgert, dass „Jahwe jetzt die Erde nicht mehr als unter diesem Fluch stehend betrachten – und das bedeutet natürlich: behandeln will. Er will nicht mehr so mit ihr verfahren, wie er es tun mußte, seit sein Fluch auf ihr lag. Der Fluch soll nicht mehr wirken; er wird außer Kraft gesetzt.“168 Diese Interpretation scheitert jedoch daran, dass Gen 3, 14  –19 die Ambivalenz vorfindlicher Lebensbedingungen als Folge einer Daseinsminderung beschreibt, die bis in die Gegenwart der Verfasser und ihrer Leser und bis hin in unsere Gegenwart reichen.169 Auch wird der mit Bedacht erfolgte Wechsel von * ʾrr in Gen  3, 17; 5, 29 zu *qll in Gen  8, 21 nicht hinreichend berücksichtigt. Die Ankündigung, den Ackerboden zukünftig nicht mehr um des Menschen willen zu verfluchen, ist deswegen mit einem anderen Verb formuliert, weil die durch die Verfluchung in Gen  3, 17 bewirkte Daseinsminderung nach wie vor gilt. So geht es dem weisheitlichen Erzähler zum Abschluss seiner Urgeschichte darum, eine Fortsetzung der Fluchgeschichte um des Menschen willen zukünftig auszuschließen.170 Darin liegt auch der in der Benennung Noachs angekündigte Trost für die verfluchte Erde (Gen 5, 29). Nachdem Jhwh in V. 21 in zwei parallelen Satzreihen mitteilt, was er hinfort nicht noch einmal zu tun gedenkt (jeweils Negation lō + 1. Pers. sg. von ysp hi. „fortfahren“ + ʿōd „weiterhin/nochmals“ + Inf. cstr. mit Praep. l e), folgt mit V. 22 die positiv formulierte Zusage der Bestandssicherung. Diese wird durch die adverbiale Zeitbestimmung ʿōd „noch“ eröffnet, womit der Kontrast zu dem zuvor für die Zukunft ausgeschlossenen Verfluchen des Ackerbodens und Schlagen der Erde durch Jhwh herausgestellt wird. Die 168  R. Rendtorff, Genesis  8, 21, 72 . Vgl. bereits Procksch, 69, und jetzt wieder Levin, Jahwist, 108 (mit Hinweis auf E. Riehm, Rez. K. Budde, Die biblische Urgeschichte, 1883, ThStKr  58 (1885) 753 –786, 780). 169  O.H. Steck, Genesis 12 , 1–3 und die Urgeschichte des Jahwisten, in: H.W. Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie (FS G. von Rad), Neukirchen-Vluyn 1971, 525 –554, 532  f. Nach Steck (vgl. auch Westermann, 609) bezieht sich Gen 8, 21 daher allein auf die Flut. Hiergegen sprechen die eindeutigen Bezüge auf Gen 3, 17 (und 5, 29). 170  Vgl. Crüsemann, Eigenständigkeit, 24. Ähnlich, Baumgart, Umkehr, 153 –162 .

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Formulierung „Noch alle Tage der Erde“ hat schon früh zu der Frage geführt, ob damit auch eine „Begrenzung alles Geschaffenen“171 angesprochen ist, doch liegt das Augenmerk des Verses eher auf der Dauer und Wiederkehr der grundlegenden Lebensrhythmen. Die an erster und dritter Position genannten Paare „Saat und Ernte“ sowie „Sommer und Winter“ bezeichnen den Jahresablauf, das am Schluss genannte Paar „Tag und Nacht“ den Rhythmus des Tages. Unklar ist, ob sich das an zweiter Position genannte Paar „Frost und Hitze“ auf die Kühle der Nacht und die Hitze des Tages (vgl. ḥōm hay-yōm „Hitze des Tages“ in Gen 18, 1; 1Sam 11, 11; 2Sam 4, 5) bezieht. In diesem Fall würden Jahres- und Tagesrhythmus alternieren. Sollte ḥōm „Hitze“ für den Sommer stehen (vgl. Jer  17, 8; Hi  24, 19), dann geht es in den ersten drei Paaren um die stetige Abfolge der Jahreszeiten und nur im vierten Paar um den Tageslauf. Wie dem auch sei, der Sinn der Zusage ist eindeutig. Der Bestand der elementaren zeitlichen Ordnung ist ein verstetigter Gnadenakt, der nicht nur Noach, sondern der gesamten nachsintflutlichen Menschheit gilt. Der stete Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten bezeugt die Gnade Jhwhs, der seine Sonne über Böse und Gute aufgehen lässt und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte (Mt 5, 45). Der sentenzenhafte Schluss blickt kompositionell wie konzeptionell nicht über sich hinaus, sondern bildet gemeinsam mit Gen 2, 4b einen Rahmen um die Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers.172 Eine Mitteilung an Noach ist nach diesen feierlichen Rhythmen, mit denen die Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers „großartig“ ausklingt, „nicht mehr zu erwarten“173. Der zweite, nach außen gerichtete Epilog geht auf die Priesterschrift 9, 1–17 zurück. Aufgrund seines teilweise redundanten Stils und der Vielzahl vermeintlich unverbundener Themen wird häufig mit einem innerpriesterschriftlichen Wachstum gerechnet. Das ist möglich, im Einzelnen aber kaum noch nachweisbar. In Gen  9, 1–7 werden die V. 1–3 unisono zum priesterschriftlichen Grundbestand gezählt.174 V. 4  –6 gelten häufig als Nachtrag.175 Zuweilen wird V. 4 noch dem Grundbestand zugeschlagen und V. 7 als redaktionelle Wiederaufnahme von V. 1 bewertet.176 Die vorgebrachten inhaltlichen und stilistischen Gründe vermögen die ihnen auf-

171  Zimmerli, 295. Vgl. bereits Ibn Esra z.St. und zur Diskussion S. Schorch, In aeternum et ultra. Die Vorstellung des Zeitendes nach Gen 8, 22 und Ex 15, 18, in: J. Kotjatko-Reeb u.  a. (Hg.), Nichts Neues unter der Sonne? Zeitvorstellungen im Alten Testament (FS E.-J. Waschke), BZAW  450, Berlin/Boston 2014, 371–383. 172  Vgl. Witte, Urgeschichte, 184 f; Uehlinger, Weltreich, 339 f, und bereits Rendtorff, Genesis 8, 21, 74. 173  Gunkel, 66  f. 174  Lediglich Levin, Jahwist, 111, erkennt in der ganzen Rede einen Nachtrag. Er reduziert den ursprünglichen Epilog der priesterschriftlichen Sintfluterzählung auf Gen 9, 8 –9. 11aβb. 175  S.E. McEvenue, The narrative style of the priestly writer, Rom 1971, 67–71; Zenger, Bogen, 105 –107; Rüterswörden, dominium terrae, 131  f. 176  Mosis, Gen 9, 1–7.

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erlegte Beweislast jedoch nicht zu tragen.177 Was die vorgebrachten konzeptionellen Erwägungen zum Charakter der Priesterschrift anbelangt, so darf die Annahme, die Priesterschrift habe ursprünglich nur eine Geschichtserzählung geboten und alle „gesetzlichen“ Partien seien das Produkt inner- und nachpriesterschriftlicher Fortschreibungen, als obsolet gelten. Auch der Hinweis auf die priesterschriftliche Konzeption, wonach der Kult erst in mosaischer Zeit am Sinai begründet wurde, ist kein hinreichendes Argument, um das Verbot des Blutgenusses in V. 4 als deplatziert und folglich redaktionell zu bewerten. Wie schon die Sabbatstruktur der Schöpfung gehört das Verbot des Blutgenusses zu den grundlegenden Ordnungen, die dann mit der Stiftung des Sabbats und der Installation des Opferdienstes ihre kultische Umsetzung für Israel erfahren haben. Anders formuliert: Wie der Sabbat die Struktur der Welt voraussetzt, diese aber nicht erst mit der Stiftung des Sabbats für Israel gegeben ist, so setzen auch die einschlägigen Kultvorschriften die Bedeutung des Blutes als „Lebenskraft“ voraus. Diese ist dem Kult vorgegeben und verlangt auch schon vor der Einrichtung des Kultes einen besonderen Umgang mit dem Blut bei der Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken. Sprachlich wird darauf hingewiesen, dass bāśār in V. 4 Fleisch im Sinne fleischlicher Nahrung bedeutet, in der priesterschriftlichen Sintfluterzählung aber menschliches und tierisches Leben bezeichnet. Doch die Semantik des Ausdrucks umfasst beide Bedeutungen, die zudem durch die Unterscheidung von bāśār „Fleisch“ (vgl. Gen 17, 11; Ex 12, 8 P) und kål bāśār „alles Fleisch“ markiert werden. Für einen redaktionellen Charakter von V. 5 f wird vorgebracht, dass es in Gen  9, 1–7 sonst um das Verhältnis von Mensch und Tier gehe, während V. 5 f allgemein auf den Schutz menschlichen Lebens ziele. Dabei falle vor allem auf, dass V. 2 die Herrschaft des Menschen über die Tiere herausstelle, V. 5 aber von der Gefährdung des Menschen durch die Tiere ausgehe. Hieraus lässt sich jedoch kein sachlicher Widerspruch konstruieren. Die Zusage Gottes, dass die Tiere in Furcht und Schrecken vor den Menschen leben, bedeutet mitnichten, dass Tiere keine Gefahr für den Menschen darstellen können. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. V. 5 f greift das Thema von V. 2 auf, vertieft es aber um den Aspekt der Gefährdung menschlichen Lebens. In diesem Zusammenhang wird folgerichtig – verbunden über das Stichwort „Blut“ – auch die Tötung des Menschen durch den Menschen angesprochen, die in einer Ordnung für den Umgang mit der Gewalt nicht fehlen darf. Dass schließlich V. 6b in der Gottesrede von Gott in der 3. Person spricht, erklärt sich mit der aus Gen  1, 27 aufgenommenen Wendung ṣæ-læm ʾælōhīm „Bild Gottes“. Sie verlangt die Rede von Gott in der 3. Person. Auffällig und eventuell ein Indiz für ein literarisches Wachstum ist indes die Abfolge von ʾak … w  e- ʾak als Einleitung von V. 4 und V. 5  f. Sie deutet an, dass V. 4 und V. 5 f als Einheit gelesen werden sollen. Dies bereitet insofern Probleme, als V. 4 mit ʾak „nur“ eine Einschränkung zu V. 3 formuliert, während w  e- ʾak „und nur“ in V. 5 nicht in gleicher Weise einschränkend, sondern eher adversativ zu verstehen ist. In  V. 5b fällt ʾāḥīw „sein Bruder“ aus der Reihe mit dreimaligem miyyad „von“ heraus und ist vermutlich eine spätere Ergänzung, die vielleicht sogar in Anspielung auf die Brudermorderzählung in Gen  4 herausstellt, dass Mord immer Brudermord ist. In Gen  9, 8 –17 wirkt V. 16 wie eine nachträgliche Auffüllung. Der Vers wiederholt das zuvor Gesagte und fällt mit der Formulierung vom „Bund zwischen Gott und allen Lebewesen“ aus dem Sprachduktus der Gottesrede heraus, die sonst konsequent 177  Steck, Mensch, 122 f; Neumann-Gorsolke, Herrschen, 248 –252 . Vgl. dort jeweils auch zum Folgenden.

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von „meinem Bund“ oder nur vom „Bund zwischen mir und  …“ spricht. Hinzu kommt eine weitere kleinere terminologische Verschiebung. In V. 15 bezeichnet „alle Lebewesen“ (kål næ-pæš ḥayyā ) nur die Tiere, da Noach vorher genannt ist (euch), in V. 16 dagegen Mensch und Tier – andernfalls würde sich der Bundesschluss nach V. 16 exklusiv auf die Tiere beziehen.

In der priesterschriftlichen Sintfluterzählung setzt dieser Abschnitt die Gottesrede im Anschluss an die Darstellung der Flut fort, die durch die Auszugsnotiz in Gen 8, 18 –19 in zwei Hauptteile gegliedert wurde. Im vorliegenden Textzusammenhang kommt ihm hingegen die Funktion zu, Noach und seinen Söhnen die bislang lediglich den Lesern und Leserinnen bekannte Bestandszusage Jhwhs für die Erde aus Gen  8, 20 –22 mitzuteilen und in einem Bundesschluss feierlich zu bestätigen. Darüber hinaus präsentiert der Abschnitt Gottes Ordnung für die nachsintflutliche Welt. Damit ist er, wie schon der Epilog des weisheitlichen Erzählers, ganz auf die Bedeutung der Sintflut für die Gegenwart der Verfasser und ihrer intendierten Adressaten hin ausgerichtet, wodurch beide Epiloge unbeschadet des durchdachten redaktionellen Arrangements auch in Konkurrenz zueinander zu stehen kommen. Insofern der priesterschriftliche Epilog auch im vorliegenden Textzusammenhang die Abschlussposition innehat und weitaus detaillierter auf die Verhältnisse der nachsintflutlichen Welt eingeht, ist die Redaktion für das Finale ihrer Fassung der Sintfluterzählung der Priesterschrift gefolgt. Der Abschnitt gliedert sich in zwei Reden, die jeweils damit enden, dass der Anfang in nur wenig veränderter Gestalt am Ende wieder aufgenommen wird (Gen 9, 1 und 7; Gen 9, 8 f und 17 ). Im Unterschied zu der vorangehenden Gottesrede sind diese nicht allein an Noach gerichtet, sondern auch an seine Söhne, weil sie jeweils auf den Fortbestand der von Noach abstammenden Menschheit zielen. Die erste Rede entfaltet die nachsintflutliche Ordnung der Schöpfung unter den Vorzeichen der in die Welt gekommenen Gewalt. Die zweite Rede ist der Aufrichtung von Gottes ewigem Bund mit den Lebewesen seiner Schöpfung gewidmet. Durch diese Zweiteilung werden die Bestimmungen zu einem regulierten Umgang mit der Gewalt von der Bestandszusage für die Erde getrennt: Die Bundeszusage gilt unabhängig von der Befolgung der zuvor erlassenen Bestimmungen. Die erste Rede greift unverkennbar auf den priesterschriftlichen SchöpV. 1–7 fungsbericht, genauer auf den Segen und den Herrschaftsauftrag für den Menschen sowie die Zuweisung der Nahrung für Mensch und Tier in Gen  1, 28 –30 zurück. In der Auswertung dieses Befundes lassen sich zwei Grundtypen der Auslegung unterscheiden. Entweder wird mit Blick auf das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitgeschöpfen eher die Kontinuität zu Gen  1, 28 –30 betont und der Gedanke der Restitution der Schöpfungsordnung unter veränderten Bedingungen herausgestellt,178 oder die Diskontinuität zu Gen 1, 28 –30 steht im Vordergrund.179 Die zweitgenannte Alternative 178  179 

Vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 248 –270. Vgl. Schellenberg, Mensch, 60 –68.

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überzeugt, insofern sie nach dem Vorbild der mesopotamischen Überlieferung in der Sintflut eine strikte Scheidelinie zwischen der ursprünglichen Schöpfung und der Lebenswirklichkeit der Verfasser und ihrer Adressaten erkennt. Zu dieser nachsintflutlichen Lebenswirklichkeit gehört bis in die Gegenwart hinein die Erfahrung von Gewalt zwischen den Geschöpfen. In der ursprünglichen Ordnung der sehr guten Schöpfung (Gen  1, 31) war dergleichen nicht vorgesehen, aber die ausdifferenzierte Zuteilung der rein pflanzlichen Nahrung an Mensch und Tier (Gen  1, 29 –30) konnte das Aufkommen von Gewalt nicht verhindern, und ihr Überhandnehmen hat die Welt an den Rand der völligen Vernichtung gebracht (Gen  6, 11–13). Mit der Sintflut wurde die Gewalt zwar nicht aus der Welt geschafft, aber sie wurde Regeln unterworfen, die auf die Erfahrung reagieren, dass Gewalt zur Lebenswirklichkeit gehört. So kann die Welt trotz der Gewalt bestehen. Dies geschieht jedoch um den hohen Preis der Unterscheidung von tolerierter Gewalt des Menschen gegenüber den Tieren (und der Tiere untereinander) und der individuell zu ahndenden Gewalt gegenüber Menschen. Galt der erste Mehrungssegen kontextbedingt „Mann und Frau“ (vgl. Gen  1, 28), so ist seine Erneuerung in V. 1 nur an die Männer adressiert. Dies entspricht der patrilinearen Struktur der Völkertafel in Gen 10 und der Genealogie in Gen  11, 10 ff (vgl. Gen  5), in denen sich der Mehrungssegen zu verwirklichen beginnt. Wichtiger für das Verständnis des Abschnitts ist indes die anthropozentrische Perspektive: Der Segen gilt allein den Menschen, nicht den Tieren (vgl. Gen  8, 15 –17 ). Die Bestimmungen der nachsintflutlichen Ordnung sind für den Menschen ein Segen, für die Tiere sind sie ein Graus. Entsprechend wird die Gewalt nur im Blick auf menschliche Täter und Opfer thematisiert. Das Töten von Tieren durch Tiere bleibt ungenannt (anders Ps  104, 21). Es wird für die nachsintflutliche Ordnung als gegeben vorausgesetzt und auch nicht mehr als Gewalttat gewertet, die eine neue Sintflut hervorrufen könnte. Im Vergleich zum Mehrungssegen in Gen  1, 28 fällt ferner auf, dass die Inbesitznahme der Erde durch den Menschen nicht eigens angesprochen wird. Sie gilt nach wie vor. Verändert hat sich lediglich das Verhältnis des Menschen zu den Tieren, und zwar grundlegend. An die Stelle der Befähigung des Menschen zur Herrschaft über seine Mitgeschöpfe treten deren Furcht und Schrecken vor dem Menschen. Für das Verständnis dieser Neuordnung ist es wichtig, dass sich die Reformulierung der Metaphorik der Kriegssprache bedient. Die Verbreitung von Furcht und Schrecken nimmt in sprachlich leicht abgewandelter Gestalt die Vorstellung des Gottesschreckens auf, mit dem Jhwh die Feinde Israels bei der Eroberung des Landes vertreibt (vgl. Dtn  2, 24 f; 11, 25).180 In der Zusage, dass die Tiere zu Lande, zu Wasser und in der Luft dem Menschen „in die Hand gegeben sind“ klingt die Formulierung von Gottesorakeln an, die den Erfolg im Krieg zusagen 180  Statt paḥad „Schrecken“ in Dtn  2 , 25; 11, 25 gebraucht Gen  9, 2 das bedeutungsgleiche ḥat. Das Nomen ist nur noch in Hi 41, 25 belegt, das entsprechende Verb in 1Sam 2 , 4; Jer 46, 5.

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(vgl. Ri 4, 7. 14; 7, 2 u. ö.), was nach dem Muster altorientalischer Kriegsideologie die völlige Übereignung der Feinde in die Verfügungsgewalt Israels bedeutet (vgl. Neh 9, 24: „Du hast die Bewohner des Landes … in ihre Hand gegeben …, damit sie nach ihrem Belieben mit ihnen verfuhren.“). V. 2 beschreibt somit das Verhältnis von Mensch und Tier als einen Kriegszustand, in dem der Mensch bereits von Gott als Sieger eingesetzt ist, was freilich nicht bedeutet, dass die Gefährdung des Menschen durch die Tiere de facto überwunden ist (vgl. V. 5). An die Stelle der in Gen 1, 28 positiv konnotierten Herrschaft des königlichen Menschen treten der Krieg und die Verfügungsgewalt des Siegers. Die Friedensordnung der ursprünglichen Schöpfung, die durch Mensch und Tier faktisch aufgekündigt wurde, ist damit vom Schöpfergott zugunsten einer Gewaltordnung aufgehoben. V. 3a konkretisiert die Übereignung der Tiere in die Verfügungsgewalt des Menschen als Recht zur Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken. Dies wird zuweilen so verstanden, dass die Erlaubnis der Tötung von Tieren an den Nahrungserwerb rückgebunden ist, doch es bleibt festzuhalten, dass die Freigabe fleischlicher Nahrung zumindest nicht explizit als Zweckbindung der Gewalt des Menschen über die Tiere formuliert ist.181 Die Tötung von Tieren zu anderen Zwecken, etwa zur Abwehr von Raubtieren oder Schädlingen, zu Opferzwecken oder bei der Jagd zur Demonstration königlicher Macht, wird nicht problematisiert. Sie ist ebenso wenig im Blick wie der neuzeitliche Tierschutzgedanke. Freilich gilt auch, dass V. 2 –3 sicher nicht auf die Freigabe zur Ausrottung von Tierarten zielt.182 Ein derartiges Verständnis lässt sich kaum damit vereinbaren, dass nach Gen 9, 8 –17 alle Tiere in den ewigen Bund Gottes einbezogen sind.183 V. 3b vergleicht die fleischliche Nahrung mit dem „Grün des Krautes“, das nach Gen  1, 30 den Tieren als Nahrung zugewiesen ist, während die Menschen die samentragenden Bäume als Nahrung erhalten. Es ist nicht ganz eindeutig, worauf dieser Vergleich zielt. Erhalten die Menschen auch das Kraut zur Nahrung, das einst den Tieren vorbehalten war?184 Oder wird fleischliche Nahrung so üppig vorhanden sein „wie das Grün des Krautes“ (zum Vergleich „zahlreich wie das Kraut“ vgl. Hi  5, 25; Ps  72, 16; 92, 8; Dtn  32, 2; Mi  5, 6; Spr  19, 12)?185 Der Realität dürfte eher die erstgenannte Alternative entsprochen haben. Die pflanzliche Nahrung des Menschen ist im antiken Israel wie in der Gegenwart nicht auf samentragende Bäume beschränkt. Zudem ist fleischliche Nahrung in der Produktion teuer und in der Vgl. Schellenberg, Mensch, 65. Anders Neumann-Gorsolke, Herrschen, 262 . Die Ausrottung von Tierarten hat in der Gegenwart Ausmaße angenommen, die für antike Autoren jenseits menschlicher Vorstellungskraft gelegen haben dürften. Gleichwohl war das Phänomen nicht unbekannt. Der ikonographisch so bedeutsame Löwe ist aus Palästina schon seit dem 13. Jh. v. Chr. verschwunden und der syrische Elefant wurde bereits im 8. Jh. v. Chr. vollständig ausgerottet. 183  Vgl. Janowski, Schöpfung, 517. 184  So die Mehrheitsmeinung. 185  Die Mindermeinung wird von Baumgart, Umkehr, 307 f, vertreten. 181  182 

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Antike nicht im Überfluss verfügbar. In jedem Fall ist die Freigabe fleischlicher Nahrung gegenüber dem ursprünglich vorgesehenen Vegetarismus aller Geschöpfe eine Konzession des Schöpfergottes an die Gewaltbereitschaft des Menschen (und anderer Raubtiere). V. 4  –6 setzt wichtige Grenzen zu dem zuvor Verfügten. V. 4 formuliert eine Einschränkung zur Freigabe des Tötens zu Nahrungszwecken und verbietet den Genuss des Blutes, in dem die Lebenskraft lokalisiert wird (vgl. Lev 17, 11: „denn das Leben des Fleisches ist das Blut“; vgl. auch Lev 17, 14; Dtn 12, 23). Im Kontext von V. 3 zielt die schwierige Formulierung des Verbots „nur Fleisch mit seinem Leben, seinem Blut, dürft ihr nicht essen“ weniger auf den rituellen Aspekt des Verbots, sondern in erster Linie auf das Leben (nǣpæš    ) des zuvor zur Nahrung freigegebenen Tieres. Denn anders als in Lev 3, 17; 7, 26; 17, 10  f. 14 oder Dtn 12, 23 –25 heißt es nicht, dass das Blut nicht verzehrt werden darf, sondern das Fleisch, in dem das Blut als dessen Lebenskraft ist. Damit liegt der Akzent darauf, dass das Fleisch der Tiere186 erst dann gegessen werden darf, wenn in ihm nicht mehr die Lebenskraft des Blutes ist.187 Der Grund für diese Präzisierung dürfte darin liegen, dass zuvor in V. 3 die zur Nahrung freigegebenen Tiere als „lebendig“188 bezeichnet werden.189 Das wirft die Frage nach dem Umgang mit dem „Leben“ dieser Tiere auf, berührt doch die Tötung zu Nahrungszwecken stets das als Tabu geltende und sakrosankte Leben.190 Das Verbot ist also dem Respekt vor dem Leben geschuldet, es „dient der permanenten Vergegenwärtigung, dass das Leben vom Schöpfer kommt und eine Begrenzung menschlichen Handelns, auch bei aller Verfügungsgewalt und -freiheit fordert“191. In der Praxis läuft dies natürlich auf die kultischen Bestimmungen zum Umgang mit dem Blut und zum Schächten hinaus, wie das in der Rezeptionsgeschichte von Gen 9, 4 seit jeher betont worden ist.192 V. 5 –6 stehen unter dem Oberthema „Vergießen von Menschenblut“. Das einleitende w  e- ʾak „und nur“ bindet V. 5 eng an den mit ʾak „nur“ eröffneten V. 4 an. Die nicht sehr geschmeidige Formulierung wird so zu verstehen sein, dass mit V. 5 eine Einschränkung zu dem in V. 4 geschilderten Umgang mit 186  bāśār bezeichnet in V. 4 (wie in Lev  17, 10  f. 14; Dtn  12 , 23) ganz konkret den essbaren Teil eines tierischen Körpers. Vgl. Millard, Genesis, 102 , in Abgrenzung zur rabbinischen Auffassung, es handle sich bei bāśār in V. 4 um den Teil eines noch lebenden Tieres. 187  Vgl. Schellenberg, Mensch, 64. 188  Der Relativsatz „was lebendig ist“ dürfte seinerseits herausstellen, dass Tiere erst zum Zweck der Nahrung getötet werden, der Mensch also kein Aas isst. Vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 261 Anm. 636, mit Hinweis auf Ex 22 , 30; Lev 11, 40; 17, 15; 22 , 8. 189  Die rabbinische Tradition führt diesen Gedanken dergestalt weiter aus, dass sie Gen 9, 4 als Begründung des noachidischen Verbots ansieht, ein Stück eines noch lebenden Tieres zu essen. Vgl. dazu Millard, Genesis, 99 –107. 190  Vgl. von Rad, 109; Baumgart, Umkehr, 311. 191  Neumann-Gorsolke, Herrschen, 264. 192  Anders Westermann, 623; Ruppert, 385, die Gen 9, 4 von den einschlägigen kultgesetzlichen Bestimmungen loslösen und so verstehen, dass das Verbot nach der Freigabe fleischlicher Nahrung dem Blutrausch, dem Töten um des Tötens willen, wehren will.

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der im Blut befindlichen Lebenskraft folgt. Diese Lesart wird durch die betonte Aufnahme der beiden Begriffe dām „Blut“ und nǣpæš „Leben“ aus V. 4 gleich zu Beginn von V. 5 bekräftigt. Ging es bislang um das Tierblut im Zusammenhang mit der Freigabe der Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken, so geht es jetzt um das gewaltsam durch Tiere oder Menschen vergossene Menschenblut. Beide Möglichkeiten werden als Gewalttat gewertet, für deren Sanktion Gott selber einsteht. Die Voranstellung der Tötung von Menschen durch Tiere, die kaum die Mehrzahl der Fälle ausmachen dürfte, greift V. 2 inhaltlich auf und ist der Ausrichtung des ganzen Abschnitts an der Verhältnisbestimmung von Mensch und Tier geschuldet. Die Tötung des Menschen durch den Menschen wird durch die zuvor verhandelte Tötung von Tieren durch den Menschen vorbereitet, die vor ihrer Neureglung auch als Gewalttat gegolten hat. Menschliches Blutvergießen gehört zur Realität und darf schon aus diesem Grund in einer Ordnung für den Umgang mit der Gewalt nicht fehlen. Wie wichtig dieses Thema für die Verfasser ist, zeigt die emphatische Benennung der Täter, von denen das gewaltsam vergossene Blut eingefordert werden soll. Formal würde das erste Glied „vom Menschen“ genügen. Durch das folgende „von jedem (einzelnen)“ wird unterstrichen, dass diese Forderung unabhängig von Rasse, Geschlecht, Stand oder Ethnie des Täters erhoben wird. Das vermutlich nachgetragene ʾāḥīw „seinen Bruder“ betont, dass jeder Mord ein Mord unter Geschwistern ist.193 Nicht weniger emphatisch ist das dreimalige „ich will (euer Blut) einfordern“, einmal als Obersatz und dann jeweils mit Blick auf die jeweiligen Täter. Dies nimmt den Gedanken der unbedingten Wertschätzung des Lebens aus V. 3 auf und unterstreicht, wie sehr gewaltsames Blutvergießen die Souveränität des Schöpfergottes berührt und deswegen zwangsläufig dessen Reaktion hervorrufen muss. Der im poetischen parallelismus membrorum formulierte V. 6 setzt die hohe Tonlage mit einem dreigliedrigen Chiasmus fort: šōpēk „vergießen“  – dam „Blut“ – hā- ʾādām „Mensch“//bā- ʾādām „Mensch“ – dāmō „Blut“ – yiššāpēk „vergießen“. Umstritten und für das Verständnis der Aussage des Verses maßgeblich ist die Übersetzung der Präposition be in bā- ʾādām. An ihr entscheidet sich, ob der Vers den Menschen als Vollstrecker der Todesstrafe einsetzt oder ob er eine grundsätzliche Aussage darüber trifft, dass ein Mörder sein Leben verwirkt hat. Klassisch ist die Auffassung, dass es sich im Sinne der erstgenannten Alternative um ein Beth instrumenti handelt und die Folgebestimmung mit „durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden“ zu übersetzen ist.194 Der anschließende Rekurs auf die Gottebenbildlichkeit in V. 6b wird dann so verstanden, dass diese zum einen die Unantastbarkeit menschlichen Lebens sichert und zum anderen die nachsintflutliche Erweiterung der menschlichen Herrscherfunktion um die Berechtigung zur Vgl. bereits Jacob, 246  f. Anders Gunkel, 149: ’īš ’āḥīw „ist eine erstarrte Redensart ‚einander‘“. Jacob, 246; von Rad, 99 f; Westermann, 616 und in jüngerer Zeit Steck, Mensch, 128; Stipp, Dominium, 138; Schüle, Prolog, 253; Janowski, Schöpfung, 516. 193 

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Vollstreckung der Todesstrafe begründet.195 Gegen diese Auffassung wurde jedoch eine Reihe sehr guter Gründe vorgebracht, die dafür sprechen, dass es sich um ein Beth pretii handelt, das den Schuldgrund angibt und wie in der hier vorgeschlagenen Übersetzung „um des Menschen willen/für den Menschen“ wiederzugeben ist.196 1.  Der strenge Chiasmus spricht dafür, dass ʾādām „Mensch“ im Vordersatz keine andere Größe bezeichnet als in der Folgebestimmung. Mit ʾādām ist in beiden Fällen das Opfer gemeint. 2 . b e- ʾādām bedeutet im Alten Testament sonst nie „durch den Menschen“. 3.  Der in V. 6 formulierte Grundsatz erinnert an die Talionsformel. Diese verbindet Tat und Folge zumeist mit taḥat „anstatt“ (vgl. Ex 21, 23 –25; Lev 24, 19 f ), in Dtn  19, 21 wird der „Gegenwert“ aber mit einem Beth pretii formuliert (vgl. auch 2Sam  3, 27 ). 4. Die LXX übersetzt recht frei, scheint aber ebenfalls an ein Beth pretii zu denken: Derjenige, der das Blut eines Menschen vergießt, für dessen Blut (ἀντὶ τοῦ αἵματος αὐτοῦ) wird vergossen werden. ἀντὶ bedeutet „für, um willen, wegen“, nicht „durch“ und dient auch in Dtn  19, 21 als Pedant zum Beth pretii. 5. V. 5 betont, dass Gott selbst die Blutschuld einfordert, weswegen es naheliegt, dass V. 6 sich nicht auf die Einlösung dieser Forderung durch den Menschen festlegt – es sei denn, man erkennt in Gen  9, 6 Ansätze zur Einsetzung menschlicher Obrigkeit als „Vollstreckerin direkten göttlichen Willens“197.

Derjenige, der einen Menschen tötet, lädt Blutschuld auf sich und wird um des Menschen willen mit seinem Blut einstehen müssen. Das „Wie?“ bleibt in der vielleicht aus der Tradition übernommen Sentenz offen (vgl. Mt  26, 52). V. 6b begründet diesen Grundsatz mit dem Hinweis auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Wie in Gen 1, 26 f geht es dabei um die Sonderstellung des Menschen unter den Geschöpfen. Diese wird im Zusammenhang der Regulierung von Gewalt nach der Sintflut ganz auf der Linie von V. 5 als Unantastbarkeit menschlichen Lebens jenseits aller Unterscheidungen nach Rasse, Geschlecht, Stand oder Ethnie konkretisiert. In der Tötung eines Menschen ist Gott unmittelbar selbst betroffen, insofern jeder Mensch sein Ebenbild ist. Aus diesem Grund fordert Gott selbst das Blut des Täters ein. Die Erlaubnis, Tiere zu töten, legitimiert nicht dazu, Menschen zu töten. Die Transformation des Herrschaftsauftrags in eine Schreckensherrschaft über die Tiere ermächtigt nicht zur Gewaltherrschaft unter Menschen. Das ist „die Gen  1, 28 und seinen Kontext in neuer Situation aufnehmende Quintessenz“.198 Wie aber verhält sich Gen  9, 5 f zu der Steck, Mensch, 129. Grundlegend: A. Ernst, „Wer Menschenblut vergießt …“ Zur Übersetzung von ‫ באדם‬in Gen 9, 6, ZAW 102 (1990) 252 –253, mit Hinweis auf HS §  106e. Vgl. ferner E. Jenni, Die hebräischen Präpositionen. Band 1: Die Präposition Beth, Stuttgart 1992 , 154; Seebaß, 204; NeumannGorsolke, Herrschen, 251; Arneth, Adam, 72 Anm. 177; Schellenberg, Mensch, 61. 197  von Rad, 100. Ähnlich Jacob, 246: „[D]as Gericht … ist die Vertretung Gottes, der denjenigen sterben läßt, der als Mörder kein Ebenbild Gottes mehr ist.“ 198  J. Ebach, Bild Gottes und Schrecken der Tiere. Zur Anthropologie der priesterlichen Urgeschichte, in: ders., Ursprung und Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen, Reflexionen, Geschichten, Neukirchen-Vluyn 1986, 16 –  47, 45. 195  196 

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in alttestamentlichen Rechtstexten geforderten Todesstrafe an Mensch (vgl. Ex 21, 12; Dtn 19, 12) und Tier (Ex 21, 28 –32) für das vorsätzliche Töten von Menschen? Diese wird auch bei der Übersetzung mit „um des Menschen willen“ aus dem allgemeinen Tötungsverbot herausgenommen, droht doch dem Täter ein entsprechendes Geschick. Die Todesstrafe ist damit als Möglichkeit freigegeben, doch nicht zwingend gefordert. Das göttliche Richten bedarf grundsätzlich keiner menschlichen Mithilfe (V. 5).199 V. 7 kehrt mit einem betonten „Ihr“ zum Anfang der ersten Rede zurück. Die viergliedrige Imperativkette gliedert sich in zwei Sequenzen, deren beide Teilglieder jeweils durch die Kopula „und“ verbunden sind und überdies mit dem identischen Imperativ „werdet zahlreich“ beschlossen werden.200 Dieser nachdrückliche Hinweis auf die Mehrung gemahnt an die Ausgangssituation der fast vollständigen Vernichtung der Menschheit durch die Flut. Thema der zweiten Rede ist der Bund, den Gott mit allen Lebewesen (mit V. 8 –17 Ausnahme der Meeresbewohner) schließt und dessen Inhalt die Zusage ist, keine Sintflut mehr kommen zu lassen. Die Rede wird durch das dreimalige „und er sagte“ gegliedert (V. 8. 12. 17 ). Zahlreiche Wiederholungen machen es mitunter schwierig, dem Gedankengang zu folgen und sprechen auf den ersten Blick für eine gestufte Entstehungsgeschichte. Doch fällt der Nachweis außer für V. 16 schwer. Die redundante Redeweise lässt sich auch als Ausdruck „großer Feierlichkeit“201 lesen, mit der die Priesterschrift den Gottesbund einführt und die Sintfluterzählung abschließt. Im ersten Absatz der Rede (V. 8 –11) kündigt Gott Noach und seinen Söhnen den unmittelbar bevorstehenden Schluss eines Bundes an ( futurum instans in V. 10; Fortsetzung mit w-qatal-x in V. 11).202 Dieser Bund gilt für Noach und seine Nachkommen, womit sich die spätere Ewigkeitsgarantie bereits andeutet (V. 12b. 16b), sowie für alle Tiere, die mit Noach auf der Arche waren und die bereits beim Auszug aus der Arche den Auftrag zur Mehrung erhalten haben (Gen 8, 17 ). Den Inhalt des Bundes formuliert V. 11. Es ist Gottes Zusage, niemals wieder die Erde und alles Leben auf ihr der Vernichtung durch eine Sintflut anheimzugeben und sich dessen im Zeichen des Bundes immer wieder zu erinnern. Auch wenn sich dieser Bund hinsichtlich der Adressaten, des Inhalts und der Dauer von dem Bund unterscheidet, den Gott Noach unmittelbar vor der Sintflut zugesagt hat, sind beide deutlich aufeinander bezogen. Der vor der Flut Noach zugesagte Bund hat eine präfigurierende Bedeutung für den mit allen Überlebenden und ihren Nachkommen geschlossenen ewigen Bund: Die in der Sintfluterzählung vorgeführte Abfolge von der Errichtung des Bundes (Gen  6, 18) und der durch sein Gedenken 199  J. Schnocks, Das Alte Testament und die Gewalt. Studien zu göttlicher und menschlicher Gewalt in alttestamentlichen Texten und ihren Rezeptionen, WMANT  136, Neukirchen-Vlyun 2014, 85  f. 200  Vgl. Arneth, Adam, 73. 201  Gunkel, 150. 202  W. Groß, Zukunft für Israel. Alttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den Neuen Bund, SBS 176, Stuttgart 1998, 51. Vgl. a.a.O., 47–52 , auch zum Folgenden.

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eingeleiteten Wende zur Rettung in der Katastrophe (Gen 8, 1) ist der Unterpfand dafür, dass Gott auch in Zukunft so handeln wird, wie es in der Sintfluterzählung von ihm erzählt wird.203 Darüber hinaus weist der Bund innerhalb der Priesterschrift auf den Bundesschluss mit Abraham voraus, der zwar einen anderen Inhalt, gleichwohl eine analoge Struktur hat: Gott richtet den Bund auf (V. 9. 11. 17 und Gen 17, 7 ) oder setzt ihn (V. 12 und Gen 17, 2). Es handelt sich um einen „ewigen Bund“ (V. 16 und Gen 17, 7 ) und „meinen Bund“ (V. 9. 11 und Gen  17, 2. 4. 7. 9. 13 f ), der dadurch garantiert wird, dass Gott seiner gedenkt (V. 15 f und Ex  2, 24; 6, 5 mit Bezug auf Gen  17 ), und dem ein „Zeichen des Bundes“ zugeordnet ist (V. 12. 13. 17 und 17, 11). Die wichtigste Gemeinsamkeit ist indessen, dass beide Bundesschlüsse um ihrer Unverbrüchlichkeit willen an keinerlei Bedingung geknüpft sind. Dies zeigt sich auch im Aufbau von Gen 9, 1–17. Die Bestimmungen in Gen 9, 1–7 haben ganz realistisch schon ihre Übertretung im Blick (vgl. nur V. 5 f ). Weil die in Gen  9, 1–7 neugeordnete Welt ihrem Wesen nach keine andere oder bessere als diejenige ist, die in der Sintflut vernichtet wurde, erfolgt die Zusage des Bundes in Gen  9, 8 –17 ohne jegliche Rückbindung an das zuvor Gesagte. Der zweite Absatz der Rede (V. 12 –16) kreist um das Bundeszeichen und den Vollzug des Bundesschlusses im „Modus der Einsetzung des Zeichens“204. Die Abfolge von Partizip und Verbform in V. 12 und 13 (nōtēn und x-qatal nātattī ) signalisiert Koinzidenz, d.  h. im Aussprechen des Satzes realisiert sich der in ihm bezeichnete Sachverhalt.205 Anders formuliert: In V. 12 f findet der eigentliche Bundesschluss statt, und zwar indem Gott seinen Bogen (qǣšæt) als Zeichen des Bundes in die Wolken hängt. Mit qǣšæt ist natürlich an einen Regenbogen gedacht (vgl. Ez  1, 28): „Wenn es gewettert hat, dass man vor einer abermaligen Sündflut in Angst sein könnte, erscheint der Regenbogen dann am Himmel, wenn die Sonne und die Gnade wieder durchbricht.“206 Doch beschränkt sich die Symbolik nicht auf das Naturphänomen des Regenbogens.207 Der Ausdruck qǣšæt ist in der Mehrzahl der alttestamentlichen Belege militärisch konnotiert und bezeichnet die Waffe eines Bogenschützen. Die durch das Possessivsuffix („mein Bogen“) markierte Zuordnung zu Gott legt nahe, dass es sich um eine göttliche Waffe handelt, wie sie auch andernorts im alten Vorderen Orient belegt ist.208 Es wurde vermutet, dass die durch den Regenbogen symbolisierte Waffe die stete Kampfbereitschaft Gottes anzeigt, für seine Schöpfung gegen die Chaosmächte einzuschreiten, um eine erneute Sintflut zu verhindern.209 Doch Baumgart, Umkehr, 343  f. Arneth, Adam, 87. 205  Rüterswörden, domiunium terrae, 137. 206  Wellhausen, Prolegomena, 311 Anm. 1. 207  Anders Jacob, 256; Westermann, 634. 208  Vgl. schon Wellhausen, Prolegomena, 311 Anm.  1; Gunkel, 150 f, sowie die Diskussion bei Zenger, Bogen, 124  –131; Rüterswörden, dominium terrae, 131–154. 209  Zenger, Bogen, 131. 203  204 

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Genesis 6, 5–9, 17

passt diese Deutung nicht so recht zur Sintfluterzählung. Die Chaosmächte finden beim Aufkommen der Flut keine Erwähnung, weshalb sich der kriegerische Gott eher selbst daran hindern müsste, keine neue Sintflut kommen zu lassen.210 Dies spricht für die alternative Deutung. Danach symbolisiert der Bogen Gottes in Gen  9, 12 –16 nicht Gottes Triumph über die Chaosmächte oder die vernichtete Erde, sondern erinnert ihn an seinen Friedenswillen. Entsprechend ist die Aussage „Ich gebe hiermit meinen Bogen in die Wolken“ (V. 13) als Zusage zu verstehen, dass Gott seine tödliche Waffe, die gegen die Menschen zum Einsatz kam, abgelegt hat, und sich zukünftig daran beim Erscheinen des Regenbogens erinnern wird. Folglich muss es sich hierbei um einen nicht schussbereiten Bogen handeln. Das mag angesichts der Krümmung eines Regenbogens, die spontan die Erinnerung an den schussbereiten „Flitzebogen“ der eigenen Kindheit hervorruft, zunächst überraschen, lässt sich aber waffenhistorisch plausibilisieren. Es handelt sich nach dem Vorbild damaliger Waffentechnik um einen aus mehreren Lagen zusammengefügten Kompositbogen, der im nicht gespannten Zustand stark gekrümmt, im gespannten Zustand jedoch nahezu gerade ist. Bei Nichtgebrauch wurden derartige Bögen ohne Sehne aufbewahrt, wobei sie sich zu einem halboffenen Rund krümmten, das an das Rund des Regenbogens erinnert. Kurzum: Der Bogen symbolisiert nicht die Kriegsbereitschaft Gottes, sondern seinen Willen, die Waffen dauerhaft beiseite zu legen. Der durch eine abermalige Redeeinleitung eröffnete V. 17 blickt auf den erfolgten Bundesschluss zurück und bildet eine inclusio mit V. 9. In der Priesterschrift enden die Toledot Noachs mit Gen  9, 18a. 19(  ?  ). 28 –29. Im vorliegenden Textzusammenhang wird der priesterschriftliche Abschluss durch die rein redaktionelle Erzählung von Noach, dem Weinbauern, aufgesprengt.

210 

Rüterswörden, dominium terrae, 131–154. Dort auch zum Folgenden.

VII. Genesis 9, 18 –29: Noachs Söhne – Hams Sündenfall und Kanaans Erbfluch 9, 18a Und die Söhne Noachs, die aus der Arche herausgingen, waren Sem, Ham und Jafet.   18b Und Ham, er war der Vater Kanaans.   19 Diese drei sind die Söhne Noachs, und von ihnen aus bevölkerte sich die ganze Erde. 20 Und Noach, der Ackermann1, fing an und pflanzte einen Weingarten. 21 Und er trank von dem Wein und wurde betrunken und entblößte sich inmitten seines Zeltes.   22 Und Ham, der Vater Kanaans, sah die Scham seines Vaters. Und er erzählte es seinen beiden Brüdern draußen.   23 Da nahm(en) Sem und Jafet den Umhang und sie legten (ihn) auf ihrer beider Schulter und sie gingen rückwärts und sie bedeckten die Scham ihres Vaters, dabei blieben ihre Gesichter rückwärts gewandt, und die Scham ihres Vaters sahen sie nicht.   24  Und Noach erwachte von seinem Wein, und er erkannte, was sein jüngster Sohn ihm angetan hatte.   25  Und er sagte: Verflucht sei Kanaan – Knecht der Knechte soll er für seine Brüder sein.   26 Und er sagte: Gepriesen sei Jhwh, der Gott Sems – und Kanaan soll ihr2 Knecht sein.   27 Weiten Raum schaffe Gott für Jafet, und er soll in den Zelten Sems wohnen – und Kanaan soll ihr Knecht sein.   28 Und Noach lebte nach der Sintflut 350  Jahre.   29  So betrug die gesamte Lebenszeit Noachs 950 Jahre, dann starb er. Analyse: Priesterschrift: Gen 9, 18a(. 19?). 28 –29; Redaktion: Gen 9, 18b(. 19?). 20 –27.

Der gewöhnlich mit „Noachs Segen und Fluch“ überschriebene Abschnitt Kontext unterscheidet sich in seiner Erzählweise deutlich von seinem Kontext. Die Begebenheiten um Noachs Trunkenheit werden mehr angedeutet als geschildert. Außerdem fehlen die Reflexionen und Dialoge, die den anderen Erzählungen der biblischen Urgeschichte ihre theologische Tiefe geben. Auffällig ist auch die Einbindung in den Kontext. Die Episode ist durch die Exposition (V. 18 f ) und den Abschluss (V. 28 f ) auf die Sintfluterzählung bezogen, wirkt nach deren Epilog (Gen  8, 20 –22; 9, 1–17 ) jedoch wie ein Appendix. Zugleich weist die Exposition explizit auf die Völkertafel im folgenden Kapitel voraus (V. 19). Mit einem Wort: Die nur sparsam ausgeführ1  „Ackermann“ ist Apposition zu Noach. Der Anfang bezieht sich auf den Weinbau. Vgl. Dillmann, 159; Holzinger, 90. Anders GK §  120b. 2  Die poetische Form lāmō (l e mit dem Suffix  3. Pers. Plur.) ist schwierig. LXX liest in V. 26b einen Singular (für ihn = Sem), in V. 27b einen Plural. GK §  103 f Note 2 hält dafür, dass lāmō auch für lō „für ihn“ stehen kann, geht aber für Gen 9, 26 f von einem Plural mit Bezug auf Collectiva aus. Sehr wahrscheinlich bezieht sich lāmō auf „seine Brüder“ in V. 25, sodass sich ein schöner Refrain ergibt. Der Bezug ist eindeutig, da V. 26b und 27 mit dem Stichwort „Knecht“ V. 25 aufnehmen.

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Genesis 9, 18–29

ten Erzählzüge und der eigens thematisierte Bezug auf die vorangehenden und nachfolgenden Geschehnisse geben Gen  9, 18 –29 den Charakter eines reinen Zwischenspiels. Aufbau Die Abgrenzung ist umstritten. Die Masoreten betrachten Gen  9, 18 –29 als

eine Sinneinheit.3 Gegen diese klassische Position wird zuweilen der deutliche Bezug auf die Sintfluterzählung in V. 18 f angeführt.4 Für die Gliederung des vorliegenden Textzusammenhangs ist es jedoch wichtiger, dass V. 18 die im Folgenden auftretenden Personen einführt und deshalb zur Exposition der Erzählung gehört. Zudem führt V. 19 die für die Fluch- und Segensworte in V. 25 –27 grundlegende Völkerperspektive ein.5 V. 19 setzt seinerseits V. 18 notwendig voraus. Die Zugehörigkeit von V. 28 f wird mitunter in Frage gestellt, weil die Notiz über Noachs Lebensjahre nach der Flut, sein erreichtes Alter und seinen Tod den Abschluss der Geschichte Noachs bilden.6 Das ist richtig beobachtet, doch sollten die beiden Verse im vorliegenden Textzusammenhang deswegen nicht separiert werden. Zwar könnte die Erzählung grundsätzlich schon mit den Fluch- und den Segensworten in V. 25 –27 enden, doch fehlte ihr dann ein Ausklang.7 So beschließt V. 28  f im vorliegenden Textzusammenhang die Geschichte Noachs, deren letzter Akt die zuvor geschilderten Begebenheiten um Noach und seine Söhne sind. Mit der Toledotformel in Gen 10, 1 beginnt jedenfalls eine neue Sinneinheit. Die Exposition in V. 18 f und der Schluss in V. 28 f bilden mit ihrem Bezug auf die Sintflut einen Rahmen um den Hauptteil der Erzählung.8 Dieser gliedert sich nach formalen Gesichtspunkten wiederum in einen erzählenden Teil in V. 20 –24 und in die Fluch- und Segensworte in V. 25 –27.

Entstehung Die strittigen Punkte bei der Abgrenzung des Abschnitts deuten bereits

eine entstehungsgeschichtliche Differenzierung zwischen der Exposition und dem Schluss einerseits und dem Hauptteil der Erzählung andererseits an. In die gleiche Richtung weisen unterschiedliche Angaben zur genealogischen Position von Ham in V. 18 und V. 24. Die Exposition setzt mit der Abfolge Sem, Ham und Jafet voraus, dass Ham der mittlere Sohn ist (V. 18a; vgl. Gen  5, 32; 6, 10; 7, 13; 10, 19; 1Chr  1, 4). Dagegen spricht der Hauptteil von ihm als Noachs jüngstem Sohn (V. 24). Zudem wird Ham zweimal betont als der Vater Kanaans bezeichnet (V. 18b; 22a). Das lenkt wiederum die

3  Im Codex Leningradensis durch ein Spatium zwischen Gen  9, 17 und 18 sowie durch eine Leerzeile zwischen Gen 9, 29 und 10, 1 angezeigt. 4  Gunkel, 78; Vervenne, Sailor; Schüle, Prolog, 355  f. 5  Hieke, Genealogien, 94. 6  Baumgart, Umkehr, 98; Vervenne, Sailor, 44; Arneth, Adam, 47  f. 7  Seebaß, 243, 250. 8  Für eine ausführliche Strukturanalyse vgl. Vervenne, Sailor, 44  –   4 8 . 9  In Gen  10, 1. 2 ff wird die Genealogie in umgekehrter Reihenfolge entfaltet, da die Darstellung auf die Nachkommen des erstgeborenen Sem hinausläuft. An der mittleren Position Hams ändert dies nichts.

Noachs Söhne – Hams Sündenfall und Kanaans Erbfluch

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Aufmerksamkeit auf Kanaan, der für die Tat seines Vaters Ham verflucht wird und der in den Fluch- und Segenssprüchen als Bruder von Sem und Jafet erscheint (V. 25. 26. 27 ). Diese Beobachtungen lassen sich so auswerten, dass V. 18 und V. 20 –27 nicht von einer Hand stammen und dass erst Hams sekundäre Identifizierung als Vater Kanaans dem ganzen Abschnitt seine Ausrichtung auf Kanaan gibt.10 Des Weiteren gilt es zu beachten, dass die Erzählung in V. 20 –27 auf die Exposition in V. 18 f angewiesen ist. Ohne die Einführung der Personen und die Darlegung der Verwandtschaftsverhältnisse bliebe die Angabe „zu seinen beiden Brüdern“ (V. 22) und die namentliche Erwähnung der beiden Brüder (V. 23) mehr als erstaunlich.11 Aus diesem Grund sind die V. 20 –27 als eine Ergänzung zu V. 18a. 19 anzusprechen, die durch V. 18b eingebunden wurde. Die literarhistorische Einordnung der Ergänzung hängt an derjenigen von V. 18a. Der Vers gehört wie die Abschlussnotiz in V. 28 f zur Priesterschrift.12 Die Zuordnung von V. 28 f zur Priesterschrift ist unstrittig. Hingegen wird V. 18a zumeist dem nicht-priesterschriftlichen („jahwistischen“) Stratum zugerechnet. Die dafür angeführten Gründe sind jedoch schwach: „Die Verse erweisen sich schon dadurch als jahvistisch, dass sie in der Grundschrift (d.  h. der Priesterschrift; JCG) völlig überflüssig wären, da diese die Söhne Noah’s bereits mehrere Male mit Namen aufgeführt hat. In J aber sind sie noch nicht genannt und darum nöthig, falls er sie ebenso kannte“.13 Letzteres ist aber genau das Problem, da mit Ausnahme von 1Chr  1, 4 alle anderen Belege für die Reihe Sem, Ham und Jafet zur Priesterschrift gehören (Gen 5, 32; 6, 10; 7, 13; 10, 1). Lediglich für Gen 9, 18 wird eine „jahwistische“ Herkunft behauptet, also genau für den Beleg, dessen genealogische Angaben in Spannung zu der nachfolgenden Erzählung stehen, die ebenfalls auf den „Jahwisten“ zurückgehen soll. Diesem Befund korrespondiert die Beobachtung, dass die Sintfluterzählung des weisheitlichen Erzählers anders als die priesterschriftliche Variante gar nicht von den Söhnen Noachs spricht, sondern von seinem ganzen Haus (Gen 7, 1). Darüber hinaus erwähnt der „Jahwist“ nach der üblichen quellenkritischen Zuordnung in Gen 10* Ham überhaupt nicht und Jafet nur indirekt (Gen 10, 21). Andererseits spricht dezidiert  für eine priesterschriftliche Herkunft von Gen  9, 18a, dass der Vers gemeinsam mit V. 28 f den hinteren Rahmen der priesterschriftlichen Fluterzählung bildet. Ohne V. 18a würde völlig untypisch am Ende der Toledot Noachs jeder Verweis auf die kommenden Toledot (vgl. 10, 1) fehlen. V. 18a ist im Kontext der Priesterschrift also alles andere als „überflüssig“. Schwieriger ist dagegen die Klassifizierung von V. 19, der in der Forschung durchweg demselben Verfasser wie V. 18(a) zugeschrieben wird. V. 19 setzt ohne jeden Zweifel  V. 18(a) voraus. Doch schließt dies eine redaktionelle Herkunft von V. 19 nicht aus. Die Frage entscheidet sich am Verständnis von *npṣ „sich verteilen“ in 10  Für eine ausführliche Begründung und Diskussion der Literatur vgl. Gertz, Hams Sündenfall, 81–95. Dort auch zum Folgenden. 11  Vgl. Baumgart, Umkehr, 385. 12  So mit einigen älteren und jüngeren Untersuchungen gegen die Mehrheitsmeinung, wonach die Verse auf den „Jahwisten“ zurückgehen. Vgl. T. Nöldeke, Untersuchungen zur Kritik des Alten Testaments, Kiel 1869, 13, 143; Blenkinsopp, Pentateuch, 85; Witte, Urgeschichte, 100 –102; Arneth, Adam, 46, 51  f. 13  Budde, Urgeschichte, 302  f.

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Genesis 9, 18–29

V. 19.  Die Priesterschrift verwendet im ähnlichen Zusammenhang *prd „verzweigen“ (Gen  10, 5. 32), die nicht-priesterschriftlichen („jahwistischen“) Texte *pwṣ „zerstreuen“ (Gen  10, 18; 11, 4. 8. 9). Da *npṣ eine Nebenform zu *pwṣ ist, wird es gerne als Beleg für eine „jahwistische“ Herkunft auch von V. 19 angeführt.14 Gegen dieses Argument wurden semantische Unterschiede zwischen den vermeintlich „jahwistischen“ Belegen angeführt. Gen  9, 19 gebrauche *npṣ wie die Priesterschrift *prd in Gen  10, 5. 32 völlig wertfrei, während *pwṣ in Gen  11, 4. 8. 9 eindeutig negativ konnotiert sei.15 Auch beschreibe Gen  9, 19 die Entstehung der Völkerwelt wie die priesterschriftliche Völkertafel in Gen 10* als natürlichen Prozess mit den Söhnen Noachs als Subjekt. In Gen  11, 8. 9 handele es sich dagegen um die Folge göttlichen Eingreifens mit Jhwh als Subjekt. Doch leider bleibt auch bei dieser Argumentation eine leichte Unsicherheit. Die überwiegende Zahl der Belege von *npṣ und *prd ist negativ konnotiert.16 Sofern es um Menschengruppen geht, handelt es sich in der Regel um die Flucht angesichts einer militärischen Niederlage oder um die Zerstreuung im Exil (vgl. *npṣ in Jes 33, 3). Daher ist nicht gänzlich auszuschließen, dass V. 19 auf die Redaktion zurückgeht, die mit Blick auf die priesterschriftliche Völkertafel an der frühestmöglichen Stelle einen leichten Einspruch gegen deren friedliches Bild der Entstehung der Völkerwelt erhebt und so auf die Turmbauerzählung vorausblickt.

Gehört Gen  9, 18a(. 19?) zur Priesterschrift, dann ist Gen  9, 18 –29 in vorliegender Gestalt eine nachpriesterschriftliche Ergänzung zu den Begebenheiten aus dem Leben Noachs.17 Außer  V. 20 –27 geht auch V. 18b auf die Redaktion zurück. Stammt V. 19 von der Priesterschrift, dann hat die Redaktion den vorgegebenen Chiasmus in V. 18a. 19 zu einer um V. 18b angelegten konzentrischen Struktur umgestaltet. Andernfalls hätte sie V. 18b mit der chiastischen Wiederaufnahme von V. 18a durch V. 19 eingebunden (s.  u. zur Auslegung von V. 18 –19). Wie dem auch sei, auf jeden Fall stellt sie die Identifizierung Hams als Vater Kanaans betont heraus. Damit zeigt sie von Anfang an, dass es sich um eine Geschichte über Kanaan handelt, in der das spannungsreiche Verhältnis zwischen Israel (Sem) und Kanaan urgeschichtlich verankert wird. Die Ausweitung der genealogischen Notiz zu den Söhnen Noachs in eine Geschichte, die auf eine Verfluchung Kanaans hinausläuft, hat einige Auffälligkeiten verursacht, gibt jedoch keinen Anlass zu weiteren literarkritischen Eingriffen. Die viel diskutierte Aussage von V. 24, wonach Ham anders als sonst nicht der mittlere, sondern der jüngste Sohn ist, beruht auf der priesterschriftlichen Notiz, dass Kanaan der jüngste Sohn Hams ist (vgl. Gen 10, 6). Der Rest ergibt sich aus einer ganz einfachen Überlegung: Sollte die gewünschte Abqualifizierung Kanaans zum Knecht aller Völker in einem Vgl. bereits Dillmann, 159; Holzinger, 89  f. Witte, Urgeschichte, 101. 16  Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Schüle, Prolog, 311–314. Er ordnet den Vers der Priesterschrift zu, geht aber von einer bewussten Umwertung eines geprägten Begriffs aus. 17  So im Rahmen sehr unterschiedlicher Modelle zur Redaktionsgeschichte von Gen 1–11 u.  a. auch Witte, Urgeschichte, 102 –105; de Pury, Sem, Cham et Japhet; Schüle, Prolog, 355 –367; Arneth, Adam, 200 –210; Gertz, Hams Sündenfall, 81–95. Vervenne, Sailor, 52 –54 weist die Episode der priesterlichen Komposition zu. 14  15 

Noachs Söhne – Hams Sündenfall und Kanaans Erbfluch

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urgeschichtlichen Einzelgeschehen begründet werden, dann musste dieses wegen der genealogischen Kontinuität nach der Sintflut, aber noch zu Lebzeiten Noachs und noch vor der Ausdifferenzierung der Söhne Noachs zu den Völkern der Erde platziert werden. Insofern bot Gen  9, 18a(. 19). 28  f den einzig möglichen Ort für eine entsprechende Ergänzung. Wegen der vorgegebenen priesterschriftlichen Genealogie konnte die Redaktion nur mittelbar von Kanaan sprechen, weshalb Hams Vergehen zum Anlass für den Fluch gegen Kanaan werden musste. Die notwendige Verbindung zwischen dem „Sündenfall“ Hams und dem Erbfluch Kanaans liefert die schlichte Entsprechung, wonach die Tat des jüngsten Sohns auf dessen jüngsten Nachkommen fällt.18 Die Exposition schließt nahtlos an die Sintfluterzählung an und bereitet mit 9, 18 –19 V. 19 die Ausweitung auf die Völkergeschichte vor. Sie ist konzentrisch angelegt. V. 19a nimmt V. 18a in umgekehrter Reihenfolge auf: Das betont vorangestellte „Diese Drei“ fasst die namentliche Nennung der Söhne Noachs am Ende von V. 18a zusammen und das darauf folgende „Die Söhne Noachs“ wiederholt den Anfang von V. 18a. Von dieser chiastischen Struktur wird das erläuternde „Und Ham, er war der Vater Kanaans“ in V. 18b gerahmt und auf diese Weise besonders herausgestellt.19 Dieser betonten Einführung Kanaans entsprechen die nicht weniger betonte Wendung „Ham, der Vater Kanaans“ zu Beginn der Schilderung des Vergehens (V. 22) und die dreimalige Erwähnung Kanaans in den Fluch- und Segensworten (V. 25. 26. 27 ) auf dem Höhepunkt der Erzählung. V. 18b gibt also das Stichwort der Erzählung vor, die in erster Linie gelesen sein will als eine Geschichte über Kanaan, ihre abwesende und doch stets präsente Hauptfigur. Mit Blick auf das Thema der Völkergeschichte setzt V. 19 durch die Bezeichnung der Söhne Noachs als „diese drei“ (vgl. Gen 6, 10 P) einen besonderen Akzent. Sie führt den in der Völkertafel breit entfalteten Gedanken der familiären Verbundenheit aller Völker der Welt ein und betont darüber hinaus deren bescheidene Anfänge, in denen sich der in Gen  9, 1 zugesprochene Mehrungssegen zu realisieren beginnt.20 Die Formulierung von V. 20 ist schwierig. Sollte sich „und er begann“ 9, 20 –21 (wayyāḥæl ) auf „Ackermann“ ( ʾīš hā- ʾadāmā ) beziehen („Und er fing an, ein Ackerbauer zu sein“), wäre dort der Artikel zu streichen; sollte es sich wie in der hier gewählten Übersetzung auf die Anfänge des Weinbaus beziehen, wäre eigentlich ein Infinitiv zu erwarten (vgl. Gen  4, 26 u. ö.). Anders als zu vermuten, ist ʾīš hā- ʾadāmā, wörtlich „der Mann des Ackerbodens“, kein Terminus technicus für Bauer oder Winzer. Vielmehr nimmt die im Alten Testament singuläre Formulierung das Stichwort ʾadāmā „Ackerboden“ aus der Paradieserzählung auf, wo es den Wirkungsbereich und die Herkunft des Menschen Vgl. Seebaß, 244. Vgl. Witte, Urgeschichte, 100; Arneth, Adam, 50, 202 . 20  Jacob, 259. 18  19 

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bezeichnet (Gen 2, 5. 6. 7. 9. 19; 3, 17. 19. 23; 4, 3. 10. 11. 12. 14; vgl. 5, 29). Ist Adam von seiner Herkunft und seiner Bestimmung her im wahrsten Sinne des Wortes der Mann des Ackerbodens, so wird Noach auf diese Weise nach der Wiederherstellung der Schöpfung als neuer Adam charakterisiert.21 Dass Noach einen Weinberg pflanzt (*nṭ  ʿ), erinnert in diesem Kontext daran, dass einst Jhwh einen Garten gepflanzt hat (Gen  2, 8). Die kulturgeschichtliche Notiz über die Einführung des Weinbaus wird häufig mit der in Gen 2 –  4 beschriebenen Entstehung verschiedener Kulturleistungen in Verbindung gebracht.22 Hierfür wird auch auf eine gemeinsame Grundstimmung verwiesen, da auch das „edelste aller Kulturgüter“ durchaus ambivalent geschildert werde.23 Allerdings liegt die Ambivalenz nicht wie in Gen 2 –  4 in der Ausgangssituation der zivilisatorischen Entwicklung, sondern in den Kulturfolgen, die wiederum in Gen 2 –  4 keine Rolle spielen. Auch unterscheiden sich die Formulierungen der kulturgeschichtlichen Notizen in Gen 4, 20 –22 und diejenige in Gen 9, 20 recht deutlich.24 Eine gewisse Nähe zeigen dagegen die mit dem Verb *ḥll hi. „anfangen“ markierten Einschnitte in der Menschheitsentwicklung (vgl. Gen 6, 1; 10, 8; 11, 6 sowie 4, 26 ho. alle R). Wie in Gen 6, 1 geht der Einschnitt mit der Überschreitung einer sexuellen Grenze einher.25 Von seiner Funktion in der Erzählung einmal abgesehen – die Einführung des Weinbaus schafft die Voraussetzungen für die nachfolgenden Verwicklungen – zeigt das Pflanzen eines Weingartens im unmittelbaren Anschluss an die Sintfluterzählung auch das Ende des Gerichts an (2Kön  19, 29 par Jes 37, 30; Jes 65, 21; Jer 31, 5; Ez 28, 26; Am 9, 14; Ps 107, 37 ).26 Diese symbolische Bedeutung entspricht der durchweg positiven Wertung, die der Wein im Alten Testament erfahren hat. Wein gehört im Alltag wie bei besonderen Anlässen zu einer ordentlichen Mahlzeit (Gen 27, 25; Ri 19, 19; Jes 22, 13), er erfreut des Menschen Herz (Ps  104, 15) und macht „Götter und Menschen fröhlich“ (Ri  9, 13). Der Einführung des Weinbaus und dem ersten Genuss des Weins folgt der erste Rausch der Menschheitsgeschichte. Die knappe Darstellung enthält sich jeglicher moralischen Qualifizierung. Der Rausch ist Noachs private Angelegenheit und schadet niemandem. Noach zieht sich in sein Zelt zurück, wo er sich entblößt. Dieser Zug unterstreicht zunächst Noachs Anspruch auf Privatheit, deutet aber schon die folgende Verwicklung an. Der Höhepunkt der Handlung ist vom unterschiedlichen Verhalten der 9, 22 –24 Söhne gegenüber ihrem betrunkenen Vater und dessen harscher Reaktion 21  Vgl. A.J. Tomasino, History Repeats Itself: The „Fall“ and Noah’s Drunkenness, VT  42 (1992) 128 –130, 129. 22  So zuletzt Schüle, Prolog, 357  f. 23  Jacob, 268; Schüle, Prolog, 357. 24  Mit Witte, Urgeschichte, 102 . Zu der erstmals von Budde, Urgeschichte, 306 f vorgebrachten These, wonach es sich um den in Gen 5, 29 angekündigten Trost handelt, s.  o. S. 202 zu Gen 5, 28 – 31. 25  Vgl. Witte, Urgeschichte, 102 . 26  Arneth, Adam, 204.

Noachs Söhne – Hams Sündenfall und Kanaans Erbfluch

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geprägt. Ham sieht die Scham seines Vaters und lässt sich darüber vor seinen Brüdern aus, diese reagieren jedoch mit Respekt und bedecken den Vater, ohne ihn anzusehen. Dieser wiederum verflucht Hams Sohn Kanaan und segnet Sem und Jafet. Fluch und Segen zeigen deutlich, dass die Söhne Noachs und sein Enkel Kanaan weniger als Familienmitglieder denn als Repräsentanten von Volksgruppen zu verstehen sind. Ham, der Vater Kanaans, steht Sem, dem Vorfahren Israels (vgl. Gen 11, 10 –26), und Jafet gegenüber. Auch zwischen den beiden gesegneten Brüdern wird ein feiner Unterschied aufgemacht, insofern der singularische Auftakt von V. 23 „da nahm Sem und Jafet“ vor der pluralischen Fortsetzung „und sie legten“ andeutet, dass die Initiative bei dem an erster Stelle genannten Sem gelegen hat.27 Worin besteht aber das Vergehen Hams, das eine derart harte und die Generationen übergreifende Reaktion hervorgerufen hat? Wie konnte Noach „erkennen“, dass Ham ihn nackt „gesehen“ hat, während er schlief ? In der Auslegungsgeschichte ist die offene Formulierung „was er ihm angetan hatte“ ( ʾašær ʿāśā lō ) häufig als Leerstelle verstanden worden, die den Leser dazu auffordert, sich das Geschehen aus vermeintlichen Andeutungen des Textes zu erschließen. Eine wichtige Rolle bei den verschiedenen Versuchen, die vermeintliche Leerstelle zu schließen,28 spielt die idiomatische Bedeutung der Wendungen vom „Sehen (*r  ʾh) der Scham ( ʿærwā )“ (vgl. noch Lev 20, 17 ) und vom „Entblößen (*glh) der Scham“ (vgl. Lev 18, 6 –19; Lev  20, 11. 19. 20. 21) im Sinne von „Geschlechtsverkehr haben“. Dies liegt auch deswegen nahe, weil die Verbindung von Alkoholgenuss und Sexualität im Alten Testament und den Literaturen des alten Vorderen Orients gut belegt ist und auch das Motiv des Weinbergs gerne im sexuellen Kontext verwendet wird (vgl. Hhld  1, 6. 14; 2, 15).29 Besonders prominent ist in diesem Zusammenhang die Erzählung von Lots Töchtern, die ihren Vater betrunken machen, um von ihm schwanger zu werden (Gen  19, 30 –38). So hat man in dem Vergehen einen Inzest mit der (nicht erwähnten!) Frau des Vaters vermutet, was in Lev  20, 11 als „Aufdecken der Scham des Vaters“ bezeichnet wird.30 Andere denken an einen inzestuös-homosexuellen Missbrauch des Vaters durch Ham.31 Schon die Rabbinen haben diskutiert, ob Jacob, 261. Einen Überblick bieten Vervenne, Sailor, 34  f; J.C. Gertz, Art. „Ham“, WiBiLex (2021). 29  M. Dubach, Trunkenheit im Alten Testament. Begrifflichkeit  – Zeugnisse  – Wertung, BWANT 184, Stuttgart 2009, 214  –225. 30  F.W. Bassett, Noah’s Nakedness and the Curse of Canaan: a Case of Incest?, VT  21 (1971) 232 –237. Ähnlich schon BerR  XXXVI, 4 sowie TestRub  3, 11–15. In TestRub 3, 11–15 wird in Anspielung auf Gen 9, 18 –27 in der Auslegung von Gen 35, 22 notiert, dass Ruben die Nebenfrau Jakobs nackt und betrunken schlafend im Zelt vorgefunden habe. Vgl. dazu S. Opferkuch, Ein Rausch und seine Folgen. Parallelen zwischen der Erzählung von Noah als Weinbauer (Gen 9, 20 – 27 ) und ihren Auslegungstraditionen und der Bilha-Episode in TestRub 3, 11–15, ZNW 108 (2017 ) 281–305. 31  M. Nissinen, Homoerotecism in the Biblical World. A Historical Perspective, Minneapolis, MN 1998, 52  f. 27  28 

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Genesis 9, 18–29

Ham seinen Vater kastriert oder vergewaltigt hat.32 Doch derartige Konkretisierungen der Tat fügen sich nur schlecht in den Kontext, der ausweislich der Gegenüberstellung des Verhaltens der Brüder ein besonderes Gewicht auf Hams Erzählen vor seinen Brüdern legt.33 Auch ist in Lev  18 und 20 von einem beiderseitigen Sehen der Scham oder vom Aufdecken der Scham des Vaters die Rede, während Gen  9, 22 lediglich davon spricht, dass Ham die Scham des Vaters gesehen hat. Ohne jede Zweideutigkeit handelt es sich um eine im Rausch erfolgte, mithin unbewusste Selbstentblößung Noachs. Ham ließe sich nicht einmal der Vorwurf machen, er habe den Vater betrunken gemacht, um „seine Scham zu sehen“ (vgl. Hab  2, 15). Gleichwohl führt der Hinweis auf die Inzestverbote und die sexuelle Konnotation des verwendeten Vokabulars in die richtige Richtung. Das Vergehen Hams besteht im Sehen der Scham des Vaters (V. 22a) und dem Umstand, dass sich Ham darüber vor seinen Brüdern auslässt (V. 22b).34 Im Kontrast zu diesem despektierlichen Verhalten steht dasjenige der beiden älteren Brüder. Sie erweisen dem Vater gegenüber Ehrfurcht, wobei die Bestimmung dessen, was in diesem Zusammenhang Ehrfurcht bedeutet, eindeutig von Vorstellungen geleitet ist, wie sie sich auch in Lev  18 und 20 finden.35 Folglich geht es bei dem Vergehen Hams um eine Frage von Scham und Ehre. Verletzt das Entblößen der Scham die Würde und die Integrität der Person,36 so besteht im Fall Hams das eigentliche Vergehen in der fehlenden Diskretion. Ham erzählt seinen Brüdern von dem Vorfall, macht ihn dadurch erst öffentlich und entehrt so den Vater.37 In diesem Zusammenhang genügt „schon die Suggestion, die die Rede von der Blöße des Vaters umgibt“38. Seine besondere Note erhält der Vorfall durch die begriffliche Nähe zu den Inzestverboten des Buches Leviticus, denen in Lev  20, 22 f (vgl. Lev  18, 3) eine Warnung an Israel mit dem Hinweis folgt, dass die Vorbewohner des Landes, sprich die „Kanaanäer“, ihr Land wegen derartiger Vergehen verlieren werden.39 Der Vorfall sollte und musste bei seinen schriftkundigen Adressaten die stereotype Schilderung der Kanaanäer ins Bewusstsein rufen, Nachweise und Diskussion bei Opferkuch, a.a.O., 289 –291. Schüle, Prolog, 357. 34  Gerne wird spekuliert, dass der erwachsene Ham sein eigenes Zelt gehabt habe und sich unbefugt Zugang zum Zelt seines Vaters verschafft habe. Vgl. zuletzt wieder Seebaß, 246. Das ist möglich, steht aber nicht im Text – schon allein, weil es von dem eigentlichen Vergehen ablenken würde. Abwegig Budde, Urgeschichte, 310 (gefolgt von Gunkel, 78; von Rad, 102; Ruppert, 410), für den das Vergehen von kindlicher Unreife zeugt und der fortfährt: „Der Vater im Zelte, die Kinder, wie es sich gebührt, draußen, wohl spielend gedacht.“ 35  Vgl. Vervenne, Sailor, 50. 36  Vgl. K. Neumann, Art. „Scham“, HGANT (2006 ) 355 –357. 37  Westermann, 653. Was die soziale Konvention verlangt, zeigt sehr schön die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführte Notiz aus dem Aqhat-Epos, die von einem Sohn spricht, der die „Hand [des Vaters] ergreift bei Trunkenheit, der ihn trägt bei Sättigung mit Wein“ (KTU3 1. 17 I 30 f ). 38  Schüle, Prolog, 357. 39  Arneth, Adam, 206  f. 32  33 

Noachs Söhne – Hams Sündenfall und Kanaans Erbfluch

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denen in dieser Hinsicht quer durch die alttestamentliche Überlieferung einfach alles zugetraut wird. Damit wird wie mit den folgenden Fluch- und Segenssprüchen ein neuer Ton in der biblischen Urgeschichte angeschlagen: Die Episode mag auf den ersten Blick wie eine narrative Umsetzung der im Epilog der Sintflut formulierten Einsicht in den bleibenden Hang des Menschen zum Bösen wirken. Bei genauerer Betrachtung hebt sie sich aber recht deutlich von ihrem Vorkontext ab, indem sie die anthropologischen Aussagen der Sintfluterzählung in Urteile über abgrenzbare soziale Größen überführt und auf eine nach Fluch und Segen differenzierte Menschheit aufteilt. Die Konsequenz daraus ist, dass aus dem Hang des Menschen zum Bösen diejenige Einzeltat wird, deren Folge die Fluchexistenz Kanaans ist, womit die stereotype Beschreibung der Kanaanäer in der Mehrzahl alttestamentlicher Texte ihre urgeschichtliche Begründung erhält. Die  V. 25 –27 bieten Fluch- und Segensworte und lassen sich abermals 9, 25 –27 in zwei Untereinheiten gliedern. Dem mit „und er sagte“ und folgendem Partizip ( ʾārūr „verflucht“) eingeleiteten Fluchwort gegen Kanaan steht ein ebenfalls mit „und er sagte“ mit folgendem Partizip (bārūk „gesegnet“) eingeleitetes Segenswort für Sem und Jafet gegenüber. Die an die beiden angemessen handelnden Brüder gerichteten Sprüche werden also ungeachtet der Binnendifferenzierung als Einheit aufgefasst. Dies wird durch den gleichlautenden Nachsatz „und Kanaan soll ihr Knecht sein“ unterstrichen, der wiederum das Fluchwort „Knecht der Knechte soll er für seine Brüder sein“ aufgreift. Gleichwohl ist wegen der strengen Parallelität der ersten beiden Sprüche nicht auszuschließen, dass Fluch und Segen für Kanaan und Sem auf älterem Material beruhen, das von dem Verfasser der Erzählung aufgegriffen und um den Segen für Jafet ausgebaut wurde.40 Im vorliegenden Textzusammenhang darf der Segen für Jafet jedenfalls nicht fehlen.41 Die Exposition der Erzählung geht von drei Brüdern aus. Jafet verhält sich wie sein Bruder Sem gegenüber dem Vater mit Respekt. Gerade weil er deswegen mit Notwendigkeit auch des Segens teilhaftig wird, fällt jedoch ein feiner Unterschied auf. Während im Segensspruch für Sem von „Jhwh, dem Gott Sems“ die Rede ist, wird im Segensspruch für Jafet die Gattungsbezeichnung ʾælōhīm „Gott“ verwendet. Hierin kündigt sich bereits die sehr junge Unterscheidung von Verehrern Jhwhs (Sem), Gottesfürchtigen ( Jafet) und Gottlosen (Kanaan) an.42 Der Name Jafet wird etymologisierend mit dem Segenswunsch „Gott schaffe Raum“ (    yapt hi. zu *pth „weit machen“) erläutert, der in Verbindung mit der Aussage vom Wohnen Jafets in den Zelten Sems (vgl. Ps  78, 55; Hab  1, 6) die Anwesenheit dominierender Bevölkerungselemente aus dem Norden in Palästina urgeschichtlich verankert. Eine genauere Zuordnung fällt angesichts der vagen geographischen Vorstellungen zu Jafet in Gen  10 schwer. In der Forschung werden – je nach So Witte, Urgeschichte, 102 –105. Anders Levin, Jahwist, 120. 42  Witte, Urgeschichte, 104. 40  41 

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Genesis 9, 18–29

zugrunde liegender literaturgeschichtlicher Zuordnung – die Philister43, die Phönizier44, Perser45 oder Griechen46 genannt. Gegen die Identifizierung mit den Philistern und Phöniziern spricht, dass diese von der Redaktion in Gen  10, 14. 15 f zu Kanaan und damit zu Ham gezählt werden. Dagegen werden Perser (Madai) und Griechen ( Jawan) in der Völkertafel als Söhne Jafets genannt (Gen  10, 2). Bei einer Identifizierung mit den Griechen wäre an die griechische Dominanz in der Levante seit dem Zug Alexanders d. Gr. (334  –330 v. Chr.) zu denken, bei einer Identifizierung mit den Persern an die von Alexander abgelöste Herrschaft der Achämeniden. Da in V. 27 lediglich der gemeinsame Vorfahre Jafet genannt wird (vgl. Ham als Vater Kanaans), lässt der Wortlaut keine Entscheidung in dieser Frage zu. Beide Möglichkeiten fügen sich gut zu der hier vertretenen Zuordnung des Textes zu der nachpriesterschriftlichen Redaktion, grundsätzliche Erwägungen zur Entstehung des Pentateuchs lassen die Identifizierung mit den Persern als plausibler erscheinen. So oder so ist die Unterscheidung von Verehrern Jhwhs, Gottesfürchtigen und Gottlosen als Gegenentwurf zur priesterschriftlichen Konzeption des einen Gottes zu lesen, der von allen Menschen verehrt wird und dessen wahrer Name Schritt für Schritt erst Abraham und seinen Nachfolgern offenbart werden wird. Eine deutliche Korrektur priesterschriftlicher Vorstellung besteht auch darin, dass unmittelbar nach dem universellen Segen Gottes über Noach und seine Söhne (Gen 9, 1–17 ) unter diesen nach Fluch und Segen differenziert wird. Der ausdrücklich als Erbfluch charakterisierte Fluch über die böse Tat schließt Kanaan auf Dauer aus dem brüderlichen Verhältnis der Menschheit aus, wie es die Priesterschrift in Gen  9, 18a andeutet und in der Völkertafel entfaltet.47 Zudem enteignet der Fluch Kanaan, dem nach der priesterschriftlichen Darstellung Landbesitz zusteht (vgl. Gen  10, 15 –19) und in dessen Gebiet Israel (vorerst) als Fremdling lebt (vgl. Gen 17, 8). Auf diese Weise rechtfertigt sie das biblische Narrativ, wonach Israel später die Kanaanäer weitgehend ausrotten und ihr Land in Besitz nehmen konnte (vgl. Jub 10, 29 –34) In der Auslegungsgeschichte wurde Ham schon früh zum Ahnherrn von Menschen mit schwarzer Hautfarbe, auch wenn in der Bibel davon nichts verlautet. Nach einem kulturübergreifenden Muster wurde das Andere der schwarzen Hautfarbe als Abweichung und das Eigene als Norm angesehen, wobei die Abweichung als Minderung verstanden wurde. Vor diesem Hintergrund bot sich Ham für eine ätiologische Herleitung der schwarzen Hautfarbe besonders an. Durch sein Vergehen an Noach war er ohnehin schon schlecht beleumdet und zudem galt er als Vater von Kusch, den Bewohnern des südlich von Ägypten gelegenen Nubien. Nach einer bei den Rabbi43  Vgl. bereits Wellhausen, Composition, 15.  Ferner von Rad, 104, sowie Ruppert, 414 f, der an die Ausweitung des Machtbereichs der philistäischen Stadtstaaten unter neuassyrischer Herrschaft nach 701 v. Chr. denkt. 44  Budde, Urgeschichte, 315 –320; Holzinger, 91–101. 45  So bereits bJoma 9b. 10 a. Vgl. Schüle, Prolog, 367. 46  Vgl. Witte, Urgeschichte, 315 –320. 47  Vgl. de Pury, Sem, Cham et Japhet, 503 f.

Noachs Söhne – Hams Sündenfall und Kanaans Erbfluch

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nen überlieferten und von islamischen Historikern aufgenommenen Tradition wurde Ham mit einer schwarzen Hautfarbe bestraft, weil er trotz des göttlichen Verbots auf der Arche mit seiner Frau geschlafen hat (BerR XXXVI,  7 ). Im Fortgang der Auslegungsgeschichte kam zunächst im islamischen und später auch im christlichen Kontext die Vorstellung einer doppelten Verfluchung Hams und seiner Nachkommen mit schwarzer Hautfarbe und (statt seines Sohnes Kanaan wie in Gen  9, 25) mit ewiger Sklavenexistenz auf. Sie erlangte vor und nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) eine große Bedeutung, wo sie als vermeintlich biblische Fundierung der Sklaverei diente.48 Der sogenannte „Curse of Ham“ ist auch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um Rassismus und Segregation in den USA stets präsent – sei es nach wie vor zu deren Rechtfertigung, sei es als Beleg für die Mitschuld der biblischen Tradition an der Sklaverei und ihren Folgen.

Der Schluss des Abschnitts geht auf die Priesterschrift zurück. Sie greift mit 9, 28 –29 der Erwähnung der Flut die Chronologie der Exposition in V. 18a auf. Auffällig ist die dabei verwendete Datierung „nach der Sintflut“. Sie ist sonst nur noch in Gen 10, 1. 32; 11, 10 belegt und markiert dort jeweils den „ereignisgeschichtlichen“ Bezugspunkt der Entstehung der Völkerwelt. Diese Perspektive deutete sich schon in V. 19 an, dessen Zugehörigkeit zur Priesterschrift unsicher ist. Doch spätestens jetzt tritt sie auch für die Priesterschrift in den Blick. Darüber hinaus stellt sich die Notiz zu den Lebensjahren Noachs nach der Flut und zu seinem erreichten Alter in eine Reihe mit den Angaben zum Lebensalter Noachs aus Gen 5, 32. Damit schlägt sie am Ende der „Toledot/ Zeugungen Noachs“ einen Bogen zurück zu deren Anfängen (Gen 6, 9a. 10).

48  Vgl. S.R. Haynes, Noah’s Curse. The Biblical Justification of American Slavery, Religion in America Series, Oxford/New York 2002; D.M. Goldenberg, Black and Slave. The Origins and History of the Curse of Ham, SBR 10, Berlin/Boston 2017; J.C. Gertz, Art. Ham, WiBiLex (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/20389; Zugriff 16. 12. 2020).

VIII. Genesis 10, 1–32: Die Völkertafel 10, 1 Und dies sind die Zeugungen der Söhne Noachs, Sem, Ham und Jafet. Diesen1 wurden Söhne geboren nach der Flut. 2 Die Söhne Jafets: Gomer und Magog und Madai und Jawan und Tubal und Meschech und Tiras.   3 Und die Söhne Gomers: Aschkenas und Rifat und Togarma.   4 Und die Söhne Jawans: Elischa und Tarschisch, die Kittäer und die Rodaniter2.   5 Von ihnen verzweigten sich die Inseln der Völker in ihren Ländern, ein jedes nach seiner Sprache, nach ihren Sippen, in ihren Völkern. 6  Und die Söhne Hams: Kusch und Mizrajim und Put und Kanaan.   7  Und die Söhne Kuschs: Seba und Hawila und Sabta und Ragma und Sabtecha. Und die Söhne Ragmas: Saba (Scheba) und Dedan.   8  Und Kusch zeugte Nimrod. Er war der erste Held auf Erden.   9 Er war ein Held der Jagd vor Jhwh. Daher sagt man: Wie Nimrod – ein Held der Jagd vor Jhwh.   10 Und der Anfang seines Königreiches war Babel und Erech und Akkad, und sie alle3 lagen im Land Schinar.   11 Von diesem Land zog er aus nach Assur 4, und er erbaute Ninive und die Stadtplätze5 und Kelach,   12 und Resen zwischen Ninive und Kelach, das ist die große Stadt.   13  Und Mizrajim zeugte die Luditer und die Anamiter und die Lehabiter und die Naftuhiter.   14 Und die Patrositer und die Kasluhiter, von dort kommen die Philister her, und die Kaftoriter.   15  Und Kanaan zeugte Sidon, seinen Erstgeborenen, und Het   16 und den Jebusiter und den Amoriter und den Girgaschiter   17 und den Hiwiter und den Arkiter und den Siniter   18 und den Arwaditer und den Zemariter und den Hamatiter. Später aber zerstreuten sich die Sippen der Kanaanäer.   19 Und das Gebiet der Kanaanäer reichte von Sidon in Richtung Gerar bis Gaza, in Richtung Sodom und Gomorra und Adma und Zebojim bis Lescha.   20 Dies sind die Söhne Hams nach ihren Sippen, ihren Sprachen, in ihren Ländern, in ihren Völkern. Zum Gebrauch des Imperf. cons. vgl. GK §  111h und Gen 22 , 24. Vgl. Sam; LXX; 1Chr 1, 7. MT: Dodaninter, vermutlich eine Verschreibung von Reš ‫( ר‬Rodan) zu Dalet ‫( ד‬Dodan). 3  MT liest hier den Ortsnamen „Kalne“. Ursprünglich dürfte der Text w  e-kullānā „und sie alle“ gelautet haben. Vgl. W.F. Albright, The End of ‚Calneh in Shinar‘, JNES 3 (1944) 254  f. 4  Richtungsakkusativ, vgl. GK §  118 d–f. Subjekt von V. 11 f ist Nimrod (so explizit TJ). Anders die LXX, die Assur wie in V. 22 als Personenname versteht und als Subjekt des Satzes auffasst: „Aus jenem Land kam Assur und er erbaute Ninive …“. 5  Der Ausdruck r   eḥōbōt ʿīr wird häufiger als Stadtname („Rehobot-Ir“) verstanden. Doch schon die rein hebräische Formulierung legt die Vermutung nahe, dass er wie auch sonst die „Plätze und Straßen der Stadt“ (hier: Ninives) bezeichnet (Ri  19, 15. 17; 2Chr  32 , 6; Est  4, 6; 6, 9. 11; Hhld  3, 2; Klgl 2 , 12; Sach 8, 5). 1  2 

Die Völkertafel

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21 Und auch Sem, dem Vater aller Söhne Ebers, dem älteren Bruder Jafets6, wurde geboren.   22  Die Söhne Sems: Elam und Assur und Arpachschad und Lud und Aram7.   23 Und die Söhne Arams: Uz und Hul und Geter und Masch.   24 Und Arpachschad zeugte Schelach, und Schelach zeugte Eber.   25 Und Eber wurden zwei Söhne geboren. Der Name des einen war Peleg, denn zu seiner Zeit verteilte sich die Menschheit 8, und der Name seines Bruders war Joktan.   26  Und Joktan zeugte Almodad und Schelef und Hazarmawet und Jerach   27 und Hadoram und Usal und Dikla   28 und Obal und Abimaël und Saba (Scheba)   29 und Ofir und Hawila und Jobab. Diese alle sind die Söhne Joktans.   30 Und ihr Wohngebiet reichte von Mescha in Richtung Sefar bis an das Ostgebirge.   31 Dies sind die Söhne Sems nach ihren Sippen, nach ihren Sprachen, in ihren Ländern, gemäß ihren Völkern. 32 Dies sind die Sippen der Söhne Noachs nach ihren Zeugungen in ihren Völkern, und von ihnen aus verzweigten sich die Völker9 auf der Erde nach der Flut. Analyse: Priesterschrift: Gen  10, 1–7. 20. 22 –23. 31–32; Redaktion und spätere Fortschreibungen: Gen 10, 8 –19. 21. 24  –30.

Die Völkertafel in Gen  10, 1–32 bietet eine genealogisch und geographisch Kontext angelegte Übersicht über die Nachkommen der Söhne Noachs, die als Stammväter der Völker der Erde betrachtet werden. Innerhalb der Urgeschichte markiert sie einen Epocheneinschnitt: Endete die voraufgehende Geschichte Noachs mit einer Notiz über dessen Lebensjahre nach Ende der Flut ( ʾaḥar ham-mabbūl ; Gen  9, 28) und seinem Tod (Gen  9, 29), so nehmen Auftakt und Abschluss der Völkertafel den Hinweis auf das Flutende wörtlich auf (Gen  10, 1. 32), der dann nochmals im Zusammenhang der Geburt des ersten Sohnes Sems begegnet (Gen  11, 10). Auf diese Weise werden die Völkertafel in Gen 10, 1–32 und die Genealogie Sems in Gen 11, 10 –26 sowie die dazwischen eingestellte Turmbauerzählung in Gen 11, 1–9 zu einem eigenen Abschnitt innerhalb der Urgeschichte zusammengefasst. Dieser liegt als Übergang von den noch vor der Flut geborenen Söhnen Noachs zu Terach, dem Vater Abrahams, gleichsam „zwischen den Zeiten“.10 Sein Thema ist die Ausdifferenzierung der einen Menschheit zur nachsintflutlichen Völker6  Die  LXX bezieht hag-gādōl „der ältere/größere“ auf Jafet und übersetzt ἀδελφ Ιαφεθ τοῦ μείζονος „dem Bruder Jafets, des älteren“. Damit trägt sie die Vorstellung ein, dass wie bei den

Erzvätern der jeweils jüngere Sohn der Verheißungsträger sei. So auch ein Teil der rabbinischen Auslegung und in jüngerer Zeit B. Hensel, Die Vertauschung des Erstgeburtssegens in der Genesis. Eine Analyse der narrativ-theologischen Strukturen des ersten Buches der Tora, BZAW 423, Berlin/New York 2011, 75  f. MT ist aber in Übereinstimmung mit Gen 5, 32; 9, 18; 10, 1 so zu verstehen, dass hag-gādōl Apposition zu ’aḥī „Bruder“ ist. 7  Die LXX erwähnt noch einen weiteren Sohn Καιναν. Vgl. dazu S. 348 Anm. 3 zu Gen 11, 12 . 8  Wörtlich „Welt/Erde“. TN liest hier wie Gen 11, 1 verdeutlichend „alle Bewohner der Erde“. 9  LXX und Sam wie in V. 5 „die Inseln der Völker“. 10  Vgl. Witte, Urgeschichte, 48 f: „Zwischenzeit“.

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Genesis 10, 1–32

welt, einbegriffen die Anfänge der auf Abraham und seine Nachkommen hinauslaufenden Geschichte Israels. Darin äußert sich ein dreifaches Erzählinteresse: „Die Erzähler empfinden an diesem Punkte, wo sie die Geschichte der Urmenschheit abschließen und sich zu den Vorfahren Israels wenden, das wissenschaftliche Bedürfnis, etwas über die Entstehung der Völker zu sagen, das ästhetische, die Urgeschichte deutlich abzuschließen, und nicht zuletzt das religiöse, die Erwählung Israels aus der Masse der Völker deutlich zu machen.“11 Aufbau Die Überschrift „Toledot/Zeugungen der Söhne Noachs, Sem, Ham und

Jafet“ grenzt die Völkertafel deutlich nach vorne von der Geschichte Noachs ab. V. 32 greift die Überschrift auf („Söhne Noachs“, „Toledot/Zeugungen“, „nach der Flut“) und markiert ihren kolophonartigen Abschluss gegenüber der folgenden Turmbauerzählung. Diese will wiederum als rückblickende Entfaltung der Notiz über das Werden der Völker nach der Flut (V. 32b) gelesen sein. Die Reihenfolge der Söhne Sem, Ham und Jafet ist aus Gen 5, 32; 6, 10; 7, 13; 9, 18a (alle P) bekannt. Die Durchführung der segmentär angelegten Genealogie in V. 2 ff kehrt die Reihenfolge dann jedoch um. Sie setzt mit dem jüngsten Sohn ein, da sie auf eine Fortsetzung hin angelegt ist und auf den Erstgeborenen Sem abzielt, dessen Genealogie in Gen  11, 10 –26 (P) im Hinblick auf die Vorfahren Abrahams entfaltet wird. Zugleich ergibt sich eine grobe geographische Ordnung der Völkerwelt, die aus judäischpalästinischer Perspektive von den äußersten Rändern im Norden, Nordwesten und Nordosten ( Jafet), über den Süden (Ham, mit der begründeten Ausnahme Kanaans, s.  u. zu V. 6) zur Mitte (Sem) fortschreitet. Die Gen  10 entlehnte und sprachwissenschaftlich überholte Einteilung in drei Sprachfamilien (August Ludwig von Schlözer [1735 –1809]; Johann Ludwig Krapf [1810 –1881]) spielt hingegen keine Rolle, da die Sprachenvielfalt in Gen  10 nicht zwischen, sondern innerhalb der Völkergruppen als Unterscheidungsmerkmal dient.12 Die Abschnitte zu den drei Söhnen (1. Jafet in V. 2 –5; 2. Ham in V. 6 –20; 3.  Sem in V. 21–31) besitzen jeweils eine eigene Überschrift (V. 2. 6. 21 f ) und eine sachlich identische Unterschrift mit den zum Teil unterschiedlich gereihten Stichwörtern „in ihren Ländern“, „nach ihren Sprachen“, „nach ihren Sippen“, „in/gemäß ihren Völkern“ (V. 5. 20. 31). Durch die Über- und Unterschriften wird die Mannigfaltigkeit der Welt strukturiert und zugleich dargelegt, „wie sich die ethnische, geographische, sprachliche und familiäre Vielfalt der Menschheit aus den drei großen Völkergruppen entwickelt hat“13. Dabei präsentiert die Völkertafel eine exemplarische Vollständigkeit. Die jeweiligen Teilunterschriften deuten zwar eine vollzählige Auflistung der Völker an, aber die genannten Stichwörter stellen Gunkel, 86  f. Vgl. Hölscher, Erdkarten, 45 Anm. 1. 13  Hieke, Genealogien, 107. 11  12 

Die Völkertafel

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ähnlich wie das jeweils resümierende „nach ihrer Art“ im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gen  1, 11. 12. 21. 24. 25) in erster Linie den systematisierenden Aspekt der Aufzählung heraus. Auf diese Weise geben sie zu erkennen, dass „die Gliederung im einzelnen eine reichere ist“14. Auch ist die genealogische Darstellung prinzipiell für eine Fortentwicklung der Ausdifferenzierung offen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Linien einiger Ahnherren („Enkel Noachs“) nicht weiter aufgefächert werden. So fehlen von den Nachkommen Sems schon mit Rücksicht auf den Fortgang der Genealogien im Buch Genesis und des Erzählverlaufs die von Abraham hergeleiteten Völker. Die Zahl der aufgelisteten Völker schwankt je nach Textgrundlage und Zählweise zwischen 70 und 72  Völkern. Die Zahl  70 signalisiert Vollständigkeit und ist im Alten Testament wiederholt für die Größe einer Personengruppe belegt (Ri  8, 30; 2Kön  10, 1). Besonders prominent ist die Zahl  70 für die Nachkommen Jakobs in Ägypten (Gen 46, 27; Ex 1, 5; Dtn 10, 22), die schon frühzeitig mit der Zahl der Völker aus Gen 10 in Verbindung gebracht wurde. So liest MT in Dtn 32, 8: „Als der Höchste den Völkern (gōyīm) ihren Erbbesitz zuteilte, als er die Menschen voneinander schied (*prd; vgl. Gen 10, 32), bestimmte er die Gebiete der Völker ( ʿammīm) nach der Zahl der Söhne Israels (benē Yiśrā   ʾēl ).“ In dieser Perspektive korrespondiert der Makrokosmos der Völkerwelt mit dem Mikrokosmos des Volkes Israel.15 Doch gehören derartige Überlegungen bereits in die (innerbiblische) Auslegungsgeschichte der Völkertafel: Zum einen steht die Zahl der Völker in Gen  10 am Ende eines mindestens zweistufigen redaktionellen Prozesses, weshalb es sehr unsicher ist, dass sie „planmäßig“ entstanden ist.16 Zum anderen ist die Anspielung von Dtn  32, 8 auf Gen  10 das Ergebnis einer textgeschichtlich späten dogmatischen Korrektur. Diese hat, eventuell angeregt durch Gen 10, in Dtn 32, 8 ein ursprüngliches „Zahl der Söhne Gottes“ (b enē ʾēl/ ʾæl  ōhīm) in das „Zahl der Söhne Israels“ (b enē Yiśrā   ʾēl ) des masoretischen Textes geändert.17

Nach einem weitgehenden Konsens lassen sich in Gen 10, 1–32 zwei Schich- Entstehung ten voneinander abheben.18 Diese Einschätzung beruht auf folgenden stilistischen und inhaltlichen Beobachtungen: (1.) Die Struktur der Völkertafel wird von einer nominalen Auflistung von Einzelpersonen geprägt („[Und] die Söhne von NN: NN1 und NN2 …“). Zusammen mit den Rahmenversen bildet sie für sich gelesen eine kohärente Texteinheit (V. 1–7. 20. 22  f. 31 f ). Daneben finden sich genealogische Notizen, die durchweg als Verbalsätze formuliert sind („NN zeugte/wurde Vater von NN1, NN2  …“; *yld q./q. pass.) und darüber hinaus weiteres Erzählmaterial beisteuern (V. 8 –19. 21. 24  –30). (2.) Die nominale Auflistung bietet nahezu ausschließlich PerDillmann, 170. Vgl. TJ und Raschi zu Dtn 32 , 8, ferner Jacob, 295 f; Millard, Genesis, 57  f. 16  Dillmann, 170. 17  Die  LXX bietet κατὰ ἀριθμὸν ἀγγέλων θεοῦ und dürfte in ihrer hebräischen Vorlage b enē ʿēl/ ʿælōhīm gelesen haben. Diese Lesart wird durch 4QDeutj (DJD XIV, 75 –91, 90) bestätigt. 18  Deutliche Vorbehalte zuletzt bei Hieke, Genealogien, 99 –107; Jericke, Weltkarten. 14  15 

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Genesis 10, 1–32

sonennamen und „sekundäre“ Ortsnamen, d.  h. Ortsangaben, die in Gen 10 als Personen- und Völker- oder Stammesnamen verwendet werden.19 Die verwendeten Namen weisen eine hohe Übereinstimmung mit der Auflistung der Handelsbeziehungen der phönizischen Stadt Tyrus in Ez  27 auf. Hingegen kommen in dem anderen Schema nur wenige Personennamen bzw. „sekundäre“ Ortsnamen vor, dafür aber genuine Völkernamen (bzw. Gentilicia in V. 16 –18), sowie bei der Beschreibung von Nimrods Herrschaft und der Grenzen des kanaanäischen Gebietes „primäre“ Ortsnamen, d.  h. Ortsangaben, die sich vom Textzusammenhang her eindeutig auch als solche zu erkennen geben. Die in den erzählenden Passagen verwendeten Namen weisen nur eine sehr geringe Übereinstimmung mit Ez 27 auf. (3.) Die stilistisch auffällige Zusammenstellung der beiden genealogischen Grundtypen führt zur Doppelung einiger Namen. Für Mizrajim (V. 6. 13), Kanaan (V. 6. 15) und Arpachschad (V. 22. 24) bereitet dies keine inhaltlichen Schwierigkeiten. Bedeutungsvoller ist, dass Assur in den erzählenden Passagen im Kontext der Söhne Hams als primärer Ortsname verwendet wird (V. 11: er zog nach Assur), während es sich in der nominalen Auflistung um einen „sekundären“ Ortsnamen handelt und Assur einer der Söhne Sems ist (V. 22). Dass schließlich Hawila und Saba (Scheba) einerseits zu den Söhnen Hams (V. 7 ) und andererseits zu den Söhnen Sems (V. 28 f ) gezählt werden, lässt sich kaum noch auf eine Hand zurückführen. Konzeptionelle Unterschiede verbinden sich auch mit der doppelten Erwähnung von Kusch. In der nominalen Auflistung dürfte an die südlich von Ägypten gelegenen Regionen gedacht sein (V. 6), während Kusch in den erzählenden Passagen eine deutliche Affinität zu Mesopotamien aufweist, das wiederum nach der nominalen Auflistung zu Sem gehört (s.  u. zu V. 8). Sodann stellt V. 21 eine Doppelung zur Teilüberschrift in V. 22 dar, und die Ausführungen in V. 24 f nehmen den Beginn der Genealogie Sems in Gen 11, 10 –26 vorweg. (4.) Die literarische Mehrschichtigkeit zeigt sich schließlich daran, dass eine kartographische Umsetzung der Völkertafel allenfalls für die isolierte nominale Auflistung gelingen will.20 Das durch die nominale Auflistung von Namen geprägte Schema in Gen  10,1–7. 20. 22  f. 31 f geht auf die Priesterschrift zurück. Kennzeichen sind die Toledotformel, die nur in priesterschriftlichen Texten belegten Namen der drei Söhne Noachs (Gen  5, 32; 6, 10; 7, 13; 9, 18a), die Nähe der Unterschriften in V. 5.  20. 31 zu der systematisierenden Formel „nach ihrer Art“  im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gen  1, 11. 12. 21. 24. 25) 19  Lediglich in dem wahrscheinlich nachgetragenen V. 4b begegnen Völkernamen. Zur Unterscheidung von „primären“ und „sekundären“ Ortsnamen in Gen  10 vgl. Jericke, Weltkarten. Die LXX trägt der „Personalisierung“ der Ortsnamen Rechnung, indem sie die Ortsnamen transkribiert und nicht wie sonst mit den geläufigen griechischen Ortsnamen wiedergibt. So bietet sie für Mizrajim in V. 6 (und 13) Μεσραιμ statt des üblichen Αἴγυπτος (Ägypten) bzw. Αἰγύπτιος (Ägypter). 20  Zum Problem vgl. Witte, Völkertafel, Punkt 2; Jericke, Weltkarten. Für eine Umsetzung (und deren Probleme) vgl. Hölscher, Erdkarten, 45 –  47; W. Zwickel u.  a. (Hg.), Herders Neuer Bibelatlas, Freiburg 2013, 97.

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sowie der bruchlose Anschluss an die voraufgehenden priesterschriftlichen Passagen (Gen  9, 1–18a. 19[  ?  ]. 28 –29). Hinzu kommen konzeptionelle Erwägungen: Die Priesterschrift erwähnt auffällig häufig die drei Söhne Noachs. Daher ist zu erwarten, dass sie deren Bedeutung für die nachsintflutliche Menschheit aufzeigt. Die priesterschriftliche Genealogie Sems in Gen  11, 10 –26 leistet dies gerade nicht, wohl aber die Völkertafel in Gen 10*.21 Ein Blick auf die Neufassung des Mehrungssegens nach der Flut mag dies verdeutlichen.22 Die Priesterschrift hat mit der Genealogie in Gen  5 die Auswirkung des Mehrungssegens in Gen 1, 28 entfaltet. Hinsichtlich der Wiederholung des Mehrungssegens nach der Flut in Gen  9, 1 kommt diese Funktion der Völkertafel zu. Da der erneute Mehrungssegen Noach und seinen drei Söhnen gilt, von denen sich die Völker der Erde herleiten (vgl. Gen  9, 1. 19), konnte sein Wirksamwerden nicht exklusiv an der Linie der Söhne Sems vorgeführt werden. Hierzu bedurfte es vielmehr der universalistischen Perspektive der Völkertafel, mit der diese obendrein auf einer Linie mit den Aussagen zur Menschenschöpfung des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes liegt. Die Einsicht in den konzeptionellen Zusammenhang von Menschenschöpfung, Mehrungssegen und Völkertafel hat im Übrigen schon der Verfasser der Apostelgeschichte dem Völkerapostel Paulus in den Mund gelegt: „Aus einem einzigen Menschen hat er das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die Erde bewohne, so weit sie reicht. Er hat ihnen feste Zeiten bestimmt und die Grenzen ihrer Wohnstätten festgelegt“ (Apg 17, 26). Innerhalb des priesterschriftlichen Textes ist V. 4b ein Nachtrag, der eventuell zu einer Reformulierung von V. 5a geführt hat (s.  u. zu Gen 10, 2 –5). Gegen die traditionelle Zuordnung von Gen  10, 1–7. 20. 22 –23. 31–32 zur Priesterschrift wurde in jüngerer Zeit vereinzelt Widerspruch erhoben: „In Gen  10 hat die neuere Auslegung seit Schrader [Studien zur Urgeschichte 1863] sich durch die Endredaktion beständig an der Nase führen lassen: Das Toledotschema in V. 1 und V. 32 gehört nicht der Priesterschrift, sondern ahmt sie nach, um den jehowistischen Text  V. 2 –31* einzubinden.“23 Folgende Gründe werden für diese Annahme angeführt: Die Rahmung in V. 1 und V. 32 sei ebenso wie der nominale Stil für die Priesterschrift untypisch; die Reihenfolge der Söhne Noachs in V. 2 ff* unterscheide sich von derjenigen der Priesterschrift in 5, 32 u.ö; die Auflistung der Söhne Sems in V. 22 –24. 32 sei eine Dublette zur priesterschriftlichen Genealogie Sems in 11, 10  ff. Hierzu ist Folgendes zu bedenken: Rahmung und nominaler Stil haben Entsprechungen in den priesterschriftlichen Genealogien Esaus und Ismaels in Gen  25, 12 –18; 36.  Zudem erklären sich die Unterschiede hinreichend damit, dass Gen  10 anders als Gen  5 und 11, 10 ff eine segmentäre Genealogie bietet. Dass die Durchführung in V. 2 ff* von den Nachkommen des jüngsten Sohnes Jafet über diejenigen des mittleren Sohnes Ham zu Noachs erstgeborenem Sohn Sem fortschreitet, beruht nicht Vgl. Dillmann, 163. Vgl. Crüsemann, Menschheit, 193; Witte, Völkertafel, Punkt 4; Hieke, Völkertafel, 33. 23  Levin, Jahwist, 121–126 (Zitat a.a.O., 124), gefolgt und argumentativ entfaltet von Carr, Fractures, 99 –101; Kratz, Komposition, 239. 21  22 

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auf einer von der Priesterschrift verschiedenen Konzeption. Die Voranstellung der Nebenlinien ist vielmehr dem priesterschriftlichen Kontext geschuldet, der sich im Fortgang auf die Nachkommen Sems konzentriert (Gen  11, 10 –26 P). Wie gesehen, gilt dies ebenfalls für die vorliegende Gestalt von Gen  10, 1–11, 26. Nur hat hier die erzählerische Entfaltung der Entstehung der Völker (Gen 10, 32b P) durch die Turmbauerzählung (Gen  11, 1–9 non-P) dazu geführt, dass mit dem Nachtrag V. 24 f die wichtigste Linie der Söhne Sems schon in der Völkertafel genannt wird (vgl. V. 24  f mit Gen 11, 10 –17 ). Damit ist die Bewertung von V. 22 –24. 32 als Dublette angesprochen. Sie beruht ganz wesentlich auf V. 24 und übersieht, dass dieser Vers aus der nominalen Auflistung herausfällt und einer anderen Hand zuzuweisen ist. Von V. 24 abgesehen, handelt es sich schon deswegen um keine Dublette, weil es in Gen 10* um alle Nachkommen der Söhne Noachs geht und damit auch um alle Söhne Sems. Die auf die „Söhne Terachs“ hinführende lineare Genealogie in Gen 11, 10 ff ist hingegen nur an Sems Sohn Arpachschad und dessen Nachkommen interessiert. Sie bleiben deswegen in V. 22 . 23 ausgespart und werden konsequenterweise und konzeptionell stimmig erst in Gen 11, 10 ff aufgezählt.

Die Einordnung des durch Verbalsätze geprägten Schemas in Gen  10, 8 – 19. 21. 24  –30 und die damit verbundene Frage nach der Entstehung der vorliegenden Gestalt der Völkertafel werden kontrovers diskutiert. Gängig ist die Zuweisung an eine weitere Quellenschrift innerhalb der biblischen Urgeschichte (den „Jahwisten“ der Neueren Urkundenhypothese), die durch einen Redaktor mit dem priesterschriftlichen Erzählfaden verbunden wurde.24 Diese Lösung hat gegen sich, dass der „jahwistische“ Erzählfaden fragmentarisch ist.25 Auch gelingt es nicht, innerhalb des „jahwistischen“ Textes einen passenden Anschluss für das erste „jahwistische“ Fragment in V. 8 zu identifizieren. Zudem ergeben die „jahwistischen“ Fragmente keinen in sich stimmigen Text, wie der mutmaßliche Übergang von V. 21 zu V. 24 deutlich zeigt. Nun ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Redaktor zwei Quellenschriften verbunden hat, indem er die eine als Grundlage benutzt und nur um Fragmente aus der anderen Quellenschrift ergänzt hat. Wahrscheinlicher ist indes, dass die nicht-priesterschriftlichen Stücke von vornherein als Ergänzung zum priesterschriftlichen Grundbestand von Gen 10* konzipiert worden sind. Für diese Annahme spricht allein schon, dass die als Verbalsätze formulierten genealogischen Notizen syntaktisch und sachlich gut an den priesterschriftlichen Vorkontext anschließen.26 Auf das Interesse der Redaktion(en), das zur Ergänzung der priesterschriftlichen Völkertafel geführt hat, und auf die Frage, ob die Redaktion(en) auf vorgegebenes Ma24 

129.

Grundlegendend Wellhausen, Composition, 4  –6, und Gunkel, 84, in jüngerer Zeit Seebaß,

25  Dies wird von Vertretern der Neueren Urkundenhypothese unisono zugestanden. Anders Tengström, Toledotformel, 22 f; Van Seters, Prologue, 174  –187; Levin, Jahwist, 121–126, die auf der Grundlage einer zum Teil deutlich abweichenden Bestimmung des „jahwistischen“ Textbestandes von einer jahwistischen Grundschicht und priesterlichen bzw. nachpriesterschriftlichen Ergänzungen ausgehen. 26  Vgl. Witte, Urgeschichte, 100 –114; ders., Völkertafel, Punkt  2; Arneth, Adam, 211–220; Knohl, Nimrod, 47 f; Bührer, Nimrod, 11–13.

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terial zurückgreifen konnten, wird jeweils bei der Auslegung zurückzukommen sein. Die Priesterschrift beschreibt die differenzierte Zusammengehörigkeit der Völkerihr bekannten Völkerwelt als Verwandtschaft der Stammväter der einzelnen tafel P Völker. Sie alle sind Kinder, Enkel, Urenkel Noachs und seiner drei Söhne. Die Vorstellung mutet naiv an, doch es ist durchaus denkbar, dass es sich in erster Linie um eine Darstellungsform handelt, die zwar dem genealogischen Denken verhaftet ist, der es aber weniger um eine Personengeschichte als um die Ordnung des Mannigfaltigen geht.27 Hierfür sprechen der unverkennbar exemplarische Charakter der Genealogie, die nur die Linien einiger Ahnherren ausführt, sowie die Schlussklauseln zu den Söhnen Jafets, Hams und Sems sowie zur ganzen Völkertafel, die ähnlich wie das „nach ihrer Art“ im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht diesen systematisierenden Aspekt hervorheben. Insofern ist es berechtigt, von einem frühen Entwurf der Ethnologie und Geographie zu sprechen. Dieser bezeugt wie zuvor schon die Strukturierung der Welt durch die Kategorien Raum und Zeit sowie durch die Taxonomie der belebten und unbelebten Natur einen Geist der Gelehrsamkeit, der um die erfahrungsgeleitete Erfassung des Weltganzen bemüht ist und den seine Verfasser mit den Bildungseliten des östlichen Mittelmeerraums ihrer Zeit teilen. So lässt sich unbeschadet der Tatsache, dass diese Gelehrsamkeit in der Völkertafel (wie auch im Schöpfungsbericht) eine ganz individuelle Ausdrucksform gefunden hat,28 ein vergleichbares Interesse an einer ethno-geographischen Klassifizierung auch andernorts beobachten. Die Verwendung von „sekundären Ortsnamen“ und die Einteilung der Welt in drei Regionen entspricht einer seit der Mitte des 1.  Jt. v. Chr. belegten Darstellungskonvention griechischer Autoren.29 Eine oft genannte, bei genauerer Betrachtung jedoch nur entfernte literarische Analogie bietet der „Katalog der Frauen“, ein wohl im ausgehenden 7. Jh. v. Chr. oder frühen 6.  Jh. v. Chr. entstandener anonymer Anhang zur Theogonie des Hesiod.30 Hierbei handelt es sich um eine Aufstellung griechischer Vgl. u.  a. Westermann, 673; Hieke, Völkertafel, 24. In der Literatur wird oft betont, dass „die Völkertafel als solche einzigartig ist und weder im AT noch außerhalb eine Parallele hat“ (Westermann, 670; vgl. Crüsemann, Menschheit, 187; Witte, Völkertafel, Punkt  4; Hieke, Völkertafel, 30 f ). Das ist wie schon für Gen  1 mit Blick auf die Gattung und die konkrete inhaltliche Ausgestaltung richtig. Dies gilt jedoch nicht für die zugrundeliegende, im 8. bis 6. Jh. v. Chr. im ostmediterranen Raum neu aufkommende naturkundlich-empirische Erfassung der Welt, die in den verschiedenen Kulturen individuelle, gleichwohl vergleichbare Ausdrucksformen gefunden hat. Zur Stellung der Priesterschrift im Kontext der Wissenschaftskulturen des östlichen Mittelmeerraums vgl. Gertz, Polemik, bes. 149  ff. 29  Vgl. Jericke, Ortsangaben, 73, mit Hinweis auf die bei Herodot kritisch referierte Aufteilung der Welt auf die drei Kontinente Libyen, Asien und Europa (Hdt. IV 42). 30  Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion bei M. Hirschberger, Gynaikon Katalogos und Megalai Ehoiai. Ein Kommentar zu den Fragmenten zweier hesiodeischer Epen, BzA 198, München/Leipzig 2004, 42 –51. Zum Verhältnis zu Gen  10 R.S. Hess, The Genealogies of Genesis 1–11 and Comparative Literature, Bib. 70 (1989) 241–254, 251–253; G. Darshan, The Biblical 27 

28 

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Mythen und Mythenfiguren, die jeweils von einer Stammmutter ausgehend in verschiedene genealogische Zusammenhänge gestellt werden und auf diese Weise zugleich eine geographische Beschreibung des den Griechen bekannten Mittelmeerraums geben. Das grundlegende Interesse an einer ethno-geographischen Erfassung der Welt bezeugen neben den u.  a. bei Herodot notierten Fernerkundungen auch die altvorderorientalische und die griechische Kartographie.31 Wegen der schon in Gen  1 zu beobachtenden Nähe zu den ionischen Naturphilosophen und zu der seinerzeit führenden Wissenschaft Babylons sind unter ihnen die (nicht erhaltenen) Erdkarten des Anaximander von Milet (um 610/09 –547/46 v. Chr.) und des Hekataios von Milet (um ca. 560 –  480 v. Chr.) sowie die aus dem ausgehenden 8. Jh. v. Chr. stammende „Babylonische Weltkarte“ hervorzuheben.32 Das geographische Material dürfte die Priesterschrift aus Listen von Handelspartnern wie der phönizisch vermittelten Handelsliste in Ez  2733 oder Länderlisten wie in der Behistun-Inschrift des Achämeniden Darius I. (522 –  486 v. Chr.) entnommen haben: „Es kündet Darius der König: Dies sind die Länder, die mir zugekommen sind – nach dem Willen Ahuramazdas war ich ihr König: Persien, Elam, Babel, Assyrien, Arabien, Ägypten, die Meerbewohner, Sardes, Ionien, Medien, Armenien, Kappadokien, Parthien, Drangiana, Areia, Chorasmien, Baktrien, Sogd, Gandhara, Skythien, Sattagydien, Arachosien, Makar, insgesamt 23 Länder … Sie brachten mir Tribut. Was ihnen von mir gesagt wurde, sei es bei Nacht oder bei Tage, das taten sie  … Nach dem Willen Ahuramazdas haben diese Länder mein Gesetz befolgt.“34 Derartige Listen und Aufstellungen wird es schon am Jerusalemer Königshof gegeben haben. Daher ist zu vermuten, dass die Autoren der Priesterschrift auf derartiges Material, das sich naturgemäß nicht näher datieren lässt, zurückgegriffen haben. Der Gesamtentwurf einer in die Urgeschichte aufgenommenen Völkertafel stammt jedenfalls aus der Perserzeit. Account of the Post-Diluvian Generation (Gen. 9:20 –10:32) in the Light of Greek Genealogical Literature, VT 63 (2013) 515 –535. Übersetzung (in Auswahl): Hesiod, Sämtliche Gedichte. Theogonie, Erga, Frauenkataloge, hrsg. von W. Marg, Die Bibliothek der alten Welt: griechische Reihe, Zürich 1970, 395 –536. 31  Vgl. A.-M. Wittke/E. Olshausen/R. Szydlak, Historischer Atlas der antiken Welt, Stuttgart/ Weimar 2012 , 4  –9 (mit weiterer Literatur). 32  Vgl. a.a.O., 4 f und Horowitz, Geography, 20 –  42 , zur „Babylonischen Weltkarte“. 33  Vgl. M. Saur, Der Tyroszyklus des Ezechielbuches, BZAW  386, Berlin/New York 2008, 66 –71, 197–237. 34  Einleitung und Übersetzung: R. Borger/W. Hinz, Die Behistun-Inschrift Darius’ des Großen, TUAT I, 419 –  450, 423  f. Die Liste, die z.  B. über aramäische Papyrusabschriften auch in der jüdischen Kolonie auf der Nilinsel Elephantine bekannt war, begegnet in ähnlicher Gestalt in einer Monumentalinschrift am Südzugang zum persischen Königspalast in Persepolis, während ein großes Relief an der Osttreppe zum Audienzsaal den König zeigt, wie er die Repräsentanten aller Länder seines Reiches empfängt, die sich ihm in einem langen Aufzug von Süden her nähern und sich anhand ihrer Tracht und der mitgebrachten Gaben unterscheiden lassen. Vgl. H. Koch, „Es kündet Dareios der König …“. Vom Leben im persischen Großreich, Kulturgeschichte der antiken Welt 55, Mainz 1992 , 78 –162 . Text und Übersetzung: dies., Texte aus Iran, TUAT NF 2 , 283 –306, 293.

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Gegen diese Datierung wird mitunter das Fehlen der Perser in der Völkertafel vorgebracht. Doch wird auf die Perser über die Erwähnung von Madai, dem Sohn Jafets und Stammvater der Meder, verwiesen (V. 2; vgl. Jes 13, 17; 21, 2). Ob sich in dem Verzicht auf das im Alten Testament belegte Pāras „Perser“ (vgl. Ez  27, 10) ein verhalten geäußerter Vorbehalt gegenüber der imperialen Hegemonie der Achämeniden äußert,35 ist schwer zu beurteilen. Auffällig ist jedenfalls, dass die Priesterschrift keinen Hinweis auf einen König enthält. Auch ist die Völkertafel nicht um das ohnehin nur perspektivisch erwähnte Israel oder um ein anderes politisches oder kultisches Zentrum herum organisiert. Dadurch unterscheidet sie sich ebenfalls deutlich von den achämenidischen Monumentalinschriften. Deren Anordnung der Völker des persischen Großreiches erfolgt konzentrisch, das gedachte Zentrum bildet der Großkönig, dem die Herrschaft über die Völker nach göttlichem Willen zukommt. Nach Herodot ist mit dieser Anordnung dann auch eine deutliche Wertung verbunden: „Die nächsten Nachbarn genießen – nach ihnen selbst – das größte Ansehen von allen; dann kommen die entfernteren. Danach ehren sie die anderen, schrittweise abwärts. Am wenigsten gelten ihnen die Völker, die am entferntesten wohnen. Sie sind eben der Überzeugung, sie selbst seien die weitaus besten von allen Menschen, die anderen hielten es entsprechend ihrer Entfernung mit der Tüchtigkeit, die von ihnen fernsten aber seien die geringsten.“ (Hdt. I 134). Demgegenüber zeichnet die Priesterschrift das Ideal einer sich friedlich ausdifferenzierenden Welt gleich geachteter Völker, in der sich der an Noach und seine Söhne ergangene Mehrungssegen erfüllt (Gen 9, 1) und in der alle existierenden Völker zu der von Gott geschaffenen Menschheit gehören (Gen  1, 26 f ). Damit widerspricht die Priesterschrift vehement der nicht nur in antiken Völkerdarstellungen vielfach wahrnehmbaren ethnozentrischen und teilweise xenophoben Tendenz, strikt zwischen den Angehörigen des eigenen Volkes und denen fremder Völker zu unterscheiden. Desgleichen spielen Herrschaftsverhältnisse (noch) keine Rolle. Erst die Redaktoren von Gen 10 haben die politische Dimension von Herrschaft und Gewalt in die Völkertafel eingetragen (V. 8 –12). Die Überschrift reiht die Völkertafel in die Reihe der Toledot/Zeugungen 10, 1 ein. Sprachlich auffällig ist die Stellung der Apposition „Sem, Ham und Jafet“ nach „Söhne Noachs“ (V. 1a) und die Fortführung der Überschrift mit einem Narrativ (V. 1b). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Priesterschrift eine überkommene Liste („Die Söhne Noachs: Sem, Ham und Jafet“) in das Schema der Toledot eingegliedert hat und dabei mit der Erwähnung Noachs und des Endes der Flut wie üblich den (priesterschriftlichen) Vorkontext aufgenommen hat (vgl. Gen  9, 28).36 Auch ist zu bedenken, dass Schüle, Prolog, 373. P. Weimar, Aufbau und Struktur der priesterschriftlichen Jakobserzählungen, ZAW 86 (1974) 174  –203, 193 (vgl. zu dieser Annahme auch Knauf, Ismael, 61–65, der mit der Aufnahme einer geographischen Liste aus dem Jerusalemer Schulbetrieb des 7. Jh. v. Chr. rechnet). K. Budde, Eine 35  36 

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Gen 10 im Unterschied zu Gen 5 und 11 von vornherein segmentär angelegt ist. In Gen  5 und 11 wie in allen übrigen Belegen der Toledotformel ist der Namensgeber eine einzelne Person, wodurch der genealogische Zusammenhang der nachfolgend genannten Glieder markiert ist. In der Völkertafel geht es dagegen nicht um die Toledot/Zeugungen einer Einzelperson, sondern um diejenige von den drei Ahnherren aller Völker, wobei der genealogische Zusammenhang durch ihre vorangestellte Bezeichnung als „Söhne Noachs“ angezeigt wird. Deutlich zu erkennen ist das Interesse, dass die erste Generation der Nachkommen erst nach der Flut geboren worden ist (vgl. 10, 32; 11, 10). Dies herauszustellen, ist die Funktion der Explikation in V. 1b. Mit der Unterschrift in V. 32 ist V. 1 nicht allein durch das jeweils abschließende „nach der Flut“ verbunden, sondern auch durch die chiastische Aufnahme des „Toledot/Zeugungen der Söhne Noachs“ in dem „die Sippen der Söhne Noachs nach ihren Toledot/Zeugungen“. Jafet (zur Namenserklärung s. zu Gen 5, 32) hat sieben Söhne. Von zweien, 10, 2 –5 Gomer und Jawan, werden wiederum Söhne genannt. Unbeschadet aller Unsicherheiten bei der Identifizierung und Erklärung der Namen handelt es sich um die Ahnherren von Volksgruppen, die aus judäisch-palästinischer Sicht an den äußersten Rändern der bekannten Welt beheimatet sind. Ihr Siedlungsgebiet zieht sich wie ein Halbkreis um das Gebiet der Söhne Hams und Sems. Es reicht von der Nordküste des Schwarzen Meeres und dem iranischen Hochland über Griechenland bis zu dem im äußersten Westen des Mittelmeeres gelegenen Tarschisch. Die Söhne Jafets (V. 2; P): Gomer (Gōmær)37 ist im AT außer in der Reprise der Völkertafel in 1Chr  1, 4  –23 (V. 5 f ) nur noch in Ez 38, 6 genannt und bezeichnet dort ein Territorium, das zu den Verbündeten des Gog von Magog gehört, der nach Ez  38, 2 auch die Landschaften Meschech und Tubal beherrscht. Da diese Namen in Gen 10 sämtlich zu den Nachkommen Jafets zählen, ist davon auszugehen, dass jeweils dieselbe Größe gemeint ist. In keilschriftlichen Texten des 1. Jt. v. Chr. ist der Name Gomer als Gimirrai belegt, griechisch als Κιμμέροι/Kimmerer (vgl. Hdt. IV 11 f ). Ursprünglich aus den Regionen nördlich des Schwarzen Meeres (vgl. Krim) stammend, drangen die Kimmerer zunächst nach Urartu (Armenien) vor und zogen nach Auseinandersetzungen mit den Assyrern bis zur Westküste Kleinasiens weiter, um sich dann in Zentralanatolien (Kappadokien) niederzulassen, wo sich ihre Spuren um die Mitte des 1. Jt. v. Chr. verlieren. Magog (Māgōg) ist möglicherweise eine Ableitung aus dem akkadischen māt Gūgi „Land des Gyges“. Gyges ist der erste aus Dokumenten bekannte König von Lydien im westlichen Kleinasien, der dort im 7.  Jh. v. Chr. herrschte, aber von den Kimmerern besiegt wurde. Er dürfte hinter der apokalyptischen Gestalt des „Gog von übersehene Textherstellung, ZAW  30 (1910) 277–280, vermutet dagegen den Textausfall aufgrund einer Haplographie: „Dies sind die Toledot der Söhne Noachs. Die Söhne Noachs waren …“. 37  Für die Identifizierung der Orts- wie Völkernamen vgl. die Einträge in odb (2016 ) mit einer gründlichen Diskussion der Identifizierungsvorschläge, weiteren Belegstellen und Quellentexten, ausführlicher Bibliographie sowie einer kartographischen Zuordnung.

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Magog“ stehen. Ins östliche Kleinasien weisen die Ortsnamen Tubal und Meschech (s.  u.), die in Ez 38, 2 f; 39, 1 im Herrschaftsbereich des Gog von Magog liegen. Madai (Māday) ist im AT vielfach belegt und bezeichnet das Volk der Meder ( Jes 13, 17 ) und die von ihnen bewohnten Gebiete ( Jes 21, 2). Die Meder tauchen im 9. Jh. v. Chr. im Nordosten des assyrischen Reiches auf dem Gebiet des heutigen Iran auf und werden in keilschriftlichen Texten als Mādā seit Salmanassar III. (858 –824 v. Chr.) häufig genannt. Sie erobern 614 v. Chr. Assur und sind 612 v. Chr. an der Zerstörung Ninives beteiligt. Meder und Perser lebten einige Zeit unter medischer Vorherrschaft, bis der Achämenide und Gründer des Perserreiches Kyros II. (559 –530 v. Chr.) seinen Schwiegervater und Oberherrn, den medischen König Astyages, um 550 v. Chr. stürzte. Dass die Völkertafel die Perser im Unterschied zu den Medern nicht erwähnt, wird unterschiedlich bewertet. Wie erwähnt, erkennen einige darin eine verhaltene Kritik an den Hegemonialansprüchen der Achämeniden. Andere sehen in der Ablösung der medischen Herrschaft durch die Perser, die spätestens mit der Eroberung Babylons durch Kyros II. im Jahre 539 v. Chr. auch für die Autoren der Priesterschrift manifest gewesen dürfte, den terminus ante quem für den (vorgegebenen) Aufriss der Völkertafel.38 Letzteres ist nicht zwingend, da das Alte Testament beide Völker wiederholt in einer festen Verbindung nennt und identifiziert (vgl. Dan  5, 28; 6, 9. 13. 16; 8, 20; Est  1, 3. 14. 18 f; 10, 2) oder auch persische Könige und ihre Truppen als Meder bezeichnet. So sprechen die Fremdvölkersprüche in Jes  13 und Jer  51 im Zusammenhang der Eroberung Babylons von einem Sieg der Meder ( Jes 13, 17; Jer 51, 11. 28; vgl. Jes 21, 2; ferner: „Darius, [des Sohns von Xerxes aus dem Geschlecht] der Meder“ in Dan 6, 1; 9, 1).39 In alttestamentlicher Perspektive können die Meder demnach durchaus (auch) für die Perser stehen.40 Jawan (Yāwān) bezeichnet wie das griechische Ἰωνία und Ἴωνες zunächst die Landschaft Ionien bzw. deren Bewohner an der kleinasiatischen Küste und den vorgelagerten Inseln. Die Ionier waren die ersten Griechen, mit denen die altvorderorientalischen Kulturen in Kontakt traten, weshalb ihr Name im Alten Testament wie in der keilschriftlichen Literatur schließlich als Bezeichnung für alle Griechen diente. Entsprechend übersetzt die LXX Yāwān mit Ἑλλας („Hellas, Griechenland“; Jes  66, 19; Ez  27, 13) oder mit dem Stämmenamen Ἑλληνοι („Hellenen, Griechen“; Joel  4, 6; Sach 9, 13; Dan 8, 21; 10, 20; 11, 2). Wie in der phönizischen Handelsliste in Ez 27 wird Jawan in Verbindung mit Tubal und Meschech genannt (vgl. Ez  27, 13). Womöglich handelte es sich hierbei um eine stehende Wendung. Dies legt zumindest die gemeinsame Nennung der drei Gebiete in Inschriften Sargons II. (722 –705 v. Chr.) nahe. Tubal (Tūbāl ) und Meschech (Mæ-šæk) werden im Alten Testament in der Regel zusammen genannt (Ez  27, 13; Ez  32, 26; Ez  38, 2 f; Ez  39, 1; Jes  66, 19LXX; Ausnahmen Tubal in Jes  66, 19MT und Meschech in Ps  120, 5). Beide Namen sind mit den in assyrischen Königsinschriften genannten Stammesverbänden und nachmaligen Vasallen Tabalū und Mušku gleichzusetzen. In griechischen Quellen heißen die Völker Tibarener (Τιβαρηνοι) und Moscher (Μοσχοι). Beide sind im Bereich des ehemaligen Seebaß, 267. Es ist freilich nicht ausgeschlossen, dass die auf Babel bezogene Ankündigung in Jes  13 noch vor 539 v. Chr. verfasst wurde. Neben der Eroberung durch die Meder spricht hierfür eine zweite historische Ungenauigkeit: Anders als angekündigt, haben die Eroberer Babylon kampflos eingenommen. 40  Vgl. Hölscher, Erdkarten, 54, mit Hinweis auf die gleiche Identifizierung bei griechischen Autoren. 38  39 

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Hethiterreiches zu suchen, Tubal bzw. die Tibarener an der südlichen Schwarzmeerküste und Meschech bzw. die Moscher wohl in Phrygien im zentralen anatolischen Bergland. Ez 27, 13 erwähnt, dass Meschech und Tubal mit Geräten aus Kupfer sowie Sklaven handeln. Tiras (Tīrās) wird außer in 1Chr 1, 5 im Alten Testament nicht mehr erwähnt. Keilschriftliche Quellen fehlen. In der Regel wird Tiras mit den in griechischen Quellen genannten Tyrsenern/Tyrrhenern (Τυρσηνοι/Τυρρηνοι) identifiziert, die im nordwestlichen Kleinasien und auf den Inseln der nördlichen Ägäis beheimatet waren. Josephus denkt an das im nordöstlichen Griechenland und an der Westküste des Schwarzen Meeres gelegene Thrakien ( Jos.Ant. I, 125). Die Söhne Gomers (V. 3; P): Aschkenas ( ʾAškanaz) wird außer in 1Chr  1, 6 nur noch in Jer  51, 27 erwähnt und zählt dort neben Ararat (akkadisch Urarṭu/Armenien) und Minni (Mannäer; akkadisch Mannāya/südlich des Urimasees im heutigen nordöstlichen Iran) zu den „Feinden aus dem Norden“ (V. 48). Wie Gomer und Aschkenas in Gen  10, so gehören in keilschriftlichen Texten Gimirrai und Aškuza sowie Mannāya und Aškuza und in griechischen Quellen Kimmerer und Skythen zusammen, was eine Identifizierung mit den Skythen möglich macht. Die Skythen siedelten zunächst an der Nordküste des Schwarzen Meeres und drängten die Kimmerer nach Süden. Die LXX verzichtet auf eine Identifizierung und transkribiert den Namen. Rifat (Rīpat) ist weder sonst im AT noch in keilschriftlichen Quellen belegt. Eine Identifizierung ist nicht möglich, Josephus denkt an die am Schwarzen Meer zwischen Pontus und Bithynien siedelnden Paphlagonier ( Jos.Ant. I, 126). Dies würde zum geographischen Bild Gomers und seiner Nachkommen passen, ist aber völlig ungewiss. Togarma (Tōgarmā ) wird noch in Ez  38, 6 (Bet-Togarma) an die Seite von Gomer gestellt, und in der phönizischen Handelsliste aus Ez  27 (Bet-Togarma) wird der Name unmittelbar nach dem Dreigespann Jawan, Tubal und Meschech genannt (V. 13 f ). Eine Identifizierung mit dem hethitischen Tagarma und dem assyrischen TilGarimmu ist denkbar. Die hethitischen Texte des 2 .  Jt. v. Chr. sprechen von einem Land, während in neuassyrischer Zeit Til-Garimmu nur noch als Stadtname belegt ist. Die genaue Lage ist unklar, die assyrischen Texte deuten auf ein Gebiet östlich von oder im Osten von Tubal/Tabalū. Eine alternative, philologisch wie historisch-geographisch schwierige Deutung vermutet wegen des Ausdrucks „Haus Togarma“ in Ez  38, 6 hinter Togarma einen Personennamen und schlägt eine Gleichsetzung mit dem kimmerischen Häuptling Tugdamme (gr. Λύγδαμις) vor, der es im 7. Jh. v. Chr. aufgrund seiner militärischen Aktionen zu einiger Berühmtheit gebracht hat, bevor er von Assyrern unter Assurbanipal besiegt wurde.41 Die Söhne Jawans (V. 4; P mit Bearbeitung in V. 4b): Elischa ( ʾÆlīšā ) ist außer in 1Chr 1, 7 noch in Ez 27, 7 belegt und mit einiger Wahrscheinlichkeit mit dem in keilschriftlichen Texten des 2 . Jt. v. Chr. als Alašija bezeichneten Zypern zu identifizieren. Tarschisch (Taršīš    ) wird zumeist gleichgesetzt mit dem in der griechischen Literatur mehrfach genannten Ortsnamen Tartessos/Ταρτησσός, einer in Südwestspanien im Mündungsgebiet des Guadalquivir gelegenen phönizisch-punischen Handels41  É. Lipiński, Les Japhetites selon Gen  10, 2 –  4 et 1 Chr  1, 5 –7, ZAH  3 (1990) 40 –53, 50. Zu Tugdamme vgl. A. Kuhrt, Art. „Lygdamis“, RLA VII (1990) 186 –189.

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niederlassung (Hdt. I 163; IV 152 . 192). Eine neuassyrische Inschrift aus der Zeit Asarhaddons (681–669 v. Chr.) nennt von Ost nach West die Könige von Zypern und Griechenland bis nach Tarschisch (Tarsisi   ) und kennzeichnet damit Tarschisch als die westlichste Kolonie der mit Assyrien kooperierenden Phönizier. Ganz ähnlich dürfte Gen  10 die Intention verfolgen, einen möglichst weiten Bogen zu schlagen. Hierzu passt auch der alttestamentliche Sprachgebrauch, in dem mit Tarschisch häufig eine weit entfernte Gegend gemeint ist ( Jes  23, 6. 10; 66, 19; Jer  10, 9; Jon  1, 3; 4, 2) und der für den Fernhandel geeignete hochseetaugliche Schiffe als „Tarschischschiffe“ bezeichnet (1Kön  10, 22; 22 , 49; Jes  2 , 16; Ez  27, 25), was erst in 2Chr  9, 21 „Schiffe nach Tarschisch“ meint. Die Handelsliste in Ez 27 hat dagegen ganz konkret die von Tyrus aus besiedelte Kolonie im Südwesten Spaniens vor Augen, da die in Ez  27, 12 genannten Erze – Silber, Eisen, Zinn und Blei – in Tarschisch/Tartessos abgebaut wurden. Kittäer (Kittīm) und Rodaniter (Rōdānīm) sind im Unterschied zu den anderen Namen der priesterschriftlichen Völkertafel keine „sekundären“ Ortsnamen, sondern Völkernamen. So definieren die Wendungen „Land der Kittäer“ ( Jes 23, 1) und „Inseln der Kittäer“ ( Jer  2 , 10; Ez  27, 6) die allgemeinen Landschaftsbezeichnungen „Land“ und „Inseln“ durch ihre Bewohner. Land und Inseln der Kittäer sind eng mit der Seefahrt verbunden und werden wiederholt als Ausgangs- oder Endpunkt von Schiffsexpeditionen genannt (Num  24, 24; Jes  23, 1; Jes  23, 12; Jer  2 , 10; Dan  11, 30). Das weist auf die Inselwelt des östlichen Mittelmeeres und die angrenzenden Küstengebiete, näherhin auf die Stadt Kition, dem heutigen Larnaka, auf Zypern. Die alttestamentlichen Belege dürften jedoch nicht nur die Bewohner der Stadt, sondern von ganz Zypern, sowie die benachbarten Mittelmeerinseln und nahen Küsten („Inseln der Kittäer“; „Land der Kittäer“) im Blick haben. In hellenistischer Zeit erfährt der Begriff eine Ausweitung, insofern auch die makedonische Küste zum Land der Kittäer gerechnet wird (1Makk 1, 1) oder die Kittäer eine Art endzeitliche Streitmacht ohne genaue Herkunftsbezeichnung darstellen (Dan 11, 30; Num 24, 24). Schließlich kann das hebräische Kittīm auch die Römer als die über das östliche Mittelmeer herrschende Großmacht bezeichnen (vgl. 1QpHab 2 , 12 [DSS VI/b, 162 f]; Dan 11,30 LXX). Bei den nur noch in 1Chr 1, 7 und Ez 27, 15LXX erwähnten Rodanitern bzw. „Söhnen Rodans“ handelt es sich um die Bewohner der Insel Rhodos. Da Zypern (Elischa) bereits unter den Söhnen Jawans genannt ist, dürfte es sich bei den beiden Völkernamen um eine erläuternde Fortschreibung zu „Elischa und Tarschisch“ handeln. Dabei wurde im Fall der Kittīm ein aus anderen alttestamentlichen Erzählzusammenhängen geläufiger Terminus verwendet, der ganz allgemein auf die Herrschaftsverhältnisse der östlichen Mittelmeerwelt verweist, ohne dass sich damit eine konkrete Lokalisierung (Zypern) verbindet.

Die Unterschrift zu den Söhnen Jafets (V. 5; P) enthält wie diejenige zu Ham (V. 20; P) und Sem (V. 31; P) die Elemente „in ihren Ländern“, „nach ihren Sprachen“, „nach ihren Sippen“ und „nach ihren Völkern“. Sie bietet die ersten drei jedoch in anderer Reihenfolge. Auffälliger ist indes, dass sie nicht analog zu den beiden anderen Unterschriften mit „Dies sind die Söhne Jafets“ einsetzt, sondern mit „Von diesen verzweigten sich die Inseln der Völker“. Mit Blick darauf wird häufig angemerkt, dass sich der Ausdruck „Inseln der Völker“ und damit die Unterschrift insgesamt nicht auf alle Söhne Jafets beziehen könne, da er allein zu den geographischen Ver-

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hältnissen Jawans und seiner Nachkommen passe. Der Text von V. 5 wurde daher verschiedentlich angepasst und ein vermeintlich verloren gegangenes „Dies sind die Söhne Jafets“ nach „von ihnen verzweigten sich die Inseln der Völker“ ergänzt, wodurch sich der Hinweis auf die „Inseln der Völker“ eindeutig auf die Söhne Jawans in V. 4 beziehen würde.42 Andere rechnen damit, dass ein Ergänzer in Folge des Nachtrags von V. 4b ein ursprüngliches „Dies sind die Söhne Jafets“ durch den vorliegenden Auftakt der Unterschrift ersetzt habe, um die Griechen als Höhepunkt der Söhne Jafets herauszustellen.43 Eine Bewertung dieser Vorschläge hängt mit der Antwort darauf zusammen, was mit „Inseln der Völker“ ( ʾiyyē hag-gōyīm) gemeint ist und worauf sich diese Wendung bezieht. Der Ausdruck ʾī/ ʾiyyīm bezeichnet häufig die Inseln des Mittelmeeres, kann aber auch die Inseln im Persischen Golf oder im Indischen Ozean einschließen ( Jes  11, 11; Est  10, 1). Neben Verbindungen wie „Inseln des/im Meer/es“ ( Jes  11, 11; Jes  24, 15) gibt es jedoch auch eine Reihe von Belegen, bei denen der Ausdruck ganz allgemein die Küstenregion (vgl. Jes  20, 6) oder sehr weit entfernte Gebiete in Übersee benennt (vgl. Jer  25, 22; 31, 10). Letzterem entspricht, dass ʾiyyīm parallel zu „Enden der Welt“ gebraucht werden kann ( Jes 41, 5; vgl. Jes 49, 1; 66, 19). Aus judäisch-palästinischer Perspektive gilt dies – vielleicht mit Ausnahme der Meder – für alle unter die Söhne Jafets eingeordneten Völker und Gebiete.44 Die Wendung lässt sich folglich „sachlich, strukturell und terminologisch“45 auf die Gesamtheit der „Söhne Jafets“ beziehen. Es bleibt zu erörtern, weshalb die Priesterschrift eine andere Formulierung als in V. 20 und 31 gewählt hat. Einen Hinweis liefert die Notiz, dass sich die „Inseln der Völker“ von den Söhnen Jafets verzweigt (*prd ni.) haben. Das Verb *prd begegnet auch in der Gesamtunterschrift der Völkertafel in V. 32, bezieht sich dort aber auf alle Völker der Erde, die aus den „Sippen der Söhne Noachs“ hervorgegangen sind. Dies macht wie die Abschlussformulierungen zu Jafet, Ham und Sem deutlich, dass die Völkertafel grundsätzlich die Vollständigkeit anstrebt, diese jedoch nicht in alle Einzelheiten hinein nachweist. Das betrifft mit Sicherheit die „spätgeborenen“ Völker wie Israel und seine „abrahamitischen“ Brudervölker (vgl. Gen 17; 25, 1–  4), die in der Völkertafel nicht erwähnt werden. Ebenso dürfte es für diejenigen Völker gelten, die den Autoren schlicht unbekannt waren, von deren Existenz sie aber ausgehen konnten. Da für die Priesterschrift die von den „Söhnen Jafets“ repräsentierten Gebiete weithin terra incognita waren, bot es sich an, auch alle anderen weit entfernten Völker zu den Söhnen Jafets zu zählen. Hierfür stehen die „Inseln der Völker“. Die  LXX hat diesen ZuGunkel, 152 f; Westermann, 665. Seebaß, 257. Dieser Vorschlag findet sich erstmals bei J. Olshausen, Beiträge zur Kritik des überlieferten Textes im Buche Genesis, MPAW Juni 1870, 380 –  4 09, 383. 44  Vgl. W. Horowitz, The Isles of the Nations: Genesis X and Babylonian Geography, in: J.A. Emerton (Hg.), Studies in the Pentateuch, VT.S 41, Leiden 1990, 35 –  43. 45  Witte, Urgeschichte, 109. 42  43 

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sammenhang erkannt und in V. 32 Völker (hag-gōyīm = τὰ ἔθνη) zu „Inseln der Völker“ (νῆσοι τῶν ἐθνῶν wie V. 5) ergänzt, womit der Ausdruck die gesamte zeitgenössisch bekannte Welt umschreibt. Dass der Ausdruck „Inseln der Völker“ diese universelle Ausrichtung hat, belegt der einzige weitere Beleg in Zef 2, 11. Dort bezeichnet er die Bewohner der fernsten Weltgegenden. Die Aneinanderreihung der Stichwörter „in ihren Ländern“, „nach ihren Sprachen“ und „nach ihren Sippen“ sowie des abschließenden und die Reihe zusammenfassenden „in ihren Völkern“ hat nahezu definitorischen Charakter. Sie bringt auf den Begriff, was größere Verbände zur Gesamtheit eines Volkes zusammenschließt und von anderen unterscheidet.46 Aufbauend auf den familiären Strukturen der Familien und Sippen sind dies die gemeinsame Sprache sowie das besiedelte Territorium und dessen Bevölkerung. Unbeschadet der genealogischen Darstellungsform gründet die Zusammengehörigkeit nicht allein auf verwandtschaftlichen Beziehungen, sondern auch auf kulturellen Errungenschaften und den ökonomisch-politischen Bedingungen. Die darin angesprochene enge Verbindung von Kultur, Territorium und Bevölkerung könnte durch die persische Reichsideologie angeregt sein, die für die beherrschten „Völkerschaften“ einen ähnlich weiten Begriff verwendet hat (dahyu).47 Ham (zur Namenserklärung s. zu Gen  5, 32) hat vier Söhne. Von dreien, 10, 6 –20 Kusch, Mizrajim und Kanaan, werden wiederum Söhne genannt, für Kusch in einem Fall auch noch Enkel. Zu notieren ist, dass die Priesterschrift lediglich für Kusch Nachkommen aufzählt, wobei sein Sohn Nimrod auf eine nicht-priesterschriftliche Bearbeitung zurückgeht. Der resümierende Abschluss in V. 20 entspricht den Unterschriften zu Jafet und Sem in V. 5 und 31. In der priesterschriftlichen Völkertafel handelt es sich bei den Söhnen Hams um die Eponyme von Völkerschaften, die aus judäisch-palästinischer Sicht am westlichen und südwestlichen Rand der bekannten Welt beheimatet sind. Unbeschadet aller Unsicherheiten bei der Lokalisierung umfasst ihr Gebiet das heutige Libyen im Westen, den Nil von Ägypten bis in den heutigen Sudan und Äthiopien sowie die Arabische Halbinsel vom Golf von Aqaba bis zum Golf von Aden. Lediglich die Einordnung Kanaans fällt ein wenig aus diesem geographischen Rahmen. Sie entspricht der poli­ tisch-geographischen Situation der zweiten Hälfte des 2 . Jt. v. Chr., hat aber vor allem ideologische Gründe, insofern sie dezent die im Alten Testament gängige Unterscheidung von „Israel“ und „Kanaan“ schon in die Völkertafel einträgt (s.  u. zu Kanaan). Durch die nicht-priesterschriftlichen Ergänzungen in V. 8 –19 verschieben sich die geographischen Koordinaten. Da die Nimrodepisode eindeutig in Mesopotamien angesiedelt ist, werden durch die Ergänzung die Söhne Hams mit einem Gebiet in Verbindung gebracht, das nach der Priesterschrift Westermann, 679  f. Vgl. P. Lecoq, Observations sur le sens du mot dahyu dans les inscriptions achéménides, Transeuphratène 3 (1990) 131–140. 46  47 

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die Heimat der Söhne Sems ist (vgl. Assur und Arpachschad/Babylon in V. 22). Zudem wird durch die elf Söhne Kanaans der Schwerpunkt deutlich auf die Levante verlagert. Die Söhne Hams (V. 6; P): Kusch (Kūš    ) bezeichnet im Alten Testament wie in den hieroglyphischen und keilschriftlichen Dokumenten des 3. bis 1. Jt. v. Chr. das südlich von Ägypten gelegene Nubien. Nach Ez  29, 10 liegt die Grenze zwischen Mizrajim/Ägypten und Kusch/ Nubien südlich des 1. Katarakts bei Syene (Assuan). Sein Gebiet gehört heute größtenteils zum Staatsgebiet des Sudan, teilweise zu Äthiopien. Für biblische Texte auffällig, gleichwohl völlig sachgemäß stellt die Priesterschrift Kusch an den Anfang einer Reihe mit Mizrajim (Ägypten), Put (Libyen) und Kanaan (Levante). In dieser Reihe markiert Kusch den äußersten Südwesten. Zur Diskussion um Kusch in V. 8 s.  u. Mizrajim (Miṣrayim) ist mit über 600 Belegen der im Alten Testament am zweithäufigsten genannte Ortsname. Die Identifizierung mit dem in Ober- und Unterägypten gegliederten Ägypten ist unstrittig. Put (Pūṭ)48 wird im Alten Testament fast ausnahmslos (Ez  27, 10) zusammen mit Kusch erwähnt ( Jer  46, 9; Ez  30, 5; 38, 5; Nah  3, 9). In Nah  3, 9 wird Put zudem im Kontext von Ägypten genannt und steht parallel zu den Lubim (Libyer), einer Sammelbezeichnung für die Völkerschaften im westlich von Unterägypten gelegenen Nordafrika, mit denen es gemeinsam in ägyptischen Söldnerdiensten steht (vgl. auch Ez  30, 5). Die antiken Versionen und Kommentatoren haben Put daher mit Libyen (LXX: Λίβυες/Libyer) verbunden, teilweise aber auch an weiter entfernte Gegenden im nördlichen Afrika bis hin nach Mauretanien gedacht ( Jos.Ant. I, 132). Hieroglyphisch ist der Ausdruck „Land der Pjt-Leute“ als alternative Bezeichnung für Libyen belegt. Auch das in keilschriftlichen Quellen erwähnte „Land Puṭu/Putāya“ deutet in diese Richtung. Die zwischenzeitlich erwogene Identifizierung von Put mit dem „Goldland“ Punt im heutigen Somalia hat sich nicht bewährt. Kanaan (Kena ʿan) bezeichnet in keilschriftlichen und ägyptischen Texten der zweiten Hälfte des 2 . Jt. v. Chr. den südlichen, von Ägypten kontrollierten Teil der syrischpalästinischen Landbrücke. Die ägyptische „Provinz Kanaan“ mit dem Verwaltungssitz Gaza reichte von Byblos bis an die Ostgrenze Ägyptens. Im Alten Testament ist das „Land Kanaan“ das Israel verheißene und nach der Landnahme an seine Stämme verteilte Land vom nördlichen Libanongebirge im Norden bis zum „Bach Ägyptens“ im Süden und zum Jordan im Osten. Dass Kanaan nicht wie die Vorfahren des nachmaligen „Israel“ zu Sem gerechnet wird, sondern wie Ägypten zu Ham, entspricht also den politischen Verhältnissen der zweiten Hälfte des 2 .  Jt. v. Chr. Gleichwohl muss die Zuordnung nicht auf „einer sehr alten Tradition“49 beruhen. Nach dem auch von der Priesterschrift geteilten Geschichtsbild des Alten Testaments gelangt Israel von außen in das Land Kanaan, in dem schon die Erzeltern Israels als Fremde weilten (Gen  17, 8; P). Das Israel des Alten Testaments ist also nach seiner Selbstwahrnehmung von der autochthonen Bevölkerung des verheißenen Landes deutlich unterschieden. Aus diesem Grund ordnet die Priesterschrift Kanaan folgerichtig zu den Söhnen Hams und die Ahnherren des nachmaligen Israel zu den Söhnen Sems, auch wenn das nachmalige Israel in historischer Perspektive aus Kanaan hervorgegangen ist. 48  49 

Vgl. M. Görg, Zur Diskussion um das Land Put, BN 113 (2002) 5 –11. Westermann, 682 .

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Die Söhne Kuschs (V. 7a; P): Seba (S ebā ) wird außer in 1Chr  1, 9 noch in Jes  43, 3 und Jes  45, 14 (Pl. S ebā   ʾīm als Volksname) neben Kusch und Ägypten genannt, was für eine Lage im nordöstlichen Afrika spricht. Der einzige weitere Beleg in Ps  72 , 10 nennt Seba neben Saba (Š ebā ), das in V. 7 als Enkel Kuschs und Sohn Ragmas erwähnt ist und dann noch einmal in der nicht-priesterschriftlichen Ergänzung unter den Nachkommen Sems als Sohn Joktams begegnet. Anders als in der Forschung häufiger vorgeschlagen,50 dürften zumindest die Verfasser von V. 7 demnach Seba nicht mit Saba gleichgesetzt haben. Josephus ( Jos.Ant. II, 249) erwägt die Gleichsetzung mit einer äthiopischen Königsstadt, dem nachmaligen Meroë. Das passt ganz gut zu der Überlegung, dass es sich bei Seba um eine Kolonie der Sabäer in Äthiopien gehandelt habe.51 Hawila (Ḥ awīlā ) bezeichnet das „Sandland“ im westlichen Teil der arabischen Halbinsel und des gegenüberliegenden Küstenstrichs am Roten Meer (zur Lokalisierung s.  o. zu Gen 2 , 10 –14). Sabta (Sabtā ) und Sabtecha (Sabt   ekā ) werden nur noch in der Reprise der Völkertafel in 1Chr  1, 9 erwähnt. Die Identifizierung ist völlig unklar. Sabta wird gerne mit Šabwa (griechisch Σάββαθα), der Hauptstadt des südarabischen Reiches von Ḥaḍramaut auf dem Gebiet des heutigen Jemen gleichgesetzt. Ansprechend ist die These, dass Sabtecha mit Pharao Schabataka (707–690 v. Chr.) der 25. (nubischen) Dynastie in Verbindung zu bringen ist.52 Ragma (Ra ʿmā ) ist außer in 1Chr 1, 9 noch in Ez 27, 22 belegt, wo es neben Saba – nach V. 7 ein Sohn Ragmas – als Handelspartner von Tyrus erscheint. Der hebräische Buchstabe ʿAyin ( ʿ) dürfte hier einem semitischen ġ entsprechen (vgl. LXX 1Chr 1, 9: Ρεγμα; Ez  27, 22: Ραγμα). Das spricht wie auch die Verbindung zu Saba und die in Ez 27, 22 genannten Handelsgüter Balsam, Edelsteine und Gold für eine Identifizierung mit der in einer südarabischen (minäischen) Inschrift belegten Ortschaft Rgmt   m. Die in der Oase Naǧrān im heutigen Grenzgebiet zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen gelegene Stadt war in der Antike eine wichtige Station an der Weihrauchstraße, die von Mārib, der Hauptstadt des Sabäerreiches (Saba), über Dedan – nach V. 7 der zweite Sohn Ragmas – an das Mittelmeer führte. Die Söhne Ragmas (V. 7b; P): Saba (Š ebā ) ist im Alten Testament häufig belegt und kann ohne jeden Zweifel mit dem südarabischen „Königreich von Saba“ im heutigen Jemen gleichgesetzt werden. Saba hatte enge kulturelle und wirtschaftliche Kontakte zu Regionen in Ostafrika bis in das äthiopische Hochland hinein. Es tritt im 7. und 6. Jh. v. Chr. als regionale Macht in Erscheinung und wird in neuassyrischen Inschriften seit Tiglat-Pilesar III. (745 –726 v. Chr.) erwähnt. Die alttestamentlichen Texte, allen voran die Erzählung vom Besuch der Königin von Saba in 1Kön  10, vermitteln das eher sagenhafte Bild eines weit im Süden beheimateten reichen Königtums, das mit exotischen Gütern handelt (Balsam, Edelsteine, Gold, Weihrauch; vgl. 1Kön  10, 2; Jes  60, 6; Jer  6, 20; Ez 27, 22), wie sie auch in assyrischen Texten als Tribut der Sabäer erwähnt werden. In der nicht-priesterschriftlichen Ergänzung in Gen 10, 26 –29 wird Saba zusammen mit seinem Bruder Hawila – nach V. 7 ist es der Onkel – über Joktan den Söhnen Sems

Vgl. Hölscher, Erdkarten, 48. Vgl. Knauf, Ismael, 62 f mit Anm. 298. 52  Procksch, 488 . 50  51 

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zugeordnet. Gen 25, 1–  4 zählt die Brüder Saba und Dedan zu den Nachkommen von Abraham und seiner dritten Frau Ketura („Die nach Weihrauch Duftende“). Dedan (D  edān) ist eine Oasenstadt im Nordwesten der Arabischen Halbinsel (heute: el- ʿUlā ) an der Grenze zu Edom (Ez  25, 13). An der Weihrauchstraße gelegen, war Dedan seit dem 8. Jh. v. Chr. ein Zentrum des Karawanenfernhandels (vgl. Jes 21, 13), der bis ins 5. Jh. v. Chr. unter sabäischer Kontrolle stand. Letzteres erklärt auch die genealogische Verbindung von Saba und Dedan in der Völkertafel und in Gen 25, 1–  4.

V. 8 –12 Obwohl die genealogische Darstellung der Völkerwelt schon bei den En-

keln Kuschs angelangt war, setzt V. 8 noch einmal neu mit der Notiz ein, Kusch habe Nimrod gezeugt. Die kurze Erzählung über Nimrod und sein anfängliches Königtum, in die später noch ein Sprichwort aufgenommen wurde (V. 9), schließt syntaktisch gut an die priesterschriftliche Auflistung der Söhne und Enkel Kuschs an, stammt jedoch von anderer Hand. Außer an den stilistischen Eigenheiten zeigt sich dies auch an der unterschiedlichen ethno-geographischen Konzeption. Die Ortsnamen in V. 10 f weisen sämtlich nach Mesopotamien, das in der priesterschriftlichen Völkertafel nicht Ham, sondern Sem zugeordnet ist. Babel (Bābæl )/Babylon war seit dem 2 .  Jt. v. Chr. politisches und kultisches Zentrum des südlichen Mesopotamien. Erech ( ʾÆ-ræk) wird übereinstimmend mit dem ca. 200 km südöstlich von Babel/Babylon gelegenen Uruk (al-Warkā   ʾ) identifiziert. Uruk gehörte zu den ältesten und größten Städten Babyloniens und war vom 5. Jt. v. Chr. bis in das 4.  Jh. n. Chr. besiedelt. Akkad ( ʾAkkad    ) führt sich auf die legendäre Gründung von Sargon  I. zurück und war bis zum ausgehenden 2 .  Jt. v. Chr. das Zentrum des akkadischen Imperiums. Die genaue Lage der Stadt ist unbekannt, sie wird nördlich von Babylon vermutet. Daneben ist Akkad auch als Landschaftsname für den nördlichen Teil Babyloniens belegt. Die drei genannten Städte liegen sämtlich im südlichen Mesopotamien, für das der Ausdruck „Land Schinar“ (Šin ʿār) verwendet wird (vgl. Gen  11, 2; 14, 1. 9; Jos  7, 21; Jes  11, 11; Sach  5, 11; Dan  1, 2), der in keilschriftlichen Texten des 2 . Jt. v. Chr. als Šanḫar ebenfalls für Babylonien belegt ist. Die Wahl des altertümlich wirkenden Schinar/Šanḫar statt des jüngeren (und mutmaßlich zeitgenössischen) „Land der Chaldäer“ (akkadisch māt kaldi; vgl. Gen 11, 28; Gen 11, 31; Gen 15, 7 ) ist der Stilisierung als „urgeschichtliche“ Erzählung geschuldet. Die im Folgenden aufgezählten Städte sind in dem wie auch sonst im Alten Testament als Assur ( ʾAššūr) bezeichneten Kerngebiet des assyrischen Reiches angesiedelt. Das am linken Ufer des Tigris gegenüber der heutigen Stadt Mossul gelegene Ninive (Nīn ewē ) wurde unter Sanherib (705 –681 v. Chr.) die Hauptresidenz des assyrischen Reiches, das 612 v. Chr. mit der Eroberung Ninives endete. Die lange literarische Nachgeschichte Ninives belegen die sämtlich nach dem Fall der Stadt entstandenen legendenhaften Erzählungen in den Büchern Jona, Tobit und Judit. Kelach (Kæ-laḥ) ist das aus neuassyrischen Texten bekannte Kalḫu, eine Stadt am Tigris rund 30 km südöstlich von Ninive, die unter Assurbanipal II. (883 –859 v. Chr.) zur Residenzstadt erhoben wurde. Dass der heutige Ruinenhügel Nimrūd heißt, beruht auf einer neuzeitlichen Anlehnung an die biblische Überlieferung. Die Näherbestimmung „das ist die große Stadt“ (V. 12b) wird wegen der gleichlautenden Bezeichnung Ninives im Jonabuch ( Jon  1, 2; 3, 2; 4, 11; vgl. aber Jer  22 , 8: Jerusalem) häufig als eine an falscher Stelle in den Text geratene Glosse bezeichnet. Das ist möglich, aber nicht

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zwingend. Eine gegenseitige Einflussnahme von Gen  10 und Jona lässt sich sonst nicht aufweisen. Außerdem ist die Charakterisierung als „große Stadt“ auch für die Residenzstadt Kelach durchaus angemessen.53 Resen (Ræ-sæn) konnte bislang nicht lokalisiert werden.54 Möglicherweise ist der Ortsname mit akkadisch risnu „Kanal“ zu verbinden. In diesem Fall würde sich Resen auf ein zwischen Ninive und Kelach gelegenes (V. 12a) Bewässerungssystem beziehen. Die wiederholt vorgeschlagene Identifizierung mit der neuassyrischen Residenzstadt Dur-Šarrukin „Sargonsburg“ beruht auf der Annahme, ein ursprüngliches dr srgn = Dur-Šarrukin hätte sich im Laufe der Überlieferungsgeschichte zu rsn = Ræ-sæn gewandelt. Die Identifizierung hat die Textpragmatik gegen sich: Dass die Stadtgründungen Nimrod zugeschrieben werden, verträgt sich nur schlecht mit der Erwähnung einer Stadt, deren Gründer Sargon in ihrem Namen verewigt ist.55 Auch lag Dur-Šarrukin nicht zwischen Ninive und Kelach, sondern nördlich von beiden Städten.

Abgesehen vom Stil und der ethno-geographischen Konzeption unterscheidet sich die Kurzerzählung über Nimrod von der priesterschriftlichen Völkertafel (und den anderen Ergänzungen) noch dadurch, dass sie kein weiteres genealogisches Material bietet, sondern eine Kulturätiologie. Entsprechend stehen die Ortsnamen nicht für die Ahnherren bestimmter Völkerschaften oder Länder, sondern es handelt sich um eine Auflistung von Stadtgründungen. Das Thema der Kulturätiologie sind die Anfänge des Königtums und damit  – für den alten Vorderen Orient gleichbedeutend  – von politischer Herrschaft in der Welt. Diese Anfänge werden im südlichen Mesopotamien gesucht. Das entspricht durchaus der Selbstwahrnehmung der dortigen Herrscher, die sich die biblischen Autoren sicher auch aufgrund jahrhundertelanger Erfahrung als Vasallen mesopotamischer Großreiche anempfunden haben. Desgleichen stimmt die Charakterisierung des Königs als Held, heldenhafter Jäger und Städtebauer mit der Selbstdarstellung mesopotamischer Könige überein, die freilich auch an den Königshöfen der Peripherie wie in Jerusalem ihre Spuren hinterlassen hat. Obendrein liest sich die Abfolge der Ortsnamen von den Anfängen in Babel, Uruk und Akkad und dem Übergang nach Assyrien wie ein kleines Kompendium der Geschichte Mesopotamiens – selbst wenn in historischer Hinsicht die Reihenfolge der Städte im Lande Schinar falsch ist. Daher ist es nicht verwunderlich, dass wiederholt versucht wurde, für Nimrod ein konkretes mesopotamisches Vorbild zu benennen. So hat man hinter Nimrod, der in keilschriftlichen Texten nicht belegt ist, den sumerisch-babylonischen Jagd- und Kriegsgott Ninurta56 oder den babylonischen Götterkönig Marduk57 vermutet. Nun ist Nimrod zwar ein Held, aber kein Gott. Außerdem ist die behauptete philologische Ver53  Seebaß, 260. Allerdings wäre in diesem Fall die Näherbestimmung nach der ersten Erwähnung von Kelach in V. 11 besser positioniert. 54  Vgl. van der Toorn/van der Horst, Nimrod, 5  f. 55  Vgl. Bührer, Nimrod, 6. 56  van der Toorn/van der Horst, Nimrod, 9 –16. 57  E. Lipiński, Nimrod et Aššur, RB 73 (1966 ) 77–93, 78 .

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bindung zwischen dem biblischen Namen und demjenigen der Götter problematisch.58 Letzteres gilt auch für die sonst in die Diskussion gebrachten legendarischen oder historischen Könige wie Gilgamesch59, Sargon I.60 oder Pharao Amenophis III. (Neb-maat-re)61. Zudem sind die Übereinstimmungen zwischen den wenigen Details der biblischen Erzählung und den überlieferten Taten der vermeintlichen Vorbilder im Einzelfall sehr unspezifisch. So klingt mit Nimrod statt eines konkreten Herrschers, einer legendarischen Gestalt oder einer Gottheit eher ganz allgemein die Königsideologie des alten Vorderen Orients an, und zwar einschließlich dem Verständnis königlichen Handelns als Wiederaufleben des göttlich-mythischen Geschehens in der Urzeit.62 Nimrod ist, darin Gilgamesch durchaus vergleichbar, der prototypische mesopotamische Herrscher, „dessen sprichwörtliche Errungenschaften im Städtebau und der heldenhaften Jagd ihn dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben haben“63. Für diesen prototypischen mesopotamischen Herrscher wurde mit Nimrod ein Name gewählt, der höchstwahrscheinlich auch auf damalige Leser „fremdländisch-babylonisch“ gewirkt hat. Zugleich lässt sich der Name Nimrod unschwer mit dem hebräischen Verb *mrd „rebellieren“ in Verbindung bringen.64 Die ersten Leser und Leserinnen konnten aus dem vermeintlich babylonischen Königsnamen die Bedeutung „wir wollen rebellieren“ heraushören, wodurch Nimrod zum prototypischen Rebellen erklärt wurde.65 Gegen wen anders kann aber der erste und bis dahin einzige König rebellieren als gegen Gott und seine in der Völkertafel dargelegte Ordnung der Völkerwelt?66 Entsprechend haben schon die antiken Auslegungen den „Rebellen“ Nimrod im Lichte der nachfolgenden Turmbaugeschichte gesehen und zum Bauherrn des als Ausdruck menschlicher Hybris gewerteten Turms erklärt ( Jos.Ant. I, 113 –114). Dass diese Verknüpfung zumindest auf der literarischen Ebene des Endtextes nicht von der Hand zu weisen ist, zeigen die beiden Texten gemeinsame Lokalisierung im Lande Schinar, das So auch van der Toorn/van der Horst, Nimrod, 9, 14. Vgl. Seebaß, 259; Witte, Urgeschichte, 109 Anm. 120. 60  Vgl. Knohl, Nimrod, 49, 51  f. 61  von Rad, 111, mit Hinweis auf die akkad. Namensform Nimmurja in den Amarna-Briefen. 62  Vgl. zu diesem Aspekt der Königsideologie Maul, König, 71–77. 63  Bührer, Nimrod, 10. 64  Vgl. Budde, Urgeschichte, 394; Dillmann, 184; Witte, Urgeschichte, 259 f mit Anm. 46. 65  So führt TJ zu Gen  10, 8 aus: „Kusch zeugte Nimrod. Dieser war der erste Held in der Sünde und in der Rebellion vor [Jhwh] auf Erden“. Vgl. ferner TN zu Gen 10, 8 f; bPes 94b; bEr 53a; BerR XXIII,7 und dazu W. Smelik, Myth and Truth: Babylon in the Babylonian Talmud, in: E. Cancik-Kirschbaum u.  a. (Hg.), Babylon. Wissenskultur in Orient und Okzident/Cultures of Knowledge in Orient and Occident, Topoi. Berlin Studies of the Ancient World  1, Berlin 2011, 271–284, 272 –274, und van der Toorn/van der Horst, Nimrod, 16 –29 (dort auch zu den Spuren einer positiven Rezeption Nimrods). 66  Dies übersieht Bührer, Nimrod,15 f, der sich gegen eine negative Konnotation des von *mrd hergeleiteten Namens ausspricht und für einen positiv-neutralen Gebrauch auf die wenigen Stellen verweist, in denen die Rebellion judäischer Könige gegen die assyrischen Oberherren positiv gewertet wird (2Kön 18, 7. 20; Jes 36, 5). 58 

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gemeinsame Motiv des Anfangs (*ḥll hi.) und des Städtebaus. Die unverkennbare Aufnahme der Selbstdarstellung mesopotamischer Könige ist demnach ironisch-kritisch gebrochen,67 womit auch die Institution ihres Königtums in ein kritisches Licht gestellt ist. Dies erklärt schließlich auch, warum die Episode gegen die ethno-geographische Konzeption des Kontextes in die Genealogie der Söhne Hams eingestellt wurde: Der Ergänzer wollte die Dimension politischer Herrschaft in die in dieser Hinsicht idealisierende Völkertafel der Priesterschrift eintragen, doch sollte das mesopotamische Königtum, unter dem die Staaten Israel und Juda über die Jahrhunderte zu leiden hatten, nicht den Söhnen Sems und damit nach Gen  11, 10 –26 auch den Vorfahren Israels ins Stammbuch eingeschrieben werden. Die realpolitische Erfahrung von Herrschaft und Gewalt wurden den Söhnen Hams zugerechnet, dessen Söhne Mizrajim/Ägypten und Kanaan ohnehin zu den „Erzfeinden“ Israels gehören.68 Damit liegt die Kurzerzählung von Nimrod auf einer Linie mit der Abwertung Kanaans in der Erzählung von Noach und seinen Söhnen in Gen 9, 18 –29 sowie der nachträglichen Auflistung der Söhne Kanaans in V. 15 –18, die sich an der Liste der zu vertreibenden Vorbewohner des Landes aus Jos  3, 10 orientiert. Der einzige weitere Beleg für Nimrod im Alten Testament baut die negativ-kritische Lesart weiter aus: Der aus hellenistischer Zeit stammende Spruch in Mi  5, 5 stellt Nimrod parallel zu Assur und benutzt beide als „Chiffren für eine spätere bedrückende Herrschaft …, die geradezu als ein ‚widergöttliches Reich erscheint‘“69. Mit der konzeptionellen Zuordnung Nimrods zu den Söhnen Hams erübrigen sich Überlegungen zu einem „mesopotamischen Kusch“ in V. 8. Die Ergänzer haben weder die mesopotamische Stadt Kisch70, von der nach mesopotamischer Tradition das Königtum nach der Flut seinen Ausgang genommen hat, noch die Kassiten (Kaššū ) aus dem östlich von Mesopotamien gelegenen Zagrosgebirge71 versehentlich mit dem nubischen Kusch identifiziert. Die genuin alttestamentliche Erzählung bezeichnet wie alle anderen Belege des Ortsnamens Kusch im Alten Testament Nubien und seine Bewohner.

V. 9 wird zumeist als spätere Erweiterung der Nimroderzählung bewertet, die mit der Jagd ein neues Thema anschlägt, mit dem Zitat eines Sprichworts aus dem Rahmen der Erzählung fällt und zudem den Zusammenhang von V. 8 und V. 10 f unterbricht.72 Diese Bewertung ist möglich, aber nicht sicher. Die Jagd ist ein typisches Betätigungsfeld mesopotamischer, insbesondere Vgl. Hendel, Problem, 31. Vgl. Witte, Urgeschichte, 274; ders., Völkertafel, Punkt 4; Knohl, Nimrod, 48 f; Bührer, Nimrod, 18. 69  J. Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, ATD  24, 3, Göttingen 2007, 187 (mit Zitat aus H. Greßmann, Der Messias, FRLANT 43, Göttingen 1929, 252). 70  Vgl. Y. Levin, Nimrod the Mighty, King of Kish, King of Sumer and Akkad, VT  52 (2002) 350 –366; Kvanvig, History, 418. 71  Vgl. Ruppert, 445, und zuletzt wieder Dietrich, Paradies, 313  f. 72  Seit Dillmann, 185, ist dies nach Seebaß, 259, „Allgemeingut“. 67  68 

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neuassyrischer Könige und ein fester Topos der Königsideologie. Neuassyrische Darstellungen zeigen den Großkönig, wie er auf seinem Streitwagen stehend oder auf seinem Thronhocker sitzend mit Pfeil und Bogen Löwen erlegt, die zuvor in Käfigen herangeschafft worden sind. Die Überlegenheit des Königs demonstriert dabei seine Befähigung, die von wilden Tieren ausgehende Gefahr zu bändigen. Im Hintergrund steht der königliche Herrschaftsauftrag, als der mächtige Held die Ordnung der Welt vor dem durch die Tiere symbolisierten Chaos zu schützen. Inhaltlich nimmt die Charakterisierung Nimrods als gewaltiger Jäger demnach die in V. 8 anklingende Selbstbeschreibung mesopotamischer Könige auf, wobei die Wendung „vor Jhwh“ den universalistischen Anspruch festhält, dass auch die mesopotamischen Könige im Wirkbereich Jhwhs handeln. Der enge sachliche Zusammenhang zeigt sich sprachlich darin, dass V. 9a als zweite Apposition mit der gleichen Eröffnung „er war“ (hū hāyā ) asyndetisch neben V. 8b gestellt ist und diese präzisiert, indem sie den ersten „Helden“ (gibbōr) in V. 8b zum „Helden der Jagd“ (gibbōr ṣayid    ) erklärt. Der Anschluss von V. 10 an V. 9a ist nicht besser oder schlechter als derjenige an V. 8b. Lediglich das Zitat eines Sprichworts in V. 9b unterbricht den Erzählverlauf, insofern es durch das einleitende „darum sagt man“ eindeutig als Kommentar des Erzählers gekennzeichnet ist (vgl. Num  21, 14. 27; 1Sam  19, 24; 2Sam  5, 8), der zudem inhaltlich vom Thema der sehr auf die Anfänge des Königtums fokussierten Erzählung ablenkt. Das Sprichwort nimmt die aus V. 9a bekannte Wendung „ein Held der Jagd vor Jhwh“ auf. Daher liegt es prima facie nahe, dass der ganze Vers aus einem überkommenen Sprichwort herausgebildet wurde, das sprachlich geschickt und inhaltlich passend eingefügt wurde.73 Allerdings ist das vermeintliche Sprichwort völlig an seinen Kontext gebunden und enthält kein Wort oder Gedanken, der über diesen hinausgeht.74 Das spricht eher dafür, dass es sich nicht um ein überkommenes Sprichwort, sondern um eine kontextsensible Fortschreibung handelt. Fällt  V. 9 damit als Beleg für eine von Gen  10, 8. 10 –11 unabhängige volkstümliche Nimrodtradition aus, dann dürften Name und Gestalt Nimrods auf den Bearbeiter der Völkertafel selbst zurückgehen. Mit den Zeugungen Mizrajims beginnt ein neuer Abschnitt der umfangV. 13 –14 reichen Ergänzungen zu den Söhnen Hams. Die rein genealogisch nach dem Muster „NN zeugte NN“ (*yld   ʾæt) angelegte Liste fällt dadurch auf, dass der als Person eingeführte Mizrajim/Ägypten (vgl. V. 6) nicht wie sonst weitere Ahnherren gezeugt hat, sondern gleich ganze Völker. Die Liste soll vermutlich weitere ethnologische und geographische Informationen beisteuern. Sofern sich die Völker eindeutig identifizieren lassen, gehören sie im weiteren Sinne in das politische oder geographische Umfeld Ägyptens. Zu notieren ist, dass mit den Philistern ein weiterer Feind Israels zu den Nachkommen Hams gezählt wird. 73  74 

Westermann, 689. Dies ist bei den Zitaten in Num 21, 14. 27; 1Sam 19, 24; 2 Sam 5, 8 nicht der Fall.

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Luditer (Lūdīm) werden in Jer  46, 9 und Ez  30, 5 zusammen mit Kusch und Put genannt, was nach Ägypten weist. Schwierig ist die Verhältnisbestimmung zu dem in V. 22 zu den Söhnen Sems gerechneten Lud (Lūd    ). Möchte man nicht mit zwei verschiedenen Größen rechnen, handelt es sich bei den Luditern um die Bewohner von Lud, das noch am wahrscheinlichsten mit dem kleinasiatischen Lydien zu identifizieren ist. Die Verbindung zu Ägypten könnte darin bestehen, dass lydische Söldner seit dem 7. Jh. v. Chr. in ägyptischen Quellen belegt sind. Die Anamiter ( ʿAnāmīm) sind eine bislang nicht identifizierte Ethnie.75 Sollten die Lehabiter (Lehābīm) mit den Lubim (Lūbīm; Nah  3, 9; Dan  11, 43; 2Chr  12, 3; 16, 8) gleichzusetzen sein, dann handelt es sich um Libyer. Die Abgrenzung zu Put, das in V. 6 als Sohn Hams genannt ist, bleibt unklar. Die Naftuhiter (Naptūḥīm) werden meistens im Nildelta oder allgemein in Unterägypten lokalisiert. Auch eine Verbindung mit einem ägyptischen N  ʾ Ptaḥ (Leute des Ptah) oder N(w)t Ptaḥ (Stadt des Ptah), einem Namen des unterägyptischen Memphis, ist denkbar.76 Die Patrositer (Patrūsīm) sind die Bewohner des mehrfach als Patros bezeichneten Oberägypten (vgl. Jes 11, 11; Jer 44, 1. 15; Ez 29, 14; 30, 14), das von Mizrajim/Ägypten als eigener Landesteil unterschieden wird.77 Für die ansonsten nicht belegten Kasluhiter (Kaslūḥīm) wurde noch keine überzeugende Identifizierung vorgeschlagen.78 TJ denkt an die Bewohner der Pentapolis in der Cyrenaika, einer Landschaft im östlichen Libyen. Das klingt geographisch plausibel, ist aber das Ergebnis kontextbezogener Spekulation. Die Kaftoriter (Kaptōrīm) sind die Bewohner der Insel Kreta (Kaptōr  ; Dtn  2 , 23; Jer  47, 4; Am  9, 7 ). Nach Am  9, 7 und Jer  47, 4 ist Kreta der Ursprungsort der Philister. Die an die Kasluhiter angeschlossene Notiz „von dort kommen die Philister her“ dürfte daher eine an die falsche Stelle geratene gelehrte Glosse zu den Kaftoritern sein. Sie wollte auch die insbesondere aus den Erzählungen des Richterbuches und der Samuelbücher als sehr gefährliche Feinde Israels bekannten Philister erwähnt sein wissen.79

Der Abschnitt zu den Söhnen Kanaans gehört ebenfalls zu den nachgetra- V. 15 –19 genen genealogischen Notizen, die als Verbalsätze nach dem Muster „NN zeugte NN“ (*yld   ʾæt) formuliert sind. Bei den ersten beiden Söhnen handelt es sich um Einzelpersonen (V. 15; „sekundäre“ Ortsnamen), während im Folgenden Völker als Nachkommen aufgezählt werden (V. 16 –17 ). Hierauf folgt der Übergang vom fiktiven Ahnherrn Kanaan zu den Kanaanäern (V. 18b; „Sippen der Kanaanäer“), worauf sich in V. 19 eine geographische Beschreibung des Siedlungsraums der Kanaanäer anschließt. Diese stilistische und sachliche Vielfalt erklärt sich am ehesten mit der Aufnahme unterschiedlicher Materialien. So erinnert die Aufzählung der Jebusiter, Amoriter, Girgaschiter und Hiwiter an die deuteronomistischen Listen der Vorbewohner 75  Zu den vergeblichen Identifizierungsversuchen vgl. R.S. Hess, Art. „Anamim“, ABD  I (1992) 222  f. 76  Vgl. M. Görg, Art. „Naftuhiter“, NBL II (1995 ) 890. 77  Vgl. M. Görg, Art. „Patros“, NBL III (2001) 87. 78  Vgl. R.S. Hess, Art. „Casluhim“, ABD I (1992) 877  f. 79  Anders G.A. Rendsburg, Gen  10 : 13 –14: An Authentic Hebrew Tradition Concerning the Origin of the Philistines, JNWS  13 (1987 ) 89 –96, der an eine zweifache Migration der Philister nach Palästina denkt, und zwar aus dem Nildelta (Kasluhiter: Gen  10, 14) und über Kreta (Am 9, 7 ).

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des Israel von Jhwh zugesagten Landes (Dtn 7, 1; Jos 3, 10; 24, 11). Allerdings sind dort Hethiter und Kanaanäer in die Liste der Vorbewohner des Landes eingereiht, während sie hier den anderen Völkern genealogisch vorgeordnet sind und als Einzelpersonen erscheinen. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Erwähnung von Kanaan und Het dazu angeregt hat, die übliche Liste der Vorbewohner des Landes an dieser Stelle aufzunehmen. Die anschließend genannten Arkiter, Siniter, Arwaditer, Zemariter und Hamatiter spielen in den deuteronomistischen Listen hingegen keine Rolle. Es handelt sich durchweg um Gentilicia zu nordphönizischen Städten sowie zu dem mittelsyrischen Hamat am Orontes, was an eine entsprechende Liste von Handelspartnern denken lässt. Da solche Listen aber in der Regel Ortsnamen aufzählen (vgl. Ez 27 ), liegt es nahe, dass die Ortsnamen nach dem Vorbild der zuvor genannten Völker in Gentilicia umgeformt wurden. Die Völker der phönizischen und syrischen Stadtstaaten lassen sich Sidon zuordnen, dem Ahnherrn der gleichnamigen phönizischen Handelsstadt, die Vorbewohner des Landes hingegen Het, dem Ahnherrn der im Alten Testament ebenfalls zu den Vorbewohnern des Landes gezählten Hethiter. Dass Sidon ausdrücklich als Erstgeborener bezeichnet wird, dürfte den Vorrang anzeigen, den die Autoren den Phöniziern gegenüber den Völkern zubilligen, die nach alttestamentlicher Darstellung mit Israel um das Land konkurrieren.80 V. 19 umschreibt das Gebiet der Kanaanäer mittels einer Reihe von Ortsnamen, wobei das an erster Stelle genannte Sidon den Namen des erstgeborenen Sohnes Kanaans aufnimmt. Die ersten drei Ortsangaben schreiten die Mittelmeerküste vom südlichen Libanon bis zur Grenze nach Ägypten ab und begrenzen das Gebiet der Kanaanäer im Westen. Sodom, Gomorra, Adma und Zebojim werden von den alttestamentlichen Erzählungen (Gen  14; 19) im Bereich des Toten Meeres im Jordangraben verortet. Sie bezeichnen die südliche und östliche Grenze. Das an letzter Stelle genannte Lescha wird im Alten Testament nur hier erwähnt. Da die Beschreibung der Westgrenze von Norden (Sidon) nach Süden (Gaza) verläuft, lässt sich für die Ostgrenze ein Verlauf von Süden (Sodom) nach Norden (Lescha) vermuten, sodass Lescha gemeinsam mit Sidon die Nordgrenze markiert. Die Söhne Kanaans (V. 15 –18; non-P/R): Sidon (Ṣīdōn) liegt nördlich von Tyrus auf dem Gebiet des heutigen Libanon. Die bedeutende phönizische Handelsstadt markiert nach V. 19 die nördliche Grenze des Gebiets der Kanaanäer. Het (Ḥēt) ist der Ahnherr der Hethiter. Historisch sind die Hethiter zunächst mit dem Hethiterreich verbunden, das im 2 .  Jt. v. Chr. von Anatolien nach Syrien expandierte, wo die Bezeichnung den Untergang des Reiches überlebt hat. So bezeichnen neuassyrische Quellen zunächst das ehemalige Herrschaftsgebiet der Hethiter in Syrien als Land Ḫatti. Nach der Eroberung der späthethitischen Staaten im 8. Jh. v. Chr. weiten sie den Begriff auf ganz Syrien-Palästina aus. In Übereinstimmung mit dieser Begriffsausweitung zählen im Alten Testament die Hethiter zu den Vorbewoh80 

Seebaß, 261.

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nern des Landes, was nicht ausschließt, dass einige Texte diese auch im nördlichen Syrien lokalisieren. Sollte es sich bei den Völkerlisten in Gen 10, 16 –18 um eine noch spätere Ergänzung handeln, dann repräsentiert Het in Gen 10, 15 ursprünglich allein die Vorbewohner des Landes. Dies hat seine nächste Parallele in der sehr späten Einschreibung in Jos  1, 4, die das verheißene Land als „das ganze Land der Hethiter“ bezeichnet. Der Jebusiter (Y ebūsī ) ist nach alttestamentlicher Auffassung der (Vor-)Bewohner Jerusalems und seines Umlands ( Jos 15, 63; 18, 16; 2Sam 5, 6). Der Amoriter ( ʾÆmōrī ) dient in der deuteronomistischen Literatur als ein Sammelbegriff für die Vorbewohner des verheißenen Landes. Vorbild hierfür ist das in neuassyrischen Texten belegte Amurru. Bezeichnete der Ausdruck im 2 .  Jt. v. Chr. aus mesopotamischer Perspektive das „Westland“ im nördlichen Syrien und später auch politisches Gebilde in dieser Gegend, so wird er im 8 Jh. v. Chr. zur Chiffre für die „Westländer“ bis zum Negeb und ist mit Ḫatti fast austauschbar. Der Girgaschiter (Girgāšī ) und der Hiwiter (Ḥiwwī ) sind außerbiblisch nicht belegt. Sollte es sich nicht um Phantasienamen handeln, welche unbekannt und altertümelnd klingen und auf diese Weise die Vielfalt der Vorbewohner des Landes herausstellen, dann wird an die Bewohner begrenzter Regionen in Palästina zu denken sein, ohne dass sich dies präzisieren ließe. Der Arkiter ( ʿArqī ) ist der Einwohner der in keilschriftlichen Texten belegten Stadt Arqā, dem heutigen Tell   ʿArqa, nördlich von Tripolis im heutigen Libanon. Der Siniter (Sīnī ) ist der Einwohner eines in keilschriftlichen Texten belegten Ortes Šianu im heutigen Syrien, dessen Fürst in assyrischen Quellen als Mitglied einer antiassyrischen Koalition u.  a. neben Ahab von Israel und den Herrschern von Arwad, Hamat und Arqā in der Schlacht von Qarqar am Orontes (853 v. Chr.) aufgeführt ist. Der Arwaditer ( ʾArwādī ) ist der Einwohner der phönizischen Insel- und Hafenstadt Arwad im heutigen Syrien. Der Zemariter (Ṣ emārī ) ist der Einwohner der in keilschriftlichen Texten belegten Stadt Ṣimirra zwischen Arwad und Tripolis. Der Hamatiter (Ḥ amātī ) ist der Einwohner der am Orontes im heutigen Syrien gelegenen Stadt Hamat (hebräisch Ḥamāt), der Hauptstadt eines aramäischen Fürstentums. Das Gebiet der Kanaanäer (V. 19; non-P/R): Gerar (G   erār) wird im Alten Testament mehrfach genannt. V. 19 bringt Gerar mit Gaza in Verbindung, wobei die syntaktisch schwierige Wendung „in Richtung“ (bō   ʾakā ; wörtlich „dein Kommen“) eine Lage im südlichen Hinterland von Gaza andeutet. Gerar lag nach Gen 20, 1 im nordwestlichen Negeb und gehört nach Gen 26 zu den von den Philistern beanspruchten Gebieten, was jedoch umstritten war. Gaza ( ʿAzzā ), auf dem Gebiet der gleichnamigen modernen Stadt, ist auf dem Weg von Ägypten die erste Stadt in Palästina. Die Stadt war vom 15. bis zum 12 . Jh. v. Chr. Verwaltungssitz der ägyptischen Provinz Kanaan. Sodom (S edōmā ), Gomorra ( ʿAmōrā ), Adma ( ʾAdmā ) und Zebojim (Ṣ  ebōyīm) gehören mit dem hier nicht genannten Zoar zu den Städten, die nach dem sehr jungen Kapitel Gen  14 von vier Königen aus Mesopotamien angegriffen wurden. Diese Erzählung, die Abraham als einen den Mächtigen seiner Zeit in jeder Hinsicht überlegenen Patriarchen zeichnet, ist genauso wenig historisch wie diejenige von der Zerstörung von Sodom und Gomorra in Gen 18 –19. Die wenigen topographischen Hinweise in den Texten deuten darauf hin, dass man sich die Städte im Jordangraben vorstellte. Frühbronzezeitliche Ortslagen am Südostrand des Toten Meeres, deren Überreste

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im 1.  Jt. v. Chr. noch zu sehen waren, könnten möglicherweise den Anlass zu der (ätiologischen) Sage von der Zerstörung Sodoms und Gomorras und der gesamten Region südöstlich des Toten Meeres gegeben haben. Die Erwähnung in der Grenzbeschreibung in V. 19 ist das Ergebnis schriftgelehrter Geographie, die en passant die Kanaanäer mit Sodom und Gomorra, dem Symbol für Versündigung und göttliches Gericht, in Verbindung bringt. Lescha (Læ-ša ʿ) markiert womöglich die Nordgrenze Kanaans. In diesem Fall könnte es sich um eine Nebenform zu Lajisch/Leschem handeln und wäre mit Dan/ Tell el-Qāḍī bei den Jordanquellen zu identifizieren.

Die Aufzählung der Söhne Hams hat die umfangreichsten Erweiterungen in der Völkertafel erfahren. Es muss offenbleiben, ob die Nachträge in Gen  10, 8 –12. 13 –15. 16 –19 auf eine Hand zurückgehen. Die formalen Unterschiede sprechen eher dagegen. Für Gen 10, 9b. 16 –18 bleibt zu erwägen, dass die Nachträge selbst einer weiteren Bearbeitung unterzogen wurden. Wie dem auch sei, alle Nachträge teilen die in der Erzählung von Noach und seinen Söhnen begründete Abwertung Hams und seiner Nachkommen. Sem (zur Namenserklärung s. zu Gen 5, 32) hat fünf Söhne. Von zweien, 10, 21–31 Aram und Arpachschad, werden wiederum Söhne genannt, für Arpachschad auch noch Enkel, Urenkel und Ururenkel. Die Priesterschrift erwähnt in der Völkertafel nur die Söhne Arams, die Nachkommen Arpachschads folgen erst in der Genealogie Sems in Gen  11, 10 –26 (ihre Erwähnung in der Völkertafel geht auf die Redaktion zurück, s.  u.). Die zusammenfassende Unterschrift in V. 31 entspricht den Parallelen zu Jafet und Ham in V. 5. 20. In der priesterschriftlichen Völkertafel handelt es sich bei den Söhnen Sems um die Eponyme von Völkerschaften, die von den Söhnen Jafets und Hams umgeben im syrisch-mesopotamischen Raum beheimatet sind. Die Söhne Sems (V. 22; P): Elam ( ʿĒlām) ist der antike Name einer Landschaft und eines politischen Gebildes östlich von Babylonien und an der Nordostküste des Persischen Golfs mit der Stadt Susa als Zentrum. Den Höhepunkt seiner Machtentfaltung erreichte Elam im 2 . Jt. v. Chr. Das Alte Testament scheint nur unklare Vorstellungen von Elam zu haben. Hier steht es für die östlichste der um die Vorherrschaft in Mesopotamien und damit des alten Vorderen Orients ringenden Mächte. Das Elamische lässt sich keiner bekannten Sprache zuordnen und gehört jedenfalls nicht zu den „semitischen“ Sprachen. Assur ( ʾAššūr) bezeichnet im Alten Testament eventuell mit Ausnahme von Gen 2 , 14 nicht die gleichnamige Stadt, sondern stets das Kerngebiet des assyrischen Reiches im heutigen Nordirak. Anders als in der nachgetragenen Nimroderzählung wird Assur hier als „sekundärer“ Ortsname verwendet und bezeichnet den Ahnherrn Assyriens. Arpachschad ( ʾArpakšad    ) ist nach Gen  11, 11 der erstgeborene Sohn Sems und Ahnherr der zu Terach und Abraham führenden Linie. Dass Arpachschad in der Völkertafel an dritter Stelle erscheint, verdankt sich der geographischen Anordnung der Söhne Sems, wobei das Ordnungsprinzip wegen der Unsicherheiten in der Identifizierung von Lud und der Weite des von den Aramäern besiedelten Gebiets nicht ganz klar ist. Die Bedeutung und Herkunft des Namens ist umstritten. Neben Elam,

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Assur, Lud (  ?  ) und Aram dürfte es sich um einen weiteren „sekundären“ Ortsnamen handeln. Für den zweiten Teil des Wortes liegt eine Verbindung mit dem Gentilicium Kaśdīm „Chaldäer“ nahe (vgl. Jos.Ant. I, 144; Jub  9, 4). Der erste Teil könnte sich mit einer Wurzel * ʾrp erklären, von der sich das arabische ʾurfa „Grenze“ herleitet. Der Name hätte dann die Bedeutung „Grenze/Gebiet der Chaldäer“.81 Für diese Deutung spricht, dass das Gebiet der Chaldäer als das Herkunftsland Abrahams gilt (vgl. Gen  11, 28). Im Kontext der Völkertafel könnte es sich um eine verklausulierte Bezeichnung für Babylon handeln, dessen Nennung unter den direkten Vorfahren Abrahams die Priesterschrift mit Rücksicht auf das durchweg negative Image der Stadt im Alten Testament vermeiden wollte.82 Die Erwähnung von Lud (Lūd    ) ist im Kontext der sonst in Mesopotamien und Syrien zu lokalisierenden Söhne Sems schwierig, da es sich sehr wahrscheinlich um das kleinasiatische Lydien handelt, dessen Erwähnung eher unter den Söhnen Jafets zu erwarten wäre (vgl. o. S. 306 f zu Magog in V. 2 und S. 319 zu V. 13). Aram ( ʾArām) ist eine seit dem Ausgang des 2 . Jt. v. Chr. inschriftlich greifbare Völkergruppe, die in Nordsyrien die Nachfolge der Hethiter antrat und die sich seit dem 10. und 9. Jh. v. Chr. im Süden bis an den See Gennesaret ausbreitete. Von den aramäischen Kleinstaaten stand Aram-Damaskus über lange Zeit in heftiger militärischer Konkurrenz zu Israel. Das religiöse Zentrum der Aramäer war das in Nordwestmesopotamien gelegene und in der Abrahamgeschichte mehrfach erwähnte Haran (vgl. Gen 11, 26 –28). Die Ausbreitung der Aramäer in den mesopotamischen Raum spiegelt sich im Alten Testament in der Bezeichnung Aram Naharaim (’Aram Nah     arayim), dem „Aram der zwei Ströme“ für das Zweistromland (Gen 24, 10; Dtn 23, 5; Ri 3, 8; Ps 60, 2; 1Chr 19, 6). Die Söhne Arams (V. 23; P): Uz ( ʿŪṣ) ist der Name eines mutmaßlich im Nordwesten Arabiens gelegenen Gebietes ( Jer  25, 20; Hi  1, 1; Klgl  4, 21), das im Alten Testament entweder mit Aram (Gen  10, 23; 22 , 21) oder mit Edom (Gen  36, 28: Dies sind die Söhne Dischans: Uz und Aran [  !  ]) in Verbindung gebracht wird. Hul (Ḥūl ) ist nur hier und in 1Chr  1, 17 belegt. Der unbekannte Orts- oder Personenname wird von Josephus mit Armenien identifiziert ( Jos.Ant. I, 145). Geter (Gæ-tær) ist ebenfalls ein nur hier und in 1Chr  1, 17 belegter, sonst unbekannter Orts- oder Personenname. Josephus denkt an das nördlich des Hindukusch gelegene Baktrien ( Jos.Ant. I, 145), das zum Herrschaftsgebiet der Achämeniden und später der Seleukiden gehörte. Das passt wie die Identifizierung von Hul mit Armenien kaum zu Aram, lässt sich aber eventuell mit der Lesart der sogenannten Kriegsrolle aus Qumran in Verbindung bringen. Diese liest Togar (twgr) statt Geter. Das könnte durch eine einfache Vertauschung der Buchstaben verursacht sein oder es beruht auf der Gleichsetzung mit den von klassischen Autoren genannten Tocharern, die nach dem Geographen Strabo an der Eroberung des griechisch-baktrischen Reiches im 2 Jh. v. Chr. beteiligt gewesen sind. Eine alternative Deutung verbindet Geter mit Geschur (2Sam 13 f ), was besser zu Aram passen würde.83 Masch (Maš     ) ist im Alten Testament nur hier belegt. Die Reprise der Völkertafel in 1Chr 1, 17 bietet statt Masch einen weiteren Meschech neben dem Sohn Jafets (vgl. Vgl. Simons, Texts, §  24. Seebaß, 263. 83  Vgl. F. Schücking-Jungblut, Art. „Geschur“, WiBiLex (2017 ). 81  82 

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Gen  10, 2). Auch die LXX geht von einer Namensgleichheit aus (Μοσοχ). Das anatolische Meschech lässt sich aber kaum mit den aramäisch besiedelten Gebieten in alttestamentlicher Zeit verbinden.

V. 21. 24  –30 Die als Verbalsätze nach dem Muster „NN zeugte NN“ (*yld   ʾæt) formulier-

ten genealogischen Notizen zu den Nachkommen Arpachschads gehen auf eine nachpriesterschriftliche Ergänzung zurück. Anders als bei den Namen der übrigen Nachfahren von Sem, Ham und Jafet (mit Ausnahme Nimrods) handelt es sich bei Schelach, Eber, Peleg (zur Bedeutung s. zu Gen 11, 12 –17 ) und Joktan recht wahrscheinlich um echte Personennamen, die zudem (mit Ausnahme von Joktan) in dieser Reihenfolge auch in der priesterschriftlichen Genealogie Sems in Gen  11, 10 –26 aufgeführt werden. Den Grund für die Doppelung erhellt die Erläuterung zu Peleg (Pǣlæg) durch das etymologisierende Wortspiel „denn zu seiner Zeit verteilte sich (*plg ni.) die Menschheit“ in V. 25. Sie hat keine Entsprechung in Gen  11, 10 –26 und bereitet die erzählerische Entfaltung des Werdens der Völker (Gen  10, 32b; P) durch die Turmbauerzählung (Gen  11, 1–9; non-P) vor. Aus diesem Grund endet die Vorwegnahme auch mit Peleg und der Generation, in der durch das etymologisierende Wortspiel die in Gen  11, 1–9 berichteten Geschehnisse verortet werden. Zudem sollte die wichtigste Linie der Nachkommen Sems wohl schon in der Völkertafel Erwähnung finden, da diese im vorliegenden Kontext von ihrer ursprünglichen Fortsetzung mit der Genealogie Sems in Gen 11, 10 –26 getrennt ist. In die gleiche Richtung weist die Einführung zu den Söhnen Sems in V. 21, die der priesterschriftlichen Überschrift nachträglich vorgeschaltet worden ist. Dass sie von vornherein mit Blick auf V. 22 formuliert worden ist, zeigt sich schon an dem fehlenden Subjekt zu „wurden geboren“ (*yld q. pass.). Wie die sehr ähnliche Formulierung in Gen 4, 26 („Und auch Set wurde ein Sohn geboren“; vgl. auch 10, 25) zeigt, setzt V. 21 die gedankliche Ergänzung des „Söhne“ am Anfang von V. 22 voraus.84 Der Grund für die auf den ersten Blick ungeschickte Verdoppelung ist die Notiz in V. 21, wonach Sem der Vater aller Söhne Ebers ist. Nach Gen  10, 24 ist Sem der Urgroßvater Ebers und damit Ururgroßvater von dessen Söhnen. Aus diesem Grund wird „Vater“ in V. 21 als Stammvater der Nachkommen Ebers zu verstehen sein. Dessen Linie unter den Söhnen Sems wird deswegen im Vorhinein so prominent herausgestellt, weil Eber ( ʿĒbær) im Unterschied zu Gen  11, 14 als Ahnherr der Hebräer ( ʿIbrīm), der Bezeichnung der Israeliten für und durch Fremde, verstanden wird.85 Die anschließende Klarstellung in V. 21, dass Sem der ältere Bruder Jafets ist, könnte im Zusammenhang mit der später belegten Polemik stehen, dass die jüdische Kultur älter ist als diejenige der Griechen. Eine Erwähnung des mittleren Bruders Ham erübrigt sich an dieser Stelle, weil er nach Gen 9, 18 –29 ohnehin „aus dem Spiel ist“. 84  85 

Der Gebrauch von *yld q. pass. ohne Subjekt ist singulär. Vgl. Skinner, 218  f. Jacob, 290.

Die Völkertafel

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Die Liste der 13  Söhne von Pelegs „kleinem“ (hebräisch qāṭān) Bruder Joktan (Yåqṭān; möglicherweise von einer Wurzel *qṭn „klein sein“)86 setzt die Ergänzung der Söhne Arpachschads voraus; eventuell handelt es sich um einen noch jüngeren Nachtrag. Soweit sich die Namen geographisch identifizieren lassen, weisen sie in den südarabischen Raum. Die zusammenfassende Notiz über ihre Wohngebiete in V. 30 hilft dagegen nicht weiter. Die Ortsangaben in V. 30 sind durchweg unsicher, und die erwogenen Identifizierungen verdanken sich allein dem Umstand, dass nach Orten im Bereich der arabischen Halbinsel gesucht wird: Der Ortsname Mescha (Mēšā ) ist im Alten Testament singulär. Denkbar ist eine Verbindung mit einer bei Ptolemäus (Ptol.geogr. 8, 22. 6) Μουσα und bei Plinius (Plin.nat.hist. 6, 104) Muza genannten Hafenstadt an der südarabischen Küste des Roten Meeres. Die Lage von Sefar (S epār) ist ungeklärt. Die Angabe „das Ostgebirge“ (har haqqǣdæm) ist für eine Lokalisierung zu allgemein. Immerhin siedeln nach Gen 25, 6 die Söhne Abrahams und seiner Nebenfrauen, darunter die Söhne der Ketura (s.  o. zu V. 7b unter „Saba“), in dem als ʾǣræṣ qǣdæm „Land des Ostens“ bezeichneten Arabien. Die Söhne Joktans (V. 26 –29; non-P/R): Almodad ( ʾAlmōdād    ) wird nur noch in 1Chr  1, 20 erwähnt. Sollte der Transkription des Namens in der LXX (Ελμωδαδ) zu folgen sein, würde er „Gott ist Freund“ bedeuten. Die masoretische Vokalisierung lässt eine Verbindung zum arabischen ʾāl „Familie, Klan“, hier dem Klan der Mōdād, zu. Ähnlich lautende Namen sabäischer Stämme führen in den Süden der arabischen Halbinsel in das Gebiet des heutigen Jemen.87 Schelef (Šǣlæp) wird ebenfalls nur noch in 1Chr  1, 20 erwähnt und mit südarabischen Stammesnamen wie Sulaf, Salif, Silf u.  ä. in Verbindung gebracht.88 Hazarmawet (Ḥaṣarmāwæt) gehört neben Saba zu den wenigen mit Sicherheit identifizierbaren Namen unter den Söhnen Joktans. Es handelt sich um das im Osten von Saba gelegene südarabische Reich von Ḥaḍramaut mit der Hauptstadt Šabwa. Wirtschaftliche und politische Bedeutung erlangte Ḥaḍramaut durch seine Kontrolle über die Anbauregionen des Weihrauchs und als Ausgangspunkt der Weihrauchstraße. Jerach (Yæ-raḥ) ist als Stammes- oder Ortsname nur hier und in 1Chr  1, 20 belegt. Eine sabäische Inschrift aus dem 7.  Jh. v. Chr. erwähnt einen Ort wrḫn, der eventuell mit dem späteren Warāḫ im Südwesten des heutigen Jemen gleichzusetzen ist. Die hebräische Form des Stammesnamens ist identisch mit dem Wort für „Mond, 86  Die häufiger vorgenommene Verbindung mit el-qaḥṭān, der arabischen Bezeichnung für die Bewohner des südlichen Teils der arabischen Halbinsel, passt der Sache nach, lässt sich aber nur schwer begründen. Vgl. Simons, Texts, §  136. Der Hinweis, dass Joktan arabischen Autoren unter dem Namen Qahtan als Stammvater der „reinen Araber“ gilt (vgl. Dillmann, 198), besagt wenig, da er in die Nachgeschichte des biblischen Textes gehört: „In den anderthalb Jahrhunderten nach Mohammeds Tod arbeiteten muslimische Gelehrte ganze Genealogien der arabischen Stämme aus und verknüpften sie mit den Genealogien der Bibel“ (W.M. Watt/A.T. Welch, Der Islam. Bd.  1  Mohammed und die Frühzeit, Islamisches Recht, Religiöses Leben, Die Religionen der Menschheit 25/1, Stuttgart 1980, 124). 87  Vgl. W.W. Müller, Art. „Almodad“, ABD I (1992) 160  f. 88  Dillmann, 198  f.

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Genesis 10, 1–32

Monat“ (    yārē aḥ), im Hintergrund könnte die große Bedeutung des Mondgottes im altsüdarabischen Pantheon stehen.89 Hadoram (Hadōrām) ist eventuell mit dem in sabäischen Inschriften erwähnten dwrm, dem nordwestlich von Ṣan ʿā   ʾ, der Hauptstadt des heutigen Jemen, gelegenen Dauram zu identifizieren. Die hebräische Namensform beruht eventuell auf einer Angleichung an den gleichlautenden Personennamen (vgl. 1Chr 18, 10; 2Chr 10, 18).90 Usal ( ʾŪzāl ) ist außer in der Völkertafel und der Reprise in 1Chr 1, 21 noch in der Liste der Handelspartner von Tyrus in Ez 27, 19 belegt. Nach arabischer Tradition ist ʾŪzāl der vorislamische Name für Ṣan ʿā   ʾ, die Hauptstadt des heutigen Jemen. Dikla (Diqlā ) wird nur hier und in 1Chr 1, 21 erwähnt. Der Name wird in der Regel mit dem syrischen deqlā, dem mittelhebräischen dæ-qæl und dem mandäischen diqla „Dattel(-Palme)“ erklärt und als eine Bezeichnung für eine palmenreiche Gegend in Südarabien gedeutet. Die genaue Lage ist unbekannt. Obal ( ʿŌbāl ) ist im Alten Testament nur hier belegt (der Name fehlt in der LXX). Denkbar ist eine Verbindung mit dem südarabischem Ort ʿŪbāl zwischen Ḥudayda und Ṣan ʿā   ʾ und dem Stamm Banū ʿ Ūbāl, die beide in das Gebiet des heutigen Jemen verweisen. Die Schreibweise ʿĒbāl in 1Chr 1, 22 kann wie das ʿĪbal des Sam durch den in Gen  36, 23; 1Chr  1, 40 erwähnten edomitischen Personennamen oder den gleichlautenden Namen des bei Sichem gelegenen Berges angeregt sein.91 Abimaël ( ʾAbīmā   ʾēl ) ist nur hier und in 1Chr  1, 22 belegt. Eine befriedigende Identifizierung ist noch nicht gelungen. Die Namensbildung lässt sich als „(Mein) Vater ist Gott“ ( ʾāb „Vater“ + enkl. Partikel -ma + ʾēl „Gott“) erklären. Saba (Š ebā ) wird wie Hawila (Ḥawīlā ) nach V. 7 (P) zu den Söhnen Hams gerechnet (zur Lokalisierung s. dort und zu Gen 2 , 10 –14). Für Hawila erklärt sich die zweifache genealogische Zuordnung vielleicht damit, dass Hawila auf den beiden gegenüberliegenden Küsten am Roten Meer zu lokalisieren ist und insofern ein afrikanisches (Ham) und ein arabisches ( Joktan) Hawila unterschieden werden kann. Die Erwähnung von Saba dürfte durch die anderen in den südarabischen Raum weisenden Namen veranlasst sein. Wo Ofir erwähnt wird, darf das sagenumwobene Saba nicht fehlen. Ofir ( ʾŌpīr) ist nach alttestamentlicher Darstellung der Herkunftsort kostbarster Handelsgüter wie exotischer Tiere, Edelhölzer, Edelsteine und Gold (1Kön 10, 11. 22). Dass diese auf dem Seeweg nach Ezjon-Geber am Nordende des Golfs von Aqaba transportiert wurden, spricht wie die genealogische Verbindung mit dem Königreich der Sabäer für eine (ungefähre) Lokalisierung im Südwesten Arabiens oder am Horn von Afrika. War Ofir in erster Linie eine Handelszentrale für Güter aus Ostafrika und Südarabien, so müssen nicht alle genannten Produkte von dort stammen – mit Ausnahme des Goldes, da Ofir auch eine Qualitätsbezeichnung für ein bestimmtes Gold ist (Ps 45, 10; 1Chr 29, 4; HAE I 229 f ). Jobab (Yōbāb) ist als Orts- oder Stammesname nur hier und 1Chr 1, 23 belegt. Daneben begegnet Jobab als Name eines Königs von Edom (Gen 36, 33 f ), eines kanaanäischen Königs von Madon ( Jos  11, 1) und einer benjaminitischen Sippe in Moab (1Chr 8, 9). Wie die anderen „Söhne Joktans“ wird es sich bei Jobab in Gen 10, 29 um einen südarabischen Stamm handeln. Der Name leitet sich eventuell von einer Wurzel *wbb oder *ybb „laut schreien“ ab: „Der Gott NN triumphiert“. Vgl. W.W. Müller, Art. „Jerah“, ABD III (1992) 683. Vgl. W.W. Müller, Art. „Hadoram“, ABD III (1992) 16. 91  Vgl. W.W. Müller, Art. „Obal“, ABD V (1992) 4  f. 89  90 

Die Völkertafel

331

Mit dem kolophonartigen Abschluss der Völkertafel greift die Priesterschrift 10, 32 auf die Überschrift in V. 1 und die Zwischenunterschriften zu Jafet, Ham und Sem in V. 5. 20. 31 zurück. Die Wendung „nach ihren Zeugungen/Toledot“ stellt die segmentäre Auffaltung heraus (vgl. Ex 6, 19).92 Der abermalige Hinweis auf die Flut (vgl. V. 1) betont, dass mit der Völkertafel in der priesterschriftlichen Urgeschichte wie auch im vorliegenden Textzusammenhang ein Einschnitt markiert ist. Nach der Entstehung der Völkerwelt fokussiert sich die Darstellung immer stärker auf die über Abraham zu Israel führende Geschichte. In der Priesterschrift folgt die Genealogie der Nachkommen Sems. In der Endgestalt der Urgeschichte ist die Turmbauerzählung als narrative Entfaltung der Verteilung der Völker eingeschaltet.

92 

Vgl. Hieke, Genealogien, 30.

IX. Genesis 11, 1–9: Der Turmbau zu Babel 11, 1 Einst hatte1 die ganze Menschheit2 eine Sprache und einerlei3 Worte4. 2 Und es geschah, als sie nach Osten5 aufbrachen, da fanden sie eine Ebene im Land Schinar 6 und ließen sich dort nieder.   3 Und sie sprachen einer zu seinem Nächsten: Wohlan, streichen wir Ziegel und brennen wir zu Brand! Und der Ziegel diente ihnen als Stein und das Erdpech diente ihnen als Mörtel.   4 Da sprachen sie: Wohlan, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm, dessen Spitze soll im Himmel sein, und machen wir uns einen Namen, damit wir uns nicht zerstreuen über die ganze Erde!   5 Da stieg Jhwh herab, um die Stadt und den Turm zu sehen, welche die Menschensöhne gebaut hatten7.   6 Und Jhwh sprach: Sieh! Ein Volk und eine Sprache für sie alle. Und dies ist [erst] ihr Anfang zu handeln. Jetzt aber wird ihnen nichts unmöglich sein von dem, was immer sie sich zu machen vornehmen.   7 Wohlan, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, dass nicht einer die Sprache seines Nächsten versteht!   8 Da zerstreute Jhwh sie von dort über 1  Die LXX gibt das einführende way  ehī anders als sonst üblich nicht mit καὶ ἐγένετο „und es geschah“ wieder, sondern versteht es wie die Mehrzahl der modernen Bibelübersetzungen als Prädikat zu kål hā-’āræṣ, wobei sich das mask. way  ehī entweder auf das mask. kål (vgl. Uehlinger, Weltreich, 33) oder auf das fem. hā-’āræṣ (vgl. Jacob, 297 ) bezieht: καὶ ἦν πᾶσα ἡ γῆ χεῖλος ἕν „und es war/hatte alle Welt eine Sprache“. Wahrscheinlicher ist indes, dass es sich um eine Eröffnung handelt, die das Folgende als Situation in der Vergangenheit charakterisiert. Vgl. Skinner, 224. 2  Wörtlich „Welt“. TN liest hier und in V. 9aβ (dort auch TJ) verdeutlichend „alle Bewohner der Erde“, MT bietet die ursprüngliche Lesart, in der sorgfältig unterschieden wird zwischen kål hā’āræṣ „alle Welt“ = „die ganze Menschheit“ (vgl. V. 1. 9aβ) und ʿal p enē kål hā-’āræṣ „die ganze Erde“ = „die bewohnte Erde“ (vgl. V. 4b. 8a. 9b). 3  „Die Cardinalzahlen 1 und 2 kongruieren wie Adjektiva mit dem Gezählten.“ HS §  83 a. 4  LXX ergänzt in Korrespondenz zur Jhwh-Rede in V. 6 „ihnen allen“. 5  Die Präposition min zeigt wie in Gen  13, 11 („da brach Lot nach Osten auf“; vgl. Gen  3, 24; Sach 14, 4; Jon 4, 5) die Richtung des Aufbruchs an. Vgl. u.  a. Tuch, 273; Dillmann, 205; Holzinger, 110; Jacob, 297; Witte, Urgeschichte, 92 mit Anm. 59. Die Mehrzahl der Auslegungen folgt jedoch den antiken Versionen (außer Jub 10, 19) und übersetzt „von Osten“. 6  TO, TJ, TN bieten für das sehr gut bezeugte „Land Schinar“ im Vorgriff auf die Namensätiologie in V. 9 „im Land Babel“. 7  In der Regel wird der Relativsatz mit „die die Menschen bauten“ übersetzt (so auch in der 1. Auflage dieses Kommentars). Die Abfolge von Relativpronomen (ʾašær) und Verb im qatal (bānū ) beschreibt aber eine Handlung, die bereits abgeschlossen ist. Vgl. GK § 106 f. Die Schwierigkeit besteht darin, dass V. 8 davon auszugehen scheint, dass der Bau noch nicht vollendet war. Eine gängige Erklärung bietet Dillmann, 206: „um das Werk, welches, d. h. so weit es die Menschensöhne gebaut hatten (es war noch nicht fertig, V. 8), zu besichtigen.“ Eine andere Lösung schlägt Vanderhooft, Babylon, 44  –  49, vor. Danach bezieht sich V. 5 auf den bereits vollendeten Turm in der noch im Bau befindlichen Stadt, deren Fertigstellung durch Jhwh verhindert wird (V. 8), womit der Turm keinen praktischen Nutzen mehr gehabt habe. Entsprechend erwähne V. 8 auch nur noch die Stadt.

Der Turmbau zu Babel

333

die ganze Erde, weshalb sie aufhörten, die Stadt8 zu bauen.   9 Darum nennt man ihren Namen Babel, denn dort vermengte Jhwh die Sprache der ganzen Menschheit. Und von dort hat Jhwh sie über die ganze Erde zerstreut. Analyse: Der Abschnitt geht zur Gänze auf die Redaktion zurück.

Die Turmbauerzählung ist eine relativ selbständige, in sich geschlossene Kontext Einheit. Der Abschluss der vorangehenden Toledot der Söhne Noachs (Gen 10, 31 f ) und der Auftakt der nachfolgenden Toledot Sems (Gen 11, 10) nennen jeweils ausdrücklich die Flut als „ereignisgeschichtlichen“ Orientierungspunkt. Dadurch entsteht der Eindruck eines chronologischen Déjà-vu, das die Turmbauerzählung aus der Zeit- und Generationenfolge der vorangehenden und nachfolgenden Genealogien der Menschheit nach der Flut herausnimmt. Dieses eigentümliche Jenseits der Turmbauerzählung zur zeitlichen Struktur des Kontextes und zu seiner Erzählfolge eröffnet ihrem Erzähler die Möglichkeit, nachholend den Anlass und die näheren Umstände zu entfalten, unter denen sich die erstmals in Gen 9, 19 erwähnte und dann in der Völkertafel in Gen 10 konstatierte Vielfalt und Ausbreitung der Völker und Sprachen (vgl. Gen  10, 20. 31) vollzogen hat.9 So gehört die Turmbauerzählung zwar selbst nicht zum priesterschriftlichen Textbestand der Urgeschichte, doch ist sie im vorliegenden Textzusammenhang eng mit der priesterschriftlichen Völkertafel verbunden. Die Exposition in V. 1 teilt knapp und bündig das notwendige, offenbar nicht Aufbau aus dem Kontext ableitbare Vorwissen für das Verstehen der mit V. 2 einsetzenden Erzählung mit. Die Erzählung schließt in V. 9 mit einer Ätiologie, in der Motive aus der Exposition und dem Anfang der Erzählung in umgekehrter Reihenfolge wiederkehren. Der Ort des Geschehens in der Ebene Schinar wird mit Babel (Babylon) identifiziert, wobei die Begründung für die Namensgebung der Stadt das Thema der einen Sprache der ganzen Menschheit aus der Exposition aufgreift (V. 9a) und zugleich die Verkehrung der Ausgangssituation durch die geschilderten Ereignisse konstatiert (V. 9b). Innerhalb dieses Rahmens ist eine Zweiteilung zu notieren. Die V. (2.) 3 –  4 sind durch menschliches Handeln und Reden bestimmt, die V. 6 –8 durch das Reden und Handeln Jhwhs. Den Übergang bildet V. 5, der erstmalig vom Handeln Jhwhs berichtet und dies ausdrücklich in einen Zusammenhang mit demjenigen der Menschen stellt. Innerhalb dieser Grundstruktur lassen sich zahlreiche Querbezüge aufzeigen. Dies ist häufig im Sinne einer konzentrischen Struktur ausgedeutet worden, doch erfasst keines der verschiedenen

8  LXX und Sam bieten eine mit V. 5 (vgl. V. 4) harmonisierende Lesart und ergänzen neben der nota accusativi auch den Turm. MT (vgl. auch TO; TJ; TN und Vulg) ist als die besser bezeugte, kürzere und im Kontext schwierigere Lesart zu bevorzugen. 9  So schon Tuch, 266; Dillmann, 202 .

334

Genesis 11, 1–9

Modelle den gesamten Text.10 Daher erscheint es angemessener, von Parallelen ohne eine strenge konzentrische Struktur zu sprechen:11 1.  Feststellung der einen Sprache der Menschheit (V. 1) und der Verlust derselben (V. 9aβ); 2.  „sie ließen sich dort nieder“ (V. 2b) – „von dort hat Jhwh sie zerstreut“ (V. 9b); 3.  „sie sprachen einer zu seinem Nächsten“ (V. 3a) – „dass nicht einer die Sprache seines Nächsten versteht“ (V. 7b); 4.  der mit hābā „wohlan!“ und Kohortativ Plural formulierte Entschluss der Menschen, Baumaterialien herzustellen (V. 3a), wird in der Formulierung des Entschlusses zum Bau von Stadt und Turm aufgenommen (V. 4); 5.  der Entschluss zum Bau von Stadt und Turm (V. 4) hat wiederum sein Gegenüber in dem mit hābā „wohlan!“ und Kohortativ Plural formulierten Entschluss Jhwhs, in das Geschehen einzugreifen (V. 7a); 6.  der Entschluss der Menschen und derjenige Jhwhs sind jeweils mit einer Absichtserklärung versehen (V. 4b und V. 7b); 7.  dem Vorhaben der Menschen, dass die Spitze des Turms bis in den Himmel reichen soll (V. 4a), korrespondiert die Notiz vom Herabsteigen Jhwhs, um das Bauwerk zu sehen (V. 5a); 8.  das Ziel der Menschen, sich nicht zu zerstreuen (V. 4b), findet sein Gegenüber im Bericht von Jhwhs Zerstreuen der Menschen (V. 8a). Dass die parallele Struktur nicht schematisch wirkt, liegt an einer interessanten Unebenheit im Verhältnis der Ankündigungen und Schilderungen von Handlungen. Einerseits wird keine der Handlungen geschildert, die zuvor in einer Rede angekündigt worden sind. Andererseits fehlt für jede geschilderte Handlung eine entsprechende Ankündigung. Die Ausführung der lediglich angekündigten Handlungen wird offenkundig vorausgesetzt, ohne dass dies eigens notiert wird oder beim Lesen des Textes irritiert. Auf diese Weise gewinnt die Erzählung an Dichte, worin sich eine Kunstfertigkeit des sprachlichen Ausdrucks zeigt, die über die bloße Symmetrie hinausgeht. Entstehung Trotz der durchdachten Struktur und sprachlichen Kunstfertigkeit der Er-

zählung wurde immer wieder die literarische Einheitlichkeit der Turmbauerzählung angezweifelt, was zu recht unterschiedlichen Rekonstruktionen ihrer Entstehungsgeschichte geführt hat.12 Stein des Anstoßes ist das Nebeneinander von Sprachverwirrung und Zerstreuung und der dazugehöri-

10  Vgl. insbesondere I.M. Kikaweda, The Shape of Gen  11: 1–9, in: J.J. Jackson/M. Kessler (Hg.), Rhetorical Criticism (FS J. Muilenburg), Pittsburgh theological monograph series 1, Pittsburgh 1974, 18 –32 , und zuletzt Arneth, Adam, 221, sowie das Referat und die Kritik bei Uehlinger, Weltreich, 296 –301. 11  Seebaß, 274. 12  Vgl. für eine ausführliche Diskussion Gertz, Babel, 18 –24; ferner A. van der Kooij, The City of Babel and the Assyrian Imperialism: Genesis 11, 1–9 Interpreted in the Light of Mesopotamian Sources, in: A. Lemaire (Hg.), Congress Volume Leiden 2004, VT.S 109, Leiden/Boston 2006, 1–17, 1–7.

Der Turmbau zu Babel

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gen Ätiologien in V. 9a und V. 9b. Dies wurde zunächst als Hinweis auf eine sekundäre Verbindung einer Stadt- und einer Turmbaurezension ausgewertet.13 Da jedoch keine der beiden rekonstruierten Versionen einen in sich stimmigen Text bietet,14 konnte sich die quellenkritische Erklärung nicht halten. Stattdessen wird überwiegend mit der Bearbeitung einer Grundschicht gerechnet,15 wobei das Zerstreuungsmotiv in der Regel als nachgetragen gilt.16 Vermutlich steht hinter dem quellenkritischen wie dem redaktionsgeschichtlichen Modell die Einschätzung, dass eine kurze Erzählung unmöglich zwei Grundmotive haben könne. Doch darf man die beiden Motive nicht gegeneinander ausspielen: Wird  V. 8a (Zerstreuungsmotiv) als redaktionell gestrichen, dann fehlt in der Turmbauerzählung jeglicher Bericht über eine Aktion Jhwhs. Wird V. 7b (Motiv der Sprachverwirrung) gestrichen, dann fehlt die Absichtserklärung Jhwhs. Letzteres wäre schon deswegen auffällig, weil diese ihr Gegenüber in der Absichtserklärung der Menschen hat (V. 4b; Zerstreuungsmotiv!). Auch vermögen die beigebrachten Textbeobachtungen das Gewicht der verschiedenen redaktionsgeschichtlichen Thesen nicht zu tragen, worauf bei der Kommentierung im Einzelfall einzugehen ist. Dass in der Turmbauerzählung zwei Grundmotive zu erkennen sind, ist mit der Annahme literarischer Einheitlichkeit keineswegs bestritten. Im Gegenteil: Der Verfasser von Gen 11, 1–9 hat die Motive der Zerstreuung und der Sprachverwirrung für seine Erzählung kombiniert. Für das Motiv der Sprachverwirrung darf man vielleicht eine Herkunft aus einem Spottgedicht über Babel erwägen.17 Verifizieren lässt sich diese Vermutung allerdings kaum. Die Isolierung des Motivs gibt allenfalls Umrisse einer solchen Überlieferung zu erkennen.18 Für das Motiv der Zerstreuung liegt es dagegen nahe, dass der Verfasser von Gen  11, 1–9 dieses dem Kontext entnommen hat (vgl. Gen  9, 19; 10, 31–32). Die Bedeutung dieser Beobachtung für die literarhistorische Einordnung der Turmbauerzählung ist im Anschluss an die Kommentierung zu bedenken. Die Einleitung der Turmbauerzählung hat immer wieder literarkritischen 11, 1–2 Anstoß erregt. Grund hierfür ist die Eröffnung von V. 1 und V. 2 mit way  ehī „einst/und es geschah“. Das Quellenmodell erkannte in den beiden Versen 13  Gunkel, 92 –97. Stadtrezension mit Sprachverwirrung zu Babel in V. 1. 3 a. 4 aα [bis Stadt]. 4 β. 1 5[nur Stadt]. 6aα. 7. 8b. 9a; Turmrezension mit „Turmbau zu Piz“ (freie Bildung aus pwz „zerstreuen“ in V. 9b): V. 2 . 3b. 4aα2[ab Turm]b. 5[ohne Stadt]. 6aβb. 8a. 9b. 14  Zur Kritik an Gunkel vgl. Cassuto, II 236; Seybold, Turmbau, 456 –  458 . 15  Vgl. Seybold, Turmbau, 453 –  479; Uehlinger, Weltreich, 305 –343 und passim; Levin, Jahwist, 127–132; Witte, Urgeschichte, 87–99; Kratz, Komposition, 258  f. Für die literarische Einheitlichkeit vgl. Weisman, Political Satire, 41 f; zuletzt auch Seebaß, 274, 283  f. 16  Anders Levin, Jahwist, 127, 132; Kratz, Komposition, 258 . Sie halten das Motiv der Sprachverwirrung für sekundär. 17  Mit Witte, Urgeschichte, 87–99, der recht zuversichtlich V. 2*[nur way  ehī b e- ʾǣræṣ šin ʿār  ] 4 a. 5 a. 8b(  ?  ). 9aα als Bestand eines derartigen Spottgedichts identifiziert. 18  Vgl. Grossmann, Etymology, 372 f: „[T]he final product is the result of intensive redaction, to the extent that the reader cannot categorically distinguish between the two layers.“

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Genesis 11, 1–9

jeweils eigenständige Erzählanfänge.19 In redaktionsgeschichtlichen Erklärungen gelten der wegen seiner Syntax zumeist als ungewöhnlich empfundene V. 1 und die korrespondierende Ätiologie des Städtenamens Babels in V. 9a als sekundäre Einbindung der Erzählung in ihren Kontext.20 Doch das zweifache way  ehī sollte nicht überbewertet werden, da es jeweils eine unterschiedliche Funktion hat. In V. 1 eröffnet es wie andernorts einen Nominalsatz, der die in der Vergangenheit liegende Ausgangssituation der Erzählung schildert. In V. 2 handelt es sich um die übliche Einleitung einer Handlung.21 Gegen eine Ausscheidung von V. 1 spricht zudem, dass dann in V. 2 dem Suffix in b e-nås  ʿām „als sie aufbrachen“ das Bezugswort fehlen würde.22 Ein Erzählanfang ohne präzise Nennung des Subjekts hat aber alle Wahrscheinlichkeit gegen sich. Die Exposition in V. 1 beschreibt ein gemeinsames Handeln der einen Menschheit (kål hā- ʾāræṣ), die auch in den folgenden Versen als Subjekt auftritt. Damit gibt sich die Turmbauerzählung als Mythos von der Urzeit zu erkennen, was zeitgeschichtliche Anspielungen natürlich nicht ausschließt. Die Ausgangssituation wird mit der singulären Wendung „eine Sprache und einerlei Worte“ (śāpā   ʾæḥāt ū-d  ebārīm ʾaḥādīm) geschildert. Im Zusammenhang mit Sprache bezeichnet der Ausdruck śāpā „Lippe“ zumeist das konkrete Sprechen und die Sprachfähigkeit (vgl. Ex  6, 12. 30; Hi  12, 20), kann aber auch eine bestimmte Sprache bezeichnen (vgl. Jes 19, 18 „kanaanäische Sprache“). Im Unterschied zu dem in der Regel für einzelne Idiome gebrauchten lāšōn „Zunge/Sprache“ (vgl. Gen  10, 5. 20. 31) betont śāpā   ʾæḥāt ū-d  ebārīm   ʾaḥādīm die gemeinsame Intention der Sprechenden, wie sie sich in dem gemeinsamen Bauprojekt ausdrückt (vgl. V. 3 –  4) und von Jhwh mit Sorge betrachtet wird (vgl. V. 6). Gleichwohl ist auch der Aspekt der verschiedenen Sprachen im Blick. Wegen der Verbindung mit dem wohl auf ein gemeinsames Vokabular zielenden Ausdruck „einerlei Worte“ und der „einen Menschheit“ als Subjekt besteht nämlich kein Zweifel daran, dass die Erzählung in einer Zeit angesiedelt ist, in der die Differenzierung in Völker und Sprachen noch nicht stattgefunden hat. Am Schluss der Erzählung ist diese Ausgangssituation in ihr Gegenteil verkehrt: Jhwh hat die Sprache (śāpā ) der einen Menschheit vermischt (V. 9a) und die Menschen über die ganze Erde zerstreut (V. 9b). Insofern zielt die Turmbauerzählung auch auf die Herleitung der Differenzierung der Menschheit in Völker und Sprachen. In der Auslegungsgeschichte haben sich hieran immer wieder die Suche nach der gemeinsamen Ursprache der Menschheit oder sprachphilosophische ÜberErstmals Gunkel, 92 –94. Seybold, Turmbau, 458  f. Zur Syntax von V. 1 s.  o. Anm. 1. 21  Mit Uehlinger, Weltreich, 312 . Vgl. auch Skinner, 224. 22  Cassuto, II 236. Dass Gen  11, 2 nicht auf Gen  10, 32 gefolgt sein kann, liegt auf der Hand. Ein unmittelbarer Anschluss an Gen 10, 25 oder 10, 31 ist deswegen schlecht, weil die Turmbauerzählung dann lediglich eine Begebenheit der Nachkommen Sems (Gen  10, 31) oder seines Urenkels Eber (Gen  10, 25) berichten würde, was offenkundig der Intention der Erzählung widerspricht. 19  20 

Der Turmbau zu Babel

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legungen zur „adamitischen Sprache“ (Walter Benjamin) entzündet. Doch selbst wenn der Verfasser voraussetzen sollte, dass Adam und Eva (wie Gott) im Paradies Hebräisch gesprochen haben, so spielen derartige Überlegungen allenfalls eine untergeordnete Rolle in der Turmbauerzählung, die wie jeder Ursprungsmythos vom Ausgang und den dort geschilderten Bedingungen der Wirklichkeit her zu lesen ist. Diese ist von der Vielfalt der Sprachen und der Auflösung der Einheit menschlicher Gemeinschaft geprägt. Nach dem Gefälle der Turmbauerzählung werden diese Bedingungen der Gegenwart als eine Einschränkung des Menschen und seiner Handlungsmöglichkeiten bewertet, sodass durchaus von einem Verlust gesprochen werden kann. Eine weit entfernte Analogie bietet womöglich das sumerische Epos „Enmerkara und der Herrscher von Arata“ aus dem frühen 2.  Jt. v. Chr. In ihm symbolisiert die „Einsprachigkeit der Menschheit“ den idealen Zustand einer vorgeschichtlichen Zeit, in der die Menschheit keine Feinde hatte und weder Furcht noch Schrecken existierten.23 Nach Christoph Uehlinger ist śāpā ʾæḥāt wie die anderen „dominanten Motive […] des Bauens von ‚Stadt und Zitadelle‘, des ‚Namenmachens‘ und vermutlich auch die Charakterisierung der Bauleute als ‚ein Volk‘ im Horizont neuassyrischer Weltherrschaftsrhetorik zu interpretieren“24. Der Ausdruck „eine Rede“ bezeichnet nach dieser Lesart den Anspruch neuassyrischer Könige, dass alle Welt auf ihren Befehl gehorcht. Diese Auskunft steht im Zusammenhang der These, dass eine aus neuassyrischer Zeit stammende politisch-theologische Reflexion über Sargon  II. (720 –705 v. Chr.) und den unvollendeten Ausbau seiner Residenz in Dur-Šarrukin „Sargonsburg“ (Khorsabad im heutigen Nordirak) den Grundstock der Erzählung bildet (V. 1a. 3aα. 4aβγδ. 5 –7. 8b). Diese ehedem selbständige Erzählung habe aus judäischer Perspektive das unrühmliche Ende des endgültigen Bezwingers des Nordreichs Israel und seines hochfliegenden Bauvorhabens bedacht, bei dem (Fron-)Arbeiter aus aller Herren Länder unter „eine Rede“ im Sinne einer Befehlsgewalt gezwungen wurden.25 In neubabylonischer Zeit sei die antiassyrische Erzählung zu einer Kritik am Weltherrschaftsanspruch Babylons umgestaltet worden (V. 1b.  3aβγ. b. 4a[und sie sprachen]. 9a). Eine weitere Bearbeitung habe die Erzählung in die (vorpriesterschriftliche) Urgeschichte integriert (V. 2), wodurch eine zeitgenössisch konkrete und zeitgeschichtlich kritische Reflexionserzählung zu einer Episode der Urgeschichte umfunktioniert worden sei. Die materialreich begründete These ist faszinierend, hat 23  Text und Übersetzung der einschlägigen Passage bei C. Mittermayer, Enmerkara und der Herr von Arata. Ein ungleicher Wettstreit, OBO  239, Fribourg/Göttingen 2009, 57–61. Es hat den Anschein, als habe erst das Eingreifen des Gottes Enki diesen Zustand beendet. Freilich bleiben die Gründe, mutmaßlich eine Rivalität zwischen den Göttern Enlil und Enki, ganz im Unklaren. Schon deshalb sollte man den nur sehr schwer zu verstehenden Text nicht als „sumerische Version der Turmbauerzählung“ ansprechen. Zur (kontroversen) Diskussion vgl. a.a.O. sowie Uehlinger, Weltreich, 410 –  434. 24  Uehlinger, Weltreich, 512 . 25  In einer Inschrift Sargons II. heißt es mit Blick auf die Bauarbeiten: „Untertanen aus den vier (Himmelsrichtungen mit jeweils) fremder Sprache, Rede ohne Harmonie, … die ich auf Geheiß Aššurs, meines Herrn, mit meinem zornigen Zepter erbeutet hatte, ließ ich eine Rede führen (wörtlich: einen Mund setzen) und ließ sie darin (d.  h. in Dur-Šarrukin) Wohnung nehmen.“ Übersetzung nach Uehlinger, Weltreich, 471.

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allerdings schwerwiegende methodische und inhaltliche Einwände gegen sich: Die im Text genannten Referenzgrößen – Babel im Lande Schinar (V. 2 . 9a) und der urgeschichtliche Horizont der einen Menschheit (V. 1  f. 9) – werden durch außertextliche Bezüge ersetzt (Sargon  II.; Dur-Šarrukin). Dadurch wird eine Lesart der Erzählung etabliert, die sich allein auf die herangezogenen Texte aus der Umwelt stützt und zugleich eine erhebliche Reduzierung des Bestandes des gedeuteten Textes verlangt.26 Das Gefälle der Erzählung legt die skizzierte politisch-theologische Deutung jedenfalls nicht nahe: Aus Sicht Jhwhs (bzw. des Textes) ist nämlich nicht wie in der herrschaftskritischen Lesart Uehlingers die „eine Rede“ problematisch, sondern die Unbegrenztheit menschlichen Handelns (V. 6). Sie wird durch das Bauprojekt der Stadt und ihres bis zum Himmel reichenden Turmes (V. 4) symbolisiert. Sodann zwingt in der neuassyrischen Weltherrschaftsrhetorik der König den Völkern „einen Mund“ (pû ištēn) auf, während śāpā   ʾæḥāt in Gen 11, 1 die unhinterfragte (urgeschichtliche) und bis zum Bau von Stadt und Turm unproblematische Voraussetzung der Erzählung ist.27 Darüber hinaus hätte sich für das akkadische pû ištēn mit pæ-  ʾæḥād (vgl. Jos  9, 2) eine wörtliche Übersetzung ins Hebräische angeboten, was den zeitgenössischen Rezipienten der Erzählung das Verstehen der vermuteten politisch-theologischen Aussage sicher erleichtert hätte.28 Schließlich fehlt in Gen  11, 1–9 jegliche Anspielung auf den militärisch-machtpolitischen Hintergrund der vermeintlichen Weltherrschaftsrhetorik, weshalb das Königtum als conditio sine qua non jeder weltherrschaftskritischen Deutung mühsam in den Text hineingelesen werden muss.29 Unbestritten ist aber, dass das Motiv der „einen Rede“ weniger den sprachgeschichtlichen Sachverhalt eines Ur-Idioms signalisiert, als eine Ordnungsvorstellung, in der sich die Einheit der Menschheit in einer gemeinsamen Sprache ausdrückt.

Die eine Menschheit lässt sich in einer Ebene im Lande Schinar nieder, das sich aus Jerusalemer Perspektive „im Osten“ befindet (vgl. V. 2a). Nach Gen  10, 10 liegen in dieser Gegend außer dem am Ende der Erzählung genannten Babel (Babylon; V. 9a) noch die Städte Erech (Uruk) und Akkad. Es handelt sich demnach um das südliche, zur Stadt Babylon gehörige Mesopotamien.30 Wie in den Keilschrifttexten, die bis in neubabylonische Zeit hinein bābili „Babylon“ ausschließlich für die Stadt verwenden, wird zwischen Stadt und Landschaft unterschieden. In Gen 11, 2 erklärt sich die Unterscheidung durch den Umstand, dass die Stadt erst am Ende der Erzählung gegründet und identifiziert ist. Wie angemerkt, greifen die Verfasser von Gen  10, 10 und 11, 2 auf den älteren Landschaftsnamen Šanḫar zurück und nicht auf das im 1. Jt. v. Chr. geläufigere māt kaldi „Land der Chaldäer“. Die „altertümlichgelehrte Bezeichnung“31 unterstreicht den urgeschichtlichen Charakter der Erzählung.

Vgl. auch Witte, Urgeschichte, 94 Anm. 71 („textfremdes Deutemuster“). Ähnlich auch Schüle, Prolog, 412 . 28  Seebaß, 281. 29  So auch Seebaß, 281, 285. 30  Jericke, Art. „Schinar“, odb (2016 ). 31  Uehlinger, Weltreich, 562 . 26  27 

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Wie zum Beleg für den idealen Zustand sprachlichen Einklangs setzt die 11, 3 Rede der Menschen mit einer zweifachen  figura etymologica ein: „Wohlan, streichen wir Ziegel (nilb enā l ebēnīm) und brennen wir zu Brand (niśr   epā liśrepā )“ (V. 3a). Letzteres dürfte sich auf das Brennen der Ziegel beziehen, die dadurch eine glasurähnliche Oberfläche erhalten. Es folgt eine bautechnische Notiz, der zufolge die (gebrannten) Ziegel an Stelle von Steinen verwendet wurden und Erdpech als Mörtel diente. Das Wortspiel der ähnlich klingenden Wörter ḥēmār „Erdpech“ und ḥōmær „Mörtel“ unterstreicht noch einmal das Motiv der einen Rede und der einerlei Worte. Inhaltlich verleiht die bautechnische Notiz, die eine enge sachliche Parallele bei Herodots Babylonschilderung hat (Hdt. I 179, 1–2), der Erzählung ein fremdländisch-babylonisches Ambiente, indem sie ihrem Publikum eine kulturelle Besonderheit mitteilt. Zwar kannte man auch im antiken Israel an der Luft getrocknete Lehmziegel, doch scheint das Brennen der Ziegel ebenso unüblich gewesen zu sein wie die Verwendung von Erdpech bei Maurerarbeiten. Das in der Gegend des Toten Meeres natürlich vorkommende Erdpech (Gen  14, 10) wurde vielmehr zum Abdichten benutzt (vgl. Ex  2, 3) und insbesondere Großbauten wurden im judäischen und samarischen Bergland vornehmlich aus (behauenen) Steinen gebaut. Wie schon bei der Verwendung des ungebräuchlichen Ortsnamens Schinar geizt der Verfasser der sehr kunstfertigen Erzählung nicht mit Bildungsgut, woraus sich im Fall von V. 3b eventuell ein Indiz für die Datierung gewinnen lässt. Sollte der in V. 4 erwähnte Turm mit dem Stufentempel (Ziqqurrat) Etemenanki in Babylon zu identifizieren sein, so ergibt sich aus der bautechnischen Notiz für die Turmbauerzählung ein realgeschichtlicher Hintergrund frühestens in neuassyrischer oder neubabylonischer Zeit.32 Der älteste Stufentempel in Babylon war nämlich ein Lehmziegelbau, der durch horizontale Einlagen aus Schilfmatten verstärkt wurde. Nachträglich von einem Lehmziegelmantel umschlossen, erhielt der Bau erst in seiner jüngsten Ausbauphase eine Ummantelung aus gebrannten Ziegeln. Dieser Backsteinmantel ist frühestens in die Regierungszeit des neuassyrischen Königs Asarhaddon (681–669 v. Chr.) zu datieren. Möglicherweise steht er im Zusammenhang mit umfangreichen Renovierungsarbeiten in Babylon. Diese waren notwendig geworden, weil Asarhaddons Vorgänger Sanherib im Jahr 689 v. Chr. zum großen Entsetzen der damaligen „Weltöffentlichkeit“ die Stadt samt Tempelbezirk zerstört hatte. Ganz sicher ist diese Datierung des Mantels aus gebrannten Ziegeln jedoch nicht, da sie sich nur schwer mit den Aussagen der späteren Bauinschriften der neubabylonischen Könige Nabupolassar (626 –605 v. Chr.) und Nebukadnezzar II. (605 –562 v. Chr.) vereinbaren lässt. Diese berichten von der (Neu-)Gründung der Ziqqurrat unter Nabupolassar und der Fertigstellung des Baus unter seinem Sohn Nebukadnezzar. So spricht sehr viel 32  Zur Auswertung der Grabungsbefunde und der keilschriftlichen Quellen vgl. Schmid, Tempelturm; Uehlinger, Weltreich, 220 –227. Zur Auswertung des Befundes für eine mögliche Datierung von V. 3 vgl. a.a.O., 371 f, 551–558. Uehlinger weist den Vers seiner „Babel relecture“ zu.

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dafür, dass der Stufentempel von den neuassyrischen Königen mit einem Lehmziegelmantel erneuert wurde und erst von ihren neubabylonischen Nachfolgern mit einem Backsteinmantel versehen und zur größten Ziqqurrat ihrer Zeit ausgebaut worden ist. Sollten „Stadt und Turm“ (V. 4) – wie das die Erzählung durchaus nahelegt (vgl. V. 9) – mit der Stadt Babylon und ihrem berühmten Stufentempel Etemenanki zu identifizieren sein, so ergibt sich aus der bautechnischen Notiz über die Ummantelung aus gebrannten Ziegeln die neubabylonische Zeit als terminus post quem der Abfassung der Turmbauerzählung oder der zugrunde liegenden Tradition: „Man kann sich vorstellen, welche Gefühle Etemenanki bei den nach Babylon verbannten Juden hervorrief, der gerade im unvollendeten Zustand den Eindruck eines himmelwärts strebenden Bauwerks gemacht haben muß. Dieses Bild war jedenfalls wie kein anderes geeignet, als Gleichnis für die von Gott zu bestrafende Anmaßung in die Urgeschichte der Menschheit einzugehen.“33 11, 4 Der abermals als Selbstaufforderung formulierte und mit hābā „wohlan!“ eingeleitete zweite Teil der Rede berichtet den Entschluss zum Bau von „Stadt und Turm“ (V. 4aα) und gibt auch den Zweck für dieses Unternehmen an (V. 4aβb). Wiederholt wurde angemerkt, dass die Abfolge von V. 3 und V. 4 einer „natürlichen Erzählweise“ widerspricht, die zunächst den Entschluss zum Bau und erst dann die Anfertigung der Baumaterialien berichten würde.34 Dieses Urteil bedenkt jedoch nicht hinreichend den Spannungsbogen der Erzählung: Jhwh reagiert unmittelbar auf den Bau von Stadt und Turm und nicht auf eine in Mesopotamien übliche Bauweise (vgl. V. 5), weshalb der Entschluss zum Bau und seine Begründung an der Nahtstelle zur Gottesrede stehen müssen. Der Bau wird als „Stadt und Turm“ (V. 4. 5) bezeichnet. Diese Kombination lässt zunächst an eine Stadt und ihre höher gelegene Zitadelle denken (vgl. Ri 9, 46  f. 49).35 Die Rezeptionsgeschichte hat sich freilich schon sehr früh auf den Turm konzentriert, in dem unter dem Eindruck der archäologischen Entdeckungen in der Regel ein Stufentempel erkannt wird, wie er für das antike Mesopotamien typisch ist. Die bereits erwähnte, in der Auslegungsgeschichte sehr verbreitete Identifikation mit der Ziqqurrat Etemenanki in Babylon wird außer durch die Namensätiologie in V. 9a durch die Metaphorik eines bis zum Himmel reichenden Bauwerks (vgl. V. 4a) gestützt.36 Sie ist in Bauinschriften des alten Vorderen Orients gut belegt, unter anderem in einer dem Wiederaufbau der Ziqqurrat Ete33  Schmid, Tempelturm, 148 . Levin, Jahwist, 127–131, vermutet als zeitgeschichtlichen Hintergrund der Erzählung die (zumindest in der zeitgenössischen Polemik belegte) Zerstörung der Ziqqurrat von Babylon durch den Perserkönig Xerxes im Jahre 482 v. Chr., Witte, Urgeschichte, 320 –323, dagegen den gescheiterten Versuch eines Wiederaufbaus durch Alexander den Großen. Vgl. dazu jeweils die Diskussion bei Gerhards, Conditio, 295 –297. 34  So Westermann, 725. 35  Vgl. Uehlinger, Weltreich, 372 –378 . 36  Anders Uehlinger, Weltreich, 378 –380. Er versteht die Wendung als hyperbolische Schilderung einer beeindruckenden Zitadelle (vgl. dazu Dtn  1, 28), doch schon Dillmann, 206, hat dargelegt, dass dies dem Erzählverlauf nicht angemessen ist.

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menanki gewidmeten Inschrift des Nabopolassar.37 Allerdings ist gegen die Konzentration der Auslegungsgeschichte auf den „Turm zu Babel“ geltend zu machen, dass dieser sicher nicht das Hauptmotiv der Erzählung ist. Das geht schon aus der Kombination des Turmes mit der Stadt und seiner Nichterwähnung in V. 8 hervor, wo wegen des Übergangs zur Namensätiologie nur die Stadt erwähnt ist. Auch fehlt dem in der Regel für Festungstürme gebrauchten hebräischen Ausdruck migdāl „Turm“ jedwede sakrale Konnotation. Das spricht gegen die ebenfalls wiederholt geäußerte Annahme, in der Erzählung ginge es vornehmlich (  !  ) um eine Abwertung dieses konkreten Sakralbaus und um eine (polemische) Auseinandersetzung mit der mit ihm verbundenen theologischen Konzeption (anders Jes  14, 13 f ).38 Im Zentrum stehen nicht so sehr die erkennbaren realgeschichtlichen Bezüge, sondern die erzählte Welt. Deshalb ist zu fragen, welche Absichten sich in der Erzählung für die Menschheit mit dem Turm verbinden und welche Befürchtungen der Bau bei Jhwh hervorruft: Die Menschheit will sich mit dem bis zum Himmel reichenden Bau (V. 4aα) „einen Namen machen“ (V. 4aβ) und sich vor der Zerstreuung über die ganze Erde ( ʿal p enē kål hā- ʾāræṣ in differenzierender Anknüpfung an kål hā- ʾāræṣ „die ganze Menschheit“ in V. 1. 9aβ)39 schützen (V. 4b). Das Motiv des Namenmachens (V. 4aβ) wird wegen des pæn „damit nicht“ in V. 4b häufig als Nachtrag bewertet. Dieser Anschluss an V. 4aβ gilt deswegen als problematisch, weil V. 4b sachlich auf den Entschluss zum Bau von Stadt und Turm bezogen wird.40 Ein direkter Anschluss von V. 4b an V. 4aα ist fraglos möglich („Wohlan, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm, dessen Spitze soll im Himmel sein, … damit wir uns nicht zerstreuen über die ganze Erde!), doch ist auch der vorliegende Text stimmig, wenn die (nicht nur) im alten Vorderen Orient breit belegte Verbindung von Bautätigkeit und Namen des Bauherrn berücksichtig wird.

Der gemeinsame Bau erzeugt die Identifikation der Erbauer mit dem durch das Bauwerk gesetzten Namen (vgl. Sir 40, 19). Das schafft den gewünschten Zusammenhalt und verhindert die befürchtete Zerstreuung. Die Einheit der 37  Vgl. K. Hecker, Der Bericht des Nabopolassar über die Wiedererrichtung von Etemenanki, TUAT II, 490 –  493 (Kol. I, 30 –38): „damals befahl mir der Herr Marduk, Etemenankis, des Stufenturms von Babylon, Fundament, das vor meiner Zeit sehr baufällig gemacht (und) eingestürzt war, in der Tiefe des Untergrundes fest zu begründen und seine Spitze mit dem Himmel wetteifern zu lassen.“ Vgl. auch Kol. II, 1–11: „Ohne Zahl ließ ich Ziegel streichen, ließ herstellen Backsteine wie Regentropfen unzählbar. Wie eine massige Hochflut ließ ich den Arachtu-Kanal Asphalt und Erdpech herbeitragen.“ 38  Diese Einschränkung gilt für die Erzählung in ihrer vorliegenden Gestalt im Kontext der biblischen Urgeschichte. Für eine etwaige Vorstufe (vgl. oben bei Anm. 17 ) mag das ganz anders ausgesehen haben. Für eine subversiv-polemische Lesart Grossman, Etymology; ferner A. Zgoll, Welt, Götter und Menschen in den Schöpfungsentwürfen des antiken Mesopotamien, in: K. Schmid (Hg.), Schöpfung, Themen der Theologie 4, Tübingen 2012 , 17–70, 31  f. 39  Anders Uehlinger, Weltreich, 308, der hier mit vielen anderen eine „semantische Kohärenzstörung“ erkennt. 40  Vgl. Westermann, 727; Seybold, 457 f mit Anm. 15.

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Menschheit zu bewahren, ist Ziel und Zweck des Baus von Stadt und Turm.41 Darüber hinaus ist zu erwägen, ob hinter dem Vorhaben eines bis zum Himmel reichenden Baus auch ein überhebliches Streben der Menschheit nach Selbstruhm steht.42 Für diese klassische Interpretation lässt sich anführen, dass im Alten Testament mit einer weiteren Ausnahme (2Sam  8, 13) sonst stets Gott Subjekt der Wendung „einen Namen machen“ ist – sei es, dass zumeist hymnische Texte Gott preisen, der sich durch seine Heilstaten selbst verherrlicht (vgl. Jes  63, 12. 14; Jer  32, 20; Dan  9, 15; Neh  9, 10), sei es, dass Gott in Beistandszusagen Abraham (Gen 12, 2) oder David (2Sam 7, 9) einen großen Namen verheißt. Vor diesem Hintergrund kann die Selbstaufforderung in V. 4aβ auch als Ausdruck von Hybris gelesen werden. Zudem erinnert sie im Kontext der Urgeschichte an die „Männer des Namens“ (Gen  6, 4). Diese sind zwar nicht eindeutig negativ konnotiert,43 doch wird von ihnen mit einiger Skepsis erzählt. Schließlich ist im Sinne einer kritischen Lesart des Namensmotivs zu bedenken, dass es am Ende der Erzählung noch einmal in ironischer Brechung aufgenommen wird. Es ist der Menschheit nicht gelungen, den Bau zu vollenden und sich so einen Namen zu machen, doch hat die Stadt in Erinnerung an die Vermengung der Sprachen den Namen Babel erhalten (V. 9a). Dass im Entschluss der Menschen ein hochmütiger Grundton anklingt, ist daher kaum zu leugnen. Gleichwohl ist herauszustellen, dass das „Namenmachen“ dem Bestreben untergeordnet ist, die Zerstreuung zu verhindern. Die Furcht vor dem Verlust der Einheit trägt in der Rede der Menschen den Akzent. Erst Jhwhs Reaktion auf das Bauwerk lenkt den Blick darauf, dass sich die Menschen mit ihrem Vorhaben anheischig machen, den Abstand zwischen Mensch und Gott in Frage zu stellen. Folgt man dem Verlauf der Erzählung, geschieht dies eher unbeabsichtigt und aus einer existentiellen Angst heraus. Psychologisch fein beobachtet, erscheinen Angst und Geltungssucht als zwei Seiten ein und derselben Medaille.44 Auf den Entschluss der Menschheit, Stadt und Turm zu bauen, folgt so11, 5 –7 gleich die Reaktion Jhwhs. Ein im Grunde genommen „unverzichtbarer“ Bericht über die Bautätigkeit fehlt, wird jedoch in den Überlegungen Jhwhs vorausgesetzt. Die Folge ist eine „große Unbestimmtheitsstelle, an der sich die Phantasie der Leser/Hörer ausspielen kann.“45 Der verknappte Erzählstil, der entweder nur die Ankündigung oder nur die Ausführung eines Vorhabens berichtet, ist auch mit Blick auf das zweimalige Herabsteigen Jhwhs in V. 5 und V. 7 zu berücksichtigen. Die V. 5 –7 setzen nach V. 6 einen Wiederaufstieg Jhwhs oder – weniger wahrscheinlich – einen gestaffelten Abstieg Mit Seebaß, 278. Vgl. von Rad, 113 („Titanismus“); K. Barth, Kirchliche Dogmatik  III/4, Zollikon-Zürich 1951, 349 –366 („Hybris“); Witte, Urgeschichte, 228, 253 –255. 43  So Witte, Urgeschichte, 253; Kratz, Komposition, 256. 44  von Rad, 113; Seebaß, 273  f. Zum Motiv vgl. A. Zgoll, Einen Namen will ich mir machen, Saec 54 (2003) 1–11; K. Radner, Die Macht des Namens. Altorientalische Strategien zur Selbsterhaltung, Wiesbaden 2005. 45  U. Berges, Babel, 44. 41  42 

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voraus, erwähnen dies aber nicht. Dies wurde immer wieder auf Textausfall oder eine nachträgliche Bearbeitung zurückgeführt. Freilich hätte der Bearbeiter eine vermeintlich „unerträgliche“ Unstimmigkeit erzeugt, die sich unschwer hätte vermeiden lassen. Das spricht wie beim fehlenden, gleichwohl vorausgesetzten Baubericht für eine von vornherein intendierte Nichterwähnung: Durch den Verzicht auf einen mutmaßlich umständlichen Bericht über den Wiederaufstieg wird Jhwhs Reflexion über das menschliche Handeln in V. 6 gerahmt und so ins Zentrum gestellt. Vielleicht soll das zweimal berichtete Hinabsteigen Jhwhs darüber hinaus das Bestreben der Menschen karikieren, einen bis zum Himmel reichenden Turm zu bauen.46 Auch wenn Jhwh herabsteigen muss, um sich das Bauwerk anzusehen V. 5 (V. 5a), so ruft es doch seine Besorgnis hervor. Die griechische Baruchapokalypse aus dem 2. Jh. n. Chr. erzählt, dass die Bauleute einen Bohrer mitgenommen haben, um zu sehen, ob der Himmel aus Ton, Kupfer oder aus Eisen ist (grBar  3, 6 –8). Diese Vorstellung ist nur auf den ersten Blick naiv. Die Nacherzählung des biblischen Textes hat vielmehr völlig richtig erkannt, dass es bei dem Turmbauunternehmen aus Jhwhs Sicht um eine Grenzverletzung geht. Das Problem deutet sich schon in der Wahl von benē hā- ʾādām „Menschensöhne“ statt des sonst in der Erzählung für die Menschheit gebrauchten kål hā- ʾāræṣ „alle Welt“ (V. 1. 9a) an. Der Ausdruck wird in der biblischen Urgeschichte nur in Jhwhs Reaktion auf den Turmbau verwendet. Sein Vorstellungsgehalt erhellt sich aus dem ähnlich gebrauchten benōt hā- ʾādām „Menschentöchter“ neben den b enē hā- ʾælōhīm „Göttersöhnen“ in Gen  6, 2. 4. Geht es in der Episode von der Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern um die möglichen Folgen einer Überschreitung der sexuellen Grenze zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre, so erkennt Jhwh in dem Bau von Stadt und Turm die Gefahr, dass in diesem Fall die benē hā- ʾādām die Grenze räumlich und im Hinblick auf die gestalterischen Möglichkeiten überschreiten. Die von den beiden Abstiegsnotizen gerahmte Reflexion Jhwhs über das V. 6 menschliche Handeln führt diesen Gedanken weiter aus. Sie steht sprachlich wie inhaltlich in einer Fluchtlinie zu Gen  3, 22.47 In beiden Fällen eröffnet das in Gottesreden ausgesprochen seltene hēn „siehe“ (sonst nur noch in Dtn  31, 14) eine Betrachtung der Sachlage. In der Paradieserzählung ist sie von der neu gewonnenen Erkenntnisfähigkeit des Menschen bestimmt. In der Turmbauerzählung steht die durch die Einheit der Menschheit („ein Volk und eine Sprache“) ermöglichte Handlungsfähigkeit im Zentrum, wie sie erstmals in dem Entschluss zum Bau von Stadt und Turm zu Tage tritt. Die möglichen Folgen werden jeweils mit w  e- ʿattā „jetzt aber“ eingeleitet. In der Paradieserzählung geht es um Jhwhs Befürchtung, der wie ein Gott wissend gewordene Mensch könne nach dem Baum des Lebens greifen, damit 46  Zum ironischen Grundton der Erzählung vgl. Jacob, 299 f; Seybold, Turmbau, 467; Weisman, Satire, 39 –50; kritisch Wellhausen, Prolegomena, 305. 47  So schon Wellhausen, Composition, 11  f.

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die Grenze des Todes überwinden und so auch in dieser Hinsicht göttlich werden. In der Turmbauerzählung geht es um die sorgenvolle Einschätzung, dass mit dem Erfolg des Unternehmens dem planenden und schaffenden Menschen keine Grenzen mehr gesetzt wären: „Jetzt aber wird ihnen nichts unmöglich sein (*bsṙ ni. + min + Suff.) von dem, was sie sich zu machen vornehmen (*zmm).“ Dass damit tatsächlich eine Grenze zwischen göttlichem und menschlichem Tun überschritten wäre, belegt die nächste inneralttestamentliche Parallele zu V. 6b im Hiobbuch (Hi  42, 2).48 Was angesichts des Bauprojekts von Jhwh als mögliche Folge für das menschliche Handeln angesprochen wird, erscheint im Munde Hiobs als Anerkennung von Gottes Allmacht und der eigenen Kreatürlichkeit: „Ich weiß, dass du alles vermagst. Nichts was du dir vornimmst (*zmm), ist dir unmöglich (*bsṙ ni + min + Suff.)“. Freilich zeigt die Rede vom „Anfang ihres Handelns“ in V. 6, dass es sich wie bei dem Griff nach dem Baum des Lebens lediglich um eine Möglichkeit des Menschen handelt. Sie allein lässt Jhwh in beiden Fällen vorbeugend und durchaus eigennützig zur Wahrung der eigenen Überlegenheit handeln, was dem Ergehen der Menschen auch Züge des Tragischen verleiht. Jhwh beschließt, die Menschheit in ihren kreativen Möglichkeiten zu beV. 7 schränken, indem er ihre Sprache vermengt. Der göttliche Entschluss ist wie in Gen  1, 26 im Plural formuliert, dürfte also in der Versammlung der Himmlischen getroffen worden sein (vgl. Gen  3, 22). Das kollektive „Wir“ unterstreicht ebenso wie die Aufnahme des hābā „wohlan!“ aus V. 3. 4 noch einmal die Abgrenzung der göttlichen Sphäre gegenüber den Menschen und ihrem Ratschluss. Das Verb *bll „vermengen“ wird im Alten Testament überwiegend für das Anrühren von Teig mit Öl verwendet (vgl. Ex  29, 2; Lev  2, 4 f u.ö). In Gen  11, 7 ist dieser Ausdruck sicher auch wegen des Anklangs an den Ortsnamen Babel gewählt (vgl. V. 9a). Zugleich beschreibt das lautmalerische Wort sehr anschaulich, wie aus einer klaren Sprache, in der sich jeder mit jedem verständigen kann (V. 3; ʾīš   ʾæl rē’ēhū ), ein Sprach-Brei wird, in dem keiner die Rede des anderen versteht (lō yišm  e ʿū   ʾīš ś  epat rē   ʿēhū ). Die unverkennbaren Rückbezüge der Rede Jhwhs auf den Entschluss der Menschen zeigen deutlich, dass die „Sprachvermengung“ kein Selbstzweck ist. Vielmehr dient sie dazu, den Bau von Stadt und Turm zu verunmöglichen und das mit dem menschlichen Entschluss intendierte Ziel, die Einheit der Menschheit zu bewahren, zu unterlaufen. Auf diese Weise soll sie die durch den Bau symbolisierte und durch die Einheit der Menschen ermöglichte Grenzenlosigkeit menschlichen Handelns verhindern. Die Ausführung des göttlichen Entschlusses wird nicht berichtet, sondern 11, 8 als selbstverständlich vorausgesetzt. So entsteht abermals eine „große Unbestimmtheitsstelle“, die in der Rezeptionsgeschichte häufig mit Darstellungen der Zerstörung des (halbfertigen) Turmes durch Jhwh geschlossen wurde. 48 

Vgl. dazu Witte, Urgeschichte, 255; Schüle, Prolog, 397.

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Von all dem steht nichts im biblischen Text. Mitgeteilt werden lediglich die Folgen des göttlichen Eingreifens: Die Menschheit wird vom Ort des Geschehens aus über die ganze Erde zerstreut (V. 8a; vgl. V. 4b) und hört mit dem Bau auf (V. 8b; vgl. V. 4a). Dass zuerst die Zerstreuung und dann das zeitlich vorangehende Ende des Baus berichtet wird, hat wiederholt zur Einordnung von V. 8a als redaktionell geführt.49 Doch die Abfolge der beiden Teilverse hat kompositionelle wie inhaltliche Gründe: Wie schon beim Entschluss der Menschen, durch den Bau die Zerstreuung zu verhindern, steht die verhinderte Einheit der Menschen im Zentrum der göttlichen Gegenmaßnahme und wird deshalb an erster Stelle genannt. Die Zerstreuung bewirkt, dass dem Menschen fortan nicht alles möglich ist. Das betrifft auch das Bauprojekt, dessen Erliegen zum Symbol der verlorenen Einheit und Fähigkeit der Menschen wird, alles zu tun, was sie sich vornehmen. V. 8b ist mit Blick auf die folgende Ätiologie des Städtenamens Babel formuliert (V. 9a), weshalb aus dem Paar „Stadt und Turm“ (vgl. V. 4a. 5a) nur noch die Stadt erwähnt wird.50 Eingeleitet durch das für ätiologische Notizen typische ʿal kēn „darum“, 11, 9 greift V. 9a das Namensmotiv aus dem Entschluss der Menschen (V. 4aβ) und das Verb *bll „vermengen“ aus dem göttlichen Entschluss auf (V. 7 ). Die zunächst namenlose Stadt im Lande Schinar (V. 2) wird mit Babel identifiziert und Babel wird seinerseits zum Synonym für Sprachverwirrung. Es handelt sich um eine Volksetymologie, die den fremden Städtenamen durch ein ähnlich klingendes Wort der eigenen Sprache und eine passende Geschichte zu erklären sucht. Anders als die im Alten Testament ebenfalls bekannte babylonische Namensdeutung Bābilim bītāt ilānim rabitūtim „Babylon: Häuser der großen Götter“ (EnEl V, 129; vgl. Gen 28, 17: Haus Gottes/ Tor des Himmels) hat die Verbindung mit *bll natürlich einen spöttischen Unterton. Die Turmbauerzählung endet mit der Feststellung, dass Jhwh von diesem Ort aus die Menschheit über die ganze Erde zerstreut habe (V. 9b). Mit dieser Notiz gibt sie sich als eine Explikation der bereits in der Völkertafel genannten Entstehung der Völker und ihrer Sprachen (vgl. Gen  10, 5. 20. 31) aus der einen Familie der Nachkommen Noachs zu erkennen (vgl. Gen  9, 19). Zugleich liefert die Schlussnotiz über die Zerstreuung der Menschheit eine Begründung für die nachfolgende Fokussierung auf die Nachkommen Sems und schließlich Abrahams. Mit der Turmbauerzählung ist aus der einen einheitlich agierenden Menschheit die Vielzahl der Völker und damit die Welt geworden, in die Abraham eintritt. Insofern handelt es sich bei der letzten Erzählung der Urgeschichte gleichermaßen um deren Epilog und den Prolog zur Erzählung von den Erzeltern Israels. Gerne wird in diesem Zusammenhang auf das Motiv des „Namenmachens“ hingewie-

Vgl. Seybold, Turmbau, 458 mit Anm. 16. Nach Vanderhooft, Babylon, 44  –  49, erklärt sich die Formulierung damit, dass lediglich die Stadt aufgrund der göttlichen Intervention nicht fertig gebaut worden ist. Vgl. Anm. 7. 49  50 

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sen.51 Doch die Formulierungen der Verheißung eines großen Namens an Abraham (Gen 12, 2) und der Entschluss der Menschheit, sich einen Namen zu machen (Gen 11, 4), sind zu unterschiedlich, um hier einen gezielt gesetzten Kontrapunkt behaupten zu können. Allenfalls handelt es sich um eine implizite Stichwortverbindung. Einschlägiger sind über die Turmbauerzählung verteilte Anklänge an den Anfang der Exoduserzählung.52 Sie ermöglichen einem aufmerksamen Leser, in Abrahams Auszug aus Mesopotamien die exemplarische Vorwegnahme des Exodus zu erkennen. Datierung Abschließend ist noch die literarhistorische Einordnung der Turmbauerzäh-

lung zu bedenken. Sie ist eng mit der Frage der Entstehung der biblischen Urgeschichte verbunden. In der Forschung wurde Gen  11, 1–9 wiederholt als Abschluss einer ehedem selbständigen nicht-priesterschriftlichen Urgeschichte angesprochen.53 Diese Annahme hat aber alle Wahrscheinlichkeit gegen sich. Eine in Juda, in Israel oder im Kreise der babylonischen Diaspora verfasste Ätiologie elementarer Lebensbedingungen wird kaum mit der Namensgebung für die Stadt Babylon und dem offenen Ende einer Zerstreuung der Menschheit in alle Welt geendet haben. Immer wieder werden in diesem Zusammenhang die Babyloniaca des um den Ruf Babylons in der hellenistischen Welt bemühten Marduk-Priesters Berossos (ca. 340 –270 v. Chr.) genannt. Doch sie zeigen eher, wie problematisch die Annahme eines bis Gen  11, 9 reichenden Erzählwerks ist: Die von Berossos gestaltete Schlussnotiz berichtet den Wiederaufbau seiner durch die Flut zerstörten Heimatstadt, und zwar auf Geheiß der Götter! In der biblischen Erzählung fehlt eine entsprechende Notiz, stattdessen folgt die Erwählung Abrahams (Gen  12, 1–3). Für den babylonischen Patrioten Berossos markiert der Wiederaufbau Babylons den Neuanfang nach der Katastrophe. Für die biblischen Autoren ist der Neuanfang dagegen mit Abrahams Auszug aus Mesopotamien und der Verheißung von Volkwerdung und Landnahme gesetzt. Ohne sie hat eine judäische Urgeschichte, die bereits die Turmbauerzählung beinhaltet hat, keine stimmige Perspektive.54 Die Turmbauerzählung ist demnach für ein Literaturwerk verfasst worden, das bereits die Verbindung von Urgeschichte und Erzelternerzählung kennt. Eine präzisere Einordnung ergibt sich aus den Querbezügen der Vgl. U. Berges, Babel, 51–53. Vgl. Schüle, Prolog, 406  f. V.  3b weist terminologische Überschneidungen mit Ex  1, 14a auf (Lehmziegel, Erdpech); die Konstruktion der Selbstaufforderung in V. 4 (Kohortativ pl. und negativ formulierte Zielbestimmung) ist im Alten Testament nur noch in der Rede des Pharaos in Ex 1, 10 belegt, wobei dann in beiden Fällen die Zielsetzung noch von Gott durchkreuzt wird. Das Hinabsteigen Gottes in V. 5. 7 erinnert deutlich an Ex 3, 8. 53  Vgl. D.M. Carr, Reading the Fractures of Genesis: Historical and Literary Approaches, Louisville, KY 1996, 235 –240; Blum, Urgeschichte, 439  f. 54  Dies ist das Wahrheitsmoment der vielfach aufgenommenen These Gerhard von Rads, wonach die Urgeschichte des „Jahwisten“ ihren Zielpunkt in der Berufung Abrahams in Gen 12 , 1–3 habe. Vgl. von Rad, 9, 116, 123 –127. 51  52 

Der Turmbau zu Babel

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Turmbauerzählung zur Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers und zur Priesterschrift. Unverkennbar sind die thematischen Bezüge zur Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers. Das in der Turmbauerzählung angesprochene Thema des kulturgeschichtlichen Fortschritts (vgl. V. 3 f ) und seine Problematisierung (V. 6) sind ein Leitmotiv der Genealogie der kulturgeschichtlichen Heroen und Nachkommen Kains. Dass dort wie in der Turmbauerzählung von einer ersten Stadtgründung berichtet wird (vgl. Gen 4, 17 ), stellt dagegen nach dem Erzählverlauf keinen Widerspruch dar, dürften doch die in Gen  4 gegründete Stadt und alle anderen Städte in der Flut untergegangen sein. Das Motiv der Abgrenzung der göttlichen und der menschlichen Sphäre knüpft an die Paradieserzählung an, in der es (auch) um eine Verhältnisbestimmung des Menschen zu Gott geht. Freilich beziehen sich die expliziten Querverweise auf solche Passagen, die als sekundär charakterisiert worden sind. Gen  11, 6 nimmt eindeutig den redaktionellen Vers Gen 3, 22 auf; in der Erwähnung der benē hā- ʾādām „Menschensöhne“ in Gen 11, 5 klingen die benōt hā- ʾādām „Menschentöchter“ und die benē hā- ʾælōhīm „Göttersöhne“ aus der ebenfalls nachgetragenen Episode über die Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern in Gen  6, 1–  4 an, zu der überdies enge Motivverbindungen bestehen. Die Turmbauerzählung gehört demnach nicht zum Grundbestand der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers. Das Verhältnis zur Priesterschrift ist schwieriger zu bestimmen. Hier ist vor allem auf den Kontext zu verweisen: Als Rückblende über den Hergang der Entstehung und Verteilung der Völker der Welt konnte die Turmbauerzählung nur auf eine abschließende Notiz über das Werden der Völker nach der Flut (Gen  10, 32 P) und vor der Konzentration auf die Nachkommenschaft des einen Noachsohnes Sem (Gen 11, 10 P) eingeschaltet werden.55 Als sprachliches Indiz lässt sich die Aufnahme der vermutlich priesterschriftlichen, eventuell sogar nachpriesterschriftlichen Notiz über die Verteilung/Abstammung (nāp eṣā von *npṣ q., einer Nebenform zu *pwṣ) der ganzen Menschheit (kål hā- ʾāræṣ) in Gen 9, 19 in dem Motiv der Zerstreuung (*pwṣ q.; V. 4b. 8a. 9b) der gesamten Menschheit (kål hā- ʾāræṣ; V. 1. 9a) anführen.56 Die aus diesen Überlegungen folgende späte („nachpriesterschriftliche“) Einordnung des Textes wird durch die sachliche Nähe der Reflexion Jhwhs in V. 6 zum Bekenntnis Hiobs in Hi 42, 2 gestützt. Die erkennbaren Bezüge auf die Realien widersprechen der Einordnung in die jüngeren Epochen der Literaturgeschichte des Alten Testaments jedenfalls nicht. Die mutmaßlichen Anspielungen auf Baumaßnahmen und damit verbundene Weltmachtansprüche der neubabylonischen Großkönige markieren lediglich den Terminus post quem. Die Erzählung spielt in der Urgeschichte und kann deshalb auch ein Geschehen paradigmatisch aufgreifen, das längst ins kulturelle Gedächtnis abgesunken ist und in dem Babylon zu einer vielfach verwendeten Chiffre geworden ist (vgl. Dan 4, 26 f ). 55  56 

S. dazu ausführlich Gertz, Babel, 25 –28; Hieke, Genealogien 109  f. So schon zu Recht Dillmann, 202 , gegen Budde, Urgeschichte, 377  f.

X. Genesis 11, 10 –26: Die Zeugungen Sems 11, 10 Dies sind die Zeugungen Sems. Sem war 100 Jahre alt, da zeugte er Arpachschad, zwei Jahre nach der Sintflut.   11 Und Sem lebte noch 500 Jahre, nachdem er Arpachschad gezeugt hatte, und er zeugt Söhne und Töchter.1 12 Und Arpachschad lebte 35 Jahre2, da zeugte er Schelach.3   13 Und Arpachschad lebte noch 403  Jahre, nachdem er Schelach gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter. 14 Und Schelach lebte 30 Jahre, da zeugte er Eber.   15 Und Schelach lebte 403 Jahre, nachdem er Eber gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter. 16  Und Eber lebte 34  Jahre, da zeugte er Peleg.   17  Und Eber lebte noch 430 Jahre, nachdem er Peleg gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter. 18 Und Peleg lebte 30 Jahre, da zeugte er Regu.   19 Und Peleg lebte 209 Jahre, nachdem er Regu gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter. 20 Und Regu lebte 32 Jahre, da zeugte er Serug.   21 Und Regu lebte 207 Jahre, nachdem er Serug gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter. 1  LXX und Sam gleichen Gen  11 dem Schema von Gen  5 an. Beide haben hier wie bei den folgenden Patriarchen bis einschließlich Nahor eine Todesnotiz, Sam bietet darüber hinaus auch das gesamte Lebensalter. 2  Wie in Gen  5 weichen die Altersangaben von MT, Sam und LXX deutlich voneinander ab. Von Arpachschad bis Serug erhöhen Sam und LXX das Alter bei der Zeugung des Erstgeborenen um 100 Jahre, bei Nachor um 50 Jahre. Sam verringert dann das restliche Lebensalter entsprechend um 100 Jahre bzw. 50 Jahre, während LXX die restliche Lebenszeit unverändert lässt. Die von LXX gebotene restliche Lebenszeit von 430 Jahren bei Arpachschad, von 330 Jahren bei Schelach und 129 Jahren bei Nachor beruhen vermutlich auf einer Verlesung der auch durch die Angaben bei Sam gestützten Lesarten des MT. Vgl. Rösel, Übersetzung, 223. Lediglich bei der Angabe der restlichen Lebenszeit von Eber bleibt zu erwägen, dass LXX mit 370 Jahren (vgl. Sam: 270 Jahre) gegenüber den 430 Jahren bei MT die Priorität zukommt. Durch die Erhöhung des Alters bei der Zeugung verlängert sich die Chronologie des Sam um 650 Jahre, bei der LXX wegen der Einfügung einer weiteren Generation (s.  u. Anm.  3) um 780 Jahre (jeweils mit Bezug auf die unterschiedlich datierte Flut; s.  o. zu Gen  5, 1–32). Vielleicht sollte so vermieden werden, dass Noach wie nach MT noch zu Zeiten Abrahams und Sem noch zu Zeiten Jakobs lebte. Die Übersetzung folgt MT. Zur Begründung der Priorität der Altersangaben von MT vgl. Rösel, Übersetzung, 132 –134. 3  Nach LXX hat Arpachschad (Αρφαξαδ) einen Sohn namens Καιναν, der wiederum der Vater des Schelach (Σαλα) ist (vgl. Gen 10, 24 LXX). Gen 10, 22 LXX erwähnt einen Καιναν als Sohn des Sem (Σημ). Spuren dieser zusätzlichen Generation finden sich noch in Jub 8, 1–5; Lk 3, 35  f. Vielleicht sollte wie in Gen 5 die Zehnzahl erreicht werden.

Die Zeugungen Sems

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22 Und Serug lebte 30 Jahre, da zeugte er Nahor.   23 Und Serug lebte 200 Jahre, nachdem er Nahor gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter. 24 Und Nahor lebte 29 Jahre, da zeugte er Terach.   25 Und Nahor lebte 119 Jahre, nachdem er Terach gezeugt hatte, und er zeugte Söhne und Töchter. 26 Und Terach lebte 70 Jahre, da zeugte er Abram, Nahor und Haran. Analyse: Gen 11, 10 –26 geht zur Gänze auf die Priesterschrift zurück.

Die priesterschriftliche Genealogie der Nachkommen Sems führt das „Re- Kontext/ gister der Zeugungen Adams“ aus Gen  5 fort. In der priesterschriftlichen Aufbau Version der Urgeschichte folgt sie ursprünglich direkt auf den Abschluss der Völkertafel in Gen  10, 32 und nimmt dort den Faden der Söhne Sems auf. Wie ihr vorsintflutliches Pendant in Gen 5 läuft sie über den Vater und seinen erstgeborenen Sohn. Auch sie verzweigt sich im letzten Glied mit der Nennung der drei Söhne Terachs zu einer segmentären Genealogie. Mit der Zeugung von Abram, Nahor und Haran schließt die Urgeschichte und öffnet sich hin zur Geschichte von den Erzeltern Israels. Deren erster Teil, die Erzählungen um Abram/Abraham und Sarai/Sara, wird in der vorliegenden Buchgestalt der Genesis unter die priesterschriftliche Überschrift der Toledot/Zeugungen Terachs eingeordnet (Gen 11, 27 ). Unbeschadet der großen formalen Übereinstimmungen mit Gen  5 sind auch Unterschiede zu notieren. Die Genealogie Sems zählt nach dem MT nur neun statt zehn Generationen. Ferner fehlen jeweils Angaben zum gesamten Lebensalter und eine Todesnotiz. Über die Gründe für diese Abweichungen lässt sich nur spekulieren. Wie die zehngliedrige Fassung in einem Teil der Überlieferung zeigt, ist an dem Text unter verschiedenen Vorgaben noch sehr lange gearbeitet worden, wofür auch die unterschiedlichen Altersangaben im MT, dem Sam und der LXX sprechen. Dass die Priesterschrift mit dem Fehlen des zehnten Gliedes den „Übergang von der Urgeschichte zur Vätergeschichte“ markieren wollte4, ist also ganz ungewiss. Deutlich ist jedoch, dass mit Gen  11, 10 –26 eine auf Israel hinführende Bündelung der Genealogien einsetzt. Gen 5 stellt die Geschichte der einen Menschheit vor der Flut dar und die Völkertafel in Gen  10 entfaltet die Abstammung der Völker der Welt von den drei Söhnen Noachs. Dagegen erwähnt Gen 11, 10 – 26 von den drei namentlich genannten Söhnen Noachs, mit denen die „Toledot/Zeugungen Adams“ schließen und deren Nachkommen in der Völkertafel aufgezählt werden (bei P mit Ausnahme der auf Terach und Abraham hinauslaufenden Linie der Nachkommen des Arpachschad), lediglich Sem und die Nachkommen seines Erstgeborenen. Diese Fokussierung wiederholt sich im Übergang auf die Toledot/Zeugungen Terachs in Gen  11, 26  f. Von den drei am Ende der Genealogie Sems genannten Söhnen Terachs 4 

Westermann, 743.

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Genesis 11, 10–26

liegt das Hauptaugenmerk im Fortgang der Erzählung auf Abram. So führt die genealogische Linie der drei Söhne Noachs, von denen sich die Völker der Welt herleiten (vgl. Gen  9, 19(  ?  ); 10, 32), über Sem, Terach, Abraham und Isaak zu Jakob/Israel und seinen Söhnen, den Ahnherren der Stämme Israels. 11, 10 –11 Sem ist bei der Zeugung des ersten Sohnes 100  Jahre alt. Hingegen liegt

mit Ausnahme des 70 –jährigen Terach bei den nachfolgenden Patriarchen das Alter bei der Zeugung zwischen 29 und 35 Jahren. Dies wird als Hinweis darauf zu verstehen sein, dass Sem noch der schöpfungsnahen Lebenskraft der vor der Flut geborenen Generationen teilhaftig war, während sich nach der Sintflut die Altersangaben allmählich dem Erfahrungshorizont der Verfasser zu nähern beginnen. Nach Anlage der Genealogien in Gen 5 und 11, 10 –26 ist Arpachschad der erstgeborene Sohn Sems. Dass er in Gen 10, 22 an dritter Stelle der fünf Söhne Sems genannt ist, erklärt sich dort mit der geographischen Anordnung von Elam, Assur, Arpachschad, Lud und Aram (hierzu und zur Namenserklärung s. zu Gen  10, 22). Die auf die Zeugung des Arpachschad bezogene Angabe „zwei Jahre nach der Sintflut“ fügt sich nur schlecht zu den übrigen chronologischen Angaben der Priesterschrift. Nach Gen  5, 32 zeugt der 500 –jährige Noach seine Söhne Sem, Ham und Jafet. Die einjährige Flut beginnt nach Gen 7, 11 im 600. Lebensjahr Noachs und endet nach Gen 8, 13 in seinem 601. Lebensjahr. Noach ist also bei Flutbeginn 599 Jahre alt und 600 Jahre, als sie endet. Entsprechend zählt Sem zu Beginn der Flut  99 Jahre und 100 Jahre bei ihrem Ende und müsste unter Berücksichtigung der genannten „zwei Jahre nach der Flut“ folglich statt der in V. 10 genannten 100 Jahre bereits 102 Jahre alt sein. Allerdings enthält diese Rechnung einige Unschärfen. Der gewöhnlich mit „zwei Jahre“ übersetzte Dual š  enātayim kann auch „im zweiten Jahr“ bedeuten. So hat ihn zumindest die LXX (δευτέρου ἔτους) aufgefasst. Auch muss sich die Angabe über das Alter bei der Zeugung nicht auf das Geburtsjahr beziehen. Dass die Priesterschrift zwischen Zeugung (*yld hi.) und Geburt zu unterscheiden wusste, geht aus der Frage des 99 –jährigen Abram hervor, wie einem 100 –jährigen noch ein Sohn geboren werden könne (*yld ni. Gen  17, 1. 17 ). Ist auch für die priesterschriftlichen Genealogien in Gen  5 zwischen Zeugung und Geburt zu unterscheiden, dann ist Sem bei Ende der Flut 99 Jahre alt und kann im „zweiten Jahr nach der Sintflut“ noch 100 Jahre alt gewesen sein. Stimmiger wäre die Rechnung, ließe sich die Angabe „nach der Sintflut“ auf das Hereinbrechen der Flut beziehen.5 Hiergegen spricht aber die Angabe „nach der Sintflut“ bei Berechnung der gesamten Lebenszeit Noachs in Gen 9, 28. Sie bezieht sich eindeutig auf das Ende der Flut, da sonst die Rechnung nicht aufgeht.

Es ist gut möglich, dass die chronologischen Schwierigkeiten wie die Unebenheiten in Gen  5, 1–3 daher rühren, dass die Priesterschrift ihre Erzählstoffe in ein vorgegebenes „Toledotbuch“ eingeschrieben hat (s.  o. zu 5 

So u.  a. Witte, Urgeschichte, 116.

Die Zeugungen Sems

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Gen  5, 1–3). Die Frage, warum die in chronologischen Dingen sonst so genaue Priesterschrift am Anfang der Genealogie Sems eine derartige Unschärfe in Kauf genommen hat, lässt sich vielleicht mit Hinweis auf den erneuten Mehrungssegen in Gen  9, 1 beantworten.6 Der Erstgeborene Sems markiert in der Priesterschrift den Neuanfang der Menschheit nach der Flut, weshalb seine Zeugung eindeutig in die Zeit nach dem erneuten Mehrungssegen datiert wird. Mit Arpachschad beginnt eine neue Epoche. Die Notizen zu Arpachschad und dessen Sohn Schelach beginnen je- 11, 12 –17 weils als invertierter Verbalsatz mit dem vorangestellten Namen des Patriarchen. Damit variieren sie ohne ersichtlichen Grund das aus Gen  5 bekannte Schema, dem ab dem Eintrag zu Eber und dessen Sohn Peleg wieder gefolgt wird. Der Name Schelach (Šǣlaḥ) ist entweder eine Kurzform des Namens Metuschelach (Methusalem; vgl. zu Gen 5, 25 –27 ) oder er leitet sich von der Wurzel *šlḥ „senden“ mit der Bedeutung „[Der Gott NN] hat [das Kind] gesandt“ ab. Der Name Eber ( ʿĒbær) ist im Alten Testament mehrfach als Personenname belegt (Neh 12, 20; 1Chr 5, 13; 8, 12. 22). Vermutlich ist er auf die Wurzel * ʿbr „überschreiten“ zurückzuführen. Vielleicht spielt er auch auf die damit sprachlich verwandte akkadische Ortsangabe eber nāri „jenseits des Flusses [Euphrat]“ an. Die in der nachpriesterschriftlichen Bearbeitung der Völkertafel (Gen  10, 21) angedeutete Verbindung mit dem Gentilicium Hebräer ( ʿIbrīm) spielt in der Genealogie der Söhne Sems keine Rolle. Die Bedeutung des Namens Peleg (Pǣlæg) ist unklar. Gen  10, 25 (R) erklärt den Namen in einem etymologisierenden Wortspiel mit dem Verb *plg „teilen“ und verbindet dies mit der Turmbauerzählung. Die Verbindung des Namens mit der Turmbauerzählung ist sekundär, was schon daran ersichtlich ist, dass diese das Verb *pwṣ „zerstreuen“ statt *plg ni. „sich verteilen“ verwendet. Die Herleitung von der Wurzel *plg, von der sich auch das Wort pǣlæg „Kanal, Graben“ bildet, könnte indes stimmen. Der Name Regu (Re   ʿū ) findet sich im Alten Testament nur hier und in der 11, 18 –25 Reprise der Genealogien aus Gen 5 und 11 in der Chronik (1Chr 1, 25). Die Bedeutung ist unsicher. Möglicherweise handelt es sich um eine Kurzform von Reguël (Re   ʿū   ʾēl ) „Freund (rē a   ʿ) Gottes“ oder „Freund [des Kindes] ist Gott“, dem Namen von Moses Schwiegervater (Ex 2, 18; Num 10, 29) und einem der Söhne Esaus (Gen 36, 4. 10. 13. 17 ). Bei Serug (Ś erūg), Nahor (Nāḥōr) und Terach (Tǣraḥ) handelt es sich sehr wahrscheinlich um personalisierte Ortsnamen, die sämtlich in die Gegend der nordmesopotamischen Stadt Haran weisen (Ḥārān, die hebräische Form des akkad. Ḫarrānu(m); heute das türkische, im Grenzgebiet zu Syrien gelegene Altınbaşak).7 Serug wird einhellig mit dem auf halber Strecke zwischen Haran und dem Euphrat gelegenen Sarûgi (heute Serūǧ    ) identifiziert. Der Ortsname ist in keilschriftlichen Texten des 7. Jh. v. Chr. belegt. Hinter Terach dürfte das ebenfalls in neuassyrischen Quellen genannte und nordöstlich von Haran gelegene Til ša 6  7 

Ruppert, 522 . Hess, Personal Names, 86 –89.

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Genesis 11, 10–26

turāḥi stehen. Nahor, sowohl Abrahams Großvater (Gen 11, 24) als auch sein Bruder (Gen 11, 26. 27; 22, 20. 23; 24, 15; Jos 24, 2) tragen diesen Namen, lässt an den in der Nähe von Haran gelegenen Ort Til-Naḫiri denken. Freilich ist dieser Ort bislang nur in älteren Texten wie den altbabylonischen MariBriefen aus dem 18.  Jh. v. Chr. belegt, die einen Verwaltungssitz Na-ḫu-ur erwähnen. Auch die Erwähnung der Stadt Nahors in Gen  24 weist in die Gegend um das nordmesopotamische Haran (vgl. Gen 24, 10). Terach und seine drei Söhne, Abram, Nahor und Haran, bilden das Ge11, 26 genstück zu Noach und seinen drei Söhnen in Gen 5, 32. Markiert die Zeugung von Sem, Ham und Jafet den Übergang von der einen Menschheit vor der Flut zu der sich ausdifferenzierenden Völkerwelt nach der Flut, so ist in Abram, Nahor und Haran am Ausgang der Urgeschichte bereits das Verwandtschaftssystem der folgenden Geschichte der Erzeltern Israels gegenwärtig: Abram ist der Vater Isaaks und Ismaels (Gen  16; 21), von Harans Sohn Lot leiten sich Ammon und Moab ab (Gen  19) und Rebekka, die Enkelin des Aramäers Nahor, wird als Mutter Jakobs zur Ahnherrin aller Stämme Israels (Gen  22, 20 –23; 24). Der Name Haran (Hārān; vgl. noch 1Chr 23, 9) wird in vielen deutschen Bibelübersetzungen gleichlautend mit der in Gen 11, 31 f genannten Stadt Ḥārān wiedergegeben. Wegen des unterschiedlichen Anlauts sind beide Namen jedoch auseinanderzuhalten. Eine in der Quadratschrift mögliche Verschreibung von ‫( ה‬He) zu ‫( ח‬Ḥet) oder eine dem Ortsnamen entlehnte Ad-hoc-Bildung sind wenig wahrscheinlich. Denkbar ist eine Herleitung von dem in vielen semitischen Sprachen belegten Wort har „Berg“ und der Namensendung -ānu.8 Es handelt sich dann um die Kurzform eines Namens „(Mein) Gott N.N. ist ein Berg“. Der Name Abram (Abraham) gehört zu dem in den semitischen Sprachen verbreiteten Typ eines Satznamens mit den Elementen ʾāb „Vater“ und dem Verb *rūm „erhaben sein“: „Der (göttliche) Vater ist erhaben“.9 Der Wechsel von Abram und Abraham wird im Alten Testament damit erklärt, dass Abraham ( ʾAbrāhām) zum „Vater einer Menge“ ( ʾab h     amōn) von Völkern werden wird (Gen 17, 4 f P). Es handelt sich um eine sogenannte Volksetymologie, in der die zusätzliche Silbe hām als Anspielung auf das Wort h     amōn „Getöse“ oder „Menge“ ausgedeutet wird.

Hess, Personal Names, 92 –94. M. Noth, Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung, BWANT 46, Stuttgart 1928, 52 , 67–70, 145. 8  9